Blitzgewitter
Original: © Juni 2014 Blum
eBook: © November 2014 choose your art
Titelbild, Gestaltung & Satz: Blum
Korrektur: Sim
Speyer, Deutschland
Alle Rechte vorbehalten
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Über dieses Buch
Blitzgewitter ist eine Geschichte aus dem Rollenspiel Karma²³ und spielt auf einer seiner Welten:
Über all die Zeitalter, in denen die Menschheit sich auf Terra entwickelte, übersah sie, was um sie herum vorging. Unzählige von fremden Kulturen entstanden auf weit entfernten Planeten, Kriege wurden ausgefochten und Allianzen geschmiedet. Gottgleiche Wesen übten die Kontrolle über weitreichende Sektoren der Galaxie aus. Schließlich erreichten diese Mächte auch die Heimatwelt der Menschen und sie nahmen sich, was sie brauchten. Sie entführten tausende von Menschen aus verschiedenen Kulturen und schufen sich aus diesem genetischen Grundstock ihre eigenen Sklavenvölker. Doch sie wussten nicht um die Natur der Menschen. Sie kannten nicht deren inneren Drang nach Freiheit und ihre enorme Anpassungsfähigkeit. Es kam, wie es kommen musste – während die Herren des Alls an Korruption und innerem Verfall litten, erhoben sich die menschlichen Sklavenkulturen und begannen ihren Siegeszug …
Kennung: C1Mn26p107-7 :: Quadrant: -26|107 :: System: Cabula :: Größe: 7 :: Gravitation: 0,9 G :: Umlaufzeit: 1,1 Standardjahre :: Trabanten: Usana, MI1-kaca215287 :: Subraumanschluss: kT4QpD-SS3-D0,5D :: Sj 2.141 :: Name: Mipaila :: :: ::
Verschlafen öffnete Mila das Oberfenster seiner Koje. Die Blitze über den Rändern der Schlucht tauchten den Himmel in ein flimmerndes Neongewitter und erfüllten die Luft mit ihrem typisch brandigen Ozongeruch. Mit geballten Fäusten rieb er sich den Schlaf aus dem Gesicht. Er blickte mit zusammengekniffenen Augen zwischen den Wellblechhütten entlang. Trotz der stroboskopartigen Wirkung der ewigen Blitze erfüllte eine seltsame Ruhe den Morgen. Noch schwiegen die Sirenen der Züge, doch Milas innere Uhr sagte ihm, dass es bald so weit sein würde.
Sich streckend rutschte er von seiner Matratze und fand mit den Füßen die oberste Strebe der kalten Metallrohrleiter. Es kostete ihn Überwindung hinunterzuklettern. In der Koje unter ihm drehte sich Abram zur Wand und murmelte etwas in sein Kissen. In der Holzschale in der Ecke neben der Türschwelle war noch etwas Milch.
Das Licht in der Nasszelle flackerte wieder. Er hatte versucht, es zu reparieren – vergebens. Auf dem Markt kostete eine Leuchtstange mehr, als sein Vater an einem Tag verdiente. Mit nach vorn gebeugtem Kopf ließ er sich seine morgendliche Wasserration über den Körper rinnen. Es war zu wenig, um den Schlaf zu vertreiben. Die meisten Arbeiter wuschen sich nur abends nach getaner Arbeit. Er brauchte das Wasser, um wach zu werden. Er mochte die vitalisierende Wirkung, das Trommeln auf seiner Schädeldecke. Manchmal erkaufte er sich die Ration seines Bruders. Küchenarbeit war nicht gerade beliebt bei den Brüdern und stellte eine sichere Währung dar.
Von der Müdigkeit verkrampft, dauerte es eine Weile bis er es schaffte, seine Blase zu entleeren. Mit halb geschlossenen Augen beobachtete er, wie sich das gelbe Rinnsal mit dem Wasser vermischte und im Abfluss verschwand.
Abtrocknen, den Zahnreiniger in den Mund schieben, auslösen, Entlausungspuder in die Haare rubbeln, zwischen den Zehen nach verräterischen Anzeichen eines Milbenbefalls nachsehen. Er war fertig für den Tag.
Immer noch etwas steif, schlüpfte er in seine Latzhose aus braunem Denim. Wie alle Arbeiterkluften war auch die seine mit den gelben und weißen Insignien der MI1 versehen. Zwei Streifen, ein gelber Stern, drei weiße kleinere Sterne. Er mochte das Firmen-Design.
Erneut rubbelte er sich mit einem Handtuch über den Kopf und schlüpfte dann in seinen Poncho. Die Kapuze schob er nach hinten. Sein Vater verbot es den Brüdern, im Haus die Kapuze zu tragen. Ihr seid keine Gangster, pflegte er zu sagen. Dies ist eine anständige Jopa. Er benutzte oft solche alten Ausdrücke. Jopa – nur die alten Arbeiter nannten die Wellblechunterkünfte Jopas.
»Guten Morgen, Ada«.
Milas Vater saß im Essraum und starrte verdrossen in seinen Kuv. Meister Urman blickte immer verdrossen drein. Es ist mein Gesicht, ich hab nur das eine, pflegte er zu murmeln. Mila wusste, dass Vater es nicht mochte, Ada genannt zu werden. Nur Kleinkinder nennen ihren Erzeuger Ada. Ihr seid keine Kinder mehr. Doch Mila liebte seinen Ada und er hatte ihn immer so genannt.
Er setzte sich auf den Schemel, der dem seines Vaters gegenüberstand. Träge taumelten Staubpartikel durch die trübe Luft. Als er nach der Kanne griff, beschleunigten die Partikel ihren Tanz. Der Sud roch würzig wie ihn sein Vater liebte. Ingwerstreifen waren das Geheimnis. Nicht jedermann mochte dies, doch hier auf Mipaila trank man den Kuv scharf und heiß.
»Wo ist dein Bruder?«
Jeden Morgen die selbe Frage. Wo hätte Abram sein können? Er war da, wo er jeden Morgen der letzten sechzehn Umläufe seines Lebens gewesen war, solange sich die Familie nicht auf Untertagesschicht befand.
Mila schenkte sich noch einen Schluck in die emaillierte Blechtasse ein und langte, ohne zu antworten, nach dem Brot mit der dicken knusprigen Kruste. Die Amtsfrau aus der Nebentür hatte es frisch gebacken und noch heiß herüber gebracht. Der Vater hatte es unter die Rotlichtlampe gelegt, wo es schön warm gehalten wurde. Mit dem Messer schnitt Mila eine daumendicke Scheibe gegen seinen Leib und dann bestrich er sie dick mit grauem Schmalz. Sein Magen gurgelte. Herzhaft biss er in die harte Kruste und kaute mit aller Kraft, so dass seine arbeitenden Kiefermuskeln hervortraten. Dann spülte er mit der heißen schwarzen Flüssigkeit nach. Er war zufrieden und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund.
»Tzst«, zischte sein Vater abfällig.
Mila sah durch den schmalen vertikalen Fensterschlitz auf die regnerischen Wege hinaus. Da ertönte das brachiale Signal des Ostzuges und brachte das Blech der Hüttenwand zum Vibrieren. Der Tag hatte offiziell begonnen; es war Zeit für den Aufbruch.
Jumis Arbeitsschuhe berührten die Spitzen seiner eigenen. Er sah das Mädchen an. Ihre linke Wange klebte an der kalten Scheibe des Abteils. Die Gleichmäßigkeit des Gerüttels wurde immer wieder von alten Schienenstücken unterbrochen. Dann machte ihr Gesicht einen Hüpfer und sie rümpfte die Nase. Er mochte ihr Haar – die Strähnen, die ihr immer wieder über ihr rechtes Auge rutschten. Draußen rauschte die Tunnelwand vorbei, schuf eine Welt aus rasender Bewegung. Er stellte sich vor, was passieren würde, wenn es kein Glas zwischen ihrem Gesicht und der rauen Wand gäbe. Eine Million scharfer Zähne, die sich mit einer solchen Geschwindigkeit bewegten, würden Haut, Fleisch und Knochen in einen Wirbel aus blutigem Chaos verwandeln. Ihn schauderte und blinzelnd vertrieb er die hässlichen Gedanken. Stattdessen dachte er an den Abend vor drei Arbeitszyklen. Er hatte Jumi eingeladen, mit ihm in die Stravatise zu gehen. Viele junge Arbeiter trafen sich dort mit ihren Mädchen. Es war ein lustiger Abend gewesen. Sie hatte nicht ihren Overall getragen, sondern enge Hosen aus Denim und ein Trägerkleid darüber. Es wurde viel gelacht, so einige Hopfenwasser getrunken und später hatte Abram sie einem Freund vorgestellt, der Traumpulver und andere zur Entspannung beitragende Substanzen dabeihatte. Sie hatten nicht viel genommen, gerade genug, um Arm in Arm träumen zu können. Gemeinsam allein. Keiner konnte in die Träume eines anderen blicken.
Rumpelnd donnerte der Zug über eine schlecht verlegte Gleisanschlussstelle und machte einen kleinen Hüpfer. Die Arbeiter glichen die ruckartige Bewegung träge mit ihren Körpern aus. Sie fuhren diese Strecke ständig. Sie gehörte zu ihrem Leben, wie die Luft, die sie atmeten.
Mila stupste Jumis Schuhe an. Sie trug wie alle Arbeiter Lederschuhe mit Metallkappen und feuer- und säureresistenter Sohle. Ihr Blick blieb auf den Fensterrahmen gerichtet. Hatte er etwas falsch gemacht? Kurz dachte er darüber nach, sie zu fragen, aber diese Vorgehensweise überforderte seinen Mut. So heftete er still seinen Blick ebenfalls auf einen Punkt im Raum und verfiel in dieselbe Lethargie, wie die anderen Passagiere.
Der Stollen des Lālapha do, des ›Roten Risses zwei‹, begann an einem Vorlager für über zweitausend Arbeiter. Jetzt, zum Schichtwechsel, sammelten sich die Schichtler am Rand der Gleise und versuchten, drängelnd und schiebend, zuerst eingelassen zu werden. Es machte keinen Unterschied, aber sie waren so begierig endlich zu ihren Familien zurückzukehren, dass ihre innere Unruhe sie einfach nicht länger stillstehen ließ. Müde und mit vor Schmutz starrenden Gesichtern rangelten sie miteinander um die besten Plätze. Mila sah in ihren glänzenden Augen die Freude der Heimkehrenden. Er würde in fünf Schlafzyklen auch hier stehen. Sein Arbeiteranzug würde schmutzig, sein Gesicht würde rußig sein, doch seine Augen würden nicht glänzen. Wohin sollte sein Herz sich sehnen? Für ihn gab es kein echtes Zuhause. Oben war wie unten. Natürlich hatte er seinen Bruder, seinen Vater und die kleine Arbeiterwohnung, in der sie lebten. Er kannte Prakāśa sthāna wie seine Kitteltasche. Er hatte Freunde. Aber sein Herz hatte den Halt verloren, als vor einigen Planetenzyklen seine Ma gestorben war. Fieber, hatte Doc Anas damals diagnostiziert. Das hatte er selbst gesehen. Aber was für ein Fieber und woher war es gekommen? Niemand wollte ihm diese Fragen beantworten. Ohne dieses Wissen hatte er mit ansehen müssen, wie man ihren in Tücher gewickelten Leib in der Verbrennungsanlage den Glutöfen übergeben hatte. Die Vorarbeiter hatten die Sirenen aufheulen lassen. Acht Mal hatte der schrille Klagelaut sein Gehirn gepeinigt. Dann war es vorbei gewesen. Er war für immer allein zurückgelassen worden. Ja, er hatte seinen Bruder und ja, er hatte seinen Vater, aber sein Herz war mit seiner Mutter Malicje verbrannt und in dickem öligen Qualm durch die Schlote zu den Blitzen über Mipaila aufgestiegen.
Die Arbeiter strömten aus den Zugabteilen. Langsam leerten sich die Wagen. Die Menschen auf den Bahnsteigen machten ihnen stumm Platz. Wer sich kannte, grüßte sich freundlich. Die Abreisenden kannten keine Schadenfreude und die Ankommenden freuten sich für die anderen. So wurde ein ewiger Tausch vorgenommen. Saubere Arbeitskleidung gegen schmutzige, frische Knochen gegen ermüdete, nüchterne Herzen gegen erwartungsvolle. Mila ließ sich zwischen den Mitgliedern seines Zuges treiben – man konnte nicht hinfallen, man musste sich einfach nur in dem Gedränge treiben lassen. Ein Ozean aus dahinwankenden Leibern. Es roch nach Ozon und Mensch. Mipaila roch stets nach Ozon und Mensch. Wollte man andere Gerüche hinzufügen, musste man in die Großküchen gehen oder eine dieser Lokalitäten besuchen, über die man nur mit vorgehaltener Hand sprach. Mila waren die Gerüche einerlei. Er ließ sich treiben.
»Sieh mal«, sagte Abram mit heiserer Stimme.
Vor ihnen teilte sich eine kleine Gruppe von Kochfrauen. Mila erkannte einige der Gesichter. Eines der Mädchen war Helin, Abrams Schwarm. Er nickte der Brünetten freundlich zu und zwinkerte so mit dem Auge, dass sein Bruder es sehen musste. Dieser quittierte die Neckerei mit einem Fauststoß gegen Milas Schulter, doch dieser lachte nur. Helin winkte ihnen beiden. Sie lebte in einer angrenzenden Dreierschicht. Abram würde sie bald für sich haben. Vielleicht würden sie sogar heiraten. Dann dürfte das Mädchen ihren Schichtplan dem seinen angleichen. Vielleicht würde Abram auch genug arbeiten und Helin könnte in der Stadt bleiben, bei den dortigen Koch- oder Waschfrauen. Gute Aussichten für die beiden. Wohl die besten, die Mütterchen Gewitterkruste für sie bereithielt. Mipaila war ein rauer Ort. Eine Gewitterkruste, ein dunkles Loch, aus dem man nichts als Erze fördern konnte. Kein Halm, kein Leben, nur Stein und Blitze.
Zum 287er ging es über vierhundert Meter in die Unterwelt hinab. Der Lift war noch nicht alt, hatte aber durch die ständige Benutzung schon stark gelitten. Die Absperrgitter klapperten und das grünliche Licht flackerte bei jedem überfahrenen Stockwerk. Glänzende Schleifkontakte waren zerschlissen und funkten hin und wieder als wollten sie mit den Blitzen der Planetenoberfläche konkurrieren.
Jumi war noch Scout. Sie hatte das Alter zwar eigentlich überschritten, war aber klein und zierlich. Sie passte noch durch das Testloch. Mila sah sie an. Auf einer der Pritschen hockend, erwartete sie stumm ihr Schicksal. Der Gelbvogel in dem Käfig, der neben ihr angebracht war, schien denselben trüben Gedanken zu folgen, wie seine menschliche Nachbarin. Bald würde sie nicht mehr durch die Tunnel passen und dann? Sie würde arbeiten müssen oder sie blieb oben bei den Löschfrauen. In der Küche würde man sie nicht haben wollen. Autoritätsproblem nannte man es. Tagträumerin. Kathartisches Aggressionsverhalten. Mila blinzelte, als der Fahrstuhl erneut Funken schlug und atmete tief durch. Er mochte Jumi.
Er hasste es, wenn sie unglücklich war. Sie schien immer unglücklich zu sein. Er hasste diese Welt.
Unten angekommen, verteilte Herr Murbroja die Stollen. Er war ihr Vorarbeiter. Die Verwaltung nannte das Supervisor. Hier unten war Herr Murbroja vor allem ein alter gebeugter Mann, der Mipaila sein Leben im Tausch gegen die Erfahrungen der Staublunge und der Gelenkknotenbildung gegeben hatte. In ein paar Umläufen würde die MI1 ihm dafür einen letzten Flug nach Poin´Khali schenken und dort würde er sich dann zu Tode saufen. Seine Seele würde hier bleiben. Allein, tief unten in den Stollen seines Lebenswerkes.
»Meister Urman und Söhne 287.7«, murmelte er wie immer.
Alles war wie immer. Schlaf- um Schlafzyklus. Arbeiten, Ultraschallgehämmer, heulende Sirenen, Schlafen, Essen, müde Knochen – bis zu dem Zeitpunkt, als sie die Sache entdeckten. Eine Sirene schrillte kurz auf. Die Hämmer tackerten müde aus und verstummten schließlich. Die Saugfräsen schrien vorwurfsvoll, weil die Arbeiter nicht aufhörten Vorschub zu geben, obwohl die Motoren schon langsamer wurden.
