Abriss
Original: © März 2003 Blum
eBook: © April 2012 choose your art
Titelbild, Gestaltung & Satz: Blum
Korrektur: Sim
Speyer, Deutschland
Alle Rechte vorbehalten
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Am Mittwoch kommt die Neue. Hat der Hausmeister gesagt. Ich rede nicht mit ihm, aber er hat es mir am Briefkasten gesagt, als ich Montag die Mülltonne reingeschoben habe. Er hat wie immer gemotzt, weil ich sie nicht morgens rein habe, sondern erst abends. Wie immer. Es ist Mittwoch.
Von meinem Zimmerfenster kann ich die Straße sehen. Heute Morgen habe ich gewartet und mittags auch. Kein Umzugswagen, keine Leute, Helfer oder so etwas. Vor einer Stunde ist sie dann angekommen. Sie hatte nur eine große braune Ledertasche dabei. So eine wie sie in alten Filmen manchmal Ärzte haben. Es hatte angefangen zu regnen – gerade als sie die Straße hochkam. Einen Schirm hatte sie nicht. Ich würde schätzen, sie ist mindestens sechzig. Ihre Haare sind grau und strähnig und hängen, nass vom Regen, an ihr herunter. Klapperdürr ist die Alte. Ich habe sie beobachtet wie sie vorhin die Treppe hoch schlich und an meinem Türspion vorbei kam. In dem grauen Kleid und den komischen, abgetretenen Halbschuhen, die mich an meine Punk-Zeit erinnern, sah sie irgendwie dämonisch aus. Wo sie wohl ihre Möbel hat? Das Zimmer oben ist nicht möbliert. Ich weiß es, weil ich zugesehen hab, wie sie das ganze Zeug vom Anzinger raus geschleppt haben, nachdem das damals passiert war. Vielleicht hat sie eine Umzugsfirma beauftragt, die ihr Zeug schon letzte Woche hergebracht hat. Vielleicht morgens, wenn ich auf Arbeit war oder spätabends. Die kann ja schlecht auf dem Boden schlafen mit ihren alten Knochen.
Ich setze mich auf meine Couch und mach die Musik an. Doors. Während ich zum millionsten Mal die Vier Reiter über die Welt hereinbrechen höre, versinke ich in meinen Gedanken. Ein Bier wäre gut, aber ich kann nicht aufstehen. Die Gedanken wirbeln in meinem Kopf. Tausend Dinge, all die tausend Dinge. Hol ich mir noch einen Film? Jürgen hat vor kurzem diesen neuen Film mit dem Horrorschauspieler – wie hieß er noch gleich? – gesehen. So ein ganz neues Ding, das nicht im Kino lief, weil es wohl zu schlimm war. Ab achtzehn und garantiert echt extrem. Bestimmt ausgeliehen. Ist immer so. In den ersten Wochen sind die Filme ständig ausgeliehen. Ich komme hin und in den Hüllen gibt es keine Kärtchen mehr. Zum reservieren habe ich keinen Bock. Ich rede nicht gern mit der Frau an der Kasse. Die ist so eine echt bescheuerte Spießerin, die immer beobachtet, was man sich ausleiht und wenn dann mal eine Frau auf dem Cover des Films ist, rümpft sie die Nase. Ich kann förmlich hören, wie sie ›kleiner Wichser‹ denkt.
Ich stehe auf und hole mir doch ein Bier.
Das Telefon klingelt und ich zucke erschrocken zusammen. Meyer? Hab ich wieder was auf Arbeit vergessen? Mit einem schnellen besorgten Blick auf die Uhr stelle ich fest, dass es kaum einer von der Arbeit sein kann. Gott sei Dank. Dann geht der AB ran. Es ist Moni. Sie will wissen, ob ich da bin. Würde ich nicht an das verdammte Telefon gehen, wenn ich da wäre? Seit letztem Donnerstag habe ich sie nicht mehr gesehen. Wir haben es nur zweimal gemacht. Einmal im Auto ihres Bruders – meins ist zu klein – und einmal hier auf meinem Sofa. Sie hat gemotzt, weil `ne Pizzaschachtel drauf lag.
Dann wollte sie bei mir einziehen. Ich erinnere mich genau an den Tag. Ich hab brasilianischen Metall gehört und was mit ihr geraucht und beinahe hätten wir es nochmal getan, als sie sagte, sie wolle dass ich ihr ein Kind der Liebe mache. Später hat sie zuerst gesagt, das wäre nur Scheiß gewesen, aber dann hat sie mich angerufen und erzählt, ihr Arzt hätte eine Schwangerschaft festgestellt. Ich habe nur noch Freitagabend Zeit. Da muss sie im Studio arbeiten. Pech.
Müde mache ich einen Strich auf den Block neben dem Telefon. Es sind jetzt achtzehn. So oft hat sie angerufen. Es tut ihr leid. Sie sei gar nicht schwanger. Blöder Spruch.
Freitags geht Jürgen immer in sein Stammkino. Seit zwei Wochen geh ich mit ihm.
Es ist Montag. Meine Schicht fängt um drei Uhr an und endet um zehn. Ich habe mich daran gewöhnt. Morgens gehe ich nach der Arbeit immer zum Bäcker in der Hauptstraße, denn hier fährt der Bus ab, den ich nach Hause nehme. Die Verkäuferin kennt mich schon. Am Anfang hab ich gelächelt und sie war freundlich, aber ich glaube, sie kann mich nicht leiden und darum lächle ich auch nicht mehr. Sie ist so alt wie ich. Ich weiß es, weil ich mal einen Brief an sie geöffnet habe, der mir durch Zufall in die Finger gekommen war. Krankenversicherung – sie wollten wissen ob sie mit der jährlichen Beitragserhöhung einverstanden sei, die automatisch anfällt und gegen die man keinen Einspruch erheben kann. Krank oder? Ihren Namen weiß ich von dem hellrosa Schildchen auf ihrer linken Brust. Die würde ich gerne anfassen.
Mit dem Bus fahre ich nur zur Arbeit und wieder zurück. Sonst nehme ich mein Auto. Es ist nicht, weil es mir etwas ausmachen würde, dass die auf der Arbeit sehen könnten, dass mein Auto alt und klein ist. Es ist nur weil … Egal, ich fahre gerne im Bus. Als ich jünger war, fuhr ich nur Bus. Ich saß mit meinen weiten Hosen und den grünen Haaren auf einem der Plätze und hatte mein Board auf dem Schoß. Wenn eine Oma kam und mich von oben bis unten anglotzte, um mich zum aufstehen zu bewegen, zog ich mein Kaugummi aus dem Mund und klebte es mir auf die Stirn. Heute lasse ich sie sitzen.
