Vom Wunsch, alles richtig zu stellen
Ursprung: Terra
Land: Teutonia
Original: © Juni 2012 Blum
eBook: © Juni 2012 choose your art
Titelbild, Gestaltung & Satz: Blum
The Queen of Time and Space © Project Pitchfork
Korrektur: Sim
Speyer, Deutschland
Alle Rechte vorbehalten
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Diese Geschichte ist DIR gewidmet, lieber Leser.
Ich hoffe, dir gefällt die Welt, in der du lebst.
Ich hoffe, du bist glücklich.
There is a landscape with a mountain
On this mountain is a castle
And in this castle is a chamber
And in this chamber plays a girl
She is the center of it all
In the middle of a chamber
Plays a girl with time and space
The chamber is in a gateless castle
This castle is placed on a mountain
This mountain rests in a landscape
The landscape is woven into a rug
And on this rug plays a girl
She is the queen of time and space
Of everything that was and will be
And all the things we`ve ever done
Were in her play for ever after
We`re in her game ever after
Project Pitchfork
Er blickte die schmutzige Straße hinunter und wunderte sich über seine Lage. Es war noch früh im Jahr und das Wetter so wechselhaft wie seine Ex-Frau Bette. Die Stadt roch jetzt, nachdem es den ganzen Tag in Strömen geregnet hatte, nach Frühling, warmen Teer und den Mülltonnen in den Hinterhöfen.
Sein Herz schlug immer noch schnell. Er wandte seinen Blick zu dem Kleinwagen, den er vor einem halben Jahr gekauft hatte und nun würde zurückgeben müssen. Mit hängenden Schultern ging er darauf zu. In seiner Hosentasche fischte er nach dem Schlüssel des Wagens und drückte auf den Knopf, noch ehe er die Hand wieder aus der Tasche gezogen hatte. Nun war alles anders. Er würde bald keine Grundlage mehr für diese Art der Coolness haben.
Die Wagentür öffnend sah er an sich hinab. Anthrazitfarbener Zweireiher, dunkelbraune Slipper; Schuhe und Hose waren nass von der Pfütze, in der er gestanden hatte. Sicher war das Sohlenleder der Armanis ruiniert.
Im Wagen zündete er sich als erstes mit dem Zigarettenanzünder eine an und drückte dann den Knopf für die automatische Verriegelung. Er hatte mal über die Häufigkeit von Überfällen auf Autofahrer in noch nicht gestarteten Fahrzeugen gelesen. Seither verschloss er seine Türen immer gleich nach dem Einsteigen.
Müde blickte er erneut die Straße entlang. Er würde bestimmt nie wieder mit seinem Wagen hier stehen. Er würde diese verdammte Straße wahrscheinlich nie wieder hinunterfahren. Vielleicht, wenn er sehr viel Glück hätte, so zumindest hatte man versucht ihn etwas zu beruhigen, würde er wieder arbeiten gehen können; aber ganz sicher nicht hier. Es würden einfachere Aufgaben sein, die auf ihn warteten.
Zuerst fuhr er sich mit der Hand über das nasse Gesicht und dann beugte er sich vor, um seinen Kopf auf das Lenkrad zu legen. Doch die Geste der Verzweiflung wurde ihm von seiner eigenen Sitzeinstellung verwehrt. Niedergeschlagen musste er feststellen, dass sein Sitz zu weit hinten und viel zu tief eingestellt war, um sich auf das Lenkrad fallen zu lassen. Er war nicht der sportlichste und konnte sich nicht in Yogaübungen ergehen und verzichtete daher auf jegliche weitere Dramatik und startete den Motor. Es war soweit. Die Zeit des Abschieds von seinem Berufsleben war gekommen.
In seinem Apartment ließ er sich auf die große Ledercouch fallen. Er ächzte, weil ihm seine Brust weh tat, versuchte den Schmerz aber zu ignorieren und holte mehrmals tief Luft wie er es seit Monaten tat. Hinzu kam der sich immer weiter ausdehnende Druck in seinem Schädel. Das Zwerchfell ist verspannt oder eingeklemmt. So etwas lässt sich durch Lockerungsübungen beheben. Etwas Sport und auch die Sauerstoffversorgung des Gehirns wird besser. Es spielte keine Rolle, wie wenig er von Medizin im Allgemeinen und über das Zwerchfell und die Sauerstoffversorgung von Gehirnen im Besonderen wusste. Der Gedanke, seine Leiden seien vor allem stressbedingter Natur, ließ ihn ruhiger werden und wenn er sich beruhigte, verebbten oft auch die Schmerzen ein wenig. Heute traten sie leider nur etwas in den Hintergrund. Aber sie blieben; duckten sich in eine dunkle Ecke in seinem Leib und belauerten ihn wie ein Rudel hungriger Wölfe.
Als er die Slipper von den Füßen gewedelt hatte, streckte er den Arm nach der Scotch-Flasche aus, die er am Vorabend auf dem Wohnzimmertisch hatte stehen lassen. Der Whisky brannte in seiner Kehle und er verspürte eine Art perverser Befriedigung, als das Heulen und Zähnefletschen in seinen Eingeweiden von dem scharfen Brennen des Alkohols in die Enge getrieben wurde. Doch dann musste er husten und die Illusion von Macht war vorüber. Tränen traten ihm in die Augen.
Er atmete noch einige Male etwas flacher, gab dann aber auf. Mit zusammen gebissenen Zähnen hievte er sich aus dem Sofa und schlurfte mit hängenden Schultern ins Badezimmer. Dort angekommen öffnete er das Schränkchen neben dem zwei Meter breiten Spiegel und fingerte ungeduldig zwischen den Schachteln und Röllchen herum. Die hellblauen – er fand sie hinter einer aufgerissenen Packung extra feuchten Kondomen und der Zahnseide mit Mint Geschmack, die er vor einem Monat in der Tankstelle gekauft hatte, weil Susanne ihn seines schlechten Atems willen nicht mehr küssen wollte. Damals hatte sie noch nicht gewusst, wie sich der Konsum der ›Hellblauen‹ auf die Ausdünstungen seines Magen-Darm-Traktes auswirken konnte.
Er nestelte den Deckel von dem runden Plastikbehälter und schüttete sich drei der länglichen, irgendwie nach kleinen Spielzeugen aussehenden Tabletten auf die zitternde Handfläche. Viel Wasser dazu trinken, stand irgendwo im Beipackzettel. In seltenen Fällen kann der Einsatz von M_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ zum Tod führen – auch diese aufmunternden Worte hatte er dort gefunden.
Er warf sich die drei kleinen Helferlein in den weit geöffneten Mund, schluckte krampfhaft und beugte sich dann zum linken seiner beiden Wasserhähne herunter, um der Anweisung des Beipackzettels möglichst Folge zu leisten. Dass er das Medikament nicht mit Alkohol mischen durfte, hatte er vergessen.
Das Wasser schmeckte nach Kalk und war so kalt, dass ihm ein schmerzhafter Blitz durch die Backenzähne fuhr. Als er genug getrunken hatte oder zumindest nicht in der Lage war, die Zahnschmerzen länger auszuhalten, richtete er sich auf und betrachtete sein abgezehrtes Gesicht im Spiegel. So würde das gehen. So würde es sein. Er hasste sein Gesicht wie es jetzt aussah. Verhärmt, müde und vor allem hoffnungslos – dies waren die Attribute seines Gesichts dieser Tage. Vorbei war die Zeit, da er als Modell für Anzüge namhafter Modedesigner oder schnelle Autos hätte posieren können.
Im Schlafzimmer zog er Hemd und Hose aus und ließ sich dann in der Unterwäsche auf sein großes französisches Doppelbett fallen. Mit geschlossenen Augen dachte er kurz darüber nach, wie er damals hatte zustimmen können ein rundes Bett zu kaufen. Er öffnete die Augen gar nicht erst wieder und schlief stattdessen – die Tabletten wirkten sehr schnell – auf der Stelle ein.
Frühsommer 1959
Admiral Frank G. McNamara ging langsam und bedächtig die Gangway der USS M_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ herunter. Er war froh, wieder Zuhause zu sein. Sie hatten ihm von der Schönheit der Türkei erzählt. Sie hatten ihn beruhigt. Es würde zu keinen Konflikten kommen. Er hatte Izmir gesehen, hatte den quälend heißen Sommer über sich ergehen lassen. Die Luft war erfüllt gewesen von den Flugsamen der Pappeln und den allgegenwärtigen Stimmen der Muezzine, die hoch über der Stadt in ihren Minaretten die Heilslehre verkündeten. Der Abgesandte des türkischen Verteidigungsministeriums, ein kleiner feister Mann in abgetragenem Anzug, dessen Namen er weder aussprechen, geschweige denn sich merken konnte, hatte ihn herzlich willkommen geheißen. Man sei froh, den Handelspartner in Übersee unterstützen zu können. Die verschlossenen Blicke der anwesenden Admirale und Attachés straften die vorgeschobene Freundlichkeit Lüge.
Auch die Menschen auf den Straßen hatten ihn und seine Leute mit einer Mischung aus Skepsis und tief sitzender Urangst empfangen. Sein Auftrag: Beobachten. In Wahrheit hatte man ihn und seine Mannschaft beobachtet. Vom Meer aus hatte er von den ›Arbeiten‹ überhaupt nichts mitbekommen. Er war auch nicht wirklich informiert worden. Nur während der Landgänge, in den türkischen Kaffehäusern und Bordellen, wurde mit Gerüchten gehandelt, wie anderen Orts mit Brot und Gold.
Sie stellen die Raketen auf, weil Eisenhower Kuba nicht als Handelspartner akzeptierte. Die Roten hatten Kuba korrumpiert. Die PGM-19 Jupiter hatte eine Reichweite von fast zweitausendfünfhundert Kilometern. Als Trägerrakete für Nuklearwaffen stellte sie hier im Mittelmeerraum einen entscheidenden taktischen Parameter dar.
Frank wusste von weiteren Stützpunkten in Italien. Von hier aus war es nach Russland nur noch ein Katzensprung. Jetzt hatte man eine Antwort auf die neuen Interkontinentalwaffen der UdSSR. Hätte man Castro nicht einfach machen lassen können?
Er nahm seine Mütze vom Kopf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Unten, auf der anderen Seite der staubigen Werftstraße hielt ein schmutzig grüner Jeep der Army. Mit starren Augen musterte er den weißen, von einem breiten Ring eingekreisten Stern auf der Motorhaube des Fahrzeuges. Gut, sie würden ihn immerhin pünktlich zu seiner Frau Mary bringen.
***
Am nächsten Morgen musste er viele Dinge erledigen. Am Küchentisch sitzend sortierte er Briefe und Papiere. Musste er wirklich? Wer wollte ihm jetzt noch Vorschriften machen? Zahlen sie innerhalb der nächsten sieben Tage oder … oder was? Wir pfänden ihr Konto? Wir sperren Sie ein? Wir setzen Sie auf den elektrischen Stuhl?
Müde wischte er die komplette Post und sämtliche Verträge, Bestätigungen, Arztberichte und gut gemeinten Ratschläge vom Tisch. Das Papier flatterte zuerst wie ein aufgeschreckter Vogelschwarm in der Küche umher und ließ sich dann verstreut auf dem Boden nieder. Er legte die Stirn auf die Tischplatte.
Es war wie immer an der Zeit einen Entschluss zu fassen. Aber in seiner Situation war das Fassen von Entschlüssen etwas anderes als sonst. Er hatte vorher sein komplettes Leben damit verbracht Entschlüsse zu fassen. Sein Vater hatte es ihm beigebracht. Den christlichen Kindergarten zog man dem städtischen vor, denn dort herrschte Zucht und Ordnung. Suche dir eine gute Universität aus. Entscheide dich für die wirklich wichtigen Themen bei deiner Arbeit. Triff endlich den verdammten Entschluss, ob du die Frau heiraten oder nur bumsen willst, mein Sohn.
Sein Vater war ein wahrer Kapitän Ahab in Sachen Entschlussfassung.
An seine Mutter denkend, diese stille dünne und überaus feine Frau, nahm er sich ein Glas und füllte es mit Milch aus dem Kühlschrank. Er trank viel Milch in den letzten Tagen.
Genau in dem Moment, als er den ersten Schluck der kalten weißen Flüssigkeit seine Kehle herunterlaufen ließ, fasste er schließlich einen Entschluss: Er beschloss, keine Entschlüsse mehr fassen zu müssen!
Essen gehen – sein restliches Geld war jetzt so frei wie er. Der kleine Japaner, bei dem er vor drei Wochen mit Elise so gut gegessen hatte. Warum sahen die ihn so seltsam an? Konnte man es riechen?
Er aß hastig und nicht besonders viel, aus Angst, es wieder einmal nicht bei sich behalten zu können. Als er bezahlte, sah ihn die kleine Japanerin in ihrem billigen Kimono traurig an. Er gab ihr viel Trinkgeld und wandte sein Gesicht ab, als sie etwas sagen wollte.
Nach dem Essen fuhr er zu seinem Bruder – dem echten Bruder – und überbrachte ihm die frohe Botschaft, sich um nichts mehr kümmern zu wollen. Dieser lächelte dünn und fragte dann, wie es weiter gehen solle; doch dann bemerkte er, dass er es eben nicht mit Ironie, sondern der schlichten Entschlossenheit des in die Enge getriebenen Tieres zu tun hatte.