Plötzlich war alles ganz still. Niemand konnte etwas mit der Sache anfangen. Es kam schon vor, dass ein Arbeiter einen Unfall hatte. Jemand musste einen Schacht hinunterklettern und die Einklinkhaken schlossen nicht richtig. Oder die Messstreifen an einem Overall waren veraltet und funktionierten nicht mehr. Da konnte man schon mal einschlafen und sanft hinüber ins Reich der Finsternis driften. Viele der Endstollen füllten sich mit Gasen oder wurden nicht schnell genug oder unsachgemäß von der Sauerstoffversorgung erreicht. Mila stellte es sich angenehm vor, zu ersticken. Aber so? Nein, so zu sterben stellte sich niemand angenehm vor.
Man versammelte sich um die Leiche und da standen sie dann. Keiner schien sich zuständig zu fühlen, etwas zu unternehmen. Sie standen nur da und gafften auf das Geschehene herab, traten von einem Fuß auf den anderen und das höchste der Gefühle war es, verhalten den Kopf zu schütteln oder sich den Bart zu kratzen. Manche rümpften übertrieben die Nase oder zogen ihre Staubfilter über das Kinn.
Mila beobachtete, wie Abram langsam grün im Gesicht wurde. Sein kleiner Bruder hatte noch nie Blut sehen können. Er fragte sich, wo Jumi war. Ihr Auftrag war es gewesen, im 287er nach neuen Adern zu suchen. Niemand hatte hier in den letzten Umläufen ergiebige Richtungen melden können. Die Gildenleitung und die MI1-Kommissare scherten sich seit langem nicht mehr um die Sondierung der Adern. Mila erinnerte sich dunkel an den Sucher, der die Stollen begutachtete, als er selbst noch ein Kind und somit ein Scout gewesen war. Merkwürdige Gestalt. Er hatte eine Art Gasmaske und einen Rückentornister getragen. Groß und dürr war er daher gekommen und man hatte sich des Gefühls nicht erwehren können, die Gewitterkruste würde ihn jeden Moment mittels ihrer Anziehungskraft zerknittern.
Niemand half den Arbeitern heute noch bei der Sondierung. Es war über einen halben Planetenumlauf her, dass ein Scout eine Verbreiterung, ein Vorkommen vermeldet hatte. 232.3 hatte Magnesiumerz ausgerufen. Zwischenzeitlich war die Spur längst erkaltet. Man hatte schnell reagiert und geschürft, was das Zeug hielt.
Der Mann, es war ein Mann, lag irgendwie verdreht in einer Kuhle im Tunnelboden. Das Gitter, welches die Kuhle bedeckt hatte, war nach oben gebogen und hing nun halb in der Luft. Es sah aus, als sei ein schwerer Findling von der Tunneldecke heruntergefallen, hätte das Gitter mit Schwung auf der einen Seite heruntergedrückt und so, wie bei einer Wippe, auf der anderen in die Wade des Arbeiters getrieben. Das hatte ihn gefällt, eindeutig. Aber gestorben war er daran sicher nicht.
Der Stollen war von einem bestialisch stinkenden Dunst erfüllt. Es handelte sich bei dem Gestank nicht um den typischen Geruch verbrannten Fleisches. Das hier war irgendwie aggressiver, beißender. Es fehlte die süßlich faulige Komponente und reizte dafür weit mehr die Schleimhäute der Atemwege. Vielen der Anwesenden standen Tränen in den Augen und so mancher hatte eine Atemschutzmaske übergestülpt.
Schließlich beugte sich Herr Murbroja, die Hände auf dem Rücken verschränkt als wolle er sichergehen, dass sie sich nicht selbstständig machen konnten, nach vorn, schob seine Sehhilfe zurecht und murmelte: »Bragma«.
Einige der Arbeiter nickten.
»Am Hals ist er gestorben«, sagte der alte Vorarbeiter und meinte sicher, dass der Unglückliche an den Folgen der Halsverletzung verstorben war. Dabei war dies bei dem schrecklichen Gesamtzustand der Leiche wirklich kaum zu bestimmen.
Wieder zustimmendes Nicken und leises Gemurmel. Die meisten der Arbeiter hatten nun ebenfalls die Hände auf dem Rücken verschränkt. Es war, als wollten sie durch die Imitation ihres Anführers ihren gegenseitigen Zusammenhalt stärken. Das Ganze dauerte schon über zwanzig Minuten. Dann kam Bewegung in die Szenerie. Auf der Westseite des Stollens drängten sich Neuankömmlinge heran. Die Schichtler drückten sich an die Tunnelwand, hingen aber nach wie vor am Geschehen, als verbände sie ein unsichtbares Seelenband mit dem Grauen des Todes. Schließlich stand nur noch Herr Murbroja dicht genug bei dem Toten. Die anderen hatten für den First Gardman, dessen Männer und den Gildenagenten Platz gemacht.
First Gardman Jurma baute sich neben dem Vorarbeiter auf und sah auf den Toten herab. Mit in die Hüfte gestemmten Fäusten sagte der übergewichtige Mann außer Atem: »Was für eine Schweinerei ist denn bitte das jetzt?«
Er starrte Murbroja an, als habe dieser höchstpersönlich den Mann getötet und in dieser unnatürlichen Haltung für die Spektatoren zurückgelassen.
Agent Fourstars Reigmenson trat heran. Wie immer trug er einen fadenscheinigen und steifen dunklen Anzug, der hier unten in den Stollen absolut fehl am Platz erschien. Sein weißer Stehkragen schien ihm dauerhaft die Luft abzudrücken, doch ließ der skeletthafte Mann mit den schneeweißen Haaren sich kein daraus resultierendes Ungemach anmerken. Er fingerte an seiner Schutzbrille herum, nahm sie schließlich ab und ließ seine wässrigen grauen Augen zum Vorschein kommen. Dann beugte er sich zu dem Toten nieder und war damit der erste vor Ort, der es wagte, seine Hände nach unten wandern zu lassen. Er packte mit einer ruckenden Bewegung den linken Arm des Unglücklichen, als versuche er, ein fliehendes Insekt einzufangen und zog ihn dann zu seiner spitzen, nach unten gekrümmten Nase empor. Schnüffelnd roch er an der ätzenden schwarzen Schmiere, die den Toten über und über bedeckte.
Dann sah der dürre Mann mit dem wachsartigen bleichen Totenteint den Ordnungshüter an.
»Und?«, grunzte der feiste Gardman kurz angebunden.
Die Stimme des Agenten klang wie eine Mischung aus Drogensucht und ausgerutschtem Messer, das über einen Teller schrie: »Ich würde sagen … Blut.«
»Sehe ich auch. Überall. Jede Menge.« Jurma kratzte sich an der Seite und stierte den Agenten an. Mit der Hand machte er eine rudernde Bewegung, um diesem anzuzeigen, dass er mit der Auskunft unzufrieden war und mehr zu erfahren wünschte.
Agent Fourstars Reigmenson sah aus seiner gebeugten Haltung nach oben, richtete sich dann aber auf und drückte die nach unten hängenden Schultern durch. Er sieht aus wie ein Vogel, dachte Mila, ein sehr alter dürrer Vogel, der auf der Suche nach Nahrung die Toten besucht.
»Es scheint sich um einen eisenhaltigen Proteinkomplex zu handeln. Ich stelle aber ebenfalls Nukleinsäuren fest, die nichts in menschlichem Gewebe zu suchen haben.«
Der Agent war ein Psiont, ein Mensch mit paranormalen Kräften. Er war für seine außergewöhnlichen Sinne bekannt. Er schien tatsächlich anhand des Geruches Stoffe und deren Bausteine erfassen zu können. Warum erkannte er dann nicht auf Anhieb, was hier vorgefallen war?
Der oberste Wachmann hob eine seiner feisten rosa Hände. Nach wie vor starrten die Arbeiter auf die Leiche. Er räusperte sich. Keine Veränderung. Sein Blick richtete sich auf den Vorarbeiter. Er solle die Leute im Hauptstollen versammeln. Keiner rührt hier etwas an! Weitere Sicherheitskräfte seien auf dem Weg. Man würde hier Platz brauchen, um weitere Untersuchungen vorzunehmen und den Toten abzutransportieren. Wer war der Mann überhaupt. Ah ja? Gut, wir werden seine Personalien überprüfen.
Alle Arbeiter sollten ihre ID-Karten bereithalten. In einer Stunde würde er mit den Verhören beginnen – sollte es nicht zu einer Schuldbekennung kommen.
Herr Murbroja nickte und wartete, bis der Gardman einen Schritt zurück getreten war. Dann sprach er zu den Arbeitern. Man stellte ihm Fragen. Angst, Unsicherheit und der Unwille, die unfreiwillige Pause von der Arbeitszeit abgezogen zu bekommen, erfüllten den Raum. Nachdem die Blicke der Überlebenden sich von dem Toten gelöst hatten, schien sich dieser leise von der Realität zurückzuziehen. Das Grauen wurde mit einer Plastikfolie und einer großen Portion Egoismus der Überlebenden zugedeckt. Murbroja beantwortete so viele Fragen wie er konnte und endlich schob sich die Traube der Zeugen den Tunnel hinunter. Im Hauptstollen gab es Platz, Kuv und hunderte von weiteren Arbeitern, die wissen wollten, was in 287.7 vorgefallen war. In Windeseile verbreitete sich die Losung des Tages: Ein Mörder treibt hier sein Unwesen und keiner wird hier mehr sicher sein, eher dieser Knecht des Bösen dingfest gemacht ist.
Im kleinen Komplex des Coroners innerhalb des Krankenhauses von Prakāśa sthāna beugten sich vier Personen über einen Untersuchungstisch aus Chirurgenstahl. Die zur Verfügung stehenden Scanner waren veraltet und teilweise funktionsuntüchtig, doch man hatte verschiedene merkwürdige Resultate aufzeichnen können. Der Coroner, ein junger Mann mit dunkler Haut, der erst vor kurzem die Aufgaben seines Vorgängers übernommen hatte, schüttelte wieder und wieder den Kopf. Er stammte von Poin´Khali und war wegen eines geringen Drogendelikts hierher versetzt worden. So war es vielen Amtleuten hier ergangen. Angehörige des Militärs wurden nicht entlassen, man brauchte sie an Orten wie diesem. Orte, an denen niemand freiwillig seinen Dienst verrichten wollte.
Bei den anderen drei Personen handelte es sich um den First Gardman Olson Jurma, Agent Fourstars Reigmenson (Vorname unbekannt) und Frau Tagama Orikimi, die derzeitige Obervorseherin der MI1 auf Mipaila. Der Coroner, sein Name war Jani Albrāga, sog hörbar die Luft ein. Dann richtete er sich auf und ging an die weiße Monitorwand, die eine Schnittgrafik der Leiche simulierte. Er deutete auf den Kehlkopf des verkrümmten Körpers. Mit trockener Stimme erklärte er, dass der Arbeiter durch einen Stoß mit einem stumpfen dünnen Gegenstand in den Kehlkopf getötet worden war. Die Mordwaffe musste eine Art Widerhaken besessen haben, denn beim Herausziehen waren die Luft- und die Speiseröhre mit herausgerissen worden. Der Mörder hatte diesen Vorgang wenigstens zwei Mal wiederholt. Nach dem Eintritt des Todes kam es zu einer Explosion. Das Sauerstoffaggregat auf dem Rücken des Opfers war während des Gerangels undicht geworden und schließlich geplatzt. Offenbar lag der Mann zu diesem Zeitpunkt. So wurde das Gitter unter ihm in das darunter befindliche Loch gedrückt und auf der anderen Seite, wie bei einer Wippe, nach oben geschossen. Es war gerissen und die bloß liegenden Stangenenden hatten die Wade des Mannes perforiert. Danach wurde das Opfer – an dieser Stelle machte Doc Albrāga eine Pause und rieb sich seine aristokratische Nasenwurzel – mit irgendeiner Art von Säure übergossen. Das Material hatte seine Hautoberfläche zu großen Teilen zersetzt und schließlich eine schwarze stinkende Schlacke gebildet. Als man ihn fand, war dieser Vorgang wenigstens eine halbe Stunde, wahrscheinlich länger, abgeschlossen gewesen.
Nachdem der Coroner geendet hatte, sahen ihn die anderen stumm an. In ihren Augen war deutlich zu erkennen, wie verrückt all dies klingen musste, aber er hatte keine anderen Informationen. Die Med-KI hatte noch nicht einmal die Säure benennen können. Auf atomarer Ebene war sie mit Salzsäure verwand, wies aber zusätzliche Eigenschaften auf, die mit keinem Stoff der hiesigen Datenbanken übereinstimmten. Das Ganze hatte etwas Fremdartiges. Er hatte noch nie von solch einem bizarren Fall gehört.
First Gardman Jurma hatte inzwischen die Identität des Opfers sichergestellt. Es handelte sich bei ihm um den achtundvierzigjährigen Stollenvormann Hunja Bragma, ledig, keine Kinder. Wie der Coroner stammte der Mann von Poin´Khali und hatte noch einen Vertrag von drei Umläufen vor sich gehabt. Insgesamt hätte er dann acht Umläufe auf Mipaila verbracht. Aktenkundig gewesen war er wegen mehrerer Kneipenschlägereien, der Misshandlung von Freudenfrauen und leichtem Drogenmissbrauch. Nichts Gravierendes. Ein Arbeiter, der seinen Frust auslebte. Er hatte hart gearbeitet und ein hartes Leben geführt. Mit seinem Ableben hatte er den selben Pfad eingeschlagen.
Sie unterhielten sich gereizt über ihre Möglichkeiten. Die Verhöre hatten bisher noch zu keinerlei Ergebnissen geführt. Keiner der Arbeiter hatte etwas gesehen. Keiner wußte viel über das Opfer zu berichten. Er war wohl ein Einzelgänger gewesen. Dabei hätte der First Gardman schwören können, Bragma hin und wieder mit anderen Arbeitern gesehen zu haben. Die Kerle verspielten oft ihren Lohn beim Würfeln. Konnte sich keiner seiner Kumpane an ihn erinnern? Und dann diese seltsame Todesursache. Irgendetwas oder -jemand hatte ihm den Kehlkopf zertrümmert und dann herausgerissen. Es war derzeit absolut unerklärlich, welche Waffe oder welches Werkzeug dabei zum Einsatz gekommen war. Und die Schlacke? Eine Säure, um den Tatvorgang zu verschleiern?
Jurma schlug vor, die Arbeiter erneut zu verhören. Einzeln und hier in der Stadt. Als die Obervorseherin diesen Vorschlag hörte, winkte sie gereizt ab: »Sind sie verrückt geworden?«
Er zog die Schultern hoch und deutete auf die Monitorwand. »Was? Wollen sie das nicht geklärt wissen? Wir müssen es protokollieren und ich habe nicht die geringste Lust, keine Antworten auf die kommenden Fragen zu haben.«
Der Coroner nickte und fasste sich ans Kinn. Leider war er ratlos. Er hatte so etwas noch nie gesehen. Als die Vorseherin ihn direkt ansprach, schrak er zusammen.
»Es muss doch herauszufinden sein, was für eine Scheiße das ist!« In ihrer Stimme schwang ein verzweifelter Unterton. Ein dünner Schweißfilm bildete sich am feinen Haaransatz ihrer Schläfen.
Sie sieht ihre Provision flöten gehen, dachte der First.
Dann meldete sich der Agent zu Wort: »Wir werden niemanden von der Arbeit abziehen.« Seine Stimme war wie immer irritierend schrill und beherrscht. Als er weiter sprach, ließen seine Worte keinen Widerspruch zu. Dabei stand er rangmäßig unter dem First Gardman und der Obervorseherin. Doch niemand wusste, was zu tun war und alle waren froh, dass dieser unangenehme düstere Mann das Ruder übernahm.
»Wir werden sie beobachten. Ich werde die Überwachungseinheiten neu tunen. Sie reden. Sie reden die ganze Zeit über. Die Tunnel machen sie einsam und die Einsamkeit lockert ihre Zungen.« Er machte eine kurze Pause. »Früher oder später werden wir eine Spur entdecken.«
Die anderen stützten sich auf den Besprechungstisch und versuchten, gemeinsam die Holzplatte mittels ihrer Blicke zu perforieren. Stumm nickten sie, ohne in die grauen toten Augen des Agenten zu blicken. Sollte er nur machen. Besser er als ich, dachten sie, ohne es zu wissen fast gleichzeitig.