Im Flur stinkt es, als ob der scheiß Köter vom Anzinger jetzt doch noch abgekratzt wäre und man ihn unter die Treppe zum ausdünsten gelegt hätte. Ich stehe an der Treppe und beuge mich hinunter, um nachzusehen. Es stinkt pervers.
Natürlich ist da kein Hund. Da liegt eine Leiche. Ein bis zur Unkenntlichkeit verbranntes Mädchen greift mit verstümmelten Fingern, die mich an tote zusammengekrümmte Spinnen erinnern, nach dem Holz der Treppenstufen. Es ist, als versuche sie die Treppe davon abzuhalten, sich auf ihren Körper herabfallen zu lassen. Überall ist Blut. Es stinkt nach Menschenfleisch …
Es ist eine Ratte. Am Kellereingang liegt eine Ratte. Durchgebissenes Genick. Die Katze vom Mieter unter mir. Ich kann mir seinen Namen nicht merken. Er ist Jugoslawe oder so was. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass eine Ratte so derart pervers riechen könnte.
Oben quietscht eine Tür. Über meiner Wohnung. Ich sehe zwischen dem Geländer der Treppe hoch, aber es gibt nichts zu sehen. Also gehe ich hoch und schließe meine Tür auf. Drinnen stinkt es auch.
Heute muss ich aufräumen. Die Bierdosen und die Aschenbecher müssen weg und in der Küche muss auch mal Ordnung geschafft werden. Aber erst esse ich etwas und dabei guck ich mir die Wiederholung von Star Trek, die ich heute Nacht aufgenommen habe, in der Glotze an. Ich langweile mich.
Es duftet nach Parfum und ich weiß, dass ich den Geruch kenne. Jasmin vielleicht.
Es ist Dienstag, und ich sitze im Bus auf dem Heimweg. Nachher muss ich zum Zahnarzt – das ist ätzend. Ich hasse den Zahnarzt. Ich meine nicht den Arzt selbst, sondern den Vorgang ›Zumzahnarztgehen‹. Du kommst da hin und hast einen Termin und dann hocken da achtzehn Omas oder dicke Frauen mit kleinen Mädchen, deren Spangen gerade versuchen auszubrechen, um eine neue Weltordnung der geometrischen Weisheit zu errichten. Du aber wartest und wartest unter deren desinfizierenden Blicken. Zu Hause könntest du lesen oder dir ein Video reinziehen. Dann greifst du zu den Lesezirkelheften mit den weiß-roten Umschlägen. Klein, oben rechts ist Neue Revue aufgedruckt. Immer wieder wunderst du dich, dass sie sowas hier rumliegen haben. ›Susi ist 21 und mag starke Typen …‹ Die Titten von der Kleinen machen aus dem Zahnarztbesuch so eine Art Sado-Maso-Erlebnis. Du wartest und du hast Angst. Wird es weh tun? Es tut immer weh. Wird er dir was Schlimmes sagen? Nun, so wie es aussieht, werden wir den Weisheitszahn dann doch ziehen müssen und die Röntgenaufnahme lässt vermuten, dass wir ohne OP nicht durchkommen werden. So was oder so etwas Ähnliches ist es immer.
Der Bus schlingert hin und her und die ältere Dame links neben mir rempelt mich mit dem Ellbogen an. Zuerst rieche ich diesen blumigen Duft, aber dann entschuldigt sie sich lächelnd und ihrer verdorrten faltigen Kehle entfährt ein intensiver säuerlicher Geruch, der mich an vermoderte Gräber denken lässt.
Zu Hause geh ich in die Wanne. Ich habe auch eine Dusche – meine Wohnung ist die Luxusvariante – aber ich dusche nicht gerne. Kalk. Überall ist Kalk. Im Fernsehen zeigen sie, wie man`s macht. Superblank und keimfrei. Mit einem Wisch und so. Ich habe es versucht. Soll keiner sagen, ich hätte mir keine Mühe gegeben. Meine Mutter konnte es.
Während das Wasser Schaum aufschlägt, der den rostbraunen Fleck auf dem Emaille im Zentrum der Wanne zu bedecken beginnt, gehe ich in die Küche und hole mir eine Bierdose und mache die Musik an. Eine der alten Kiss-Scheiben. Jürgen hat sie mir auf CD gebrannt. Im Kühlschrank gibt es noch ein schmales Stück Pizza.
Mit dem ganzen Kram zurück im Bad stelle ich fest, dass es angenehmer und irgendwie charmanter zu mir selbst gewesen wäre, zuerst auf die Toilette zu gehen und dann das Essen zu holen. Während ich auf dem Klo sitze, äuge ich zur Pizza hinüber und denke über Bakterien nach. Das Papier ist leer …
Das Wasser ist heiß. Nach der Arbeit mag ich das. Ich muss sie von mir waschen. Nicht meinen Schweiß oder den Dreck aus dem Lager, den Staub von hunderttausend Toten, der sich zwischen den Kartons und den Metallregalen ansammelt, sondern die Arbeit und die scheiß Leute dort. Ich tauche durch die dicke Schaumschicht und spüre sie, als sei ich ein großer Penis, der in die endlos lustspendende Feuchtigkeit eindringt. Dabei wasche ich Meyer und Peter Brandt von mir ab. Am Anfang hatte ich Peter als nett empfunden, aber ich hab einmal mitbekommen, wie er eine aus der Bürozentrale auf unserem Klo genagelt hat und seitdem finde ich ihn einfach nur noch arrogant. Außerdem stinkt es mir, dass er denkt, er könnte mir sagen, wie ich zu arbeiten hätte. Arschloch.
An der Decke ist ein dunkler Fleck. Ich lasse gerade das kühle Bier in meine trockene Kehle fließen und spüre, wie es sich weiter unten mit meinem vom Wasser heißen Körper verbindet und eine kleine elementare Explosion hervorruft, als ich ihn entdecke. Er ist etwa so groß wie meine Wanne und sieht merkwürdig bedrohlich aus. Genau über meiner Wanne steht die Wanne vom Anzinger. Wenn der seine Wanne hätte überlaufen lassen, wäre genau da ein Fleck entstanden, wo sich jetzt einer befindet. Aber der kann seine Wanne nicht überlaufen lassen, weil er nicht mehr da ist.