Sie unterhielt sich noch eine Weile. Am Ende des Gesprächs war dann schließlich klar, dass der Bruder, der nun gar nicht mehr zu Späßen aufgelegt war, sich um alles Weitere kümmern würde.
Früher hatte sein Bruder nicht annähernd so leicht Entscheidungen treffen können wie er, doch jetzt gab es einfach keinen anderen Weg mehr.
Danach fuhr er auf den Friedhof. Hier ›wohnte‹ seine Mutter seit sie ihren zierlichen Leib verlassen und ins große Universum eingegangen war. Ihr Mann hatte alle Entscheidungen für sie getroffen, nur gegen diese eine hatte er nichts tun können. Damals war ein regelrechter Krieg im Hause S_ _ _ _ ausgebrochen. Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, je einen Augenblick erlebt zu haben, in dem seine Mutter dem übermächtigen Vater widersprochen hätte. Aber als es schließlich um ihre Krankheit gegangen war, hatte sie das Joch abgeworfen wie ihre geliebten Israeliten aus dem zweiten Buch Mose, als diese sich von ihren ägyptischen Unterdrückern befreit hatten. Der Pharao hatte viele schreckliche Plagen ertragen müssen, eher er klein bei gegeben hatte und selbst dann hatte er noch Versuche unternommen, das Unausweichliche aufzuhalten. Bei seinem Vater hatte eine einzige Plage ausgereicht, um ihn für die Dauer mehrerer Jahre zu einem kläglichen Abbild seiner selbst werden zu lassen.
Nach dem Tod der Mutter hatte es lange gedauert die Familie wieder zu dem zu machen, was sie war: Stark, arrogant, effektiv, bewunderungswürdig.
Am Grab angekommen, wurde ihm zum ersten Mal in all den Jahren klar, wie lächerlich die Begriffe waren, die seinem Vater so viel bedeuteten.
Er wischte die Feuchtigkeit von dem sündhaft teuren Grabstein. Dann richtete er sich auf und sah zu dem großen Baum, der sich einige Meter neben dem Grab erhob. Dort hin musste er gehen, wenn er der Mutter nahe sein wollte. Dort unterhielt er sich einige Minuten stumm mit der geliebten Frau. Sie verstand ihn und sie wusste, was kommen würde. Zumindest was seine körperlichen Probleme anbelangte.
Weihnachten 1959
Peter und Frank schrieen während Mary mit einer Zigarette im Mund das Geschirr abräumte. Die beiden ansonsten so ungleichen Männer kannten ganz offenbar nur diese eine Art der Kommunikation. Früher war dies ganz anders gewesen. Als Kind hatte Peter seinen Vater vergöttert. Stets hatte er zu ihm aufgesehen, etwa wenn Frank seinem Sohn das Fliegenfischen oder das Schießen beigebracht hatte. Dann aber war Peter an die Harvard University gegangen. Zu Anfang hatte Frank immer mit großem Stolz in der Stimme von seinem studierenden Sohn gesprochen. Doch dann hatte Peter eine Veränderung durchlebt. Studentenbewegungen, politische Einflüsse aus dem Ausland, Gegner des Kapitalismus untergruben die Grundfesten der Amerikanischen Gemeinden. Frank musste mit ansehen wie sein Sohn begann, sich ein eigenes Bild von der Weltpolitischen Lage zu machen.
»Warum mussten sie die Kubaner zuerst unterstützen, wenn sie ihnen jetzt den Boden unter den Füßen wegziehen?«
»Weil man da noch nicht absehen konnte, dass der Drecksack den Sowjets den roten Teppich ausrollen würde.«
So ging es schon den ganzen Abend. Raketen, Explosionen, die über Nacht einen ganzen Kontinent in eine rauchende Wüste verwandeln konnten. Mr. Kennedy würde dies sicher verhindern, davon war Mary überzeugt. Als die beiden Männer noch eine Oktave schriller wurden, ließ sie einen der teuren Porzellanteller ihrer Großmutter auf das PVC des Küchenbodens fallen. Trotz des relativ weichen Materials zersprang das blütenweiße amerikanische Kulturgut in tausende von Splittern.
Auf der Veranda wurde es still. Mary?
Sie blieb still und bückte sich nach den Scherben. Die Zigarette war zur Hälfte aufgeraucht und die Asche hing in einem zitternden Bogen unter ihrer Nase. Dann brach sie ab, sank wie Fallout zu Boden und mischte sich mit dem Chaos auf dem PVC.
Peter kam herein und half ihr sofort die Scherben aufzuheben. Er sah sie stumm an. Er sah ihre Tränen und den Kummer in ihrem Herzen. Sie war eine einfache Frau. Sie verstand nichts von Politik. Sie wusste, dass sie eine Kapitalistin war. Man war ein Kapitalist, wenn man sich von seinem eigenen Geld, immer dann wenn man es wollte, neue Schuhe kaufen konnte. Russische Frauen konnten das nicht. Für sie war dieser scheußliche Krieg zu keiner Zeit kalt gewesen.
***
Auf dem Weg zum Casino überfuhr er dann eine Frau und ein Kind.
Es hatte wieder zu regnen angefangen und er war etwas benebelt, weil er wieder mehrere der Tabletten auf einmal genommen hatte. Eine klassische Fehleinschätzung des Dieselgehaltes auf der feuchten Straßenoberfläche führte zu einem viel zu langen Bremsweg und so kam es wie es kommen musste: Von den Göttern des Aquaplanings, der verminderten Reaktionszeit und der überhöhten Geschwindigkeit getrieben raste er in die beiden Fußgänger, als sie gerade einen Zebrastreifen überqueren wollten.
Die nächsten acht Stunden schlugen in seiner persönlichen Uhr mit etwa drei Minuten zu Buche. Schreie, Passanten, Handy, Krankenwagen, Charly, ein Polizist der zufällig zugegen war, ein Taxi (sein Wagen hatte einen Totalschaden davongetragen), ein Krankenhaus (das falsche), wieder ein Taxi (diesmal ein Inder mit einem merkwürdigen Muttermal über dem linken Auge), Krankenhaus, Wartezimmer, auf und ab gehen, die Polizei, sein Bruder (der sich hauptberuflich als Anwalt betätigte), Fragen und noch mehr Fragen, Tränen, eine schwarze Schwester mit beträchtlichem Leibesumfang, die wutentbrannt auf ihn ein schimpft, endlich ein Arzt …
Als er erwachte taten ihm sein Schädel und seine Rippen weh wie nie zuvor. Er hatte sich auf der Wartebank ausgestreckt so gut es ging und mit seiner dünnen Achthundert-Dollar-Jacke zugedeckt. Zitternd durchsuchte er seine Taschen und fand schließlich die Tabletten. Ob er ein Glas Wasser haben könnte? Die Dame an der Information deutete ohne ihn eines Blickes zu würdigen auf einen Automaten, der ein Stück den Gang hinunter seinen Dienst tat. Er nickte stumm und schlich in die angewiesene Richtung.
Sein Bruder hatte ihm erklärt was passieren würde. Der Staat würde ihn anklagen. Zu spät. Er hatte jegliche Strafe längst erhalten. Sein Bruder und der Staat wussten einen Scheiß über Gerechtigkeit. Er spülte die Tabletten hinunter.
Zwei Tage später sprach er mit dem behandelnden Arzt des Krankenhauses. Der Name der Frau war Emma Drescher. Der Klang des Namens wirkte fremd in seinen Ohren. Der Arzt sprach ihn aber auch falsch aus. Vor vielen Jahren hatte er aus beruflichen Gründen einen Deutschkurs belegen müssen und mit Bravur bestanden. Er mochte diese kantige und merkwürdig altertümliche Sprache und hatte nie aufgehört sich dafür zu interessieren. Drescher war höchstwahrscheinlich ein deutscher Name.
»Und das Kind?«, fragte er vorsichtig.
»Sie hat kaum etwas abbekommen. Mrs. Drescher war zwischen ihr und der Motorhaube, als der Einschlag kam.« Die Stimme des Arztes klang unfreundlich und abgehackt. Es war ihm deutlich anzusehen, wie verärgert er war, jetzt auch noch mit dem Verursacher das ganzen Schlammmassels reden zu müssen.
»Der Aufprall hat sie auf die Straße geschleudert. Gehirnerschütterung. Aber sie hatte wirklich Glück. Ein Passant hat ihren Sturz abgefangen. Nennen sie es Glück oder einen Schutzengel.«
»Wer war der Passant?«
»Wissen wir nicht.«
Er versuchte sich zu erinnern, aber da waren nur wirre Lichtblitze. Die Scheinwerfer auf der regennassen Straße, das Hupen der Autos auf der anderen Straßenseite und schließlich die aufgeregten Menschen vor dem Kino. Ja, es war vor dem Kino ganz in der Nähe des Casinos zu dem er wollte passiert. Er rieb sich die Nasenwurzel.
»Wird sie gesund?«
»Das Mädchen? Ja.« Der Arzt zögerte. »Mit der Frau sieht es da nicht so gut aus.«
Niedergeschlagen hörte er sich die Fachbegriffe an mit denen der Arzt die Lage von Emma Drescher beschrieb. Er kannte die meisten der Wörter nicht. Aber einige von ihnen lösten einen peinigenden Zug auf seine inneren Organe aus. Fraktur der Lendenwirbel, Rückenmark …
Der Arzt wollte damit das Gespräch beenden. Es war ihm deutlich anzumerken nach welchem Schema er das Gespräch geführt hatte. Der Schuldige war gefunden. Nun konnte man ihm offenbaren wie schrecklich schwer seine Taten wogen. Am Ende würde man ihn mit Schuld und Schande entlassen. Auf Wiedersehen Mr. S_ _ _ _.
Mit der folgenden Wende hatte er aber nicht gerechnet. Als sein Gegenüber sich weigerte zu gehen und statt dessen einen überaus ungewöhnlichen Vorschlag machte, wurden die Augen des Arztes schmal. Sein Interesse war geweckt.
Sommer 1961
»Wir laufen bald aus.« Frank atmete die warme Luft am Seeufer ein. Sie machten ein Picknick im Grünen wie es die Familie McNamara schon immer getan hatte. Der See war wunderschön im Indianersommer. Es roch nach frischem Gras und Ahornsirup.
Auf einer großen karierten Decke hatten sie einen Korb mit Bier und Hummerbrötchen aufgestellt.
Mary legte ihm einen Arm um die Hüfte und er bestätigte die Geste, indem er seinerseits seine große Hand auf ihrer Schulter nieder ließ. So sahen sie zu Peter hinaus, der in einem kleinen Kanadier auf der Mitte des Sees dümpelte und gerade in hohem Bogen seine Angel auswarf. Gut gemacht, Sohn, dachte Frank. Er sah seiner Frau in die Augen. Sie stritten und waren in vielerlei Hinsicht unterschiedlicher Meinung, aber er liebte seinen Sohn. Sie musste das doch wissen.
Peters Ferien waren wieder einmal vorüber. Er würde nächste Woche nach Cambridge zurückkehren. Und er, er würde an Bord seines Schiffes in Richtung Karibik aufbrechen. Natürlich hatten die Gespräche nicht viel gebracht.
Seit Oktober beobachteten die Amerikanischen Luftstreitkräfte jetzt Kuba auch aus der Luft. Die Handelsblockade wurde nun seit über einem Jahr aufrecht gehalten. Schiffe aus aller Welt beteiligten sich an dem Boykott. Nichts ging nach Kuba rein, nichts raus. Nur die Russen; sie versprachen den Kubanern immer wieder sowohl wirtschaftliche als auch militärische Unterstützung. Die Spannungen zwischen den Großmächten hatte eine neue Qualität angenommen. Wenn die Russen nicht langsam die Notbremse zogen, würde es eng werden.
Frank sah zu, wie Peter sich setzen wollte, dann aber abrupt wieder aufsprang und die Rute steil nach oben zog.
»Locker lassen Sohn«, brüllte er über den See.
Peter gab etwas Leine, aber zu wenig und mit einem Ruck zerriss die Angelschnur und er taumelte rückwärts und setzte sich unsanft auf einen der Bootsholme.
Frank schüttelte den Kopf und sah Mary an.
»Er hätte lockerer lassen müssen, das weiß doch jeder. Kurz anziehen, damit der Harken sich in die Lippen gräbt und dann Leine geben, bis der Bursche seine Kraft verbraucht hat.«
Marys Blick war auf den See gerichtet, aber sie schien das Boot und ihren Sohn nicht zu sehen. Leise flüsterte sie: »Locker lassen …«
***
Alles war sehr schnell gegangen. Viele Untersuchungen waren gar nicht mehr nötig gewesen. Man hatte ihn die letzten beiden Jahre von Innen nach Außen gekehrt und so konnten die unterschiedlichen Institutionen einfach all die gewonnenen Daten hin und her schaukeln. Er selbst war fügsam. Ein anderes Wort hätte für seinen Seelenzustand nicht gepasst. Alle vergebenen Sünden sind quitt – ob dieses alte Sprichwort auch auf ihn zutreffen konnte?
Nach der Operation dauerte es eine Weile, bis er wieder mobil war. Er brauchte nun einen Rollstuhl. Sie waren der Meinung, dass er sich erholen würde. Kein Problem für ihn. Er hatte ja noch etwas Zeit.