Als die Oberaufseherin und Jurma gegangen waren, entnahm der Agent dem Scanner eine Kopie der Aufzeichnungen.
»Diese Informationen dürfen diesen Raum nicht verlassen. Das Protokoll …«, sagte der Coroner, aber Reigmenson schnitt dem besorgten Mann mit einer harschen Handbewegung das Wort ab.
Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, zischte er: »Es wurden hier keine Daten entnommen.« Dann hob er den unnatürlich schmalen Kopf und drang mit den Augen in das Gehirn seines Gegenübers ein. Der Wissenschaftler erzitterte. Dann erschlaffte seine Muskulatur und er nickte stumm.
Im Stechschritt verließ Reigmenson das Untersuchungszimmer. Er hatte viel vorzubereiten. Er musste seine Fühler ausstrecken. Innerlich freute er sich schon auf diese Arbeit. Mipaila war ein Drecksloch und darüber hinaus war es ein verdammt langweiliges Drecksloch. Endlich passierte mal etwas, das seiner Fähigkeiten gerecht wurde. Er lächelte grimmig. Die Jagd hatte begonnen.
Sein Ada war einst mit Onkel Youryc von Kirn 8 hierher gekommen. Als junge Männer hatten sie nach eigener Aussage viele Dummheiten begangen und schließlich schien die Abgeschiedenheit der Bergbauwelt ihren einzigen Ausweg dargestellt zu haben. Einen Planetenumlauf nach ihrer Ankunft lernten sie Malicje kennen. Beide waren sofort Feuer und Flamme für das hochgewachsene, schlanke Mädchen mit den hellblonden Haaren, den mandelförmigen Augen und dem gold-weißen Teint gewesen. Sie kam mit ihrer Familie von Broscov. Arbeiterleute, arm aber gesund, mit der Ambition, es hier zu etwas zu bringen. In diesen Tagen gab es nicht viele Menschen von Broscov auf Mipaila. Sie galten als Minderheit und wurden von den früheren Siedlern, wenn man die Arbeiter so nennen wollte, mit, gelinde gesagt, Zurückhaltung behandelt. Kirner und alt sivaistische Sitten herrschten vor und fremdes Verhalten oder gar Abweichungen in der Religionsausübung wurden wie allerorts mit Argwohn und Vorsicht quittiert. Urman und Youryc war Malicjes Herkunft einerlei gewesen. Sie liebten ihr Lachen und ihre fröhliche unbekümmerte Art. Keiner von ihnen hatte je ein Mädchen kennengelernt, welches in der Lage gewesen war, sie beide unter den Tisch zu trinken. Schließlich war es gekommen wie es kommen musste. Die Brüder gerieten in Streit. Zu einer frühen Stunde waren sie aufeinander losgegangen. Urman, der damals der Meinung der Grubenkumpels nach, wohl von tieferen Gefühlen als sein Bruder erfüllt gewesen war, unterlag. Er musste mit einer schweren Verletzung, wohl durch ein Messer, ins Krankenhaus gebracht werden, wo man ihm operativ das Leben rettete. Der Bruder verbrachte die ganze Nacht im Flur neben Urmans Zimmer. Er bereute den Vorfall zutiefst.
Dieser Umstand und die Tatsache, dass er für die Behandlung in voller Höhe seinen Lohn aufbrachte, rettete ihn vor weiteren strafrechtlichen Konsequenzen.
Auch Malicje wartete dort. Mit verheulten Gesichtern saßen sie einfach nur stundenlang da und hielten sich gegenseitig die Hände. So waren sie sich schließlich näher gekommen. So oder so ähnlich musste es sich zugetragen haben. So hatte man es Mila erzählt.
Er kaute auf seinem Frühstücksbrot herum. Die riesigen Ultraschallpocher wummerten und ließen den Boden dauerhaft in einem Stakkato gleichmäßiger Vibrationen erzittern. Das Förderband der Hütte brachte die Erze von den einzelnen Hauptstollen herüber. Teilweise hatte es eine Länge von über fünfzig Kilometern. Hier im Zerkleinerungszentrum wurden die Brocken zerstoßen und in einem Chemikalienbad vorgereinigt. Grobe Scanner untersuchten ihre Ergiebigkeit und menschliche Schätzer widerlegten die Werte der Scanner. Die technischen Mittel, die man den Arbeitern zur Verfügung stellte, ließen stets zu wünschen übrig. Hier war alles noch gute alte Handarbeit.
Träge stocherte er mit dem Teilspaten in der Schlacke herum. Er war unkonzentriert und eine tiefe Unruhe hatte von seinem Geist Besitz ergriffen. Immer wieder schielte er zu seinem Vater hinüber. Er kannte die große Narbe, die quer über den Bauch des alten Mannes verlief. Dicke Wulste wucherten im Zickzack über eine helle, handbreite, fast gerade Erhebung. Er konnte sich seinen Vater nur schwerlich bei einer Messerstecherei vorstellen.
Dann schweiften seine Gedanken wieder zu der Sache. Er erinnerte sich an den Mann. Er hatte ihn oft gesehen. Wenn er zwischen den anderen Arbeitern herumgeschlichen war. Wenn er an einem der Holztische hockte und seine Vesper verspeiste. Mit Ruß und Staub im Gesicht. Wie alle. Jetzt war er tot. Waren die Stollen jetzt gefährlich für Leib und Leben?
Ein Knirschen, dann ein tiefes Grollen aus der Übersetzung unter dem Pocher, dann sprang Mila auf und betätigte den Nothalt. Ein armdicker Erzbrocken klemmte im Schieber. Er schüttelte den Kopf. Konzentration, Junge, schalt er sich innerlich. Er nahm den Spaten und rüttelte an dem Brocken, aber dieser klemmte fest. Mit dem Thermoverbundstoffmanipulator trennte er die Abdeckung der Übersetzung. Scheppernd fiel die rostbraune Blechplatte zu Boden. Wie er es sich gedacht hatte. Der Grad war abgebrochen und steckte zur Hälfte außen im Schließer. Die andere Hälfte hatte innen die erste Zahnwalze blockiert. Eine viertel Drehung rückwärts und alles wäre in Butter, aber das Band konnte aus Sicherheitsgründen nicht einfach so in Gegenrichtung gestartet werden. Nicht von hier aus. Der Messregler hatte den Fehler erkannt und war auf ›Notaus-Ruhestellung‹ gegangen. Um das Band und die Messreglerservos kurz umzudrehen, war die Kontrolle der Haupt-KI notwendig. Über diesen Umweg würde er das Sicherheitsprotokoll überschreiben und die Rückwärtskontrolle des Schalters ermöglichen. Mila konnte gut mit den Speichereinheiten des Rechenzentrums umgehen.
Er stand auf, streckte sich und schlurfte zum Kabel rüber. Dort öffnete er den grauen Kasten, betätigte den Rufknopf und stülpte sich den Kopfhörer über ein Ohr. Knistern, Stille, wieder Knistern. Er hängte den Kommunikator wieder ein und verschloss den Kasten. Keiner in der Zentrale. Wie üblich. Er fragte sich, was passieren würde, wenn mal wirklich ein Notfall stattfand. Was, wenn eine Welle zu glühen beginnt? Egal. Er zog seinen Overall über die Schultern und band seine Schnürsenkel zu. Musste er eben selbst dafür sorgen, dass der Pocher wieder lief, ehe die Arbeiter in den Stollen nichts mehr aufladen konnten und die Schicht an Tagesprozenten verlor.
Mit ein paar Hüpfern war er die Gittertreppe oben und betrat das Büro. Das KI-Zentrum lag hinter einer Sicherheitstür. Niemand war da. Er packte sein modifiziertes Palmpad aus der Tasche seiner Hose und zog die Kabel heraus. Kabellose Geräte funktionierten hier unten in den Stollen selten. Die magnetischen Indifferenzen, die durch die verschiedenen Erze hervorgerufen wurden, sorgten ständig für Verwirrung bei den KI-Einheiten. An der Tür gab es ein Eingabefeld und direkt darunter einen Anschluss für Wartungsdroiden. Er kannte die Kennung nicht, aber er konnte ein Droide sein, wenn er das wollte. Zumindest für die Tür konnte er dies. Er führte die Anschlüsse seines Pads ein und übertrug das Begrüßungsprotokoll, das er selbst geschrieben hatte. Prompt reagierte die Tür und identifizierte ihn als K21 Wartungs- und Servicedroiden mit der Sicherheitsfreigabe 2.1. Er befahl der Tür, die Entriegelung zu betätigen, diese quittierte den Befehl mit einem trockenen Knacken und schob sich dann schabend zur Seite. Er schüttelte den Kopf. Die Wartung sollte besser wirklich Droiden einsetzen. Auf einem Knie schob er den Stutzen seiner kleinen Ölkanne in den Schmierspalt der Tür und bedankte sich so für deren Kooperation. Im Raum dahinter gab es reihenweise Schränke mit Speichergittern, in denen sich die Kristalle der verschiedenen Intelligenzen befanden. Er suchte nach seinem Messregler und fand ihn mit geübtem Blick. CS2145-87-MRP – derzeit mit Fehlfunktion außer Betrieb. Wie lange hätte es wohl gedauert, bis jemand den Schaden behoben hätte? Die Arbeiter würden in etwa einer halben Stunde bemerken, dass ihre Fundstücke nicht mehr weitertransportiert wurden. Danach würden sie versuchen, das Band zum Weiterarbeiten zu bewegen. Dann würden sie ausgiebig fluchen, weil ihre Prozente flöten gingen. Als nächstes würden sie hier anrufen und niemand würde ihre Rufe erhören. Jemand müsste auf einen Schienenwagen steigen und hier herüberfahren, nur um festzustellen, dass keiner da wäre, der den Schaden beheben könnte. Zwei, drei Stunden würden vergehen, die Gardman würden involviert werden. Der Beginn einer Massenhysterie …
Er öffnete die Gehäuseabdeckung, schloss sein Pad an, überbrückte die Sicherung des Kristalls und schleuste einen von ihm gebastelten Umgehungsalgorithmus ein. Mit diesem Aufsatz hatte er auch schon die Funkprotokolle für manche Arbeiter genullt und so die eine oder andere Flasche Schnaps errungen. Jedem Arbeiter stand nur ein bestimmtes Kontingent an Funkminuten zur Verfügung und diese Zeit gestreckt zu bekommen, stand hoch im Kurs. Es war illegal, aber es schadete keinem.
Die Datenverarbeitung dauerte etwa fünf Minuten. Er lehnte sich an die Wand und legte eine Wange an das kühle Material. Den Oberkörper hin und her wiegend, dachte er an seine Vergangenheit und vermaß seine Gegenwart. Die Zukunft war sein erbitterter Feind. Sie wollte ihn in sich aufnehmen, war ein ständiger Sog, der es nicht erlaubte, zur Ruhe zu kommen. Seine trägen Gedanken blieben wieder bei seinem Onkel hängen. Mila hatte den Mann geliebt. Nachdem seine Mutter sich von dem draufgängerischen der beiden Brüder ab- und seinem Vater, dem Versorger, zugewandt hatte, war Youryc allein geblieben. Er hatte sich nicht abgesondert, hegte keinen Groll gegen seinen Bruder oder dessen Braut, die er allerdings nach wie vor liebte. Später, nach Milas Geburt, kümmerte sich Youryc liebevoll um seinen Neffen. Er brachte ihm allerlei bei, auch den Umgang mit künstlichen Intelligenzen und das Herstellen von diversen technischen Apparaturen. Milas Vater war von diesen Dingen nicht gerade begeistert, aber Ma schlichtete stets zwischen den Brüdern.
Eines Tages waren Mila und sein Onkel zusammen auf den Untermarkt gegangen. Der Junge musste damals acht oder neun Standardjahre alt gewesen sein. Abram war noch zu klein gewesen und bei Ma geblieben. Sie waren durch die stinkenden Gassen gegangen, um sich herum ein Meer aus Menschen und deren Gütern, die sie feil boten, um sich wieder andere Dinge kaufen zu können. Über ihnen hatte das Firmament des Himmels einen Baldachin aus wabernden Blitzen in die Schwärze gezeichnet. Sie waren an Ständen mit exotischen Gewürzen vorbeigekommen, hatten sich die Auslagen eines bizarr anmutenden Außenweltlers mit groteskem Schweinegesicht angesehen und Youryc hatte ihm Süßwurzelklößchen gekauft. Mila erinnerte sich immer mit Freuden an die Besuche des Basarmarktes. Sie schwangen in seinen Gedanken so geheimnisvoll und erfüllten sein Herz mit dem Geruch nach der Fremde.
Besonders hatte sich ein bestimmter Händler in Milas Gedächtnis eingeprägt. Ein dunkelhäutiger Hüne, er wusste nicht von welcher Welt dieser gekommen war, doch er überragte jeden anderen Mann auf den Märkten um wenigstens einen Kopf. Sein Stand war aus Holz- und Metallkäfigen aufgebaut. Er hatte eine schwarze Kutte getragen, doch man konnte darunter eine Lederkluft erahnen, die an eine altertümliche Rüstung gemahnte. Auf dem Kopf trug er eine Ledermaske, welche eine seiner Gesichtshälften verbarg. An den Rändern der Maske sah man die Enden dicker Narbenwülste und dort, wo sich das Auge hätte befinden müssen, war ein flacher dunkler Stein eingearbeitet. Mila versuchte, sich zu erinnern, auf welcher Seite sich der Stein befunden hatte, doch es gelang ihm nicht.
In den Käfigen des Riesen hatten sich die wundersamsten Kreaturen befunden, die Mila je zu Gesicht bekommen hatte. Da gab es faustgroße Wesen, deren Rücken über und über mit feinen spitzen Stacheln besetzt waren. Der Händler hatte behauptet, es handle sich bei den Stacheln in Wahrheit um Haare und wenn man die Tiere in Ton gebettet ins Feuer legte, würden sich die Stacheln lösen und das Fleisch wäre eine Delikatesse. Mila erinnerte sich an die putzigen Knopfäuglein und die winzigen Nasen und konnte auch heute nicht verstehen, wie man solch niedliche Wesen verspeisen konnte. In einem anderen Käfig befanden sich drei katzenartige Tiere. Auf Mipaila gab es viele Katzen. Die ersten Siedler hatten sie von sND und später von Kali Mas Welt mitgebracht. Die Tiere in den Käfigen unterschieden sich allerdings immens von den hiesigen Katzen. Sie hatten einheitlich gelbliches Fell und zwei dünne Schwänze, an deren Enden sich je ein langer roter Dornfortsatz befand. Der Fremde riet Mila, sich nicht zu nahe an die Käfige zu wagen. Die Bestien seien gefährlich und ihr Gift könne einen Mann in wenigen Sekunden töten.
Es gab bunte Vögel, wimmelnde Fische in viel zu kleinen runden Gläsern und Terrarien mit grotesken Insekten, von denen der Riese behauptete, sie würden hervorragend schmecken und wären der Verdauung sehr zuträglich.
Ganz besonders interessant fand Mila ein Tier in einem Bastkorb, den der Händler für ihn geöffnet hatte. Auf dem Boden des Korbes hatten drei lange dünne Leiber ineinander verschlungen gelegen. Die schlangenartigen Wesen hatten lange schmale Köpfe mit stumpfen Enden und Augen, die wie Quecksilbertropfen aussahen. Fan-jen-dorische Stoßschlangen, die Larven des Sumpfdrachen, hatte der Mann die Wesen betitelt.