Ich starre den Fleck an und mein Bad beginnt sich zu drehen. Heißes Badewasser und kühles Bier … und ein Fleck an der Decke unter der Wanne von dem, der kein Wasser mehr einlassen kann …
Sie muss das sein, geht es mir durch den Kopf. Meine Gedanken mühen sich träge durch den Sumpf, der in meiner Kindheit noch das Festland meines Gehirns dargestellt hatte. Knietief waten sie durch den Abfall, den die Hauptschule, meine Omas, meine Eltern und vor allem Herr Kaiser von dieser Versicherung im Fernsehen hinterlassen haben. Ich versuche mich zu konzentrieren und trinke noch einen Schluck, aber der beschissene Wasserfleck an der Decke lässt keinen klaren Gedanken zu.
Draußen läuft das Wasser mittlerweile die Treppenstufen hinunter. Die Alte war sicher in ihrer Wanne verreckt und hatte es nicht mehr geschafft, den Hahn zuzudrehen. Jetzt wird sie gerade von den Fluten über den Wannenrand gehoben und landet wie ein alter schlaffer Fisch auf den pissgelben Fliesen. Ich versuche über den Wannenrand meine eigenen Fliesen zu sehen. Ihre können kaum besser aussehen, als die hier unten bei mir. Dann treibt ihr faltiger Kadaver nackt durch die Wohnung und überwindet die erste Treppenstufe. Schlitternd und sich überschlagend und mit grotesk baumelnden Gliedmaßen kullert er die Treppe hinunter und landet vor meiner Tür.
Den Zahnarzttermin habe ich um fünf. Blöde Zeit. Du kannst vorher nichts Vernünftiges machen und nachher ist es zu spät, um noch was anzufangen. Natürlich ist das Bullenmist. Aber ich bin träge und warte, bis es fünf ist. Meine Haut ist weich und fühlt sich aufgedunsen an. Mehrere Stunden Badewanne machen auch aus dem härtesten Kerl eine prima Wasserleiche. Dafür bin ich sauber und muss nicht damit rechnen, dass meine Haare sich selbstständig machen und den Zahnarzt angreifen. Trocken sind sie noch nicht. Das dauert. Früher, als ich die Seiten ab hatte, war das einfacher. Ich gehe nochmal ins Bad und föhne die nassen Haare. Der Fleck ist noch da. In der Mitte hat sich eine noch dunklere Stelle gebildet und ich kann genau erkennen, dass da gerade jetzt ein Wassertröpfchen entsteht, um in wenigen Sekunden herunter in meine Wanne zu fallen. ›Blipp‹. Der Hausmeister wird sich freuen.
Auf dem Weg zum Zahnarzt denke ich immernoch über den durchgeweichten Badezimmerboden nach. Wenn ich das Wasser auch laufen lasse und sich unten auf meinem Boden auch ein See sammelt, würde es zur Biermann durchsickern. Wie lange würde es wohl dauern, bis das Wasser von ganz oben und das aus meiner Wohnung unten die gleiche Sättigung erhielten?
Im Wartezimmer stink es steril. Ich hasse den Geruch. Ich hasse auch das schreckliche Bild mit den zwei Pferden. Niemand kann genau sagen, ob das Bild wirklich zwei Pferde darstellt, denn der begnadete Künstler hat einen weißen Bogen mit neonfarbenen Linien beglückt, die sich wild und ekstatisch an mindestens vier Stellen überschneiden. Dann ließ er seinem Drängen nach Masse freien Lauf und vollendete das Werk mit vier dicken schwarzen Punkten. Diese stehen in jeweils zwei Paaren dicht beieinander und wenn man das Gekrakel eine Zeit lang betrachtet, könnte es sich um zwei Neonblitzpferde mit schwarzen Augen handeln. Vielleicht aus dem Power-Rangers-Universum.
Mir gegenüber sitzt ein verdammt dicker Mann und blättert in einer Illustrierten. Ich tippe auf ›Bunte‹. Er hat das breiteste Doppelkinn, das ich jemals zu Gesicht bekommen habe. Gerade will ich aufstehen und nach einer Zeitung greifen, da gibt ein kleiner Lautsprecher, der mich an meine Schulzeit erinnert, meinen Namen wieder. Die knackende Raucherstimme unseres Rektors werde ich nie vergessen: ›Frau Niederolm, bitte ins Direktorat‹. Dabei bin ich sehr vergesslich.
Für den Dicken muss es ausgesehen haben, als hätte ich gewusst, dass in einer Sekunde mein Name kommen würde. Ich setze meine Bewegung fort und gleite am Regal mit den Zeitungen vorbei und husche lautlos aus dem Zimmer. Er hat es nicht bemerkt. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass er den Spiegel liest. Einen Artikel über den Golf-Krieg. So kann man sich in Menschen täuschen.
Die Sprechstundenhilfe ist blond. Sie dürfte etwas jünger als ich sein und sie benimmt sich immer höflich. ›Guten Tag, sie können schon hier Platz nehmen, ich lege ihnen jetzt einen Papierschurz um …‹ Ich würde sie gerne fragen, ob sie mal mit ins Kino gehen möchte, aber schon ist sie wieder aus dem Zimmer raus und bereitet die nächste Folterkammer für die Bluttaten ihres sinistren Herrn vor.
Ich sitze auf dem unbequemen Stuhl der eigentlich ergonomisch geformt sein sollte und dennoch nicht weit genug hinten ist, um entspannt zu liegen und nicht weit genug aufgerichtet ist, um vernünftig sitzen zu können. So muss ich mich anstrengen, meinen Nacken nicht durchzubiegen. Der Arzt kommt erst nach zehn Minuten. Zehn Minuten sind lange auf einem Zahnarztstuhl. Ich sage guten Tag und er schüttelt mir die Hand. Er ist mein bester Freund. Heute machen wir das Loch im hinteren Backenzahn rechts unten. Er nennt der Sprechstundenhilfe eine Kombination aus Zahlen und Buchstaben und ich merke, wie meine Nervosität zunimmt. Da liegen spitze Metallaalen und Harken mit boshaft gekrümmten Spitzen auf einer achtlos abgerissenen Serviette bereit. Die Kontrollen unter dem Tisch, mit welchen die Bohrer und Sauger und Stößel und Bagger und Minipresslufthämmer bedient werden, funkeln mich böse an. Mir ist flau im Magen. Dann muss ich an den Fleck denken.
Brauchen sie einen weiteren Termin? Die Frau glotzt mich an, als sei ich ein Chinese im feudalen Venedig. Was? Mehr bringe ich nicht heraus. Ob ich einen weiteren Terminwunsch hätte.
Wer will schon Termine beim Zahnarzt, blöde Kuh? Ich sage, dass ich einen Termin brauche, aber vergessen hätte, wann. Wieder glotzt sie mich blöde an. Sie hätte doch noch gar keinen Termin gemacht.