Doch nun war der große Tag gekommen. Er hatte alles hinter sich gelassen, die Polizei, den Reigen der immer und immer wieder selben Fragen, all die Unterschriften, die Bedenken seiner Familie, die harten Worte seines Vaters, er hatte sie alle mit seiner Fügsamkeit erstickt. Ja, ja, das stimmt, so ist es, ja – aber am Ende hatte er dennoch das Einzige getan, was sein Herz ihm aufgetragen hatte.
Komplikationen hatte es keine gegeben. Sein Rückenmark hatte sich als ›sauber‹ erwiesen. Die Ärzte sprachen von einem Wunder an genetischer Übereinstimmung. Wäre Emma seine Schwester, ihre Körper hätten nicht besser zueinander passen können, als sie es jetzt taten.
Er saß zusammengesunken in seinem Rollstuhl, geschoben von eben derselben dicken Krankenschwester, die ihn vor wenigen Wochen aufs Bitterste beschimpft hatte. Vor der Zimmertür blieben sie stehen. Er lockerte seinen Hemdkragen und schluckte schwer. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie bewusstlos neben ihm auf einem OP-Tisch gelegen.
Sie kannte ihn nicht, hatte ihn nicht einmal in der verhängnisvollen Nacht des Unfalls sehen können. Die Dunkelheit und die nasse, spiegelnde Scheibe hatten dies verhindert. Er hatte ihr Leben mit einem Paukenschlag verändert.
Zaghaft klopfte er an die Tür, die sich sofort leise öffnete. Drinnen stand ein Arzt. Doktor Sang wie er wusste; ein Schmerztherapeut. Der Chefarzt des Krankenhauses war nicht zugegen.
Vorsichtig ließ er sich in das Zimmer schieben. Es gab nur ein Bett. Das Zimmer wirkte irgendwie viel größer als das seine, obwohl sie bestimmt gleich waren. Es roch hier auch anders. Klar lag auch hier der strenge Geruch der allgegenwärtigen Desinfektionsbehälter in der Luft, aber ein anderes Aroma herrschte vor.
Er schnupperte und erkannte den zarten Duft frisch knospender Rosen. Der Nachttisch neben Emma war aber leer. Vielleicht hatte man die Blumen gerade hinaus gebracht.
Auf dem flachen, an einen mittelalterlichen Altar erinnernde Bett schließlich lag sie: Das Opfer seines Pessimismus, die Leidtragende seiner Selbstaufgabe.
Die linke Seite ihres Gesichts war immer noch blau angeschwollen und zum Teil mit Verbänden bedeckt. Auch ihr Hals war bandagiert. Der restliche Körper lag unter einer steifen Krankenhausdecke, die so blütenweiß war wie frisch gefallener Schnee.
»Emma«, flüsterte er so leise, dass nur er selbst es hören konnte.
In den folgenden Wochen ging es ihm immer schlechter. Sie hingegen erholte sich erstaunlich gut. Er besuchte sie jeden Tag und blieb so lange die Ärzte es ihm erlaubten. Emma erwies sich als derart herzensguter Mensch, dass es ihm jedes Mal den Magen zusammen krampfte, wenn er sie ansah. Sie war sechs Jahre älter als er, aber nachdem die Schwellungen der Hämatome auf ihren Wangen nachgelassen hatten, wirkte ihr Gesicht viel jugendlicher als jenes, welches er im Spiegel sah, wenn er die Abende allein in seinem Zimmer verbrachte.
Als man ihr erzählte was sich zugetragen hatte, war sie ganz ruhig geblieben. Ruby, die dicke Krankenschwester, die inzwischen zu seinem größten Fan avanciert war, hatte ihm dies berichtet. In Emmas Herzen gab es keinerlei Groll. Für sie war der Unfall ein Schicksalsschlag wie jeder andere auch. Alles war für sie ›alltäglich‹. Schuld oder Unschuld waren ihr egal. Wäre er der Briefträger gewesen, der ihr eine Rechnung überbracht hätte, sie hätte ihn ebenso wenig verdammt oder gehasst wie den Unfallschuldigen. Sie nahm still zur Kenntnis, wie er sie zuerst beinahe getötet und danach auf wundersame Weise gerettet hatte. Ihre Augen waren lebhaft und freuten sich nur an der glücklichen Wendung. Der Schicksalsschlag selbst schien sie kalt zu lassen.
Immer wenn er mit Emma zusammen war, musste er an seine Mutter denken. Alles hätte noch viel schlimmer kommen können – mit diesen Worten hatte sie sich verabschiedet, als sie längst die tödlichen Tabletten geschluckt hatte.
Oktober 1962
Frank schloss sein Logbuch und legte es in den Safe zurück. Er drückte die kleine Stahltür zu und verdrehte das Zahlenschloss. Dann erhob er sich und streifte seine Jacke über. Es war warm und er schwitzte, aber die Etikette erlaubte es einem hochrangigen Offizier der US Navy nicht, im Hemd an Deck zu gehen.
Er lächelte gequält und dachte an seinen Sohn. Auf seinem Schreibtisch stand ein Bild des Jungen. Acht Jahre, ein Hund, ein Schneemann.
Sie hatten einen ihrer Aufklärer abgeschossen. Eine U-2. Er schüttelte den Kopf. Verdammte Idioten. Warum stellten sie trotz der Blockade weiter ihre Raketen auf? Jetzt sprach man in der Heeresleitung von Luftangriffen und einer Invasion. ›Defense Condition 2‹ nannte man so etwas. Eine höhere Alarmbereitschaft gab es in Friedenszeiten nicht. Was danach kam war offener Krieg.
Sie machten Atomtests auf beiden Seiten – Frank strich über den Bilderrahmen und sah dann die Seekarte auf der gegenüberliegenden Kabinenwand an.
Auf der Brücke übergab ihm sein erster Offizier den Tagesbericht und erläuterte kurz die Situation. Sie hatten den Befehl, einen russischen Frachter aufzuhalten. Aber die Russen waren nicht allein gekommen. Unter dem Frachter lauerten die stählernen Leiber von mehreren U-Booten wie Barrakudas auf Beutefang. Frank gab seine Befehle. und reichte seinem Gegenüber die Kladde zurück. Als sich ihre Blicke trafen lag eine tiefe Verunsicherung in den Augen des jüngeren Mannes.
Flugzeuge starteten, Funksprüche wurden abgesetzt, alle Zahnräder griffen ineinander. Es war wie in einer Automobilfabrik in der Heimat. Jeder Abschnitt hatte seine Aufgabe und jeder funktionierte. Effizienz war das Zauberwort.
Keine Stunde später hatte man die U-Boote zum Auftauchen gezwungen. Frank wusste, dass Chruschtschow sich mit einem Schreiben an Kennedy gewandt hatte. Die Russen wollten von weiteren Raketenstellungen absehen, wenn die Amerikaner im Gegenzug eine Invasion Kubas ausschlossen. Das klang doch ganz vernünftig wie Frank fand. Er wusste auch, dass Castro die Russen gebeten hatte, einen thermonuklearen Erstschlag auf Guantanamo auszuführen. Chruschtschow hatte höflich abgelehnt und auch dies kam Frank überaus weitsichtig vor. Es wäre doch gelacht, wenn man diese Kiste nicht vernünftig zu bekäme.
Er gab einige Befehle aus und trat dann auf die Aussichtsplattform der Brücke. Mit einem Fernglas strich er zuerst über die Ostküste Kubas und dann hinüber zu den russischen U-Boten. Backbord voraus pflügte die USS N_ _ _ _ _ _ durch das aufgewühlte Meer. Er gab dem Steuermann drüben ein Handzeichen. Langsam verlor der Zerstörer an Fahrt und ging längsseits. Achtern konnte er den Frachter sehen.
Wieder musterte er die U-Boote. Was war an dem Ding nur so wichtig, dass die Russen ihn mit einer solchen Streitmacht sicherten?
***
Als Emma zum ersten Mal das Zimmer verlassen durfte, hatte man ihm erlaubt, sie zu begleiten. Beide wurden mit ihren Rollstühlen auf die Gartenterrasse des hinteren Innenhofes des Krankenhauses geschoben. Als Ruby und der junge Aushilfsarzt, der Emma betreute, gegangen waren, sahen sich die beiden lange an.
Es war ein wunderbar warmer und sonniger Frühlingsmorgen. In der Nacht hatte es geregnet und es roch noch nach frisch gemähtem nassem Gras. Die ersten Kletterrosen an der Krankenhausmauer waren aufgegangen und leisteten ihren olfaktorischen Beitrag zu der Idylle.
Sie unterhielten sich lange. Er erfuhr von dem Mädchen. Sie war nicht, wie er angenommen hatte, Emmas Tochter, sondern ihr Mündel. Emma benutzte das Wort ›Mündel‹ und er fragte sich, wie man heutzutage an eine solche Verantwortung kam, aber darüber wollte sie nicht sprechen. So ging er davon aus, dass die Kleine eine Nichte von Emma sein musste. Er ging dabei gedanklich die dramatischen Möglichkeiten durch: Emmas Schwester war bei einem Flugzeugunglück gestorben, ihr Bruder litt an einer schrecklichen Krankheit und konnte sich nicht mehr um sein Kind kümmern …
»Sie kommt nachher«. Mit diesen Worten riss sie ihn aus seinen wirren und betrüblichen Gedanken.
Er konnte sich nicht an das Gesicht des Kindes erinnern. Er hatte sie überfahren, aber er wusste nicht einmal, wie sie aussah. Mit zusammengekniffenen Augen fingerte er an den Stahlbögen seines Rollstuhls herum und versuchte, eine Antwort auf Emmas Worte zu finden. ›Sie kommt nachher‹ – ja und dann? Dann würde er ihr ins Gesicht sehen und sich entschuldigen. Tut mir wirklich leid, dass ich mit meinem beschissenen Auto über deine Tante gefahren bin. Sorry …
Er merkte, wie seine Stimmung, wie so oft in den letzten Tagen, auf den Nullpunkt zu sinken drohte, als Emma ihn erneut aus diesen finsteren Tiefen angelte.
»Glaubt du an Wunder?«
»Wunder?« Er sah sie jetzt an. Was für eine Frage. Wunder war, wenn Mose das Meer teilte. Er hatte die Bibel gelesen und er sah sich gerne Fantasy-Filme an und darüber hinaus hatte er gelernt, dass es diese Art von Wunder nicht gab. Aber dennoch – er glaubte an Wunder. Sein Blick flackerte über Emmas Schulter hinweg und blieb an der alten verklinkerten Krankenhausmauer hängen. Die kleinen Rosenblüten glänzten vom morgendlichen Tau. Hummeln umschwirrten sie und Dutzende kleiner orangefarbener Marienkäfer tummelten sich auf den Blättern der Pflanze, um sich an den Blattläusen gütig zu tun, die hier zu Millionen lebten. Er sah wie durch ein Mikroskop die Larven der Marienkäfer. Kleine mattschwarze Würmchen mit orangen Punkten und sechs Beinchen. Sah man genauer hin, erkannte man ihre kräftigen Mandibeln, mit denen sie die Panzer der Blattläuse zermalmten. Sie waren hässliche kleine Bastarde, wie er fand. Dass aus diesen Monstern die schmucken, nach der Mutter Gottes benannten, Käferchen wurden … dies empfand er als ein wahres Wunder. Die Rosen, die Hummeln, der Garten, in solchen Dingen sah er seine Wunder. Das geteilte Wasser war für ihn nichts anderes als der Zauberer von OZ.
»Ich meine echte Wunder, so in der Art, wie sie in der Bibel stehen.«
Er fragte sich, ob Emma seine Gedanken lesen konnte und musste unwillkürlich lächeln.
»Lach mich nicht aus. Es ist nur eine Frage.«
»Du meinst wegen der Situation, in der wir uns befinden?«
»Nein, daran habe ich jetzt gar nicht gedacht«. Sie legte in einer, wie er fand überaus liebenswerten Art und Weise, ihren Kopf schräg und sah ihm dann mitten ins Gesicht.
»Ich nenne sie Greta.«
»Ist das denn nicht ihr richtiger Name?«
Sie schwieg und er sah sich wieder unruhig im Garten um. Seine Gedanken drohten sich wieder im Chaos seines Zustandes zu verlieren. Er hangelte sich an der Realität Emmas entlang und bekam einen grauen Fetzen seiner eigenen Realität zu fassen. Da waren schnell vor seinen Augen blitzende Zahlenkolonnen. Kaufen oder verkaufen. Er sah sein altes Leben. Teure Schuhe und noch viel teurere Partys. Er musste sich um den Globus-Abschluss kümmern. Wenn es ihm gelang den CEO von Globus zu überzeugen, dass eine Fusion mit Interhousing eine wirkliche Alternative zu einem Splitting wäre, könnte seine Kanzlei einen Millionengewinn einfahren. Er suchte nach der Mailadresse von Mr. …, wie hieß dieser verdammte CEO noch gleich? Mr. …. Er erinnerte sich an einen japanisch klingenden Namen. Ein kleiner Mann mit schwarzen Haaren und einer altmodisch wirkenden Brille. Sein Name war …
»Du blutest.«
Emmas Stimme riss ihn aus der zerbröckelnden Welt seiner Vergangenheit. Sie griff in ihn hinein und zog ihn aus den zusammenbrechenden Bauten, aus Nummern und grauen Betonriesen. Er hatte Angst, Angst von den Trümmern getroffen zu werden, aber Emma sagte einfach, dass sie hinein müssten und geleitete ihn so aus seinem Trauma.