Er hatte eins der Tiere aus seinem Gefängnis befreit. Das Wesen hatte sich um den dicken Arm des Händler gewunden und träge die Welt um es herum beäugt. Sein stumpfes Maul hatte etwas Befremdliches. Es sah so gar nicht wie das Körperteil eines Tieres aus und wirkte eher ein wenig wie ein Werkzeug, ein Hammer. Der Körper der Schlange hatte eine graugrüne Färbung mit silbriger Zeichnung. Mila war fasziniert von dem Anblick gewesen. Dann hatte der Tierhändler den Zauber gebrochen, indem er erklärt hatte, das die Fan, er nannte die fan-jen-dorischen Siedler so, die Larven ihres hohen Proteingehaltes wegen als Nahrung schätzten. Sie seien eine Delikatesse und sehr, sehr wertvoll. Nur die reichsten der Schlitzaugen können sich dieses Essen leisten. Er mache viel Geld mit den Tieren. Dann hatte er, den sich nun windenden Leib, zurück in den Korb befördert und den Deckel darauf befestigt. Grinsend hatte er sich danach zu Mila heruntergebeugt. Mila erinnerte sich an den nach Tabak riechenden Atem und die tiefe rauchige Stimme des großen Mannes als wären die Besuche auf den Märkten erst gestern gewesen.
»Gefällt dir Osiris?« hatte er den kleinen Jungen damals gefragt.
Mila erinnerte sich genau an seine damalige Antwort: »Sie haben Namen?«
Der Riese hatte sich aufgerichtet und kehlig gelacht.
»Ja, die Namen der alten Götter: Osiris, Amephin und Ra.«
Wie wunderbar alt und fremd hatten diese Worte in Milas jungen Ohren geklungen. Sie hatten ein Feuerwerk aus Phantasie in ihm geweckt. Wie mussten die Welten aussehen, von denen diese Wesen alle stammten? Fan Jen Doro war vorher nur ein exotischer Begriff für ihn gewesen. Die fan-jen-dorische Gemeinde hier auf der Abbauwelt war für ihn ein gewohnter Anblick, aber er hatte vorher nie darüber nachgedacht, wie die Heimat dieser Menschen aussehen könnte. All die Welten um Mipaila waren Mysterien für ihn gewesen und die Märkte hatten sein Interesse geweckt und seine Phantasie beflügelt. Sein Onkel kannte viele Geschichten über die Außenwelt. Mila hatte seinen Onkel geliebt.
Ein Summen erklang und riss Mila aus seinen Erinnerungen. Die Zeit war abgelaufen, die Daten übertragen. Mit geübten Griffen löste er sein Pad und schloss die Abdeckung. Als er der Tür den Schließbefehl gab, glitt diese auf ihrem neuen Ölfilm zu und verriegelte mit einem freundlichen Klacken. Er konnte gut mit Maschinen umgehen.
Am Kontrolltisch des Büros begutachtete er die Schaltbefehle. Die Bandkontrolle war von Rot auf Grün gewechselt. Er sah aus dem Fenster in den unter ihm liegenden Fabrikraum hinunter. Niemand war da. Er wartete noch ein paar Sekunden, dann betätigte er die manuelle Bandkontrolle und ließ das Band genau einen halben Meter rückwärts fahren. Der Zerkleinerer spuckte, es gab ein donnerndes Krachen und schon drehte Mila die Kontrolle wieder um. Diesmal erfasste die Zahnwalze den Erdbrocken richtig, zertrümmerte ihn mit einem ohrenbetäubenden Mahlen und schien den ganzen Vorgang zu genießen. Mila lächelte. In etwa einer Minute würde seine Protokollüberschreibungsroutine die Aufzeichnung des ganzen Vorfalls zurücksetzen. Er liebte sein Hobby.
Genau drei Schlafzyklen später wurde der zweite Tote gefunden. Cornel Valgar hatte sich zum Arbeitsbeginn im Lüftungsschacht 7A eingefunden. Der Verbindungstunnel des Stollens war genau zweihundertsechs Meter lang. Er wusste dies so genau, weil er einen Spleen hatte. Schon vor vielen Planetenumläufen hatte er seine Schrittlänge gemessen. Genauer gesagt hatte der Droide, der den MI1-Eignungstest mit ihm durchführte, sie festgestellt. Ein normaler Cornel-Schritt maß zwischen vierundneunzig und einhundertsieben Zentimeter. So hatte Cornel sich mit sich selbst darauf geeinigt, dass seine Schrittlänge bei genau einem Meter lag. Jede Strecke, die er seither zu Fuß unterwegs gewesen war, hatte er abgezählt. Der Hauptstollen zwischen der Arbeiterunterkunft und den einzelnen Unterstollen – vierhundertsiebenundzwanzig Schritte, der Weg seines eigenen Arbeitsstollen zum Klo – zweiundvierzig Meter, Cantina – Schlafkoje – einhundertvierundzwanzig Meter und so weiter.
Heute sah sein Arbeitsplan die Reinigung des 7As vor. Bewaffnet mit einem Eimer, einem Hochdruckreiniger mit Rückentornister, einer Schabstange und einem riesigen Besen war er losgezogen und hatte gezählt. Er zählte jede Strecke auch mehrmals. Es konnte vorkommen, dass er auf verschiedene Ergebnisse kam. Dann errechnete er das Mittel und merkte es sich. Er liebte Zahlen. Oder vielleicht war es eher so, dass die Zahlen ihn liebten? Sie kamen immer zu ihm und sie blieben bei ihm. Sie unterhielten sich mit ihm. Sie erfüllten sein Gehirn, denn ohne sie würde dort nur tiefe Einsamkeit herrschen.
Im Lüftungsschacht angekommen, nahm Cornel die beiden Stangen von der Schulter, stellte den Eimer mit der Reinigungschemikalie vor sich hin und spuckte hinein. Er sah zu, wie die kleinen Bläschen seiner Spucke von der trüben Brühe zersetzt wurden. Er hatte mal, nur zur Probe, den kleinen Finger seiner linken Hand in den Eimer getaucht. Die Haut hatte sich ganz weiß gefärbt und es hatte schlimm gerochen. Der Doc hatte ihm klar bescheinigt, dass die schlimmen Schmerzen, die er danach im Finger hatte, eindeutig von den Chemikalien gekommen seien. Er würde den Finger nicht wieder in den Eimer halten und trug seither die vorschriftsmäßigen Handschuhe.
Voller Eifer betätigte er den Hebel des Tornisters und begann, die Wände und die sich träge drehenden Turbinenflügel zu besprühen. Das Zeug im Tornister löste den groben Schmutz und färbte die Wände gelb. Cornel mochte die leuchtende Farbe. Schade, dass er sie gleich wieder mit der Chemikalie wegwischen musste. Er pfiff vor sich hin und ging den Tunnel entlang. Je weiter er sich von der Turbine entfernte, desto stickiger wurde die Luft. Irgendwie roch es auch merkwürdig heute. Er hielt die Nase hoch und sog die Luft tief ein. Ja, da war etwas anders. Nicht, dass es hier unten nicht immer stinken würde, aber dieses Mal war da etwas Fauliges, Organisches, das seine Nase reizte. Er schob den Eimer mit dem Besen vor sich her und hätte ihn beinahe umgekippt, als er gegen etwas Dunkles vor sich stieß. Durch die hinter ihm liegende Turbine fiel spärliches Licht.
Normalerweise waren die Horizontalschächte der Luftversorgung in allen vier Ecken mit Leuchtschienen ausgestattet. Alle zwei Meter sollte hier ein orangefarbenes Leuchtmittel für sicheres Arbeiten sorgen. Die Schienen waren auch an Ort und Stelle, aber die Lampen hatten vor langer Zeit den Geist aufgegeben. Niemand wechselte die ausgeglühten Röhren aus. Man hatte in der Zentrale schlicht den stummen Alarm genullt und sich dann wieder dem Kartenspiel zugewandt.
Vorsichtig ging Cornel um das am Boden liegende Ding herum, um es besser sehen zu können. Ihm stockte der Atem. Das verrenkte Etwas war ein Mensch. Oder besser, es war einmal ein Mensch gewesen. Die Arme und Beine standen in bizarren Winkeln ab, gekrümmt wie bei einer toten Spinne. Alles um das Ding herum war mit einer schwarzen, übel riechenden Paste bedeckt. Kleidung, Haut und Haare waren in knorpeliger Fusion miteinander verbunden. Der ganze Körper war eine Masse aus diesem widerlichen schwarzen Zeug. Nur oben, wo der weit aufgerissene Kiefer ebenfalls verrenkt abstand, unterbrach ein dunkler Strom die menschliche Lavalandschaft. Dort, wo einmal die Kehle der Leiche gewesen sein musste, prangte ein großes, nahezu rundes Loch mit ausgefransten Rändern. Dampf stieg von der Leiche auf und machte das kärgliche Licht noch diesiger.
Cornel würgte. Er starrte das Ding an und spürte, wie seine Kehle etwas gebar. Tief aus seinen Eingeweiden drängte das Kantinenessen nach oben. Er wand sich innerlich, unterdrückte den körperlichen Reiz. Tränen stiegen ihm in die Augen. Schmerzen breiteten sich in seinem Hals aus. Dann, während er noch den Brechreiz bekämpfte, sah er es.
Aufrecht, doch irgendwie seltsam nach hinten gekippt, wirkte es verstörend menschenähnlich. Es hatte Arme, glatte nasse Haut, einen dünnen, sich hin und her windenden Schwanz und nach hinten gerichtete Füße. Der runde Kopf lag im Nacken und dort, wo bei einem Menschen der Hals gewesen wäre, entsprang dem Ding eine Art dünner Tentakel. Dieses widerliche Organ zitterte in wilden Spasmen durch die Luft. Während der ganzen Zeit, in der Cornel das Geschöpf beobachtete, gab es keinen einzigen Laut von sich. Es stand einfach nur aufrecht im Lüftungsschacht und schien abzuwarten, was als nächstes geschah. Seine Umrisse zeichneten sich als übergroße Schatten gegen die schmierigen Wände ab und verwandelten das Szenario in einen infernalen Albtraum.
Cornels Innerstes verkrampfte sich zu einem dichten Klumpen aus gefrorener Angst. Er zitterte am ganzen Leib und war nicht in der Lage, sich vom Fleck zu rühren. Erst als sich seine Pein einen Weg bahnte, indem sie seine Blase zwang, sich zu entleeren, übernahm der Fluchtinstinkt die Macht über sein Handeln und entließ ihn schreiend aus den feuchten Lüftungstunneln. Er rannte und schrie und wenn er keine Luft mehr bekam, schrie er nur noch lauter. Er rannte und rannte und erreichte die vorderen Werksstollen. Schließlich stürmte er mit einem gellenden Schrei um eine letzte Gangbiegung und rammte ungebremst einen Lastenheber. Einer der Gabelbalken des Gerätes zertrümmerte mit einem lauten Krachen seinen Wangenknochen und beendete fürs erste seinen Schrecken.
Doc Walther schüttelte den Kopf. Was um alles in der Welt hatte den armen Mann dazu getrieben, wie ein Irrer durch die Stollen zu rennen? Er betätigte zum dritten Mal den Abzug der Klebepistole. Das Gestell, mit dem er den Knochen des Mannes gerichtet hatte, glänzte im Schein der OP-Lampe. An seinen Rändern, an denen es durch das Fleisch des geschwollenen Backens drang, hatte sich Blut gesammelt. Der Knochen war mit einer Spreizklammer frei gelegt. Sechs Zähne waren aus dem zwischenzeitlich schwarz angelaufenen Kiefer gebrochen. Der Zusammenstoß musste mit mörderischer Wucht erfolgt sein. Doc Walther berührte den zertrümmerten Knochen mit der Spitze der Klebepistole und trug einen dicken Faden des Knochenklebers auf. Der Patient stöhnte im Schlaf und versuchte sich zu bewegen, doch sein malträtierter Kopf wurde von dem Fixiergestell aus Edelstahl an Ort und Stelle gehalten.
Einige Minuten später zerrte der Arzt die Handschuhe von seinen zitternden Händen. Er sehnte sich nach einem ordentlichen Schluck Kirnosk. Zuviel davon und seine Hände hörten auf zu zittern. Zuviel davon war eben zuviel davon.
Ärgerlich sah er durch die Glastür in sein Office hinüber. Der unangenehme Mann hockte dort auf einem seiner Schemel mit angezogenen Knien und sah aus wie ein Aasgeier. Doc Walther hasste den Mann. Er hasste die meisten Männer. Er hasste auch die Frauen, zumindest einen Großteil von ihnen und er hasste sich selbst.
Die Nase hochziehend, angelte er noch im Behandlungsraum eine dünne Zigarre aus seiner Brusttasche und zündete sie mit einem der Laserskalpelle an. Paffend öffnete er die Tür und trat in das Office. Den düsteren Besucher ignorierend, setzte er sich an seinen Schreibtisch und begann mit seinem Bericht. Der Mann in dem unpassend wirkenden dunklen Anzug räusperte sich.
»Wann?« kam es aus der Raumecke.
Doc Walther hatte keine Lust zur Kooperation. Das hatte er niemals. Er verabscheute Kooperation. Es widersprach seinem innersten Wesen mit den Behörden zu kooperieren. Es gab schließlich einen Grund, warum er in diesem von den Göttern verdammten Drecksloch praktizieren musste.
»Sieben bis acht Schlafzyklen … vielleicht mehr …« antwortete er stockend und blies den Rauch in die Richtung des Agenten.
»Ich muss jetzt mit ihm sprechen!« Agent Fourstars Reigmenson richtete sich steif auf und sah mit seinen bedrohlichen Augen dem Arzt ins vom Alkohol gezeichnete Gesicht. Er ignorierte die Schwaden des stinkenden Tabaks und insistierte nachdringlich: »Wecken sie ihn auf! Jetzt!«
Den Kopf schüttelnd zog Doc Walther erneut an der Zigarre und gab einen knurrenden Laut von sich.
»Wecken sie ihn selbst auf«, sagte er geringschätzig. Dann fügte er in seiner schnoddrigen nasalen Stimmlage hinzu: »Wenn´s ihnen egal ist, dass der arme Irre an seinen Schmerzen krepiert.«
»Geben sie ihm was«, antwortete der Agent ätzend. Er erhob sich und trat zu der Glastür. Im Behandlungszimmer glommen die LEDs der Überwachungsgeräte und tauchten den ansonsten dunklen Raum in ein gespenstisches, sich unentwegt veränderndes Licht.
»Ich muss mit ihm reden«, wiederholte Reigmenson sein Anliegen.
In diesem Moment öffnete sich die Außentür des kleinen Medizinbereichs und einer der Unter-Gardmans trat ein. Es handelte sich bei ihm um einen wuchtigen, großen Mann mit breitem Kiefer und wachen kleinen Augen. Ungebremst ging er an dem Agenten vorbei und blieb viel zu dicht vor Doc Walther stehen.
»Sie wollen wissen, was los ist«, sagte der Neuankömmling mit einem Bariton, der zweifellos Glasscheiben vibrieren lassen konnte.
Der Doc sah den Hünen an und schüttelte genervt den Kopf. Er paffte an seiner Zigarre und versuchte, die Störenfriede zu ignorieren, indem er weiter an seinem Bericht tippte.
»Bei den schwarzen Zitzen Kali Mas, haben sie gehört, was ich gefragt hab´?« stieß der Gardman wütend hervor und legte eine seiner Pranken mitten auf das in den Tisch eingelassene Display.
»Er schläft«, murmelte Doc Walther gereizt.
»Aufwecken! Der First hat einen genauen Bericht angefordert und den liefere ich jetzt«, kam es bellend zurück.
Jetzt habe ich zwei von der Sorte an der Backe, dachte der Arzt müde. Noch ein paar Minuten und die Oberschlampe Orikimi und ihr Stab von Wichsern wird hier auch noch einmarschieren und versuchen, mein Gehirn zu ficken.
»Stellt mehr Wachen auf und sichert die Stollen besser ab, dann passiert so eine Scheiße gar nicht erst«, schrie er dem Gardman entgegen. »Ich kann nichts machen. Der blöde Arsch hat sich den Schädel gebrochen und jetzt liegt er im künstlichen Koma. Es wird eine Weile dauern, bis er wieder zu sich kommt und keiner kann sagen, ob er dann überhaupt noch in der Lage sein wird, zu reden.«
Eigentümlich, bedrohlich ruhig meldete sich der Agent zu Wort: »Wir kommen nach dem nächsten Schlafzyklus wieder.«
»Dann wird er immer noch weggetreten sein.«
»Dann werden sie ihn aufwecken.«
»Das werde ich nicht …«
Mit einer schnellen Bewegung trat der Agent an den Tisch und packte das Gesicht des Arztes mit seinen Augen. Der Blick des Agenten bohrte sich kalt in die fiebrig zitternden Augen des Mannes. Eisig wiederholte er: »Sie werden denn Patienten kurz aufwecken, damit ich ihn befragen kann!«
Die Gegenwehr erlahmte. Die Schultern des Arztes sackten herunter. Er nahm die Zigarre aus dem Mundwinkel und ließ sie achtlos in einen Müllbehälter am Boden fallen. Dann nickte er und ließ sich in seinen Stuhl sinken.