Mein Mund fühlt sich wund an. Was war da drinnen passiert? Ich weiß es nicht. Ich fühle mich bleischwer. In dem Moment, in dem ich von außen die Tür schließe, geht mir dieses Wort das erste Mal durch den Kopf: ›Sepsue‹.
Monoton taumelt es durch mein Gehirn und hinterlässt einen Schleier aus unbekannten Klängen. Ich bin müde von der Arbeit und dem heißen Bad; und auch der Zahnarzt war anstrengend gewesen – glaube ich.
Donnerstagmorgen um Elf kaufe ich mir immer das Musikmagazin und lese es auf der Heimfahrt. Einmal war es vergriffen, aber ein Junge am Bahnhof hat mir seins gegen eine Schachtel Zigaretten gegeben. Das war Glück. Ich ärgere mich, weil eine meiner Lieblings-Bands eine neue Platte aufgenommen hat. Wie konnten sie das machen, wo ich letztes Jahr auf ihrem Abschiedskonzert in Köln gewesen war und zusammen mit ein paar Freunden eine Trauerfeierparty gegeben hatte? So was hasse ich. Nie wieder werde ich mir eine CD von den Wichsern kaufen.
Das Mädchen in der Bäckerei hat heute geschwitzt. Als ich vorhin ein Brot bei ihr gekauft habe konnte ich sehen, dass sie dunkle Flecken unter ihren Armen hatte. So wie ich an meiner Badezimmerdecke. Ich würde gerne an ihren Flecken riechen. Sie hat mir einige Pfennige zuviel rausgegeben und wird sich nachher ärgern, wenn die Kasse nicht stimmt. Heute Abend wollte ich eigentlich mit Moni in die Disco gehen, aber ich glaube, ich werde doch noch absagen. Moni ist fett. Ich habe sie nur, weil ich keine andere habe. Ich gehe selten weg und kenne wenige Frauen und auf Parties bekomme ich meistens den Mund nicht auf. Nur das eine Mal, wo ich Moni kennengelernt habe. Wenn sie bloß nicht so verdammt aufdringlich wäre. Immer will sie, dass ich was mit ihr mache. In den Zoo gehen oder ihre Schwester besuchen. Sie hat kein Auto. Für so etwas ist meins dann wieder gut genug. Am besten besorge ich mir noch bei einem Freund einen Film und mach mir einen gemütlichen Abend.
Zu Hause bringe ich erst einmal die Mülltüte in den Keller. Die Tonne stinkt. Ich erinnere mich an die Ratte und frage mich, ob die Leiche der Alten vom Badewasser bis hier herunter in den kleinen Gully gespült worden war. Ich trete von einem Fuß auf den anderen und schließe mit spitzen Fingern die Mülltonne. Plötzlich wird mir kalt. Ich muss dringend pinkeln und habe das Gefühl, nicht allein hier unten zu sein. Schnell drehe ich mich um und sehe in den diesigen Lichtkreis der hin und her schwingenden Lampe am Kellereingang. Der Türrahmen wirkt winzig klein und meilenweit entfernt auf mich. Es riecht nach Urin. Mit klopfendem Herzen gehe ich schnell den Gang entlang und laufe die Treppen, immer drei Stufen auf einmal nehmend, hoch. Oben knalle ich dann beinahe auf den ›Katzenmann‹. Guten Tag. Tag.
›Sepsue‹ – Ich summe leise im Kopf die Melodie einer alten Metallballade und flechte dieses Wort in die imaginären Klänge. Ich kann das Lied hören. Zuerst weben leise Streicher einen Klangteppich aus hohen sehnsüchtigen Tönen und man bekommt das Gefühl, auf einer weiten mitternächtlichen Wiese zu träumen. Doch dann kommen erst leise, dann schnell lauter werdend die grollenden Hufschläge der Trommeln heran gedonnert und fegen meinen Geist vom Angesicht der Erde. Was mag das Wort nur bedeuten?
Manchmal ist es besser zu reden, aber nicht jetzt! Es ist mittlerweile wieder Dienstag. Ich schlafe sehr schlecht, aber dafür lange und viel. Eigentlich schlafe ich dauernd. Manchmal trinke ich ein Bier oder sehe fern. Ab und zu telefoniere ich mit Jürgen, aber der sagt, ich soll mich zusammenreißen. Im Grunde hat er recht.
Der schlechte Schlaf kommt von der irren Alten über mir. Sie schiebt Möbel. Jede Nacht kurz nach dem ich mich hingelegt habe, geht es los. Hat am Donnerstag angefangen. Ich hatte noch ein komisches Gefühl in der Magengegend wegen der Geschichte mit dem Keller und genau in dem Moment, als ich mich auf meine Bettkante setzte und ein Comic vom Nachttisch nahm, fing es an. Quer über meinem Zimmer bewegte sich ein Ding, das mindestens die Ausmaße und das Gewicht eines Konzertflügels haben musste. Ich hätte hochgehen können. Habe ich aber nicht gemacht. Ich werde nicht wieder hoch gehen.
Mit dunklen Ringen unter den Augen sitze ich da und starre in die Gesichter der beiden Männer vor mir. Der eine ist klein und dünn und der andere scheint mindestens neun Mal die Woche ins Studio zu gehen und nebenbei noch auf dem Bau zu arbeiten. Der Zwerg sitzt einfach nur stumm da und mustert meine Wohnung, als hätte er den Auftrag eine militärische Gefahrenzone zu sichern. Es scheint, als wolle er jeden Moment fragen, wie ich ein derart authentisches Ambiente zu den städtischen Müllhalden zustande gebracht habe, aber er schweigt. Ich schweige auch.
Der andere hat einen Notizblock vor sich und macht ab und zu eine Anmerkung und ich frage mich, was er da in seiner unleserlichen Handschrift schreiben könnte, wo ich doch kaum etwas sage.
Er wollte wissen, ob ich etwas gehört hätte und dass mir doch aufgefallen sein musste, wie der Schuhschrank umgefallen war. Nein, sage ich. Zum einhundertfünfzigsten Mal: Nein.
Warum kommen die Kerle wieder? Ist doch Schwachsinn. Es kostet unsere Steuergelder, wenn die hier rumschnüffeln. Vor einer Stunde habe ich vom Fenster aus gesehen, wie sie unten bei der Biermann waren. Na, die hatte sicher gequasselt und gequasselt und den beiden Kaffee und Kuchen angeboten. Bei mir gibt es keinen Kaffee und Kuchen habe ich auch nicht. Bier dürfen sie ja nicht im Dienst.