Als er zu sich kam, saß er immer noch im Rollstuhl und erkannte das mondförmige Gesicht Rubys vor sich. Sie sah ihn besorgt an und nestelte gerade an etwas, das in seiner Nase steckte herum. Nasenbluten hatte er in letzter Zeit immer häufiger. Er schluckte den Geschmack von Kupfer herunter und merkte wie sich seine Kehle dabei zuschnürte. Schnell fragte er mit der Stimme eines Verdurstenden der gerade den Fußmarsch durch die Sahelzone hinter sich gebracht hatte nach einem Glas Whisky und als Ruby streng mit dem Kopf schüttelte, akzeptierte er stattdessen Wasser.
Zwei Tage lang ging es ihm danach sehr schlecht. Er schwankte von einem tiefen Delirium zu Wachphasen, in denen er zu starke Kopfschmerzen hatte, um seine Umgebung wahrnehmen zu können. Dann stellten sie seine Medikamente neu ein und es wurde etwas besser. Er begann in die reale Welt zurückzukehren. Er kehrte zu Emma zurück.
Als er in ihr Zimmer kam, war das Mädchen bei ihr. In dem Moment da er sie sah, traf ihn ihr Anblick wie damals Jeremias Faust seine Magengrube. Er hatte mit Jeremias Frau geschlafen. Einmal, nach einer der vielen Feiern wegen eines erfolgreich abgeschlossenen Geschäfts. Wie hieß Jeremias Frau noch gleich? Er rieb sich die Nasenwurzel und wunderte sich darüber, sich an den Mann der ihn geschlagen hatte erinnern zu können und die Frau, mit der er immerhin Sex gehabt hatte, komplett aus seinen Gedanken verloren zu haben.
Wie ein Betrunkener, der versucht, die Welt um ihn herum gerade zu rücken, konzentrierte er sich auf das Kind.
Sie mochte vielleicht acht oder neun Jahre alt sein. Das Alter von Kindern schätzen lag ihm nicht sonderlich. Ihre Haare waren dünn wie Spinnweben und so hell, dass sie im Licht der sterilen Deckenlampen zu glimmen schienen. Waren sie blond oder weiß?
Ihr Gesicht konnte man nur als überaus fein bezeichnen. Die kleine Nase war gerade groß genug, um sie erkennen zu können, doch nahm man sie der schier riesigen runden Augen wegen kaum wahr. Diese Augen. Er versuchte, die Farbe ihrer Augen zu bestimmen, musste aber aufgeben. Grau, Silber, Himmelblau – er hatte Probleme Farben richtig wahrzunehmen seit sie ihm die neuen Medikamente verabreichten.
Ihre Glieder waren extrem zierlich und er fragte sich, ob Emma sie nicht richtig ernährte. Es konnte aber kaum einen finanziellen Grund für ein solches Szenario geben, denn Emmas Krankenhausrechnungen waren immens und soweit er wusste, wurden sie beglichen.
»Das ist Greta.« Emmas Stimme war nun viel kräftiger und sie schien sich in den letzten beiden Tagen prächtig erholt zu haben. Ihre Augen glänzten und sie freute sich ganz offensichtlich über seinen Besuch.
»Hallo Greta«, er versuchte den Namen wie Emma möglichst ›deutsch‹ auszusprechen. »Mein Name ist …« – und dann passierte es. Er merkte, wie er mit den Füßen an einem mentalen Abgrund stehend zu straucheln begann. Sein Oberkörper bekam Schlagseite und er drohte vornüber zu kippen. Das Grau umfing ihn. Mein Name … wie war sein gottverdammter Name? Grau, einstürzende Hochhäuser, sie stürzten, aber die Trümmer flogen nach oben und nicht nach unten.
»Eric!«
Das Wort breitete sich in seinem Gehirn aus wie die Schockwelle einer nuklearen Explosion. Die aufstrebenden Häusertrümmer kehrten an ihren Platz zurück. In Sekundenbruchteilen sah er die Welt wieder klar und deutlich vor Augen. Sein Name war Eric. Das Mädchen hatte ihn ausgesprochen und das Grau in seinem Kopf mit einer Palette sprühender Farben übergossen.
»Ja«, stammelte er. Woher …? Aber klar, Emma hatte ihr seinen Namen gesagt. Er überlegte kurz und konnte sich nicht erinnern, ihr seinen Namen genannt zu haben. Konnte das sein? Unmöglich, er musste sich ihr vorgestellt haben. Aber erinnern konnte er sich nicht. Ruby, sicher hatte die redselige Krankenschwester Emma seinen Namen verraten.
Dennoch konnte er sich nicht erinnern, auch nur ein einziges Mal, aus Emmas Mund seinen Namen gehört zu haben.
Er floh. Ohne zu wissen warum, bemächtigte sich seiner ein Gefühl der Angst. Etwas Urgewaltiges war gerade geschehen.
Oktober 1962
Während er sich noch mit einem der Deckoffiziere unterhielt, kam plötzlich ein Funkspruch herein. Eine Aufklärer hatte weitere U-Boote der Russen im Norden der Insel ausgemacht. Frank wandte sich von dem jungen Mann vor ihm ab und nahm erneut sein Fernglas zur Hand.
Langsam und bedächtig strich er damit über die Küste des dunklen Landes. Es war schon später Abend und der Wind hatte etwas aufgefrischt. Am Horizont verglomm gerade die Sonne in ihrem nassen Grab. Plötzlich ging ein Ruck durch die Atmosphäre und Frank wirbelte herum. Im letzten Augenblick musste er erkennen, wie die U-Boote ihre Raketenklappen öffneten. Was sollte das jetzt?
Sie bewachten nicht den Frachter, sie bewachten uns!
Er bellte schnell einige Befehle. Kanonentürme wurden ausgerichtet. Das Rattern der Drehgelenke machte jede weitere Kommunikation auf dem Kanonendeck unmöglich. Per Handzeichen gaben sich die Kanoniere gegenseitig Ratschläge.
Der russische Frachter nahm Fahrt auf. Wollten sie die Blockade mit Gewalt durchbrechen? Irgend etwas mussten die Roten wissen was ihm uns seinen Leuten entgangen war. Was auch immer sie vorhatten, es war ein Akt des Wahnsinns.
Frank eilte die Freitreppe zur Achterreling hinunter und kam schweren Atems neben seinem ersten Offizier an.
»Was machen die da?«, brüllte er.
Der Offizier hob die Schultern und deutete auf die Startbahnen der N_ _ _ _ _ _. Zwei Bomber rasten donnernd auf das offene Meer hinaus und wirkten, als wollten sie ins Wasser eintauchen. Erst im letzten Moment zogen die Piloten ihre Maschinen hoch und beschrieben dann mit ohrenbetäubendem Lärm einen Bogen über den Schiffen.
Von Kuba drangen nun ebenfalls Geräusche herüber. Das asthmatische Rattern von Luftabwehrgeschützen.
Frank wollte gerade ebenfalls zur Mobilmachung aufrufen, als sein Blick durch puren Zufall über das der Insel abgewandte Meer strich. Er erstarrte. Mit bleichem Gesicht folgte sein Offizier seinem Blick und öffnete in einer kindlichen Geste seinen Mund.
In einem weiten Bogen strich ein weißer Marschflugkörper flach über das Meer und kam direkt auf sie zu. Frank griff nach seiner Mütze und dann schoss das Ding auch schon, einen langen Kondensstreifen hinter sich her ziehend, über ihre Köpfe hinweg.
Frank umrundete den Turm und griff nach der Reling, um sich fest zu halten. Mit weit geöffneten Augen blickte er hinter der amerikanischen Rakete her, die zielsicher in Richtung Insel flog. Er gedachte in diesem Augenblick der wunderbaren Zeiten, die er auf See verbracht hatte. Seine Gedanken schossen zu seinem Sohn und seiner geliebten Frau Mary. Milliarden vergangener Augenblicke komprimiert in einer einzigen Sekunde. Er schloss die Augen und sein Griff um den kalten Stahl des Geländers verstärkte sich. Rechts von sich konnte er die aufsteigenden Geschosse der russischen Abwehrraketen hören, doch dann holte der Lärm des amerikanischen Flugkörpers die Flugbahn der Rakete ein und überdeckte alle anderen Geräusche.
Gerade rechtzeitig öffnete Frank seine Augen, um den grellen Lichtblitz zu sehen, mit dem die erste Explosion die kubanische Küste verwüstete. Sofort verbrannten seine Netzhäute und er schrie auf. Blind hielt er sich immer noch an der Reling fest. Dann hörte er den dumpfen Aufschlag der Rakete, so nah war er dem Zentrum des Einschlags. Da die Druckwelle sich schneller als der Schall ausbreitete, würde er den Knall der eigentlichen Detonation nicht mehr zu hören bekommen. Als sie ihn erreichte, lockerte er seinen Griff um den Stahl und ließ sich von ihr davon treiben.
***
»Zuerst hieß es Verdacht auf Hirntumor. Wegen der Blackouts.« Sein Blick ruhte auf seinen Schuhen. »Dann kamen sie mit der anderen Diagnose.«
Sie sah in von der Seite an.
»Na ja, ich habe so eine Art kleinen Bruder im Kopf.«
Ihre Miene wandelte sich von zugeneigter Trauer zu purem Erstaunen.
»Einen Bruder?«
»Sie sagen, es sei Eigengewebe. Kein Krebs oder so etwas. Es war schon immer da; seit meiner Geburt. Es spielt keine Rolle ob es die Überreste eines Zwillings sind oder ob ich selbst degeneriert bin. Tatsächlich hat vor einigen Monaten mein eigenes Fleisch im Kopf angefangen, sich in die falsche Richtung auszudehnen.«
Sie stieß leise den Atem aus. »Daher die Aussetzer?«, fragte sie mit kaum hörbarer Stimme.
»Das Gewebe drückt gegen einige der Hauptautobahnen in meinem Gehirn. Kein Blut, kein Denken. Es ist nicht ansteckend und sie sagen, ich könne es auch kaum vererben. Also keine Angst wegen der Spende. Am bemerkenswertesten an der Sache ist wohl laut den Ärzten mein Alter. Sie sagen, es sei eine sehr seltene Art der Degeneration und wenn sie überhaupt zu Problemen führt, dann in der Jugend während der Wachstumsphase.« Er machte eine Pause und wischte etwas von seiner Wange.
»Später, im Erwachsenenalter wuchert das Zeug angeblich nicht mehr sinnlos vor sich hin und wird vom Körper assimiliert.« Er lächelte bitter und fügte dann hinzu: »Ich bin wohl in vieler Hinsicht ein Spätentwickler.«
Sie lächelte sanft.
»Wohin führt es?«
Wieder fixierte er die Spitzen seiner Schuhe.
»Der Tag wird kommen, an dem der letzte Blackout stattfindet. Ich bin jetzt schon nicht mehr in der Lage, meine Arbeit zu verrichten. Als Manager muss man vor allem mit Zahlen und Terminen umgehen können. Ich weiß nicht einmal, welchen Tag wir heute haben.« Jetzt sah er sie direkt an. »Wie war noch gleich dein Name?«
Unwillkürlich musste sie lachen.
»Am Ende werde ich sabbern.«
Sie lächelte ihn mit ihrem warmen, die ganze Welt umarmenden Lächeln an.
Dann sagte sie verschmitzt und dennoch ernst: »Nein, wirst du nicht.«
Er hob die Hand und das junge Mädchen in dem kurzen roten Rock, welches sie bediente, kam zu ihrem Tisch. Sie saßen in einem kleinen Café gegenüber dem Krankenhaus. Ihr erster Gehversuch ›Draußen‹.
Er bestellte noch einen Kaffee und sah Emma fragend an, aber sie schüttelte lächelnd den Kopf.
Einen Moment sah er dem Rock hinterher, doch dann wanderte sein Blick zu der Fensterscheibe und drang dann träge hinüber zu den weißen Gebäuden des Memorials.
»Du bist bald gesund. In den letzten drei Wochen hast du wirklich tolle Fortschritte gemacht.«
Sie sprachen nie über den Unfall. Emma wusste offenbar ohnehin alles. Es stimmte, sie hatte prächtige Fortschritte gemacht. Seit sie im Rehazentrum stationiert worden war und jeden Tag ihre Übungen im Wasserbecken oder dem Laufband machte, konnte sie fast wieder so gut gehen wie vor dem verhängnisvollen Abend. Ihre Wunden waren verheilt. Ein Trauma, zumindest schien dem so, gab es nicht.
»Wo wohnt eigentlich die Kleine während deines Aufenthaltes hier?«
Sie zögerte und sah auf die große Bahnhofsuhr über dem Tresen des Cafés. Sie schien sich eine Antwort zu überlegen und er spürte, wie unbehaglich ihr diese Frage war.
»Wenn du einen Wunsch frei hättest, oder sogar mehrere, würdest du dir wünschen, gesund zu sein?«
Er verzog das Gesicht ob ihrer Gegenfrage. Was sollte das denn jetzt?
»Einen Wunsch?«
»Ja.«
»Einfach so?«
»Einfach so.«
Er strich sich über das Haar und leerte dann seine Tasse. Als er antworten wollte, kam das Mädchen mit seinem neuen Kaffee.