Wortlos drehte sich der Agent um und sah noch einmal in das finstere Behandlungszimmer. Was hatte der Mann gesehen, das ihn dazu veranlassen konnte, derart kopflos durch die Stollen zu jagen? Er würde es herausfinden. Morgen.
Als er gegangen war, stand der Gardman immer noch vor dem Schreibtisch des Arztes. Er sagte nichts und sah Doc Walther einfach nur böse an, bis dieser endlich den Kopf hob und müde sagte: »Sie haben es doch gehört, oder?«
Nickend machte der Wächter auf dem Absatz kehrt und verließ ebenfalls das Office. Davor gab es ein Wartezimmer. Er stellte zwei der Schemel dicht zusammen und hockte sich darauf. Er hatte seine Befehle. Nichts und Niemand außer ihm selbst, dem Doc und dem Agenten würde sich dem Kranken nähern. Dafür würde er sorgen und wenn er die ganze Schicht über hier ausharren müsste.
In den Stollen verbreitete sich die Nachricht des zweiten Angriffs wie ein Lauffeuer. Dieses Mal hatten die Gardmen den Ort des Geschehens abgeriegelt und Wachen postiert und somit hatte keiner der Arbeiter sehen können, was sich zugetragen hatte. Doch viele der Gardmans hatten ein lockeres Mundwerk und so verbreiteten sich die Gerüchte wie ein aggressives Nervengift. Etwas hatte erneut zugeschlagen. Das Ding aus den Lüftungsschächten hatte wieder einen der Arbeiter gefressen. Eine Säurebestie jagte hier unten und wir Arbeiter waren seine Beute.
So kam es, wie es kommen musste. Improvisierte Waffen wurden hergestellt, keiner vertraute seinem Nachbarn und der Unmut unter den Arbeitern wuchs. Sie hatten Angst und Angst förderte ihre Aggressionen und ihren ohnehin schon stark ausgeprägten Hang zur Trinksucht. Noch im selben Arbeitszyklus des Angriffes kam es zu mehreren Schlägereien und einer der Arbeiter wehrte sich gegen den vermeintlichen Angriff eines Monsters mit einer angeschliffenen Brechstange. Es stellte sich heraus, dass es sich bei dem Monster um seinen Kollegen gehandelt hatte, der nun mit siebzehn Stichen genäht werden musste.
Die allgemeine Paranoia wuchs schnell über sich selbst hinaus. Bald begannen die Gardmans Waffen zu konfiszieren. Dabei war dem Einfallsreichtum der verängstigten Stollenarbeiter offenbar keine Grenze gesetzt. Der Höhepunkt war erreicht, als zwei patrouillierende Wächter einen Arbeiter abfingen, der auf seinem Rücken einen schweren, mit Flüssigkeit gefüllten Glastornister umhertrug, den er aus einem der Getränkespender gebaut hatte. In der einen Hand hatte er die mit der Rückenkonstruktion verbundene Lanze eines Hochdruckreinigers und in der anderen eine Einmalfackel. Als die Gardmans das Ding später ausprobierten, erreichte der Strahl des Selfmade-Flammenwerfers einen beachtlichen Druck und eine Reichweite von über zehn Metern.
Mila, Abram, ihr Vater und die stille Jumi gehörten zu der Fraktion der Arbeiter, die dazu neigte, die Ruhe zu bewahren. Abram war zwar die Verunsicherung anzusehen, aber er ließ sich von der resoluten Art des Vaters beruhigen. Jumi schien, wie so oft, in weiter Ferne zu den Geschehnissen ihre Kreise zu ziehen. Sie verrichtete ihre Arbeit in den Neuen und kroch dort durch enge Spalten und natürliche Risse. Sie hätte wahrscheinlich am ehesten Grund, sich Sorgen vor dem Angriff irgendwelcher räuberischer Wesen hier unten zu machen, aber wenn dem so war, konnte man es ihrer Miene nicht ansehen.
Mila versuchte, sie wie immer aufzumuntern, indem er sie neckte. Wenn du noch eine Schale voll Linsen in dich hineinstopfst, passt dein Hintern bald nicht mehr durch die Spalten. Hier nimm noch eine Kelle …
Vor dem Schlafengehen drängte sich Abram an Mila.
»Was denkst du?«
Mila trocknete sein Gesicht ab. Er hatte sich heute zwei Mal gewaschen. Bald würde seine Wasserration knapp werden. Aber er hasste den Dreck.
Er sah seinen Bruder nicht an und flüsterte leise: »Die Linsen waren verkocht.«
»Das meine ich nicht, du Arsch«, zischte Abram und boxte ihm auf den Oberschenkel.
»Werden sie es finden?« fragte Abram. »Was meinst du, was es für ein Ding ist?«
»Woher soll ich denn das wissen?« gab Mila zurück. Er rieb sich die pochende Stelle an seinem Bein. Dann fügte er müde hinzu: »Es landen andauernd Handelsschiffe von überall aus der SUKOT auf dem Hangar oben. Nur die Götter wissen, was die so alles an Fremdartigem zu uns bringen.«
Abram nickte stumm. »Werden sie es fangen?«
»Ich weiß es nicht, aber ich bin sicher, dass die Sache früher oder später aufhören wird. Alles endet früher oder später«, murmelte er.
In seinen Schlafsack gehüllt starrte er noch lange die schwarze Stollendecke an. Früher waren die Arbeiter hier unten an Quecksilberdämpfen erkrankt. Sie waren irre geworden, hatten sich im Wahn gegenseitig angegriffen und viele von ihnen waren dem Gift erlegen. Dann hatte man die Dinge untersucht und reagiert. Man reagierte früher oder später immer. Es war, wie er es seinem Bruder gesagt hatte.
Dann dachte er, wie so oft, an seine Mutter. Vor seinem inneren Auge sah er sie traurig in der kleinen Wohnküche stehen. Sie hatte Abram in einem Hüfttuch an ihrer Seite und kochte Kleiebrei. Sie hatten kein Geld für besseres Essen. Zwei Kinder waren teuer und die Prämien wurden immer dünner. Seine Mutter war immer traurig gewesen. Ihr Gesicht hatte die Trauer dieser ganzen, von den Göttern verlassenen, Welt widergespiegelt. Doch eines Tages hatte sich dies geändert. Er erschauderte, als er sich an diese Zeit erinnerte. Es war, als die Männer gekommen waren. Er sah seine Mutter und seinen Onkel lachen. Es war ein seltsames Lachen gewesen. Dieses Lachen der übertriebenen Reize. Das Lachen der späten Abende. Er hatte es als Kind gehasst, er hasste es jetzt. Er hasste es, dass Jumi dieses Lachen kannte.
Coroner Albrāga brütete über seinen Messungen. Die teerartige Paste an der zweiten Leiche war mit der an der ersten identisch. Es handelte sich bei beiden Proben um eine Art biologisches Nepheralhydrochlorid. Er kannte sich mit solchen Stoffen bedauerlicherweise nicht sonderlich gut aus und die ihm zur Verfügung stehende KI-Datenbank gab auch nicht viel her, aber er war sich sicher, die Zusammensetzung des Materials schon einmal gesehen zu haben. Leider gab es seines Wissens nach in ganz Prakāśa sthāna keinen Xenobiologen. Er brauchte jemanden, der sich mit so etwas auskannte. Sicher schien die Todesursache zu sein. Beide Leichen hatten dieses kreisrunde Loch an ihrem Kehlkopf, aber jetzt im Nachhinein waren es die Würgemale, die er ebenfalls bei beiden gefunden hatte, die ihn ›Erdrosseln‹ als Todesursache eintragen ließ. Das Ding, was auch immer es sein mochte, erwürgte seine Opfer, rammte ihnen dann etwas in den Hals und daraufhin begann die Oberfläche der Haut sich zu zersetzen. Es war wie bei einer schnellen Verwesung. Die schwarze Schlacke war aber eindeutig ein Oxidationsrückstand. Säure, Feuer, was auch immer, die Schlacke entstand durch eine chemische Reaktion, bei der Moleküle Elektronen abgaben. Durch die Aufnahme dieser von einem anderen Stoff kam es zu einer Redoxreaktion. Das Fleisch war verätzt oder verbrannt worden. Welche Wesen verfügten über einen Flammen- oder Säureodem? Albrāga dachte an die Geschichten und Mythen seiner Heimatwelt. Poin´Khali kannte viele Götterwesen und Ungeheuer, zu denen die Beschreibung der hiesigen Vorfälle gepasst hätte. Würgegeister mit einem Odem, der einen Menschen in sekundenschnelle um hunderte von Standardjahren altern lassen konnte. Gewaltige Flügeldrachen, die feuerspeiend über die Ansiedlungen der Bauern fauchten und alles unter sich in Schutt und Asche legten. Aber bei diesen Geschichten handelte es sich um eben dies: Geschichten. Gab es echte Drachen oder Geister? Er hatte noch nie von einer Spezies innerhalb der bekannten Galaxie gehört, die Säure spuckte. Wobei, dies stimmte so nicht. Es gab verschiedene Tiere, die Eiweißgifte spucken konnten. Proteingifte waren nicht einmal sonderlich selten. Nur, welches Tier konnte eine entsprechend große Menge produzieren, um einen Menschen derart zu verunstalten?
Plötzlich schrak der Corner zusammen. Die Tür zu seinem Arbeitszimmer hatte sich unvermittelt geöffnet und eine dunkle Gestalt war in den Türrahmen getreten.
»Agent Fourstars?«, fragte Albrāga vorsichtig in die Dunkelheit. Er langte nach dem Dimmer seiner Schreibtischlampe, erreichte aber mit dem helleren Licht nur, noch weniger im dunklen Nebenzimmer erkennen zu können.
Der Agent schob sich, ohne ein Geräusch zu verursachen, in den Raum und umrundete mit hinter dem Rücken verschränkten Armen den Tisch.
Wie ein Totenvogel, dachte der Coroner und schob den Deckel seines in den Tisch eingelassenen Pads zu. Er wollte aus irgendeinem Grund nicht, dass dieser unangenehme Mann seine Arbeit begutachtete. Er wollte überhaupt nicht, dass der Kerl sich hier Einlass verschaffte.
»Was gibt es Neues?«, fragte der Agent und wandte sich der Stereographie eines Raumschiffes vor einer fernen Sonne zu, die an der Wand befestigt war und in orangem Licht glomm.
»Es ist eine Art Säure. Vermutlich ein natürliches Nepheralhydrochlorid. Es wurde in großer Menge über die Leichen gestrichen oder gespuckt.« Der Coroner machte eine Pause und versuchte an der Haltung des Mannes seine Gedanken zu erkennen.
»Es gibt hier keine Raubtiere, die Säure verspritzen«, stellte der Agent fest. Der Coroner wusste dies aus einem ganz einfachen Grund: Es gab auf Mipaila überhaupt keine wilden Tiere. Als man begann, diese damals tote Welt zu formen, brachten die ersten Siedler zwar einige Nutztierarten mit und von Zeit zu Zeit wurden weitere Lebensformen eingeführt, aber außerhalb der urbanen Zonen gab es absolut nichts. Es ist bis zum heutigen Zeitpunkt nicht einmal gelungen, größere Nutztiere zu züchten. Die Lebensbedingungen auf Mipaila ließen es einfach nicht zu. Keine Pflanzen, keine Biosphäre. Ohne die Atmosphäreformer der MI1 würde es hier überhaupt kein Leben geben. Ratten, Katzen, Hunde, ein paar Schweine, das war alles.
»Vielleicht ist etwas auf einem Handelsfrachter mitgebracht worden. Irgend eine Kuriosität.«
Der Agent nickte mit verkniffenem Gesicht. Es war die einzige Möglichkeit. Irgendetwas Perverses musste an Bord eines dieser schmierigen Weltraumpendler gewesen sein. Etwas, das ursprünglich für den Kochtopf gedacht gewesen war, hatte sich verselbstständigt. Er konnte die Frachtbriefe der letzten einhundert Schiffe prüfen, aber er wusste genau, was er finden würde. Nichts! Da würde nichts von einem säurespuckenden Untier stehen. So wie auch nie etwas von Drogen oder Neuronalspielzeug vermerkt wurde. Es war kein Geheimnis, dass mehr geschmuggelt als ehrlich gehandelt wurde.
Der Coroner setzte sich auf seinen Stuhl zurück und schob seine Seehilfe zurecht. »Ist der Verletzte zu sich gekommen?«, fragte er leise.
»Ich bin auf dem Weg zur Medstation. Denke, man wird ihn nun aufwecken müssen.« Dieses letzte Wort sagte er mit solchem Nachdruck, dass ihm ein dünner Speichelfaden über die Lippen spritzte.
Albrāga überkam eine Welle des Ekels. Er wollte nur noch, dass der Mann seinen Arbeitsbereich und damit ihn verließ. Und genau dies tat der Agent zu seiner Beruhigung endlich.
Der Gardman im Vorzimmer der Krankenstation sah schläfrig auf, als Agent Reigmenson den Raum betrat. In der medizinischen Station war es genauso düster, wie in den Untersuchungsräumen des Coroners. Agent Reigmenson machte dies nichts aus. Er mochte die Dunkelheit. Wenn er eines an dieser Welt hasste, dann waren es die ständigen Lichtblitze, die seine Augen malträtierten. Hell, dunkel, hell dunkel, dreißigtausend Mal im Sekundentakt. Das brachte sein Gehirn zum Glühen. Am liebsten hätte er ständig eine Sonnenbrille getragen, aber dafür war es dann im Allgemeinen doch wieder zu dunkel auf Mipailas Oberfläche.
Er nickte dem großen Mann, der auf zwei Schemeln gleichzeitig hockte und keine Anstalten machte aufzustehen, zu und fragte gefährlich leise: »Aufgewacht?«
Der Gardman bewegte langsam den Kopf hin und her. Dann verfiel er wieder in seine reglose Wacht.
Als der Agent das Office des Doktors betrat, wusch sich dieser gerade die Hände in einem kleinen Becken an der Wand. Er hatte der Tür den Rücken gekehrt, doch Reigmenson erkannte am durchdringenden Geruch in der Luft, dass er schon wieder eine Zigarre im Mund haben musste. Eine widerliche Angewohnheit.
Er wollte etwas sagen, aber Doc Walther kam ihm mit seiner Schnodderstimme zuvor: »Er ist noch nicht aufgewacht.«
»Wecken sie ihn«, konterte der Agent barsch und machte sich bereit für den bevorstehenden Konflikt. Es war wie der Kampf zweier Gladiatoren auf Leben und Tod. Er wusste nicht, warum der Arzt ihn hasste und es war ihm egal. Die meisten Menschen hassten ihn. Er schob dies gern auf seine Stellung. Menschen hatten stets etwas zu verbergen und er war ein beruflicher Aufdecker von Verborgenem. Er bohrte in ihrem Dreck. Sie hassten es, wenn man ihre Geheimnisse ans Licht brachte, selbst wenn es ein so trübes Licht war, wie das Cabinas. Kämpfe alter Mann, wir werden sehen, wie weit du mit deinem Widerstand bei mir kommst.
Doch zu seiner Überraschung nickte der Arzt nur mit hängenden Schultern, trocknete seine Hände an seinem fleckigen Kittel ab und zog an seinem Rauchwerk. Der Raum füllte sich mit kobaltblauem Qualm, als er ausatmete und mit der Zigarre auf die Glastür zum Nebenraum deutete, als wolle er sie als Taschenlampe anbieten.
Reigmenson trat zu der Tür und betätigte den Öffnungsmechanismus. Mit einem Knirschen schob sie sich zur Seite und eröffnete dem Zigarrenrauch eine neue Welt. Er ging hinein und stellte sich neben den Mann im Krankenbett. Die Apparate an der Wand gaben verschiedene langsam blinkende und glimmende Signale aus. Der transparente Beatmungsschlauch lief regelmäßig an und klärte sich wieder.
»Wecken sie ihn«, befahl Reigmenson.
Doc Walther trat an die Hauptlebenserhaltungskonsole des Bettes und strich mit der Hand über das Bedienfeld. Er nahm die Zigarre in den Mund, um beide Hände frei zu haben und inhalierte dabei tief.