Nein, ich habe absolut nichts mitbekommen und ich war auch nicht oben – ich gehe nie hoch – und es ist alles so, wie ich es bei der ersten Befragung zu Protokoll gebracht habe.
Also gut, wenn ihnen doch noch was einfallen sollte, hier meine Nummer. Wie im Fernsehen.
Der Muskelmann legt mir eine schlecht gemachte Visitenkarte auf den Tisch und ich sehe, dass er das kleine Papierstück genau mit der Ecke unter dem Aschenbecher festklemmt. Ich hatte vorhin Bier verschüttet und dann den Ascher in die Pfütze gestellt. Die Karte beginnt sich bräunlich zu färben.
Ich will fragen, warum sie noch mal hergekommen waren.
Manchmal ist es besser nicht zu sprechen.
Eine Stufe nach der anderen gehe ich hinunter. Eins, zwei, drei. Vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn …
Ich zähle oft die Stufen. Aber bei fünfzehn höre ich immer auf, weil mir das Spiel langweilig wird. Ich zähle nicht, weil ich wissen will, wie viele es sind, sondern weil ich nicht weiß, was ich sonst denken soll.
Dann denke ich ›Sepsue‹ und in meinem Geist entsteht ein Vakuum. Langsam kommen die Töne. Leise schleicht sich diese ferne süße Musik in mein Gehirn und beginnt einen Schleier aus Vergessen zu weben. Die Augen verschwimmen vor meinem inneren Gesicht. Der weit geöffnete Mund schließt sich. Der Schrei erstirbt. Ich öffne die Haustür und trete ins Freie und da steht Moni. Guten Tag, sagt sie und ich blinzle die Musik aus meinen Augen. Hallo, lange nicht gesehen, sagt sie und versucht ein Lächeln. In ihren Augenwinkeln schiebt sich die Haut zu kleinen Falten zusammen, die sie nicht hätte, wenn sie zwanzig Kilo weniger wiegen würde.
Ich schlucke und dann atme ich auf und komme an. Der Bus war heute langsamer, aber Meyer ist um die Zeit eh noch nicht da und kann darum nicht meckern.
Es ist Mittwoch, und ich finde es echt scheisse, wenn die Tussi mich an der Tür abfängt. Gestern hatte sie drei Mal bei mir angerufen. Was hatte sie alles erzählt? Sie wolle mich sehen, mache sich Sorgen. Es war alles in einer Sekunde vorbei. Ich dachte nur das Wort und schon war es vorbei. Ein Lied wie eine Woge erklang in meinem Geist und nahm das Weib mit sich fort und schon war ich auf Arbeit. Merkwürdiges Gefühl. Ich kann mich an alles erinnern. Sie hatte geweint und war gegangen. Ich kann mich erinnern, aber ich habe nichts empfunden und ich habe es auch nicht erlebt. Es ist, als sei die Zeit abgerissen.
Ich arbeite. Die grauen Pakete müssen in das Lager mit der roten Feuerschutztür. Die Rollen des Wagens, den ich vor mir herschiebe, quietschen. Ich versinke in meinen Gedanken.
Nach der Arbeit laufe ich nach Hause. Ich muss nachdenken. Ich meine, ich muss richtig denken, nicht so vor mich hin sinnieren und nichts auf die Reihe bringen. Ich versuche, meine Gedanken zu sammeln und richte sie auf einen Punkt. Meine Armbanduhr. Sie muss unter dem Schuhschrank liegen. Der Verschluss geht viel zu leicht auf. Schon zweimal hatte ich sie deswegen beim Uhrmacher und schon zweimal habe ich acht Mark für eine Reparatur bezahlt, die nichts gebracht hat. Ich hätte dem Uhrmacher sagen sollen, dass er sich sein Werkzeug in den Arsch schieben soll. Kann ich ja immer noch machen, wenn es eskaliert.
Zu Hause gehe ich die Treppe hoch – und gehe weiter hoch, bis ich oben bin. Ich stehe im dunklen Flur und rieche den Staub. Das Haus ist alt. Gips und kalkhaltiger Mörtel und die alte modrige Blumentapete, die das ganze Treppenhaus in ein makabres Puppenstudio verwandelt, schwängern die Luft mit einem Geruch nach Tod und Verhängnis. Auf dem Boden verfolge ich mit meinem Blick einen Hundertfüßler von beachtlicher Größe. Die vielbeinige Schlange mit dem segmentierten Leib gleitet geräuschlos in kleinen Wellenlinien an der Wand entlang und verschwindet schließlich unter dem Türspalt. Ich empfinde einen starken Brechreiz und wünsche mir ein Bier.
Mit starrem Blick visiere ich die Tür an. Der Spion brennt mir ein Loch ins Gehirn. Ich denke an die nächtlichen Geräusche und an den Schuhschrank. Sie hatten ihn doch bestimmt mitgenommen.
Dann geht die Tür auf und ich sehe in das fahle Licht des Todes. Der Fußboden beginnt zu knarren und die Dielen fühlen sich mit einem Mal feucht und nass an. Um mich herum scheint das Haus zu kentern wie eine alte spanische Gallone nach einer vollen Breitseite. Sie trägt ein lindgrünes Kleid und unten schaut ihr helles Unterkleid hervor. Punkstiefel …
Ihre Augen sind blass und ihr Haar so strähnig und fein wie frisch gesponnene Wolle, die nicht aufgewickelt wurde. Sie sieht mich an und ihr Blick ist nichtsagend. Sie weiß alles. Ich sehe in diese tiefen blassen Augen und erkenne meinen Weg. Aber noch nicht. Noch habe ich das Wort.
Samstagabend werde ich zu Jürgen gehen. Wir sehen uns Videos an und trinken was. Vielleicht unterhalten wir uns und ich sage ihm, was los ist. Vielleicht sage ich ihm, dass ich verloren bin. Er denkt, ich spinne, aber er glaubt auch, dass ich nur einer der vielen Irren bin, welche die Stadt mit Leben erfüllen. All die kleinen stinkenden Zombies, die nichts tun als fernzusehen, Computerspiele zu zocken und Bier zu saufen. Ich spiele nie Computerspiele.
Heute ist Freitag. Seit einer Stunde klingelt mein Telefon. Es ist nicht Moni. Die würde auf den AB sprechen. Es ist der Muskelmann. Ich kann es fühlen. Er sitzt am anderen Ende der Leitung und schwitzt. In der rechten Hand hat er eine Flasche mit Mineralwasser und in der linken hält er den Hörer. Er will, dass ich rangehe und er weiß, dass ich da bin. Gleich wird er aufhören und dann steigt er in das grün-weiße Auto und kommt doch her. Hätte er mal besser gleich gemacht, denn ich gehe jetzt einkaufen.