Sie warteten bis sie wieder gegangen war und schwiegen dann noch eine Weile. Doch dann sagte sie ungeduldig: »Jetzt sag schon den Wunsch.«
»Ach, das ist doch Unsinn. Wer würde sich nicht wünschen, gesund zu sein? Ja, natürlich, ich würde mir wünschen, nicht in wenigen Monaten als gehirnloser Fleischsack zu verrotten.
Emma richtete sich auf und entfernte sich so etwas von ihm. Sofort taten ihm seine harten Worte leid. Er wandte den Blick von ihr ab und sah wieder zur Straße hinaus.
»Tut mir leid«, murmelte er leise.
»Schon ok. Ich verstehe dich. Es muss schrecklich sein.« Ihre Worte waren ein Ausdruck des Mittleides aber ihre Stimme hatte etwas derart tröstendes, dass er sie gerührt ansah.
»Du wirst gesund.«
»Klar, danke.« Bemüht lächelte er und versuchte, zuversichtlich zu wirken. In diesem Moment erkannte er seine tiefe Liebe für diese Frau.
Vier Wochen später wurde Emma aus dem Krankenhaus entlassen. Er selbst war schon zwei Wochen zuvor in sein Apartment zurückgekehrt. An einem Samstag, nach einem wunderbaren Besuch im Naturhistorischen Museum, schliefen sie das erste Mal miteinander. Er brachte sie in seine Wohnung, stellte Kerzen auf, ließ leise den Soundtrack von ›Snow Falling On Cedars‹ aus seiner Anlage rieseln und gemeinsam standen sie an seinem großen Panoramafenster und sahen zu, wie die Sonne in ihr rotes Bett hinter der Stadt sank. Sie nahm seine Hand, er küsste sie sacht und unsicher. Ihm war zum Weinen zumute. Für ihn war es einer der letzten Sonnenuntergänge und wohl auch eine der letzten Szenen der Liebe in seinem bewussten Leben. Als sie nackt nebeneinander auf seinem mit schwarzem Samt bezogenen Bett lagen, sah sie ihn lange an.
»Sicher bin ich anders als die Frauen, die du sonst mit zu dir nimmst«, stellte sie mit einem amüsierten Zug um die Lippen fest.
Er wand sich innerlich. Es stimmte. Emma war keine der gestylten Frauen die sich sonst im Dunstkreis von Männern wie ihm bewegten. Seine ›Freunde‹ – wenn man dieses Wort für die Männer mit denen er sich umgeben hatte benutzen durfte – würden ihr auf der berühmten Zehnerskala im günstigsten Fall ein drei geben. Verstohlen wanderten seine Blicke über ihren Körper. Sie hatte schöne Brüste, ihr Gesicht wirkte aber zu erwachsen und vom Leben geprägt. Mit Sicherheit benutzte sie kein Pflegeset im Wert eines Kleinwagens. Feine Falten breiteten sich von ihren Augenrändern aus. Stirnfalten, die von finanziellen und anderen Nöten sprachen, waren bei den Fotoshootings der Manager-Begleiterinnen nicht angesagt.
Aber in dieser Liga spielte er nun auch nicht mehr. Er war verbrannt und damit ausgeschlossen. Innerlich verbrannt. Sein Körper war äußerlich in bestem Zustand, aber im Inneren breitete sich eine Wüste aus geruchloser Asche aus.
»Du bist wunderbar Emma.« Er sagte es und es war die Wahrheit. Vielleicht würde er es in wenigen Tagen nicht mehr wissen und diese drohende Gefahr ließ ihn innerlich erbeben.
»Du musst dir keine Sorgen machen. Ich weiß, wer ich bin. Ich weiß es schon so unendlich lange.«
Er sah ihr ins Gesicht. Sie war so voll von Rätseln. Was wollte sie damit jetzt sagen? Doch ehe er noch etwas erwidern konnte, griff sie nach ihm und sie verloren sich im Reigen aufbrandender Lust.
Die nächsten Tage waren wunderbar. Sie besuchten gemeinsam den Zoo, wanderten am Fluss entlang, liebten sich, lernten sich kennen, vergaßen sich. Der Druck wich aus seinem Kopf, der Staub seiner inneren Wüste legte sich etwas. Natürlich war da nach wie vor die Angst in ihm, es könnte enden.
Irgendwann, sie aßen gerade bei einem kleinen asiatischen Fastfoot-Restaurant bei ihm um die Ecke zu Mittag, fragte er sie erneut nach dem Verbleib von Greta.
Ihr Tisch stand im Freien. Auf der einen Seite gab es einen Fußgängerüberweg der in die City führte und auf der anderen Seite war der Fluss. Von einem wirklich schönen Ausblick konnte zwar nicht die Rede sein, denn auf der anderen Uferseite gab es nur schmutzige Verladedocks, und dennoch, die Gegend hatte ihren ganz eigenen Flair.
Die Sonne schien und ließ Emmas Haare in einem ganz eigenen Licht glänzen.
Sie hob die Augen über den Rand ihres Schälchens, wobei ihr die Stäbchen aus den Fingern glitten und klappernd auf den Boden fielen.
Er sah sie an. Was stimmte da nur nicht? Was war das für eine Sache zwischen ihr und diesem Kind? Jetzt, an dem Tisch mit Chop Suey und Ente süß-sauer zwischen sich, schien sich eine Samtdecke von seinem Gehirn zu ziehen und einen Blick auf die Wahrheit oder das was er für wahr hielt, zu ziehen. Wie auch immer, er erkannte einen Missstand, der ihm im Taumel des Glücks und seines persönlichen Traumas verborgen gewesen war.
Etwas ernster fragte er: »Wer ist die Kleine wirklich Emma?« Er betonte dabei ihren Namen mit Nachdruck, um sicher zu gehen, dass sie erkannte, wie wichtig ihm die Wahrheit jetzt war.
»Sie ist Gott.«
Er ließ nun selbst seine Stäbchen sinken und versuchte, zu lächeln, aber seine Gefühle verdüsterten sich zusehends und so misslang es ihm, der Situation mit Humor zu begegnen.
»Bitte Emma …« Gequält sah er sie weiter an. Konnte er nicht dieses bisschen Glück, das ihm hier angeboten wurde, einfach genießen? Nein, das konnte er nicht. Nicht im Schatten des Chaos und der Unwahrheit.
»Jetzt sag schon. Sie ist also nicht deine Tochter und wahrscheinlich ist sie nicht einmal mit dir verwandt. Also, wer ist sie?«
Emma hob die Stäbchen vom Boden auf und begann sie mit unsicheren Fingern an ihrer Serviette zu reinigen. Als sie aufsah, hatten sich ihre Augen mit Tränen gefüllt.
Ihre Stimme war heiser. Sie drückte in ihrem Timbre Unsicherheit und unendliche Trauer aus. Es war die Stimme eines Menschen der es gewohnt war, eine Sache mit sich herum zu tragen, die ihm niemals jemand glauben würde.
»Eric … ich hatte dich gebeten dir etwas zu wünschen. Dieses Angebot kam von ihr, nicht von mir. Sie hat dir dieses Angebot unterbreitet, weil sie etwas in dir sieht, das nur sie allein sehen kann.« Sie machte eine kleine Pause. »Verstehe mich bitte nicht falsch. Ich habe mich in dich verliebt, aber für mich bist du ein attraktiver Mann mit einem charmanten Humor und einer überaus netten Art. Ich bin irdisch, sterblich, nur eine Frau. Was sie in dir sieht weiß ich nicht.«
Die Betonung, wie sie dieses ›sie‹ aussprach, ließ ihn unerwartet frösteln. Das machte ihn unsicher und wie so oft, wenn er Unsicherheit verspürte, konterte er mit Aggression. Viel härter, als er es eigentlich wollte, forderte er: »Jetzt hör mit dem Unsinn auf und sag mir, wer Greta ist und wie sie zu dir steht.
Emma sah ihn an und er erkannte, dass ihm die Situation zu entgleiten drohte. Sie stand auf.
»Emma …« Er erhob sich ebenfalls und kramte das Geld für das Essen aus seiner Hosentasche. Zerknüllt legte er ein paar Scheine auf den Tisch und ging hinter ihr her.
Sie hatte sich langsam und wortlos von ihrem Tisch entfernt.
An das Geländer am Fluss gelehnt, blieb sie stehen. Sie sah zu den Verladekrähnen, die wie urtümliche Monstren die andere Seite der Mole besiedelten hinüber. Als er sie einholte, wischte sie sich gerade mit dem Ärmel ihres Pullovers die Tränen vom Gesicht.
»Was ist denn?« Er spürte, wie der Druck in seiner Brust immer stärker wurde.
»Eric, sie ist was sie ist. Was auch immer ich dir erzähle, du wirst und kannst es mir wohl auch nicht glauben. Es hat keinen Sinn. Ich muss gehen.«
Verblüfft sah er sie an.
»Gehen? Wie meinst du das jetzt? Weg von mir? Schluss aus?«
Sie sah ihn nicht an und drehte ihm schließlich den Rücken zu. Mechanisch wie ein Roboter machte sie ein paar Schritte von ihm weg und als er nach ihrer Schulter griff, entwand sie sich ihm und rannte mit ein paar schnellen Schritten zum Straßenrand.
Wenn er eins benötigte, war nie ein Taxi da. Sie schien da generell mehr Glück als er zu haben. Der Wagen hielt mit quietschenden Reifen neben ihr und die Tür schnellte auf. Wie von Geisterhand geschoben verschwand Emma in dem Taxi und noch ehe er etwas sagen konnte, brauste der Wagen auch schon wieder davon.
Wie vom Blitz getroffen stand er da und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.
»Hallo,« rief er dem Taxi oder der leeren Straße zu, als erwarte er vom einen oder anderen eine Antwort. Was bitte sollte jetzt das, fragte er sich in Gedanken und ging zum Fußgängerüberweg.
Diesmal war er es, der überfahren wurde.
Dezember 1964
Mary McNamara fror. Ihre Füße waren Eisklumpen und sie spürte, wie sich die Kälte auch noch den Rest ihres dürren Körpers einzuverleiben drohte. Jahre waren vergangen. Sie wusste gar nicht, warum sie eigentlich noch lebte. Wie sie überlebt hatte war ihr ebenso ein Rätsel, aber warum sie noch lebte, das war ihr ein wirkliches Mysterium.
Sie hatte alles verloren. Peter, ihren Sohn, Frank, ihr Haus, ihre Nachbarn. Als die ersten Lichtblitze ihre Welt verbrannt hatten, waren sie auch direkt in ihr Gehirn eingedrungen. Sie hatten ihre Liebe, ihre Hoffnungen und all ihr Denken versengt. Zurückgeblieben war nur der blanke instinktive Wille zu überleben. Hätte man ihr vorher erzählt was kommen würde, sie hätte steif und fest behauptet, in einer solchen Welt nicht leben zu wollen. Nicht allein. Selbstmord wäre für sie der einzig gangbare Ausweg gewesen. Doch das Tier in ihr hatte die Oberhand gewonnen und jetzt klammerte es sich an das bisschen Leben, das diese Welt noch zu bieten hatte.
Sie wohnte im Keller der Kerns. Drei Wochen nach Beginn der Katastrophe war Dieter Kern von einer Horde Plünderer zu Tode geprügelt worden. Seine Frau, Marys Freundin, und deren kleine Tochter hatten die dreckigen Männer auf ihren Laster gezerrt und einfach mit genommen. Mary hatte aus ihrem eigenen Küchenfenster zugesehen. Kurz darauf war ihr Haus abgebrannt. Sie wusste nicht, wie es passiert war, aber viele der Häuser ihres Viertels waren abgebrannt. Die Überlebenden feierten einen Reigen der Zerstörung. Es war, als sei der Gott des Alten Testamentes hernieder gestiegen, um dieses Mal die Welt mit Feuer zu reinigen. Und seine Jünger halfen ihm dabei. Sie bauten dieses Mal keine Arche. Sie bereiteten der Welt einen heißen Untergang.
Das Kernhaus stand noch. Der Keller war offenbar weit besser abgedichtet als ihr eigener es gewesen war. Es gab hier auch noch einige Konserven. Außerdem hatte sie Dieters Flinte gefunden. Sie wusste nicht, ob sie im Ernstfall in der Lage wäre sie zu benutzen. Emma hatte es offenbar nicht vermocht. Jetzt war ihr Mann tot und sie …
Mary verdrängte den Gedanken an ihre Freundin doch es gelang ihr nicht, ihn ganz auszulöschen. Immer krabbelten Gedanken dieser Art am Rande ihres Unterbewusstseins umher und drohten, sie zu übermannen.
Sie wand sich vom dem schmalen Kellerfenster ab und schlurfte zu ihrer Schlafstätte. Die löchrige Decke stank, aber sie hatte kein Wasser, um sie zu waschen. Sie hatte auch kein Wasser, um sich selbst zu waschen. Sie hatte nichts.
Draußen klapperte etwas in der Dunkelheit. Die Mülltonnen waren schon lange leer, Waschbären und Hunde hatten die Macht über die Nächte übernommen. Wie ein Heer widerstandsfähiger Soldaten waren sie über die Stadt gekommen. Die Waschbären waren für Mary ein Segen. Sie waren schlau, aber nicht so schlau wie sie. Mit einem kleinen Köder konnte man sie in einer alten umgebauten Mülltonne fangen. Sie schmeckten nicht sonderlich gut, aber was schmeckte schon gut im nuklearen Chaos?