»Er wird ihnen wahrscheinlich nicht viel sagen können«, sagte er mit merkwürdig ironischem Unterton in der Stimme. »Er hat sich ordentlich eins verpasst.«
Agent Reigmenson fragte sich, wie man Arzt sein und gleichzeitig in einer solchen Situation rauchen und grinsen konnte. Was war nur los mit den Menschen auf Mipaila? Machte das Blitzgewitter sie alle so? War es die künstliche Atemluft? Er hatte einmal eine Statistik aus den Datenbanken des MI1 gelesen, in der es um chronische neurologische Störungen von Menschen unter künstlichen Lebensbedingungen ging. Über dreiundachtzig Prozent aller Bewohner waren statistisch betroffen. Das reichte von kleinen Ticks, bis hin zu Trinksucht und akuten Dauerdepressionen.
»Wecken sie ihn einfach«, schnarrte er.
Wieder wischte der Arzt über die Kontrollen und stieß dabei eine noch größere Rauchwolke aus. Aus einer der Wände krümmte sich ein künstlicher Arm und fuhr langsam auf den Patienten zu. Das Mundstück wurde vorsichtig angehoben und nur der Sauerstoffspender verblieb über dem Nasenbereich. Nun verbanden nur noch dünne Schläuche das geschwollene Gesicht des Mannes mit der Lebenserhaltung. Reigmenson betrachtete die fingerdicke Narbe die sich quer über den Kiefer des Patienten zog. Der Doc hatte den Knochen geklebt und Provisorien als Abstandhalter in den Kiefer eingebracht. Durch die hochgezogenen Lippen konnte man sie sehen. Wie kleine unförmige Knollen sahen die Dinger aus. Das Auge war komplett zugeschwollen und darunter befand sich ein faustgroßer Bluterguss.
»Ich injiziere jetzt einen kleinen Wachmacher.«
Man konnte sehen, wie eine bläuliche Flüssigkeit dem Nährstofftropf zugegeben wurde. Die Augen des Mannes begannen sich zu regen. Sie zuckten unter den Lidern hin und her. Zuerst langsam, dann immer schneller. Schließlich öffnete er den Mund und schrie gellend nach seiner Mutter.
Im Büro des First Gardman herrschte gleißende Helligkeit. Rund um die Deckenkanten befanden sich armdicke Neonröhren, die den Raum in steriles weißes Flackern tauchten. Kalt war dieses Licht, so kalt wie der ganze Raum und sein Bewohner. First Olson Jurma kannte keine echten Gefühlsregungen. Er liebte nicht, er hasste noch nicht einmal. Wenn er sich über etwas aufregte und einen wüsten Schwall von Flüchen aus seiner Kehle spuckte, waren diese Gefühlsregungen ausschließlich oberflächlicher Natur. Tief in seinem Innersten herrschte eine unveränderliche endlose Leere. Er war tot, doch war es bisher noch keinem Arzt gelungen, diesen Zustand zu diagnostizieren, solange sein Herzschlag die Leichenstille seiner Seele übertünchte. Es gab auch keinen offensichtlichen Grund für diesen Zustand des feisten Mannes. Er hatte eine einigermaßen erfreuliche Kindheit mit seinen Eltern erlebt. Er wurde nie misshandelt. Während seiner Ausbildung zum Chief war er noch nicht einmal gehänselt worden, denn damals war er noch gut in Form und sehr sportlich gewesen. Schneid und Muskelstränge wie Würgeschlangen hatten damals sein eher grobes Gesicht, die immer roten Backen und die kalten kleinen Augen wettgemacht. Mit der Zeit hatte aber die Leere die Oberhand über ihn und seinen Leib übernommen. Er hatte versucht, ihr zu entrinnen und hatte stattdessen einfach nur sich selbst, die fleischige fettwulstige Hülle seines Leibes ausgebreitet. Er hatte Raum geschaffen, aber die Leere ist endlos und egal wie fett er werden würde, sie würde ihn immer wieder ausfüllen.
So hockte er in seinem riesigen Lehnstuhl, einem umgewandelten Kopilotensitz eines Frachters, und ließ seine Wampe über die Tischplatte hängen. Seine dunkelbraune Uniform mit den gelben Abnähern stand vorne offen und ließ sein fleckiges Unterhemd sehen.
Der Tisch zwischen ihm und seinem Gast war leer. Jurma ließ keine Unordnung zu. Würde Unordnung herrschen, würde er sich ärgern, und ärgern wollte er sich nicht, also räumte er auf. Immer räumte er auf. Alles räumte er auf. Sein Beruf bestand aus Aufräumen und Ordnung schaffen. Schließlich war er der oberste Ordnungshüter. Wo käme man hin, wenn dann keine Ordnung auf seinem eigenen Tisch herrschte?
Die Lampen knisterten leise. First Jurma betrachtete seine dicken Finger, dann wanderten seine Blicke zur Decke hinauf. Ein einzelner Falter war in die Falle seines Office geraten. Jurma sah dem winzigen Flattern zu, wie es immer und immer wieder versuchte, in das Licht der Röhren einzudringen.
»Sein Name ist Valgar, Vorname Cornel, ein Arbeiter der Klasse C, Besoldungsgruppe 22.4s.«, sagte der Agent mit schaler Stimme, der auf dem schmalen Stuhl gegenüber dem Tisch Platz genommen hatte.
Der First empfand die Stimme des Agenten als derart unangenehm, dass er den Mann am liebsten des Raumes verwiesen hätte. Wie eine Art zu Tönen gewordener Pesthauch, dachte er und registrierte endlich den Absturz des Falters. Keine Kraft mehr. Manchmal kam es ihm so vor, als ob diese ganze Welt keine Kraft mehr hätte. Ausgeflattert.
»Unterste Kategorie. Ich habe ihn durchlaufen lassen. Leichte Drogen, keine Gewalt. Er ist einer von denen, die geschlagen werden, nicht einer von den Tätern«, gab Jurma gelassen zurück. »Er besucht nicht mal die Nutten, zu scheu«, fügte er anzüglich grinsend hinzu.
Agent Reigmenson nickte. Sie unterhielten sich kurz über die Fakten und versuchten, ihr gewonnenes Wissen zusammenzufassen.
Mr. Valgar war bei seiner Reinigungsmission im Luftschacht 33h87.3 einem Xeno, einer zumindest derzeit unbekannten Spezies begegnet, welche gerade dabei gewesen war, Opfer Nummer zwei zu fressen. Die Beschreibung des Dings ergab ein humanoides Wesen mit zwei Beinen, zwei Armen, die in langfingrige Manipulatoren ausliefen, einem dünnen Schwanz, einem runden Kopf, aus dessen Hals oder Unterkiefer eine Art Tentakel ragte. Darüber hinaus war der Xeno unbeweglich erschienen und nur der Tentakel habe gezuckt. Es sei nass gewesen und war zweifellos gerade damit beschäftigt, sein Opfer zu verspeisen, als es durch den Wartungsarbeiter unterbrochen wurde.
Beide Opfer waren erwachsene Männer. Beide, soweit ersichtlich, gesund und kräftig. Die Obduktionen ergaben bei beiden Toten Erdrosseln als Todesursache. Beide standen unter dem Einfluss von Alkohol und das zweite Opfer hatte eine bis dato unbekannte leichte Droge zu sich genommen.
»Wann können wir mit der Analyse der Substanz rechnen?«, fragte der Agent dazwischen.
Der fette Gardman hob die Schultern und verzog das Gesicht.
Nickend widmete sich der Agent wieder der Zusammenfassung. Beide Opfer waren mit einer hoch giftigen Säure übergossen worden. Es war zu einer Art Verbrennung gekommen. Es ist davon auszugehen, dass die Substanz, die diese Reaktion hervorgerufen hatte, von dem Xeno gekommen war. Es ist derzeit nicht bekannt, um was für eine Lebensform es sich handeln könnte. Der überlebende Wartungsarbeiter sprach immer wieder von einer dämonischen Bestie aus der Hölle Kali Mas. Natürlich war dies Unsinn. Es gab in der Galaxie unzählige wenig oder überhaupt nicht erforschte reelle Lebensformen, von denen zweifellos der überwiegende Anteil als gefährlich eingestuft werden konnte.
»Eine nicht uninteressante Sache habe ich noch«, sagte der First Gardman.
Agent Reigmenson hob den Kopf.
»Das zweite Opfer«, Jurma machte eine Pause, öffnete eine Schublade an seinem Tisch und beförderte sein Pad zutage. Er schaltete es mit seinen dicken Fingern umständlich ein und wartete, bis der Bildschirm geladen war. Dann drehte er an einem kleinen Rädchen an der Seite des Geräts und versuchte, mit seiner Behäbigkeit den Agenten zu provozieren. Doch als er wieder einmal erkennen musste, dass der Fourstars ganz offensichtlich ebenfalls ein Opfer der Leere war, gab er auf und schob die Daten auf die andere Tischseite hinüber.
»Marquid Permont, ich kannte den Mann!«, sagte Jurma mit einem leisen triumphalen Unterton in der Stimme. Er wartete, aber Reigmenson rührte sich nicht, also fuhr er fort: »Drogendealer, einer der Verteiler. Kein großer Fisch, bloß ein Zwischenhändler, aber dafür einer der aggressiven Sorte.« Er schmatzte. »Letzten Umlauf habe ich ihn mit einer Ladung erwischt. Er saß achtzehn Schlafzyklen. Dann haben wir ihn laufen lassen. Es bringt nichts, wenn man die Schmiere aus den Zahnrädern nimmt, wenn sie wissen was ich meine.«
Verstohlen schaute Jurma den Agenten an. Es war doch ganz klar, dass man auf Mipaila nur überleben konnte, wenn man sich mit dem einen oder anderen Mittelchen behalf. Er war sich ganz sicher, auch Mr. Agent Fourstars würde seine kleinen Helfer haben. Hätte er den Dealer öffentlich hinrichten sollen? Wahrscheinlich würde er gleich zu hören bekommen, dass diese Vorgänge der Firmenleitung und Mrs. Orikimi bekannt gemacht werden mussten.
Stattdessen nickte der Agent nur und fragte leise: »Noch etwas?«
Jurma starrte den dürren Mann an. Dann schüttelte er den Kopf und wischte dabei mit seinem Doppelkinn über den löchrigen Rand seines Unterhemdes.
»Er hat mal ne Nutte verprügelt und dafür Lohnenthaltung kassiert. Hat das Mädel arg zugerichtet. Ist aber über zehn Standardjahre her.«
Ein Schlafzyklus war vergangen. Er hatte geruht und nachgedacht. Jetzt hatte er sich wieder hinunterbegeben. Der Schlüssel zu den Vorkommnissen befand sich im Lichtlosen, nicht unter den Blitzen des Himmels, sondern tief unter der Erde.
Agent Reigmenson ging langsam durch den Hauptstollen 287, vorsichtig auf jeden Schritt achtend. Seit Stunden war er nun schon unterwegs. Der gewaltige Bereich hatte an manchen Stellen eine Höhe von über achtzig Metern. Die Wände waren aus grob behauenem Felsgestein mit einem chaotischen Gewirr aus Fe-Polycarbonaten und herkömmlichen Metallstreben. Wie das Nest eines riesigen Insektenvolkes wirkte dieser von Menschenhand geschaffene Tunnel. Der Boden war übersät mit nicht mehr benötigten Halbzeugen, Verbundmaterialien wie Nägeln und Thermokleberresten. Wenn man nicht aufpasste, wo man hier hintrat, konnte man sich im Nu seine Stiefel ruinieren. Schnell war die Spitze eines Nagels durch das Leder gedrungen und verunstaltete so das Gehwerkzeug. Ein undenkbarer Umstand für Agent Reigmenson – also passte er auf. An den Rändern des Stollens befanden sich auf drei bis sechs Stockwerken die Unterkünfte der Schichtler, Lagerhallen, Garagen für Werkzeuge, Abbau-Pods und Spelunken, schlichte Trinkhallen für die Arbeiter. Überall standen Blechtonnen mit brennbaren Materialien darin herum, die den ganzen Bereich mit Wärme und spärlichem Licht erfüllten. Die Heizrohre allein reichten nicht aus. Im Winter fielen die Temperaturen hier unten immer unter den Nullpunkt und auf Dauer hielt das keine Seele aus. Um die Tonnen und offenen Lagerfeuer gruppierten sich Schichtler, die gerade ihre Pausen abfeierten oder mit ihrer Arbeit fertig waren. Sie hockten auf niederen Schemeln oder auf Klappstühlen, die sie für einen Teil ihres Lohns von irgendeinem Händler gekauft hatten. Manche hatten ihr eigenes Essen dabei, andere bekamen ihre Nahrung von den Verteilern des Konzerns. Der Konzern kümmerte sich um seine Leute. Proteinbrei, eiweißhaltige Getränke und Vitaminpasten auf etwas, das sie ›Necks‹ nannten, eine Art ungesäuerter Brotfladen. Zwischen den Gruppen tollten Ratten umher und nicht selten fand man die Nager auch, auf einen langen Belegnagel gespießt, über einer der Tonnen brutzeln.
Die Männer und Frauen sahen geduckt zu ihm herüber, wenn er an ihnen vorüberkam. Sie fürchteten, hassten ihn. Hinter vorgehaltener Hand flüsterten sie über ihn. Er war ein Freak, einer der dir mit den Gedanken in deinen Geist eindringt und dir die Seele verdreht, wenn es ihm gefällt. Es war ihm einerlei. Er hatte sich vor langer Zeit von den Menschen abgewandt. Er lebte für das, was er sein ›Inneres Ich‹ nannte. Die Erfüllung seiner Pflichten der MI1 gegenüber. Das Studium seiner Kräfte. Es war tatsächlich, wie sie es sagten. Er konnte wirklich mit seinen Gedanken nach der Seele von anderen Menschen greifen. Aber nur, weil sie schwach waren. Es war keine psionische Kraft, die dies bewirkte. Es war der Aberglaube, die Angst, die sie vor ihm hatten. Er musste sie nur lange genug böse anstarren und jedem von ihnen rutschte das Herz in die Hose. Eine Aura der Dunkelheit umgab ihn. Sie waren es, die diese Aura erschaffen hatten. Seine wirklichen Kräfte waren dagegen eher bescheiden. Als Psiont war er in der Lage, Pheromone und Geruchsatome zu analysieren. Wenn er etwas Besonderes in der Luft wahrnahm, konnte sein Gehirn anhand der von seinen Rezeptoren weitergeleiteten Informationen Zusammenhänge erkennen, die anderen Menschen verborgen blieben. So identifizierte er Menschen an ihren Gerüchen. Er hatte keineswegs eine feinere Nase als andere. Die gewonnenen Eindrücke wurden nur weit effizienter von ihm verarbeitet. Feine Nuancen, die jedes normale Hirn als unwichtig abtat, wurden von dem seinen erfasst, analysiert und mit seinen stets abrufbaren Erinnerungen abgeglichen.
Er roch die Umgebung ab. Da war etwas in diesem Stollen, etwas, das ihn zu der Bestie führen würde. Vielleicht versteckte sich der Xeno hier zwischen den Arbeitern. Vielleicht hockte er auf den Wellblechdächern und beobachtete sie, bereit für sein nächstes Opfer.
Reigmenson umrundete eine größere Gruppe von Männern, die sich um irgendetwas in ihrer Mitte gruppiert hatten. Er blieb stehen. Da war etwas in der Luft. Er konzentrierte sich, machte seinen Geist frei. Da war ein dünner Faden, dem zu folgen sich lohnen könnte. Unter höchster Konzentration griff er nach dem Hauch und versuchte, ihn einzufangen.
Die Arbeiter bewegten sich und mit jeder Bewegung veränderten sie das Gefüge der Gerüche. Sie schwitzten und bedrängten sich gegenseitig mit ihren Empfindungen. Ein Feuerwerk, der ständig umherwirbelnden Pheromone. Angst, Ärger, Wut, Verzeihen, Kameradschaft und tausend weiterer Gefühle wurden zu einem Gemenge, wie ein in Unordnung geratener Wollknäuel.