Im Supermarkt gibt es keine frische Wurst. Nur abgepackte. Das ist mir aber egal. Ich kaufe Wurst und Pizza und ein Sixpack. Ein paar Flaschen Cola kann ich auch noch tragen. Die Kassiererin will immer in meinen Rucksack sehen, dabei kennt sie mich seit mindestens acht Jahren. Ich bin damals schon mit meiner Mutter hierher gekommen, obwohl wir noch in der Siedlung gewohnt haben. Sie hat immer gesagt, dass sie gerne hier einkaufen geht, weil es alle tun und weil es hier billig sei und man alles bekomme. Das stimmte aber nicht und es stimmt heute immer noch nicht.
Ich sehe in einen Karton mit Schinkenwurst und lese ein längst vergangenes Datum. Als ich die Packungen anhebe, wimmeln unten im weichen Karton Maden umher. Eine der Packungen ist offen und das flüssige Fett hat das Papier durchnässt. Das Fleisch ist an manchen Stellen weiß von den winzigen Bissen der Maden. Der Karton ist aufgeweicht. Weiße Stellen, weicher, nasser Karton …
An der Kasse lasse ich die Kassiererin in meinen Rucksack sehen und sie fragt, ob ich die Zeitschrift von hier hätte, obwohl sie doch genau wissen muss, dass es hier gar keine Zeitschriften gibt. Ich will sie fragen, ob sie noch ganz dicht sei, aber ich schweige. Ihre Augen haben meine Mutter gesehen. Sie ist ein Kettenglied meiner Vergangenheit. Sie ist eine Verbindung zu meiner Seele. Ich frage mich, warum ich immer solch einen Unsinn denken muss.
Vor dem Haus parkt ein schmutziger Polizeiwagen. Drinnen sitzt, in ein Buch vertieft, der Conan-Polizist. Ich stelle mir vor, dass seine Lektüre von Makramee handelt und muss über meinen tollen Witz lächeln. Dabei gehe ich ganz in mich gekehrt und mit gesenktem Kopf an dem Wagen vorbei, als interessiere er mich gar nicht. Kaum bin habe ich ihn überholt, geht hinter mir die Wagentür auf.
Er spricht mich an. Ob ich einen Moment Zeit hätte, es hätte sich etwas Wichtiges ergeben.
Nein, ich habe keine Zeit. Ich will zu einem Freund. Das ist zwar erst Morgen, aber woher will er das wissen? Er lässt nicht locker und ich auch nicht. Dann will ich ins Haus gehen und da eskaliert die Sache. Mit schnellen Schritten kommt er auf mich zu und hält mich am Arm fest. Es täte ihm leid, aber ich müsse jetzt mit ihm kommen. In diesem Haus hätte es ein Verbrechen gegeben und es sei nicht auszuschließen, dass ich etwas damit zu tun hätte. Ich frage mich, ob er das überhaupt darf. Er kann mich doch nicht einfach mitnehmen. Aber er wiegt weit mehr als ich und sein Körper ist eine gestählte Kampfmaschine und ich bin ein Normalo. Bin ich das?
Ich sitze in einem Polizeiauto. Es ist das zweite Mal. Das erste Mal brachte mich ein Polizeiauto zu meiner Oma, als meine Eltern gestorben waren. Sie sind tot – beide. Ich drücke mich stumm in den Sitz, während Tränen über meine Wangen rinnen.
Im Revier gehen wir durch eine Gangflucht und er läuft dicht hinter mir her, die linke Hand auf meiner Schulter. Ich frage mich, ob er das mit Nutten, Zuhältern und Dieben genauso macht. Wahrscheinlich ganz genau so.
Das Büro, in das er mit mir geht, ist klein und trist und an der Wand hängen Bilder, die wohl ein Kind gekritzelt hat. Ein Pferd mit fünf Beinen steht auf einer blauen Wiese und stiert mich mit großen Augen an. Die Augen sind Kringel der Buntstiftaggression und sehen aus wie plattgetretene gelbe Wollballen. Mir wird schwindlig. Das Pferd hat einen riesigen Schwanz. Das Kind hatte das sicher nicht beabsichtigt, aber beim Kritzeln hatte es einfach den Stift hin und her gerissen und dabei war zwischen dem vierten und fünften Bein ein Pferdepenis beachtlicher Größe entstanden. Ob das außer mir noch jemand bemerkt hat? Ich kann durch die Glastür des Büros einen Schreibtisch sehen. Da sitzt eine Polizistin. Sie ist hässlich und hat ein viel zu breites Kreuz. Sicher hat sie schon oft den Pferdeschwanz gesehen, der da im Zimmer ihres gutgebauten Kollegen an der Wand hängt.
Wir sitzen uns gegenüber. Er legt meine Uhr auf seine grüne Schreibtischunterlage. Dann schieb er das Ganze vor meine Nase und sieht mich ausdruckslos an.
Ob ich diese Uhr kenne. Jemand aus dem Haus hätte gesagt, es sei meine. Ich schüttle den Kopf. Seine Fragen werden eindringlicher und ich beginne zu schwitzen.
›Sepsue‹
Es ist Samstag. Ich sitze bei Jürgen und wir sehen uns den neuen Horrorfilm an, von dem er kürzlich erzählt hat. Ich denke an gestern. Das Zeug für die Fingerabdrücke geht schlecht ab. Ich erinnere mich an alles, aber wo ist die Zeit hin? Eben sitze ich noch in diesem Büro und jetzt bin ich in Jürgens Wohnzimmer und sehe mit ihm fern. Was ist mit mir los? Wo ist die Zeit? Es ist keine drei Sekunden her, dass ich in einem Polizeibüro saß. Ich bin nach Hause gegangen, nachdem sie mich befragt hatten und sie hatten mir auch meine Fingerabdrücke genommen. Eine Rechtsbelehrung hatte es auch gegeben. Ich solle die Stadt nicht verlassen. Ich darf die Stadt nicht verlassen. Ich habe diese Stadt noch niemals verlassen.
Nach dem Film gehe ich nach Hause. Oben auf der Treppe sitzt Moni. Warum tut sie das?