Sie lauschte. Das waren kein Waschbären. Hunde konnte man auch essen, aber sie waren gefährlicher und kamen so gut wie nie allein. Sie hatte bei Tag schon viele Kadaver toter Menschen gefunden, welche von einer Hundemeute des Nachts aus ihren Verstecken und aus ihrem Leben gerissen worden waren.
So leise wie möglich hob sie das Gewehr auf und zog mit dem Daumen den Hahn zurück. Klick – die Geräusche draußen verstummten mit dem trockenen Einrasten des Stahls. Verflucht, dachte sie und stand auf. Ihre Beine zitterten. Alles an ihr zitterte.
Mit wackeligen Schritten bewegte sie sich zur Kellertreppe. Sechs Schuss. Am Anfang – oder am Ende, wie auch immer man es nennen wollte – waren es noch sechsundzwanzig gewesen. Aufrecht hatten sie in einer Pappkiste gestanden wie kleine Soldaten mit kupferfarbenen Helmen.
Sie hatte im Laufe der letzten Jahre gelernt, im Dunkeln zu sehen. Vor ihren Nachbarn brauchte sie keine Angst mehr zu haben. Soweit sie wusste, war sie die letzte Überlebende in der Gegend. Vor einem Monat hatte sie den ehemaligen Kioskbesitzer erschossen. Er hatte sie essen wollen. Einen Menschen zu erschießen war viel einfacher als einen Hund. Hunde waren schnell und gerissen. Der Kioskmann war einfach stehen geblieben, als sie die Mündung der Waffe auf ihn gerichtet hatte. Jetzt lag er drei Straßen weiter auf dem Asphalt. Zumindest die Knochen lagen dort. Die Hunde- und Waschbär-Armee war in dieser Hinsicht sehr reinlich.
So leise wie möglich öffnete sie die Tür zur Küche und trat ins Mondlicht, das fahl durch die gardinenlosen Fenster schien. Sie schlich zu einem der Fenster und lugte in den dunklen Vorgarten hinaus. Überall lagen Balken und Müll herum. Kaputte Fahrräder, halb verbrannte Autoreifen und das komplett verkohlte Wrack von Dieters altem Ford. Es roch nach kalter Asche.
Zwischen all diesen Zeugen der vergangenen Zivilisation kauerte ein Mädchen.
Mary machte einen Schritt auf sie zu und musterte den schmalen Leib. Zwischen acht und zwölf, schätzte sie. Groß für eine Achtjährige, zu wenig Kontur für eine Zwölfjährige. Aber wer oder was hatte in diesen Tagen noch Kontur?
Das Mädchen war schmutzig und schien sie nicht zu bemerken, so vertieft war sie in das Herumwühlen im Schmutz. Was mochte sie nur suchen?
Mary überlegte. Bestimmt hatte sie ihre Latrine entdeckt. Sie war garantiert eine Kannibalin wie all die anderen Übergebliebenen. Wo es eine Latrine gab, da gab es auch einen Menschen, der in sie schiss. Solange die Scheiße frisch war, solange war es der Mensch auch. Frische Menschen bedeuteten Nahrung für die Fresser.
Mary legte das Gewehr auf das Mädchen an. Ihr Herz wurde kalt. Dann rief sie mit rauer Stimme: »Verschwinde du Luder oder ich brenn dir eins über.«
Das Mädchen blickte auf. Sie hatte etwas in der Hand. Mary erkannte eine alte Puppe ohne Arme, deren Kopf verschmort war und nun aussah wie ein zu lange geröstetes Marshmallow.
»Leg das weg«, sagte Mary zornig. Sie wusste nicht, warum sie wollte, dass das Mädchen die Puppe aufgab. Vielleicht dachte sie einfach, jemand der bereit war sie zu essen, sollte nicht mit Puppen spielen. Vielleicht konnte sie aber auch nicht länger ein Gewehr auf ein Mädchen gerichtet halten, das eine Puppe ihrer verlorenen Nachbarstochter in Händen hielt. Ein kleines Mädchen.
Sie zögerte und sah dem Mädchen in die großen, dreckumrandeten Augen. Da wurde ihr schwindlig und das Gewehr fiel klappernd auf den Verandaboden.
Fast eine Minute brauchte Mary, um ihre Fassung wieder zu erlangen. Dann bückte sie sich, hob die Waffe und richtete sich mühsam wieder auf. Den Lauf richtete sie dieses Mal zu Boden.
»Wie ist denn dein Name«, fragte sie etwas freundlicher.
Das Mädchen hob nur kurz die Schultern und ließ sie dann wieder nach unten sacken.
»Hast ihn vergessen was? Ja, das kenne ich. Die Blitze und all das. Die Welt selbst hat alles vergessen. Warum sollst du dann nicht deinen Namen vergessen. Nur Gott wird ihn noch wissen. Aber der kommt nicht mehr zu uns. Zu radioaktiv.«
Sie grinste und entblößte dabei ihre Zahnlücken. Erst letzte Woche war ihr wieder ein Zahn ausgefallen. Der sechste jetzt. Sie sammelte die Zähne in einer kleinen Dose in der vorher saure Drops gewesen waren. Ihre Zähne, die sauren Drops.
»Das ist mein Haus«, log sie. Mit einer abwehrenden Handbewegung gab sie zu verstehen, wie ernst es ihr mit der Verteidigung ihres Territoriums war.
»Mein Name ist Emma …«
Das stimmte nicht. Emma war der Name der Frau, die einst tatsächlich dieses Haus bewohnt hatte; ihrer Freundin, in deren Keller sie nun lebte. Sie wusste nicht, warum sie log. Vielleicht weil sie der Meinung war, den Namen tragen zu müssen, der zu dem Haus gehörte.
Verwirrt wandte sie sich um und wollte in die Küche zurück gehen, als das Mädchen doch noch etwas sagte.
»Emma ist ein schöner Name.«
Mary blieb stehen und ließ die Schultern hängen. Bilder überfluteten sie. Frank wie er mit Dieter im Garten den alten Grill anzündete. Die Wiese hinter dem Haus. Emmas und Dieters Tochter Greta, die mit Peter um die Wette lief.
Sie hatte nie erfahren, was aus Frank geworden war. Diese verdammte Insel war in die Luft geflogen und sie hatte nie wieder etwas von ihm gehört. Zwei Tage später hatte es die ganze Welt zerrissen. Niemand hatte sich bei ihr gemeldet und ihr eine traurige Botschaft nach der anderen überbracht. Die Krähen hatten diese Aufgabe übernommen. Sie hackten den Toten auf der Straße die Augen aus den Schädeln. Schlechte Botschaften genug.
Mary hatte wenig geweint als es geschah. Ihre Augen blieben trocken, als sich die Sterne über ihr Land ergossen und alles zu schwarzer Schlacke verbrannten. Das Tier in ihrem Inneren weinte nicht. Jetzt spürte sie, wie sich in ihr ein Knoten zu lösen begann. Diese Stimme, diese leise und dennoch alles umspannende Stimme ließ die Gewissheit in Marys Herz, dass Peter und Frank, Emma und Greta so tot waren wie Dieter, die Millers auf der gegenüberliegenden Straßenseite, der Kioskmann, JFK und all die anderen Menschen die sie je gekannt hatte.
***
Es war warm um ihn herum als er die Augen aufschlug. Sanftes Licht lag über der Decke seines Bettes und ein angenehmer Geruch von Rosen erfüllte die Luft. Weiß war die vorherrschende Farbe seiner Umgebung.
Die Stille seines Zimmers schien das Dröhnen in seinem Kopf heute Morgen in eine Art mentalen Wattebausch zu hüllen. Seine Erinnerung funktionierte aber nur noch rudimentär und darum war er unsicher ob heute wirklich ›heute‹ war. Schon bei seinem ersten Erwachen nach dem Unfall hatte er die Übersicht über die Zeit verloren. Sie hatten ihm gesagt, ein Bus hätte ihn erfasst. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er sich an dem Wort ›erfasst‹ festzuklammern. War er in den Bus eingestiegen?
Der Bus hat sie am linken Arm gerammt, als sie versuchten, ohne zu schauen über die Straße zu rennen. Sie hatten solches Glück …
Er versuchte, nach dem Wasserglas auf seinem Beistelltisch zu langen, aber es fehlte ihm die Kraft. Irgendwie schaffte er es nicht, sich aufzurichten. Seine ganze linke Seite befand sich in einem Gipskorsett, aus dem Metallstangen und Plastikteile ragten. Man hatte ihn fixiert. Der Arm stand in einem merkwürdig unbequemen Winkel von seinem Körper ab, als befände er sich in einem Schwimmring im Wasser stehend. Trotz des dumpfen Schmerzes huschte ihm ein Lächeln über die Lippen. Wieder und wieder versuchte er sich zu erinnern was er gemacht hatte und warum er auf die Straße gelaufen war, aber die Schwärze in seinem Kopf war übermächtig. Eric – das musste wohl sein Name sein. Er lächelte wieder und starrte die Tür an, da sich davor Stimmen näherten.
Leise schwang das weiße Resopal auf und gab den Blick auf eine Frau und ein junges Mädchen frei. Eric blinzelte und versuchte wieder, sich wenigstens ein bisschen aufzurichten, aber die medizinischen Folterinstrumente, die tief in seinem Körper steckten, ließen seinem Willen keinen Handlungsspielraum. Er stöhnte leise und entspannte sich schließlich. Den Kopf auf das Kissen gesunken, verdrehte er die Augen, um seinen Besuch sehen zu können.
»Hallo Eric. Wie geht es dir?«
Ihre Stimme war wärmer als das Morgenlicht und er versuchte krampfhaft, sich an ihr entlang zum Sinn der Worte zu hangeln. Er wusste, wer die beiden waren und er wusste auch, wer er war, aber das fremde Fleisch in seinem Kopf blockte jedes Denken in ihm ab. Er hatte Schmerzen in der Lunge und je mehr er sich anstrengte zu denken, desto mehr verkrampfte er sich und verschlimmerte so den Druck in seinem Leib. Bedauernd gedachte er der Zeit, da kleine blaue Tabletten noch eine Auswirkung auf sein Befinden gehabt hatten.
»Ich habe Greta mitgebracht.«
Das Mädchen. Da die Sprecherin die Frau war und sie jemanden mitgebracht hatte, musste das Mädchen Greta sein. Er lobte sich für seine geniale Kombinationsfähigkeit und lächelte wieder matt. Den Blick zur Decke gerichtet schüttelte er langsam den Kopf. War das seine Frau? Seine Tochter? Hatte er nun alles vergessen? Es war soweit. Sabberte er schon?
»Wir sind gekommen, um dir einen Wunsch zu erfüllen. Hat sich etwas geändert? Möchtest du ihn umformulieren?«
Er keuchte leise, weil er lachen musste. Das Zimmer begann sich ganz langsam um ihn herum zu drehen. Mit verrenktem Hals versuchte er etwas zu erkennen. Da waren zwei Personen in dem Zimmer. Frau und Kind. Das Kind drang in seinen Geist ein. Kurz flackerte Angst in ihm auf. Warum?
»Nein nein, Wunsch ist Wunsch …«, flüsterte er leise und musste trotz seiner Ängste erneut lachen. Es war schon merkwürdig: Er verlor seinen Verstand, war körperlich zerbrochen und alles was in ihm übrig zu sein schien, war sein Humor. Mehr als komisch konnte er die ganze Sache nicht mehr finden. Sein Selbstmitleid, seine Trauer und jetzt endlich auch seine Angst waren auf der Strecke geblieben. Er schloss die Augen und spürte im selben Moment, wie sich eine warme Hand auf seinen unverletzten Arm legte.
»Du wirst gesund!«
Die Sonne blitzte in seinen Augen. Er kniff sie zusammen, weil die Helligkeit ihn schmerzte und dann riss er sie weit auf und starrte ungläubig auf das, was er sah. Mit einem kurzen abgehackten Aufschrei sprang er auf, rammte dabei mit dem Knie den kleinen Tisch an dem er gesessen hatte. Kleine Teller, die Gläser und ihr Inhalt, Gabeln und Löffel, ein Damespiel und eine Sonnenbrille wirbelten durch die Luft und einen Moment lang sah er das Ganze in Zeitlupe vor sich als chaotische Wolke davon schweben. Dann setzte die Zeit wieder ein und alles fiel klappernd zu Boden während er entsetzt rückwärts taumelte, das Gleichgewicht verlor und sich rücklings in den warmen Sand setzte.
Sofort rappelte er sich auf und sah an sich herab. Er trug modische Bermudashorts. Blau-schwarz-gemustert mit Surfer-Motiven. Sein vormals weißes Shirt hatte leider die Limonade aus einem der Gläser abbekommen.
Ungläubig versuchte er sich an das grelle Sonnenlicht zu gewöhnen. Wo war die Dämmerung seines Krankenzimmers abgeblieben? Er richtete sich auf und sofort griff er nach seinem linken Arm. Keine Narben.
Langsam, vor Angst einen stechenden Schmerz auszulösen, machte er kreisende Bewegungen mit dem Arm während er ganz aufstand und sich umsah. Es war sehr warm. Rechts von ihm nahm eine gewaltige stille Wasserfläche sein Gesichtsfeld ein. Ein sommerlicher See. Er hatte selten eine derart schöne Landschaft zu Gesicht bekommen.