Er kniff die Augen zusammen und versuchte, das Chaos zu bändigen. Ein Blutgefäß in seiner Nasenscheidewand erlag den Anstrengungen und er spürte das feine Rinnsal, das sich über seine Lippen ergoss. Schnell tastete er nach dem Tuch, welches er stets für solche Fälle in seiner oberen Anzugstasche mit sich führte. Dann hatte er es plötzlich wieder. Da war es. Genau vor ihm, mitten in dem Pulk von Schichtlern.
Er trat auf die Menschenmenge zu und versuchte, aus der Kakophonie der Stimmen herauszuhören, über was sie sprachen. Zu seinem Bedauern waren die Gesprächsfetzen in verschiedenen Kirn- und Hindi-Dialekten ebenso unentwirrbar, wie das Geruchschaos um ihn herum. Schließlich drückte er sich das Tuch ein letztes Mal fest auf die Nase und drang dann in die Menge ein. Jetzt empfand er alles um sich herum nur noch als Gestank. Er hasste die Nähe von Menschen. Er mochte es ganz und gar nicht, anhand eines Geruches zu wissen, was die Leute dachten. Sie waren meist nicht viel mehr als lüstern gierige Tiere. Sie stanken nach sexuellen Bedürfnissen oder ihre Magensäure drang als übler Pesthauch aus ihren Kehlen und schrie nach Nahrung. Er drängelte und schließlich durchstieß er den äußeren Ring. Ein schwarzes Spermium auf seinem Weg durch die Vitellinmembran einer Eizelle.
Im Zentrum hatten sie Raum für eine Handvoll Männer und eine Frau gelassen. Es hatte eine Schlägerei gegeben. Wer waren die Leute und warum hatten sie sich gestritten? Sicher war es um die Frau gegangen. Der ewige Kampf der Primaten um das Weibchen. Er sah sich um. Waren die anderen nur Gaffer oder ein wütender Mob. Den Gerüchen zufolge konnte die Situation nach wie vor kippen. Die Leute waren sauer.
Er blieb am Rand stehen und beobachtete die Szene, als einer der Männer nach einem am Boden Liegenden trat. Dieser schrie auf und umklammerte einen Sack, den er vor der Brust hielt. Zuerst dachte Reigmenson, er wolle sich selbst mit dem Sack schützen, doch dann ging ihm auf, dass der Mann in Wahrheit den Sack vor den ihn Umstehenden schützte.
Da brüllte ein anderer, ein großer Kerl in Latzhose und mit wirrem, abstehendem Bart: »Rück mein´ scheiß Stein raus.«
Reigmenson korrigierte innerlich den grammatikalischen Fehler der Aufforderung. ›Rück meinen scheiß Stein heraus‹ oder ›rück mein scheiß Steinchen raus‹, hätte es heißen müssen. Aber die Kerle waren ja nicht als Poeten, sondern als Schwerstarbeiter angeheuert worden.
Befanden sich Steine in dem Sack des Liegenden? Interessiert, was als Nächstes geschehen würde, vergaß Reigmenson für einen Moment den Geruchsfaden, der ihn hierher geführt hatte.
Der Treter packte den Liegenden bei der Schulter und zerrte ihn hoch. Dieser umklammerte nach wie vor seinen Sack. Der Analphabet griff nach dem Sack und dann drehte dessen Besitzer gänzlich durch. Er donnerte, mehr aus Versehen als durch Kampfeskunst, aus der Drehung heraus, dem einen der Männer seinen Ellbogen gegen die Nase, so dass eine Fontäne aus Blut ihren Bogen durch die Luft zog. Fast gleichzeitig entwand er sich dem anderen, holte mit dem Sack aus und schlug in einer unkontrollierten Bewegung zu. Man konnte jetzt erkennen, dass sich tatsächlich Steine in dem Beutel befinden mussten.
»Scheiße nochmal«, schrie der Treter und bekam den Sack mit voller Wucht gegen den Bauch. Er entließ alle Luft gleichzeitig aus seinen Lungen und sackte auf seine Knie.
Der Sackträger richtete sich vollends auf und machte sich bereit zur Flucht. Fieberhaft sah er sich um und erkannte den geschlossenen Ring der Zuschauer. Dann rannte er blindlings in eine wahllose Richtung. Er rempelte gegen die Wand aus Arbeitern, prallte von ihnen ab und wurde wieder in die Mitte zurück geschleudert. Zwischenzeitlich hatte man sich dort neu formiert. Neben den beiden Männern blies jetzt auch die Frau zum Angriff. Sie hatte einen schmalen Holzbalken aufgehoben und schlug damit nach dem Kopf des Herantaumelnden. Krachend zerbrach der Balken auf dem Schädel des Unglücklichen. Der andere, der Mann mit den wirren Haaren, traf ihn ebenfalls mit der Faust. Seine Nase troff zwar noch von Blut, doch dies konnte ihn nicht abhalten. Er war ein Bär von einem Mann und der Sackträger gehörte eher in die Kategorie schwächliche Milbe. Auf seiner Stirn klaffte ohnehin nun schon eine blutige Wunde, von der angreifenden und keifenden Furie verursacht und jetzt fällte ihn die Faust des Bären endgültig.
Da brachte eine seltsam krächzende Stimme den Tumult zum Erlahmen: »Halten sie ein! Hier spricht Agent Fourstars Reigmenson im Namen der MI1. Ich verlange ordnungsgemäßen Stillstand, bis diese Situation geklärt ist.«
Die Leute drehten sich zögerlich zu Reigmenson um. Mit großen Augen und vor Schreck geöffneten Mündern starrten sie ihn an. Der Treter, blond, schlecht rasiert und mit den blauen Augen eines Ur-Kirners ausgestattet, öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber Reigmenson schnitt ihm mit einer herrischen Geste seiner Hand das Wort ab. Gleichzeitig griff er in seine Jackentasche und beförderte sein Scanpad hervor, welches entfernt an eine breite Faustfeuerwaffe gemahnte. Sofort versteifte sich die Menge. Kaum jemand hier unten war im Besitz einer Schusswaffe. Selbst die Gardman sorgten mit Knüppeln und Tasern für Ruhe und Ordnung. Nur einige wenige Arbeiter verstießen gegen das Waffengesetz und ertauschten sich Jagdgewehre, um ihre Speisekarte durch Ratten und die eine oder andere Katze ihres Nachbarn aufzuwerten.
Reigmenson trat vor und scannte die Augen des Blonden. Dieser war zu verdutzt, um zu reagieren. Schnell erfasste der Agent ebenfalls die Retinas der Frau und des Bärenmannes und jene des Sackträgers.
»Was ist hier vorgefallen?«
Alle Beteiligten starrten ihn blöde an. Was sollte das? Warum begannen sie nicht zu sprudeln? Der wars, der hat dies und jener hat jenes getan? Auf was warteten sie? Dann ging es ihm auf. Sie sagten nichts, weil sie alle miteinander Dreck am Stecken hatten. Er war in eine Art Gesamtkunstwerk des Verbrechens geraten. Ein geplatzter Deal? So musste es sein.
Die Menge um den inneren Kreis begann, sich zu nähern. Waren sie alle mit von der Partie?
Reigmenson hob den Arm erneut und richtete ihn auf die vordere Reihe. Er schwenkte die vermeintliche Waffe einmal von links nach rechts und betätigte mehrmals den Scantaster. Willkürlich erfasste er mehrere der Passanten und diese wichen vor ihm zurück. Er hatte keine Waffe. Aber das wussten sie nicht. Seine stierenden grauen Augen sangen ein stummes Lied von Tod und Verderben. Sie hatten Angst. Wie immer.
Dann betätigte er das Funknotsignal an dem Pad. Er musste durchhalten, bis eine Patrouille der Gardman hier vor Ort eintraf. So lange würde er die Arbeiter mit dem Scanpad und seiner Aura in Schach halten. Angespannt harrte er der Dinge, die da kommen mochten.
Etwas später bestätigte er den Vorabbericht des führenden Gardman. Eine Gruppe von Arbeitern und Arbeiterinnen hatten von einem Mann Drogen im großen Stil geordert. Der Name des Dealers lautete Thimon Hardknan. Offenbar war das Geschäft geplatzt, weil die Lieferung aus irgendwelchen Gründen nicht erfolgt war. Man hatte den Verkäufer gesucht und zur Rede gestellt. Es kam, wie es kommen musste und Agent Reigmenson war im letzten Moment dazwischen gegangen. Höchstwahrscheinlich hätte man den Kerl gelyncht.
Derzeit hockten insgesamt acht der Betroffenen in den engen Zellen des Verwaltungstraktes. Die Führung würde der Sache keine große Beachtung schenken. Wahrscheinlich würde man ein Exempel statuieren, indem man diesen Acht die Hälfte des Schichtlohns kürzte. Schlimm genug für sie, aber keine rechte Warnung für die Gemeinschaft, wie Reigmenson fand. Nicht einmal den Dealer würde man bestrafen. Allerdings war dies auch schwierig. Er hatte keine Drogen bei sich geführt. Es hatte sich herausgestellt, dass sich in dem Sack, den er auch noch bei seiner Festnahme unbedingt verteidigen wollte, tatsächlich nur Steine befunden hatten. Einfaches Erz. Kaum die Menge eines Tageslohns. Auf Anfrage, was es damit auf sich hätte, sagte er nur, er sei ein armer Mann und könne es sich nicht leisten, etwas von seinen Profiten zu verlieren. Von Drogen wisse er nichts, die anderen seien üble Verleumder, die ihn berauben wollten. Alle.
Reigmenson fühlte sich unbehaglich. Er fühlte sich stets unbehaglich, immer, hatte dies sein ganzes Leben über getan, doch es gab Nuancen und diese hier sagte ihm, etwas ist faul an der Sache. Dann war da noch der Geruch. Er konnte es nicht mehr erfassen. Es war etwas gewesen, eine Erinnerung an die letzten Stunden; ein dünner Faden, den er zu greifen versuchte, aber einfach nicht zu fassen bekam.
Später durchstreifte er erneut den Stollen. Er untersuchte nun zum dritten Mal den Ort des Geschehens, immer noch darauf hoffend, erneut die Aromen einzufangen, die seinem Gehirn die Initialzündung geben könnten. Er musste die Zusammenhänge endlich begreifen. Doch hier war nichts mehr. Keine Arbeiter, keine Gerüche, nichts.
Also ging er zu Hardknans Unterkunft. Die Gardmen hatten den Verhau nach Drogen untersucht, aber nichts außer einer kleinen Menge rauchbarem Traumkrauts für den Eigenbedarf gefunden. Er selbst nutzte diese kleine Freude zuweilen, um sich von der Welt zu entfernen und sich seinem Innersten zu widmen. Harmloses Zeug. Selbst, wenn der Mann das Tetrahydroladanol in Säcken gehortet hätte, wäre es nicht zu einer Anklage gekommen. Man hätte das Zeug stillschweigend beschlagnahmt und ihn weiter machen lassen.
Die kleine Wellblechhütte, die der Mann hier unten sein Zuhause nannte, wurde von insgesamt sieben Arbeitern bewohnt. Allesamt ledige Männer, alles Kirner, wie er selbst. An den Wänden hingen Triptychen von Heiligen. Auf der alten Heimatwelt war der Glaube längst ins Hintertreffen geraten, aber die abtrünnigen Kirner hielten offenbar an ihren alten Sitten fest.
Das Ganze war ein Saustall. Dreck, zerschlissene Schemel, Tische und Betten, Wanzen und ungereinigtes Essgeschirr – Reigmenson würde nie verstehen, wie menschliche Wesen so leben konnten. Nachdem die Gardmen hier alles durchsucht hatten, lag nichts mehr an seinem Ort, doch Reigmenson war sich sicher, dass sie damit kaum etwas schlimmer gemacht hatten.
Die Bewohner dieses stinkenden Ortes waren jetzt alle in den Schürfstollen. Nur eine einsame Katze, der ein Ohr fehlte und deren Fell von der Räude sprach, die sie plagte, bewachte den Verschlag.
Reigmenson achtete darauf, nichts zu berühren. Er wollte nichts riechen, was mit Orten wie diesem in Zusammenhang stand, aber seine Pflicht verlangte dieses Opfer. Also konzentrierte er sich und aktivierte in seinem Innersten die Kräfte, die ihn erfüllten. In einem grün-weißen Strudel überkam ihn das Verstehen. Er sah sich fieberhaft um. Was hatten die Gardmen übersehen? Sie hatten die Hütte auf den Kopf gestellt, aber dennoch nicht gefunden, was sie verbarg.
Er schob eine kleine Holzkommode zur Seite. Kam es von dort? Sich auf Hände und Knie niederlassend, schnüffelte er am Boden. Gestampfte Erde wie überall. Er wischte den Dreck beiseite. Da war ein Holzbrett. Mit den Fingern fuhr er den Rand des Brettes entlang. Es ließ sich leicht anheben. Schmutz rieselte in den Freiraum darunter. Da war es. Er konnte es riechen. Er langte hinein und beförderte einen faustgroßen Lederbeutel zu Tage. Das war der Geruch, den er wahrgenommen hatte, bevor er in die Menge getreten war, um ihn zu verlieren. Ganz deutlich erkannte er ihn. Es war das teerartige Aroma, das auch die beiden Leichen umgeben hatte.
Mila umfasste die Griffe des Schallhammers so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Er verkrampfte sich und ließ sein ganzes Gewicht, seine Wut und seine schmerzhafte Einsamkeit durch die Schultern, seine Arme, die Hände, den Hammer in die Erde hinab. Was auch immer dort unten tief in der Kühle des Nichts schlummerte, es sollte diese Dinge für ihn bewahren. Donnernd brach das Werkzeug mehr und mehr Felsen, Schutt und Erze aus den Stollenrändern. Herr Murbroja hatte seinen Leuten und ihm diesen Teilabschnitt auf Jumis Anraten hin zugewiesen. Pures Glück. Jumi hatte nur ein einziges winziges Erzbröckchen gefunden. Es gab drei armdicke Adern. Eine davon so dicht am ursprünglichen Tunnelgewölbe, dass es verwunderlich war, dass man sie nicht mit bloßem Auge hatte sehen können. Die anderen beiden befanden sich am Boden und zogen sich in südöstlicher Richtung nach unten in die Tiefe. Sie waren noch ergiebiger, sodass man jetzt schon begann, FPC-Förderbandstützen zu setzen.
Außer ihm selbst arbeiteten jetzt siebzehn Mann in dem Abschnitt. 287.74 hatte man ihn getauft. Abram und sein Vater arbeiteten einige Meter hinter ihm. Sie waren dabei, die Stützen zu verankern. Sie arbeiteten hart, wie rechtschaffene Männer dies eben taten, aber sie arbeiteten nicht wie er. Für ihn war die Arbeit ein Teil seines Schmerzes. Er tat, was er tun musste, doch er gehörte nicht hierher. Die lichtlosen Tiefen, die Welt an der Oberfläche unter dem immer düsteren Himmel Mipailas und die ewigen Blitze, all dies hasste er zutiefst. Er arbeitete, um zu vergessen, doch die Erinnerungen waren stärker, als sein Widerstand. Sie lebten im Gestein, beobachteten ihn. Sie waren Geister, böse Schemen, die seine Seele unter sich aufteilen wollten.
Damals waren seine Eltern und Youryc nach der Arbeit oft ausgegangen, in die Spelunken und in die Stravatise. Dort wurde getrunken und getanzt, gefeiert und gelacht. Sie probierten viele Dinge aus. Dinge, die das künstliche Lachen noch künstlicher machten. Er kannte diese Dinge. Mit Jumi hatte er vieles ausprobiert. Auch die neuen Vergnügungen, die von den Händlern der Außenwelt vertrieben wurden. Man fühlte sich leicht. Sie machten die Welt bunter. Wenn man die ›Marsche‹, wie die Dealer das Zeug nannten, genoss, wurden die Blitze und der Himmel bunt! Alles verlor seine Bedrohlichkeit und was blieb, waren Neonfarben und rhythmische Bewegungen. Sie hatten es getan, unter dem Blitzgewitter, unter dem Einfluss der Marsche. Seine Welt war in Farben, Bewegungen und Gefühlen ertrunken. In seinen Erinnerungen sah er seine Mutter und seinen Onkel mit denselben glänzenden Augen, wie er sie danach bei Jumi gesehen hatte. Er war gerannt. Durch den Dreck, die Blitze und die Nachwirkungen seines Drogenrauschs. Die Gardmen hatten ihn schließlich gestoppt, als er halb nackt, nur mit seiner Arbeiterhose bekleidet, in die Wildnis des Canyons hinter Prakāśa sthāna entkommen wollte. Immer den Schienen hinterher. Bis ins Nichts. Bis ihn einer der Blitze beruhigte, die Erinnerungen aus seinem Schädel brannte. Sie hatten ihn zurückgebracht. Jumi vergaß den Abend nicht. Sie wusste, was geschehen war. Die Marsche hatte sie in eine lebende Tote verwandelt, doch dies war ihr einerlei. Mila hingegen hatte sie aufgeweckt.