›Sepsue‹
Es ist Montag und ich bin auf Arbeit. Das Möbelrutschen über mir macht meine Tage zu zähen Sumpflandschaften in immer währendem Nebel. Wenn ich schlafe, fühle ich mich geborgen. Dann höre ich diese leise ziehende Musik und ich habe das Gefühl, als wäre meine Mutter im Nachbarzimmer. Das macht mich froh. Ich bin der Alten nicht böse. Sie ist hier, weil sie es sein muss. Jeder tut, was er tun muss. Auch ich habe das getan.
Gerade will ich die Stechkarte in den Schlitz schieben, da sehe ich Peter, der in meine Richtung deutet. Der Polizistenmuskelmann und sein Zwerg sind bei ihm. Doch sie lassen Peter stehen und kommen auf mich zu. Ich kenne das Lager besser als jeder andere. Die Flucht geht zuerst durch die Feuertür und dann die kleine Sicherheitstreppe hoch. Mein Atem geht stoßweise und die kalte Luft brennt in meinen Lungen. Ich komme oben bei der Toilette des Bürostockwerks heraus und renne den Gang entlang. Eine Sekretärin kommt mir in die Quere, weil sie bei dem Getränkeautomaten eine Cola ziehen will. Ich remple sie um und springe über ihre Beine. Die Polizisten sind vorsichtiger und ich gewinne etwas Raum. An der Information gleite ich um die Ecke und bin nicht so dumm, auf die Straße hinaus zu rennen. Vielmehr lenke ich meine Schritte in einen Seitenkorridor und knalle eine Tür hinter mir zu. Es ist meine einzige Chance. Draußen kann ich dem Anabolikairren nicht entkommen. Er würde mich sofort einholen und flachlegen. Ich atme und höre mein Herz. Mein schlimmes Herz. Es donnert wie eine Feldhaubitze. Ich fühle mich schwindelig und frage mich, was hier vor sich geht. Werden sie weiterlaufen? Werde ich hinter ihnen aus dem Gebäude schlüpfen können?
Dann geht die Tür auf und ich stiere den Polizeibeamten mit den Augen eines getroffenen Rehs an. Ich fühle, wie mir Tränen über die Wangen rinnen. Er legt mir Handschellen an und ich fühle, wie sich mein Innerstes mit tiefer Resignation ausfüllt.
Anzinger hätte mich in Ruhe lassen sollen. Sein blöder Köter – hätte der Idiot das dumme Vieh nicht die ganze Nacht bellen lassen, wäre ich niemals hinaufgegangen. Ich war vorher niemals hinaufgegangen. Der Blödmann wäre auch nie gestolpert und ich hätte niemals den Schuhschrank wieder aufrichten müssen.
Sie bringen mich auf das Revier.
›Sepsue‹
Es ist, glaube ich, Mittwoch und es sind mindestens zwei Monate vergangen. Ich atme tief ein und dann lasse ich all meine verwirrten Gedanken mit der Luft aus meinen Lungen aus meinem Körper heraus. Ich war bei der Polizei und in der Zelle und sie haben mir Fragen gestellt und mich von hier nach da und wieder zurückgebracht. Meine Fingerabdrücke, meine Uhr, mein Anwalt.
Moni hatte den Ausschlag gegeben. Sie hatten mein Haus beobachtet und als ich montags zur Arbeit gegangen war und Moni nicht heraus kam, haben sie nachgesehen. Natürlich haben sie die blöde Kuh nicht gleich gefunden, aber ich hatte es nicht geschafft, das Bad wieder ganz sauber zu bekommen und da die Kerle meine Wohnung ja beobachtet hatten, wussten sie, dass Moni noch drinnen sein musste. Sie war nicht im Bad und nicht in der Küche und auch nicht in meinem Bett. Nein, da nicht. Natürlich haben sie die blöde Kuh dann doch gefunden. War ja klar. Im Keller. So wie ich die Ratte gefunden hatte. Und dann sind sie mich holen gekommen.
Fragen über Fragen. Mit einem Gedanken hatte ich sie hinweggefegt. Ich habe große Macht. Ich denke ein Wort und schon vergeht die Zeit. Meine Zeit verschwindet und ich bin am anderen Ende.
Sie bringen mich in die Klinik. Sie denken, ich bin verrückt. Schizophrene Anwandlungen oder so etwas. Zwanghafte Gewaltausbrüche. Hätte sie mich nicht einfach in Ruhe lassen können? Meine Mutter konnte meinen Vater auch nie in Ruhe lassen. Er war stärker als ich gewesen. Er war mit ihr gegangen. Ich wollte noch nicht gehen und will es noch immer nicht.
Zwei Monate. Es hatte acht Ärzte gegeben und sieben von ihnen wollten mir Drogen geben. Der achte aber, einer mit Pferdegebiss, hatte gesagt, ich sei gesund! Recht hat der Mann. Sie brachten mich also zurück in den Vollzug. Zwei Monate. Morgen ist die erste Gerichtsverhandlung. Mein Anwalt ist ein junger Mann mit einem ordentlichen Anzug, der ständig nervös an seiner Unterlippe kaut. Er sieht nicht aus wie ein Anwalt im Fernsehen. Eher wirkt er wie ein Student, der vor seinem ersten Bewerbungsgespräch steht oder zum ersten Mal eine nackte Pussy sieht. Ich bin aber nicht nackt.
Donnerstagmorgen. Ich gehe zwischen zwei Beamten durch einen Korridor. Sie haben mir einen schlecht sitzenden Anzug gegeben. Ich trage sonst nie Anzüge. Ich bin nicht so ein Spießer. Der Gerichtssaal liegt im Licht der Wintersonne und ich blinzle. In den schrägen Sonnenstrahlen sehe ich die Staubpartikel, die durch das Aufstehen der Zuschauer aufgewirbelt werden. Ein Reigen aus glitzerndem Feenstaub. Der Richter verlangt nach Ruhe.
Monis Eltern sind da. Die Mutter ist genauso fett und hässlich wie ihre Tochter. Mir fällt auf, dass auch die Biermann da ist. Sie ist auch so eine, die mich nicht in Ruhe lassen kann. Warum hat sie mich verpfiffen? Ich habe ihr nie was getan. Nur wegen der Musik?
Dann setzen sich alle und mein Anwalt legt mir beruhigend die Hand auf den linken Arm. Ich frage ihn leise, ob er schwul sei und er zieht hastig die Hand zurück. Ich lächle verhalten und starre zwei kreisrunde Löcher in das Holz des Tisches vor mir. Ich muss an das fünfbeinige Pferd denken und ich weiß, dass ich mächtig bin.
Dann sagt der Richter, dass ich aufstehen soll und der Staatsanwalt stellt seine erste Frage.
Meine leise geflüsterte Antwort lautet: ›Sepsue‹.