Am Rande des Sees gab es ein weites Schilffeld und dieses wiederum grenzte an eine Wiese, die über und über mit Feldblumen überseht war. Vereinzelte Apfelbäume und Brombeerhecken rundeten das paradiesische Bild ab. Die Luft war erfüllt vom Duft der Wiese und dem angenehmen Aroma des sommerlichen Sees.
Auf einem Hocker, der an dem kleinen Beistelltisch den er umgestoßen hatte stand, saß Emma. Sie trug einen kurzen Wickelrock und eine sommerliche Bluse. Ein breiter Strohhut und eine dunkle Ray-Ban schützten sie vor der Sonne. Amüsiert sah sie ihn an und nahm dann die Sonnenbrille von ihrer Nase.
»Alles in Ordnung?«
Er drehte sich einmal im Kreis. In einiger Entfernung konnte er ein paar Farmhäuser ausmachen. In der Nähe stand ein dunkelbrauner, sehr alter Ford-Pickup mit einer niedrigen Ladefläche. Der Wagen hatte nicht einmal Rückspiegel auf der Beifahrerseite. Wo kam der Oldtimer her? Er musste ein Vermögen wert sein.
Eric bückte sich und stellte den Tisch wieder auf. Ohne sich um die Teller und Gläser zu kümmern, setzte er sich auf seinen Hocker. Er rieb sich die Augen als könne er damit die Realität erfassen, aber das Begreifen wollte sich damit nicht einstellen. Dann richtete er seinen Blick auf Emma.
»Wie …?«
Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelte ihn an.
»Mit dem Auto.«
»Bitte …«, versuchte er es erneut, aber ihr spitzbübisches Lächeln verriet ihm, dass sie es ihm auf ihre Weise erklären würde. Also schwieg er und betrachtete, statt weiter zu bohren, die Landschaft. Das Krankenzimmer zerrte an ihm, aber etwas mächtiges, ein Schwarm dunkler Termiten in seinem Kopf, war unermüdlich dabei es aufzufressen. Was hatte all dies zu bedeuten? Fühlte es sich so an? War er nun ganz auf die andere Seite hinüber gewechselt? Bildete man sich ein im Paradies zu leben, wenn man den Verstand verlor? Er kniff die Augen zusammen und versuchte zu begreifen, ob dies dann gut oder schlecht wäre. Seine Umgebung fühlte sich so real an. Sollte er in Wahrheit in diesem Krankenhausbett liegen und keinen Knochen bewegen können – er zöge die Illusion vor.
Emmas Haus lag etwa eine Stunde Fahrt von dem idyllischen See entfernt auf einem Hügel. Umgeben wurde es von Mais- und Weizenfeldern, die im warmen Wind hin und her wogten wie ein Meer aus Gold. Als er so auf der hölzernen Veranda in einem uralten Schaukelstuhl saß und seinen Blick über die Felder streifen ließ, wurde es ganz ruhig in ihm. Während der Fahrt hatte er noch ein weiteres Mal sein Glück probiert und Emma nach der Wahrheit gefragt aber sie war ihm wieder ausgewichen und so hatte er klein bei gegeben. Nun war sie drinnen und kochte Kaffee. Sie hatte ihm befohlen sich hin zu setzen und den Nachmittag zu genießen, während sie drinnen das Essen bereitete. Gut, so sollte es sein. Was spielte es noch für eine Rolle? Er war verrückt und würde es ganz sicher bleiben. Da konnte er auch warten und gute Miene zum bösen Spiel machen.
Das Haus war der Rest einer alten Farm aus den Fünfzigern wie er schätzte. Vielleicht stammte es aber auch aus einer noch länger zurück liegenden Epoche. Dahinter hatte er bei seiner Ankunft die Überreste einer halb zerfallenen Scheune und einen Tabakschuppen gesehen. Wahrscheinlich hatten die Farmer hier früher Tabak angebaut. Es hatte viele solcher Farmen in der Gegend gegeben.
Er runzelte die Stirn. Woher wusste er das?
In diesem Moment öffnete sich die Fliegentür und Emma trat auf die Veranda. Sie trug ein Tablett mit einer alten Porzellankaffeekanne und passenden Tassen bei sich. In einem kleinen Flechtkorb lagen noch dampfende Croissants und verbreiteten einen herrlichen Duft, der Eric das Wasser im Mund zusammen laufen ließ. Sie lächelte und stellte das Tablett auf den alten verwitterten Holztisch, der neben zwei weiteren Stühlen das einzige Mobiliar auf der Terrasse darstellte.
Gerade tunkte er sein zweites Croissant in den Kaffee, als Emma ruhig zu sprechen begann.
»Sie hat mich gerettet. Um genau zu sein, hat sie die ganze weite Welt gerettet.«
Er sah sie an und ließ das Croissant sinken.
»Wie meinst du das?«
Nachdem sie an ihrer Tasse genippt hatte sagte sie ernst: »Die Welt … war untergegangen Eric.«
»Untergegangen? Was meinst du mit untergegangen? Warst du ein Junkie oder was für einen Ärger hattest du?«
»Nein Eric, ich meine nicht meine Welt. Ich rede von der ganzen Welt.«
Sie stand auf und reckte sich nach einem verrosteten Vogelkäfig, der am Vordach der Veranda befestigt war. Als hätte sie gerade über das Wetter gesprochen, hängte sie das lose herabbaumelnde Türchen wieder in seine Verankerung. Liebevoll strich sie über das vom Rost der Äonen pockennarbige Metall.
»Die ganze Welt.« Er lächelte und versuchte aufzuwachen. Doch sofort bereute er es. Welchen Sinn konnte es für ihn haben, wenn er aufwachte? Da aß er doch lieber noch ein Croissant.
»Ja«, sagte Emma und stand auf, um an das Geländer der Veranda zu treten. Sie lehnte sich an das morsche Geländer und sah auf die Felder hinaus.
»All das hier war verbrannt. Sie hatten es zerstört. Wir, wir hatten es zerstört.
Jetzt stand er ebenfalls auf und trat neben sie.
»Ich verstehe nicht, was du mir sagen willst Emma. Ich verstehe nicht einmal, wie ich hier sein kann. Liege ich nicht in einem Krankenzimmer? Sollte mein Körper nicht voller Eisenstangen sein, die meine Knochen an Ort und Stelle halten?«
Er bewegte seine Schulter und erwartete Schmerzen, doch nichts geschah.
»Das Eric, war vorher.«
»Vor was?«
Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und lächelte ihn liebevoll an.
»Bevor sie dir deinen Wunsch erfüllte.«
Sommer 1965
Es war heiß und hatte seit Wochen nicht geregnet. Alle Pflanzen waren verdorrt. Nicht einmal das Unkraut, welches in den ersten Monaten die Herrschaft über Gullys und Straßenränder übernommen hatte, konnte unter diesen Bedingungen noch gedeihen. Leblose hellbraune Büschel, Zeugen des Todes.
Immer noch kam selten die Sonne durch die merkwürdig tief liegenden Wolken. Es war, als bewegten sich diese trüben Massen am Himmel nicht. Wie gewaltige dreckige Daunenkissen hingen sie über der Stadt und ließen nur wenig Licht hindurch. Dafür stauten sie aber die Hitze. Wie in einem Treibhaus blieb die stickige, bitter schmeckende Luft an Ort und Stelle.
Asche – allgegenwärtig prägte sie das Bild der Umgebung. Alles war grau in grau. Es war als hätte sich die Hölle der Heiligen Schrift über die Erde gestülpt und sie unter ihrem Erbrochenen erstickt.
Seit es wärmer geworden war, hatte Emma kaum noch Hunde zu Gesicht bekommen. Offenbar hatten sie die Stadt verlassen. Vielleicht fanden sie weiter draußen Nahrung. Vielleicht waren sie auch einfach alle gestorben.
Das Mädchen war noch da.
Sie sprach selten. Emma hatte versucht, ihr Gesicht sauber zu machen, aber es gab wenig Wasser und sie musste streng haushalten. Mit feinem Sand konnte man sich waschen. Das hatte sie in einem Buch gelesen. Vor all dem hier. Bevor die Lichtblitze die große Stadt verschluckt hatte.
Sie träumte oft davon. Vor allem träumte sie von dem schrecklichen Wind. Es hatte sich angefühlt, als hätte Gott ganz tief Luft geholt und dann allen Wind der Erde auf einmal über das Land geblasen. Danach war beides fort geblieben. Gott und der Wind. Das Land um sie herum schien nun unbewegt.
Vormittags, wenn sich die Luft noch nicht so sehr erhitzt hatte und atembar war, gingen sie gemeinsam auf die Suche. Sie stolperten durch die verdreckten Straßen und hatten immer wieder Probleme, in die Häuser zu gelangen, in denen noch etwas brauchbares sein könnte. Wo waren sie nur alle hin?
Emma erinnerte sich an die vielen Autos. Kolonnen von Blech, beladen mit allem was beweglich gewesen war. Die Andersons hatten sogar ihren großen Mahagonitisch verkehrt herum auf das Dach ihres Wagens geschnallt, so dass dieser aussah, als habe er vier Beine, die unbewegt in den Himmel ragten. Sie erinnerte sich an die Andersons. Wochen später hatte sie ihren Wagen am Kreuzhügel gefunden. Der Tisch war noch da gewesen, doch war das Fahrzeug umgekippt, als hätte es versucht, sich auf seine Beine zu stemmen. Von der Familie fehlte jede Spur.
Sie hatte ein Brecheisen. Frank hatte ihr einmal gezeigt wie man es benutzte, als sie versehentlich ihren Kellerschlüssel in den Abfluss hatte fallen lassen. Er hatte gelacht und das Stemmeisen in den Spalt zwischen Eisen und Boden eingeführt. Nicht zu fest drücken, damit der Beton nicht ausbricht. Er war nie böse mit ihr gewesen. Nicht einmal dann wenn er schrie.
Wenn sie weinte, trauerte sie um die verlorene Flüssigkeit. Manchmal machte sie dann schnell einen Schritt auf eine verdorrte Pflanze am Wegesrand zu und versuchte, ihre Tränen auf sie fallen zu lassen. Aber dann kam ihr dieses Verhalten meist so albern vor, dass der Tränenfluss aufhörte und die arme Pflanze nichts mehr abbekam.
»Was würdest du dir hinter dieser Tür am meisten wünschen Kleines?«, fragte sie das Mädchen, das sie Greta getauft hatte, während sie das Stemmeisen in den Spalt zwischen einer Tür und deren Rahmen drückte. Vorsichtig hebelte sie an dem schweren Eisen herum, bis sie ein brechendes Geräusch vernahm. Gar nicht schwer oder?
»Dass die Menschen es nicht immer wieder machen.«
Emma drückte die Tür auf und schnupperte. Sie betrat nie Häuser, die nach Tod rochen. Sie konnte den Anblick der Menschen nicht ertragen, die wiederum das Leben danach nicht ertragen hatten. Es roch abgestanden und ein wenig nach verdorbenem Essen, aber der bittersüße Geruch der Verwesung blieb aus. Also drückte sie die Tür auf und ließ das wenige Licht hinein, welches die Blitze in ihrer Gier übrig gelassen hatten.
»Was machen?« Sie drehte sich zu Greta um und sah sie an. Wie eine in Lumpen gehüllte Puppe stand sie da. Kerzengerade, mit an den Körper angelegten Armen, die Hände ausgestreckt – dies war ihre Haltung. Lächelnd strich Emma ihr eine Haarlocke unter den Turban aus einer alten zerrissenen Decke.
»Das hier …«, erwiderte das Mädchen.
»Ja, da hast du recht. Es wäre besser, wenn sie so etwas nicht mehr machen würden.« Doch während sie die Worte aussprach dachte sie: Ich wäre froh, wenn sie es wenigstens noch könnten.
»Was würdest du dir denn wünschen?«
»Ich?« Sie überlegte einen Moment und plötzlich drängte die ganze Welt an sie heran. Würde sie sich Wasser wünschen? Eine ganze Menge Wasser. Damit sie ihren Garten wieder anlegen könnte. Oder am besten einen großen Regen, der die schrecklich graugelben Wolken vom Himmel nahm. Und dann? Sonnenlicht, Tomaten, ein Huhn, besser mehrere Hühner und Hasen und vielleicht … vielleicht – sie dachte an die Menschen, die sie verloren hatte.
Doch dann sagte sie ruhig: »Ich würde mir wünschen, dass sie die Welt ganz gelassen hätten. Wenn Gott mir einen Wunsch erfüllen wollte, dann bitte soll er die Blitze rückgängig machen.«
***
»Und dann war alles wie vorher?«
»Nein Eric, nichts war wie vorher. Leider. Na ja und auch nicht leider.«
Er rieb sich den Hinterkopf. Dort hatte sich ein dumpfer Schmerz eingenistet seit sie über dieses Thema redeten. Er hatte es wissen wollen und dennoch machte es ihm auch Angst. Verflucht noch mal, wie konnte das alles sein?
»Sie kann machen was sie will? Alles? Sie schnippt mit dem Finger und der Mond wird zu einem Käse! Natürlich.«
»Ich weiß nicht, was sie alles kann.« Emma legte ihr Kinn auf die angewinkelten Knie und sah zu ihm herüber.