Überall in den Stollen herrschte eine unterschwellige Panik. Die Arbeiter sahen ständig über ihre Schultern, keiner wollte das nächste Opfer der Xeno-Bestie sein. Viele hatten sich bewaffnet. Spaten wurden angeschliffen, Spitzhacken kurzerhand zu archaischen Äxten umfunktioniert. Vorsicht war geboten. Das Ding konnte hier überall lauern. Hinter jedem Felsvorsprung, an der Decke, in den Wänden konnte es sich verstecken. Wer konnte schon sagen, zu was ein Xeno alles fähig war?
Die Gardmen waren aus ihrer Lethargie gerissen. Sie hatten ihr Rüstzeug aufpoliert, ihre Waffen auf Vordermann gebracht und machten nicht den üblichen verwahrlosten Eindruck. An jeder Ecke traf man sie jetzt. Stets zu zweit, nie allein, immer in Habachtstellung. Die Nerven lagen blank.
Zwischenzeitlich kam es ständig zu Zusammenstößen. Ein Arbeiter wurde von dem Xeno in der Dunkelheit des Abtritts erwischt. Er wehrte sich verzweifelt und schlug dabei seinem Kollegen, der vermeintlichen Killerbestie, das Vorhängeschloss des Örtchens an den Kopf. Einer der Gardmen glaubte ebenfalls an den Xeno, als er eine Schlägerei mit dem Schlagstock beendete. Nur sein Kollege konnte Schlimmeres verhindern, indem er den eigenen Mann bremste. Der Unmut stieg, das Vertrauen in die Firmenleitung sank und nach drei weiteren Schlafzyklen begannen die Streiks.
Obervorseherin Orikimi musste Verluste ab einer Abweichung von 0,28 % an die Überwachung auf MI1-kaca215287, dem künstlichen Trabanten Mipailas, melden. Mit etwas mathematischem Geschick stand die Verlustrate jetzt bei 0,22 %. Sie zitierte First Gardman Jurma in ihr Office, blies ihm den Marsch und dieser gab seinen Unmut an seine Untergebenen weiter. Razzien wurden durchgeführt, Unschuldige in Zellen gesperrt.
Thimon hinkte an den Gleisen des Versorgungszuges entlang. Noch drei Arbeitszyklen, dann war die Schicht endlich vorüber und er konnte in die Stadt nach oben zurückkehren. Er hatte Angst. Hunja und Marquid waren tot. Zuerst hatte er gedacht, sie wären den Henchmen der Fan in die Klauen geraten. Aber jetzt war alles noch schlimmer. Eine scheiß Lebensform von Außen trieb hier unten ihr Unwesen und hatte seine beiden Kumpels erledigt. Sie würde nicht aufhören. Das Vieh war eine Killermaschine. Es hieß, es erdrossele seine Opfer und bespucke sie dabei mit einer Art Säureodem. Er wollte sich so etwas gar nicht so genau vorstellen. Scheiße noch mal, alles war so gut gelaufen in den letzten Umläufen. Er überlegte, was er als Nächstes tun sollte. Eines war klar, er musste weg von diesem Scheißloch. Er würde das Versteck plündern und alle Creditspeicher an sich nehmen. Er musste jetzt nicht länger durch drei teilen. Für drei wäre es noch zu wenig gewesen, aber für sich allein würde er damit eine Unterklasse-Passage auf einem Frachter bezahlen können. Er würde entkommen. Sollten sie hier doch alle vor die Hunde gehen, ihm war es egal. Sollten sie sich fressen oder mit Säure bespritzen lassen.
Dreck war, dass man ihm das Erz weggenommen hatte. Sie beschlagnahmten immer alles, wenn es zu Ausfälligkeiten oder einer Schlägerei kam. Es war ihr Recht. Firmenrecht. Aber egal. Er hatte genug Stoff und Geld. Den Stoff musste er aus der Unterkunft holen. Da war Vorsicht geboten. Er wohnte zusammen mit anderen Arbeitern in genau der Gegend, in der es zu den Überfällen des Xenos gekommen war. Eigentlich wollte er am liebsten gar nicht mehr dorthin zurück. Aber was sollte er sonst machen? Er musste irgendwo wohnen, bis seine Schicht zu Ende war. Er konnte sich krankmelden, aber dann verlor er die Versicherungsprämie und er brauchte jeden einzelnen Credit, um von hier wegzukommen. Noch drei Schlafzyklen. Drei. Dann zurück in die Stadt, in eine der Kaschemmen, in denen sich die Handelskapitäne aufhielten oder in die Stravatise. Er würde einen Piloten finden, der ihn mitnahm und dann Schwamm über den ganzen Scheiß hier.
Vorsichtig ging er an den Gleisen entlang. Bei den Zugtunnels hatten man alle zwanzig Schritte eine gelbe Lampe in der Decke eingelassen. Das Licht reichte gerade soweit, den Boden auszuleuchten. Er hielt sich auf der linken Tunnelseite, weil hier der Gehweg etwas breiter war, als auf der anderen Seite. Fröstelnd konnte er schon das Licht des 287ers sehen. Vor sich sah er seinen Atem in weißen Wolken verdampfen. Seine Blase drückte ihn. Er hatte Angst. War da eben hinter ihm ein Geräusch gewesen?
Er fuhr herum und versuchte, etwas im Zwielicht zu erkennen. Überall in den Gleistunnel gab es schmale Alkoven, in die man treten konnte, wenn ein Zug vorbeisauste. Bei den flachen Erzzügen war dies nicht nötig, aber die Personentransporter fuhren oft mit einer derart hohen Geschwindigkeit, da war es einfach sicherer, den Steig zu verlassen und in einer Felsspalte Schutz zu suchen.
War da eine Bewegung in einem der Löcher? Er glaubte, etwas gesehen zu haben und fühlte, wie die Panik von seinem Handeln Besitz ergriff.
Plötzlich wurde ihm die Kehle eng. Zuerst dachte er, es sei nur die Angst, aber als etwas seinen Kehlkopf zusammendrückte, stieß er einen heiseren Schrei aus. Er drehte sich um und sah die Dunkelheit und dann rammte ihn das Ding mit einer solchen Wucht gegen die kantige Tunnelwand, dass ihm vor Schmerzen die Luft wegblieb. Er versuchte zu strampeln, aber das Wesen, der Xeno, hatte sich über ihn gekauert und stieß ein seltsam hohes Zischen aus.
Thimon schrie erneut und versuchte, sich aufzurichten. Mit den Füßen rutschte er vom Steig, verlor den Halt und dann war es wieder über ihm. Es gab ihm einen Schubs und er landete unsanft auf den Gleisen. Dann sprang es auf ihn und traf seinen Hals und seinen Brustkorb mit den Füßen. Er sah den dünnen Schwanz durch die Luft schnappen. Dann trat Blut in seine Augen und er spürte wieder die Pranken des Dings um seinen Hals. Es drückte zu. Verzweifelt drehte er den Kopf hin und her. Dann rammte ihm das Ding eine Art Tentakel in die Kehle und riss einen Teil seiner Luftröhre heraus. Es schnatterte und zischte wild und er hörte wie seine eigenen Laute des Schmerzes im Wüten des Xenos untergingen.
Er erstickte. Blut lief ihm in die Lungen. Hustend zappelte er ein letztes Mal. Dann ließ ihn der Xeno los.
Thimon, der glücklose Drogendealer, sah, wie sich das Ding erhob. In diesem letzten Moment seines Denkens wurde er sich der Nacktheit des Xenos bewusst und erkannte die Wahrheit. Dann wurde er nass. Die Säure.
Er erfasste sein Ende. Ein Funke glomm auf und dann stand er in Flammen. Wie ein Schlag ins Gesicht traf ihn der erneute Schmerz und dann umfing ihn gnädige Bewusstlosigkeit. Im Sterben krümmte er sich zusammen, wie eine Spinne. Die Sache war vollendet.
»Wussten sie, dass Permont und Hardknan damals beide in die Sache mit der Prostituierten verwickelt waren?«
First Jurma starrte den Agenten fragend an. Er verstand nicht, was der Mistkerl von ihm wollte. Er hatte Besseres zu tun, als in alten, absolut unwichtigen Vorgängen zu graben. Er musste Orikimi zufriedenstellen. Er hatte nicht die allergeringste Lust, ebenfalls Opfer einer Lohnstreichung zu werden.
Unbeirrt fuhr Agent Fourstars Reigmenson fort: »Man klagte sie damals an, weil sie angeblich mit harten Drogen handelten und eventuell am Tod eines Mannes die Schuld trugen.« Dann machte er eine Pause. Er wusste, dass er noch nicht die volle Aufmerksamkeit des fetten Sacks errungen hatte. Dann ließ er die Katze aus dem Sack: »Man konnte ihnen damals nichts nachweisen, aber sie handelten ganz sicher mit Marsche.«
»Woher wollen sie das wissen? Können sie auf einmal mit ihrem Hokuspokus auch noch in die Vergangenheit sehen? Als Nächstes sagen sie mir, welche Farbe meine Unterwäsche hat.« Jurma grinste anzüglich.
»Sie ist weiß, oder sie war es zumindest einmal, oder muss ich davon ausgehen, dass sie die Firmenwäsche durch Samt und Seide der Händler ersetzt haben?« Der Agent verzog keine Miene.
Jurma lachte kurz auf. Er wollte den Kerl loswerden. Konnte der nicht von dem scheiß Xeno gefressen werden?
»Und? Was soll das mit der Marsche? Das Zeug wird immer wieder mal angeboten …«
Reigmenson unterbrach den Gardman. »Es befindet sich auf allen Opfern!«
Jurma sah ihn ernst an. Es wurde still im Raum. Dann sagte er ruhig: »Dachte, es ist eine biologische Säure?«
Reigmenson nickte langsam. Das Zeug auf den Opfern ist ein Derivat. Es handelt sich dabei um die leicht entflammbare Version der Marsche, deren Molekülen die H-Atome genommen wurden. Wahrscheinlich unter Zuhilfenahme eines natürlichen Stoffes, wie zum Beispiel Ethansäure.«
Jurma verstand nichts von Chemie und wedelte verärgert mit der Hand durch die Luft. Doch bevor er etwas einwenden konnte, fuhr der Agent fort: »Trotz der biologischen Komponente könnte es sich um ein künstliches Verfahren handeln.«
»Quatsch«, schimpfte Jurma. »Es ist ein Xeno. Sie schicken Spezialisten von PK. Die räumen mit dem Ding auf.«
Reigmenson redete noch eine ganze Weile auf den First Gardman ein, aber dieser wollte von seinen Einwänden nichts wissen.
Dann versuchte er es bei der Verwaltung. Tagama Orikimi ließ ihn zuerst warten und dann hörte sie ihm nicht richtig zu. Am Ende verwies sie auf die Ordnungshüter. Es wäre nicht ihre Sache herauszufinden, was da unten in den Stollen vorging. Für sie zählten nur die Prozente und die würden wieder ansteigen, sobald man die Bestie erledigt hätte. Ein Schiff mit bestens ausgebildeten Jägern würde in Kürze über Prakāśa sthāna eintreffen. Der Spuk wäre sicher bald vorüber.
Still verließ der Agent die Verwaltungsgebäude und kehrte in sein eigenes Office zurück. Dort nahm er an seinem Tisch Platz. Er lehnt sich in seinem Drehsessel zurück und faltete die Hände in seinem Schoß. Mit geschlossenen Augen dachte er nach. Drei Tote.
Einige Schichten später traf der Transporter ein. Er tauchte aus den Wolken auf, wie eine riesige rostige Assel. Zusammengekrümmt schwebte er kurz über dem Landedeck. Dann sank er herab. Sein Kreischen übertönte das Knistern der Blitze, als er die Stabilisatoren entfaltete und mit einem Krachen die veralteten Partikeltriebwerke zündete. Brennend wie ein Komet, ging er langsam herunter und setzte dann unsanft auf der großen Plattform auf.
Viele Arbeiter, Gardmen und auch einige Mitglieder des Verwaltungsapparates hatten sich versammelt. Es regnete und nur die Blitze über ihren Köpfen erhellten ein wenig die Düsternis über der trostlosen Stadt.
First Gardman Jurma hieß die Fremden willkommen. Sie waren zu dritt. Drei Krieger in vakuumtauglichen Allzweckrüstungen. Ausgemustertes Material der Kirner Heeresstreitmächte, vielleicht auch noch exotischere Dinge. Sie sprachen kurz mit Jurma und folgten ihm dann in sein Office. Nachdem man sie ins Bild gesetzt und Orikimi die Preisvorstellungen absegnet hatte, brachen sie auf. Sie hatten einen Gravitationsgleiter und waren nicht auf die Züge angewiesen.
Sechzehn Schichtwechsel durchkämmten sie die Stollen der Gewitterkruste. Dann zogen sie unverrichteter Dinge wieder ab. Sie nahmen ihren Sold und verschwanden auf immer in den schwarzen Weiten der Galaxie.
Danach kam es zu keinen weiteren Morden. Zumindest nicht unter den vorangegangenen Umständen. Die Zeit verging und aus Unwissenheit und Vermutungen wurden Legenden und Übertreibungen. Vor einigen Umläufen hatte eine Sternenbestie ihr Unwesen auf Mipaila getrieben. Dutzende von Arbeitern waren ihr zum Opfer gefallen. Säureodem und Todestentakel. Dann waren Kopfgeldjäger von Poin´Khali eingetroffen und hatten dem Treiben ein Ende bereitet. Es heißt, sie hätten der Obervorseherin den Kopf der Bestie gebracht und diese hätte ihn präparieren lassen. Es heißt, die Tentakel des Dings könnten, zermahlen und in Essig gelöst, Krankheiten heilen und wären gut gegen Stollendepressionen.
»Steh auf«, flüsterte Mila seinem Bruder ins Ohr. »Es ist bald Zeit, die Schicht beginnt.«
Abram wandte sich von ihm ab und zog sich die Decke über den Kopf. »Lass mich schlafen«, brummte er kehlig.
Mila ging barfuß in die Wohnküche. Ada schlief ebenfalls noch. Er selbst war durch die Veränderung der Blitze aufgewacht. Es war Sommeranfang. Ab und an zu dieser Zeit ließen die Blitze etwas nach und man konnte zuweilen sogar Cabinas Strahlen durch die Wolken dringen sehen. Am auffälligsten aber war der sinkende Geräuschpegel dieser Saison. Wenn sich die Gesamtmenge der Entladungen verringerte, wurde es immer für eine kurze Dauer ruhiger über der Stadt. Plötzlich konnte man Geräusche hören, die sonst im ewigen Stakkato des Blitzgewitters untergingen. So war er vorhin von den leisen Krächzlauten an seinem Fußende aufgewacht.
Er nahm einen Becher und füllte ihn mit Wasser. Dann rührte er Milchpulver unter und wartete, bis aus der trüben Flüssigkeit richtige Milch geworden war. Als er wieder im Schlafbereich ankam, gab er die Hälfte der Flüssigkeit in die kleine Holzschale neben der Türschwelle. Bald würde sie nicht mehr reichen. Bald würde nichts mehr reichen, was er zu bieten hatte.
Dann streckte er seine Hand nach dem Bett aus und unter der Decke kam ein unterarmlanger Kopf hervor, schob sich mit seinem biegsamen Leib zu der dargereichten Hand empor und wand sich schließlich um Milas Hüfte bis hinauf zu seinem Hals.
Am schmalen Fensterschlitz stehend blickte er auf die nassen Straßen hinunter. Regen trommelte auf das Blech des Daches. Zufriedenheit erfüllte ihn. Bald würde er sich um neue Probleme kümmern müssen. Die Larve würde sich verpuppen und was aus ihr würde, konnte er sich nur entfernt vorstellen.
Mit einem Lächeln auf den Lippen und einer tiefen Unruhe in der Seele strich er Osiris über den schuppigen Kopf.