Ein Jahr vergeht so schnell. Ich muss mindestens acht Jahre hier bleiben. Ich habe vieles von dem, was passiert ist, nicht richtig verstanden. Aber ich meine, wenn man ein ganzes Jahr überspringt, darf man sich nicht wundern, dass man nicht alles so ganz richtig versteht. Ich wurde natürlich verurteilt, aber die unangenehmen Blicke der Menschen im Gerichtssaal habe ich schnell hinter mich gebracht. Sie brachten mich hier her, in die Vollzugsanstalt vor der Stadt. Ich lernte schnell die Hierarchie des Knastes kennen. Alles in drei Sekunden. Ich wurde auch angegriffen und war sogar einige Millisekunden im Krankenhaus. Ein Jahr ist vorbei. Ich denke klar und dennoch ist mein Verstand ein Nebelfeld. Mir fehlen die nächtlichen Geräusche der Möbel über mir. Die Alte ist der Schlüssel. Von ihr stammt diese Gabe. Ich gehe auf die Toilette, weil ich ein wenig Angst habe, mich zu bepissen, aber das ist natürlich Unsinn.
Wenigstens acht Jahre werde ich hier bleiben müssen.
›Sepsue‹
Es ist wieder Mittwoch. Es ist wieder Winter. Es ist morgens. Das Taxi bringt mich direkt vor die Haustür. Hier setze ich ein. Drei Sekunden. Mein Körper hat sich merklich verändert. Mein Geist kaum. Ich fühle jetzt, dass mein Rücken weh tut, als hätte ich die letzten Wochen auf dem Boden geschlafen. Jahrelang habe ich auf einem harten Gefängnisbett geschlafen. Das verändert einen.
Das Haus hat sich nicht verändert. In meiner Wohnung scheint jemand zu wohnen. Warum auch nicht? Ich hatte nie Vorhänge gehabt. Wenn ich es dunkel wollte, hatte ich einfach die Rollläden herunter gelassen. Oft hab ich sie wochenlang gar nicht hoch gemacht. Das war gestern.
Im Flur muss ich lächeln, weil die Mülltonnen draußen stehen. Offenbar hatte der Hausmeister mit meinem Nachmieter auch kein Glück.
Langsam steige ich die Treppen hoch und zähle sie dabei. Am Spion meiner Tür hängt ein Kranz aus getrockneten Pflanzen. So ein Weihnachtsding. Auf dem neuen Fußabtreter gibt es einen Dackel mit roter Zunge und Hängeohren. Ich gehe weiter. So viele Stufen habe ich noch nie gezählt. Ich bin längst über die magische fünfzehn hinweg. Oben stehe ich vor der Tür und sehe, dass sie nicht verschlossen ist. Leise trete ich ein und komme in das leere Wohnzimmer vom Anzinger. In der Mitte des Raumes steht der Schuhschrank aus Sperrholz. Deutlich erkenne ich die stumpfe vordere Ecke, wo das Furnier abgeplatzt ist. Der Schrank war umgefallen, aber die Ecke hatte der Schädel vom Anzinger abgestumpft – nicht der Boden. Ich sehe mich um und kann auf dem Boden die Schleifspuren des Schranks erkennen. Wie hatte das Ding einen derartigen Krach verursachen können? Probeweise bewege ich ihn ein Stückchen und er rutscht fast mühelos über die Dielen. Ob die Mieter unter mir jetzt auch denken, ein Weltkrieg würde über sie hereinbrechen?
Dann gehe ich ins Bad. Sie liegt in der Badewanne wie eine Leiche. Ihr nackter alter Körper wirkt wie ein Blitzschlag auf mich. Ihre Augen starren zur Decke. Sie ist tot. Langsam lasse ich mich auf die Kante der Wanne herab und greife nach ihrem Arm. Das Wasser ist kalt und ihre Haut ist es auch. Ich bin ganz ruhig. Es war niemals anders gewesen.
Ob ich zufrieden sei?
Ja, es ist gut so.
Das Wort bedeutet Musik und ist nur ein Indikator für die Kraft meiner Gedanken.
Ich nicke.
Musik ist die Quelle der inneren Macht.
Wieder nicke ich stumm.
Sie wird warten.
Sie wartet an einem Ort, den kein Prophet beschreiben kann.
Ich weiß das. Langsam stehe ich auf. Ich werde hinausgehen und mir eine Wohnung und eine Arbeit suchen. In den drei Sekunden der acht Jahre hat sich in der Stadt so manches verändert. Vielleicht finde ich eine Wohnung hier in der Nähe. Die meisten werden mich vergessen haben – hoffe ich.
Mein Leben ist gut.
Ich werde es ertragen und dann, wenn es soweit ist, werde ich bezahlen.
Ich langweile mich.
Es ist Sonntagabend und ich sitze auf meinem Balkon. Die Sonne ist gerade untergegangen. Unten sehe ich einem jungen Paar zu, das sich unter einer der Linden küsst. Sie trägt eine abgerissene Jeanshose und er einen Anzug. Komisches Paar.
Den Blick erhebend drehe ich mich Richtung Sonnenuntergang und spüre, wie das Licht meine Kopfschmerzen lindert. Ich habe einen Tumor im Gehirn. Er scheint schon immer da gewesen zu sein. Die Ärzte sagen, er sei schuld an allem. An ›allem?‹, frage ich, und sie nicken weise und sagen nichts. Ich denke an die acht Jahre. In den letzten zehn Jahren habe ich nur selten einen Abriss gehabt. Immer beim Zahnarzt und auch einmal, als ein Journalist von dieser Illustrierten mich befragen wollte. Einmal habe ich Jürgen getroffen und übersprungen. Ich erinnere mich dunkel, dass wir ein Bier trinken waren, aber das Ganze hat gerade mal eine Millisekunde gedauert. Zumindest für mich.
Die Schmerzen in meinem Kopf haben vor etwa einer Woche angefangen. Der Arzt sagte, es sei ein Wunder. Er meint damit nichts Gutes oder Schönes. Ob ich mit ihm über meine Wahnvorstellungen sprechen würde? Ich habe ihn übersprungen.
Schmerzen sind schlecht. Da hilft nichts. Es ist auch sicher, dass ich sterben werde. Jeder stirbt. Hätte ich mit Moni gehen sollen, wie mein Vater mit meiner Mutter gegangen war? Mein Vater hatte meine Mutter geliebt und sie war schön gewesen. Mit einer Frau wie ihr hätte ich vielleicht auch gehen können.
Bald werde ich gehen. Allein.
Ich werde sterben.
Bis dahin werde ich Schmerzen haben.
›Sepsue‹