Er hockte zusammengekauert auf der Couch in Franks altem Wohnzimmer, nur dass es hier Frank nie geben hatte. Nervös spielte er mit seinem Wasserglas und hinterließ dabei dunkle Ringe auf dem Holztisch.
»Ist sie echt Gott?«
»Sie sagt, sie hätte mit dem, was wir Gott oder Götter nennen nichts zu tun.«
»Was ist sie aber dann – und wenn sie kein Gott ist, was sind dann die Götter?«
»Sie sagt, wir hätten die Götter geschaffen.«
Eric richtete seinen Blick zur Decke und lehnte sich zurück. Er massierte mit der flachen Hand seinen Nacken. Das schlimmste an der ganzen Sache war, dass er kaum Gegenargumente besaß. Er war hier. Sein Körper war ganz. Er konnte klar denken, hatte bis auf die Nackenschmerzen, die vom Stress des Verstehens herrührten, keine körperlichen Probleme und eins war sicher: Er war noch vor Kurzem ein lebendes Wrack gewesen. Aber ein Mädchen, das den dritten Weltkrieg rückgängig gemacht haben soll …
»Wir haben also die Atombombe auf Kuba geworfen«, sagte er mit dünner Stimme.
»Ich weiß nicht, wer die Bomben geworfen hat.« Emma machte eine Pause und sah zum Fenster hinaus. Man konnte über die Felder hinweg den Rand des Hügellandes sehen hinter dem irgendwo in der Ferne die Stadt lag.
»Ich habe die Lichtblitze gesehen. Dann kamen der Regen und die Asche. Dann der Tod.« Sie schluckte und Eric sah, wie sich eine Träne auf ihre Wangen stahl.
»Es ist jetzt alles schon so weit weg in meinem Kopf. Aber ich weiß noch genau, wie es war. Kälte, Hitze, Hunger und vor allem die Angst und Hoffnungslosigkeit der Hinterbliebenen. Alles war weg. Alles.«
»Dann hast du deinen Wunsch ausgesprochen, sie solle alles Rückgängig machen?«
Einen Augenblick überlegte sie. Dann hob sie den Blick und schüttelte müde den Kopf.
»Nein, habe ich nicht. Ich habe mir gewünscht, dass die Blitze rückgängig gemacht werden. Sonst nichts. Das führte dazu …«, sie schluckte und rieb sich die Handgelenke. »Es führte dazu, dass ich Emma blieb.«
»Deine ursprüngliche Nachbarin.«
»Ja.«
Oktober 1962
Als sie aufwachte, schaffte sie es gerade so, ihren Kopf über den Rand ihres Bettes zu bewegen, ehe sie sich schmerzhaft übergab. Sie hätte sich gestern die letzten verdorbenen Kekse nicht mit Greta teilen sollen. Aber was wenn nicht? Sie würden verhungern.
Frierend schob sie die Decke beiseite und versuchte, beim Aufstehen nicht in ihr Erbrochenes zu treten. Dann plötzlich kam ihre Bewegung ins stocken. Sie sah die Tapete im Zimmer an und riss die Augen auf. Was war geschehen? Wo war der all der Schmutz?
Sie stand auf und ging zur Wand, legte ihre Hand darauf und rieb über die glatte Fläche der Tapete. Sie erstrahlte in einem warmen Orange und es gab keine Spuren von Asche weit und breit. Dann endlich sah sie sich im Zimmer um und erblickte, von ihrem Erbrochenen abgesehen, keine Zeichen von Unrat und Weltuntergang. Das ganze Zimmer war ordentlich und hatte nichts mehr von dem Rattenloch, in dem sie einen Abend zuvor eingeschlafen war.
Steif und vom Schock wie gelähmt ging sie zum Fenster und umfasste den sauberen Gurt des Rollladens. Dann schloss sie die Augen und lehnte sich mit der Stirn gegen die Wand. In Gedanken suchte sie nach einer Erklärung. Doch es half alles nichts, sie musste jetzt an diesem Gurt ziehen und sehen was passiert war. Mit einem ratschenden Geräusch, als risse sie ein Geschenk auf, hob sich der Rollladen und ließ das Licht der Herbstsonne in ihr Leben.
Später saß sie mit Greta am Küchentisch. Man konnte hier durch eins der Fenster das Haus der Andersons sehen. Die Blätter des Walnussbaumes im Garten hatten sich braun und orange gefärbt. Überall gab es Laub auf dem Boden. Keine Spur von Asche und Untergang. Durch die geschlossenen Gardinen konnte sie Licht und Bewegung bei den Nachbarn sehen.
Mit einem Ruck stand sie auf, ging in die Garderobe – in der saubere Mäntel und Jacken hingen – und zog einen dicken Wintermantel über. Ihre Füße steckte sie in bereit stehende Stiefel. Was für eine Wohltat. Es waren gefütterte Stiefel, genau solche, wie sie früher welche getragen hatte, nur in einer anderen Farbe.
Sie öffnete die Tür und zog den Mantel gegen die Morgenkälte vor ihrer Brust zusammen. Mit schnellen Schritten überquerte sie die Straße und ging zur Vorderseite des Andersonhauses. Sie klappte die offen stehende Schließe des Briefkastens zu und erstarrte. ›Raul & Iris Braun‹ stand da auf der Klappe.
Sie rieb sich die Augen.
»Alles in Ordnung Emma?«
Die kräftige dunkle Stimme kam von der Eingangstür des Hauses. Dort stand ein großer, übergewichtiger Mann mit dunkler Haut und rabenschwarzen Haaren. Sie hatte ihn nie zuvor gesehen. Erschrocken zog sie die Hand von dem Briefkasten zurück.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte der Mann jetzt schon besorgter.
Woher kannte er sie? Warum schimpfte er nicht mit ihr oder griff sie sogar an?
Ah, jetzt registrierte sie fast beruhigt, wie der Koloss die Treppen herunter kam und sich ihr näherte. Jetzt wird er mich davonjagen oder versuchen, zu töten, damit er mich essen kann.
»Emma, du musst doch frieren. Hast du schlecht geschlafen?« Er war jetzt bei ihr und legte ihr seine Bärenpranke auf die Schulter.
»Komm doch mit hinein und trink einen Tee mit uns …«
Sie duckte sich unter ihm hinweg und lief so schnell sie konnte – wie eine knapp dem Tod entronnene Maus – zu ihrem Haus zurück. Ihr Haus … Emmas Haus. Ihr Kopf drehte sich. Als sie im Laufen die Straße hinunter sah, erkannte sie keins der Häuser wieder. Überall standen saubere Autos und alles erstrahlte in anderen Farben, als sie es gewohnt war. Mit größtem Erstaunen aber musste sie feststellen, dass sich der Zustand der Straße nicht nur von der Zeit der Katastrophe unterschied. Nein, die Häuser ähnelten zwar denen aus der Zeit vor den Blitzen, waren aber nicht dieselben!
Im Haus stand Greta und sah sie mit ihren großen runden Augen an. Unergründlich lagen ihre Blicke auf allem um sie herum. Emma ging zu ihr hin und fiel vor dem Mädchen auf die Knie. Schluchzend wippte sie vor und zurück. Da legte das Kind ihr die Hand flach auf den Kopf und der Schmerz des Chaos wurde von ihr genommen.
»Wie?« Emmas Stimme war ein leises Kratzen im Nichts.
Sie blickte auf. Das Mädchen hatte ihre Hand wieder sinken lassen und stand nun einfach vor ihr. Gerade wie immer, die Hände ausgestreckt, die Arme locker an den Seiten.
»Wie ist das passiert?«
»Was?«
»Alles. Wie ist die Welt zurück gedreht worden?«
»Wurde sie nicht.«
»Aber da draußen …« Sie schluckte. Dann erhob sie sich und wagte erneut einen Blick auf die Straße zu werfen. Der dicke Mann stand immer noch auf seiner Treppe und schaute frierend herüber. Er trug nur eine Jeans und ein dünnes Flanell-Hemd und trat darum unruhig, die Kälte vertreibend, von einem Fuß auf den anderen.
»Aber die Asche ist weg.«
»Die Asche ist weg.«
»Also wurde es rückgängig gemacht.«
»Für die da draußen ist es nie passiert.«
Emma richtete ihren Blick fest auf das Mädchen. Dann stammelte sie: »Hast DU das gemacht?«
»Es war DEIN Wunsch Emma. Oder nicht?«
***
Ich bin bereit, dachte er bei sich, während sich düstere Gedanken in ihm ausbreiteten, wie eine Armee monströser Krieger aus einem längst vergangenen Erdzeitalter. Ich muss es verstehen.
Er hatte sich eine Auszeit erbeten und Emma war darauf eingegangen. Einen Tag lang war er jetzt kreuz und quer durch die Gegend gefahren und hatte sich alles angesehen. Er wusste gar nicht, wonach er genau Ausschau gehalten hatte, aber was auch immer es gewesen war, er hatte es nicht gefunden. Es war Sommer, im Grunde ein normaler Sommer und er war kerngesund. Es gab keine Anzeichen für seine Krankheit. Er hatte kurz darüber sinniert zu einem Arzt zu fahren und sich untersuchen zu lassen, aber dann hatte er es vorgezogen, in einem Dinner am Wegesrand anzuhalten und einen Hotdog zu essen. Eindeutig die bessere Wahl.
Nach einer halben Kanne Kaffee und zwei Tellern Fastfood war sein Geist einigermaßen gerade gerückt gewesen. Jetzt war er wieder bei dem alten Haus, an dessen Tür kein Namensschild hing. Es lag einsam, einige Kilometer von der Interstate und vor allem weit von der nächsten Großstadt entfernt. Sehr idyllisch, wie er fand.
Langsam stieg er die ächzenden Holzstufen zur Veranda empor und strich dabei mit einer Hand über das morsche Holzgeländer. Jemand hatte dieses Haus geliebt – das konnte er ganz deutlich fühlen.
Er öffnete die Fliegentür und trat ein. Emma war in der Küche und bereitete Abendessen vor. Als er zu ihr trat und mit der Hand durch ihr langes Haar strich, wandte sie sich ihm zu. Ihr Lächeln war warm, doch auch voller Sorge.
Sie redeten kurz über seinen Tag und sie erzählte ihm von dem ihren, aber dann wurde er ernst und bat sie, mit ihm auf die Veranda zu kommen. Mit zwei Gläsern und einer Flasche Scotch bewaffnet, die er aus einem Store in der Nähe mitgebracht hatte, folgte er ihr nach draußen.
An seinem Glas nippend blickte er auf die Felder hinaus. Schließlich brach er die Stille.
»Ich möchte es noch mal zusammenfassen: SIE hat die Welt repariert? Kann man das so sagen?«
»Ich bin weit davon entfernt zu verstehen, was sie macht Eric.« Emmas Augen hafteten blicklos auf seinen Händen.
»Aber sie hat all das hier ›umgedreht‹; zurückgedreht oder verwandelt.«
»Manchmal denke ich, wir alle sind nur Figuren in ihren Träumen. Ich glaube sie träumt uns und unsere Umwelt. Sieh ihr in die Augen Eric.«
»Und was macht sie dann selbst hier?«
»Du kommst doch auch in deinen Träumen vor oder?«
Er dachte einen Augenblick nach. Früher hatte er wenig geträumt. Zu viele merkwürdige Substanzen, die sich auf seinen Schlaf ausgewirkt hatten. Managerträume, hatte er zu sagen gepflegt, bestehen aus vergeudeter Zeit und sonst nichts.
»Was war vorher? Ich meine, was war anders?«
Sie erzählte ihm von ihrem Leben als Mary McNamara und ihrem Mann Frank, der Admiral zur See gewesen war und viele Jahre lang die USS M_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ befehligt hatte. Ihre Augen füllten sich mit Feuchtigkeit, als sie von ihrem Sohn Peter und den vielen Streitgesprächen, die dieser mit Frank geführt hatte, berichtete.
Er fragte, was ihrer Meinung nach aus den beiden geworden sei und da musste sie dann schluchzen und unterdrückte ihre Tränen nur noch mit purer Gewalt. Schließlich presste sie hervor, was sie vor so vielen Jahren durchgemacht hatte.
Nach ihrem Erwachen, als die Welt sich wieder zum Guten gewandelt hatte, konnte sie eine ganze Zeit lang nur schwer damit leben. Zuerst rief sie die Nummer der Heeresleitung in K_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ an. Dort ging tatsächlich jemand an den Apparat, aber einen Frank G. McNamara kannte man nicht. Auch von seinem Schiff, der USS M_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ wollte man nie etwas gehört haben. Dann versuchte sie es an der Universität in Cambridge. Dort hatte sich nie ein Peter McNamara eingeschrieben. Schließlich besuchte sie das Stadtarchiv von M_ _ _ _ _ _ und die Verwaltung. Es gab keine Familie McNamara und hatte hier in den letzten zweihundert Jahren auch keine gegeben. Ihre eigenen Papiere waren eindeutig. Ihr Name war Emma, Emma Kern, die Frau von Dieter Kern, einem deutschen Einwanderer. Sie hatten eine gemeinsame Tochter mit dem Namen Greta. Warum aber wusste sie dann nicht, was aus diesem Dieter geworden war?
»Das waren ursprünglich deine Nachbarn gewesen, in deren Haus du später überlebt hast, ja?«
»Ja. Ich musste mit ansehen, wie sie ihn umbrachten und …«
Nach einer langen Pause erzählte sie ihm die ganze Geschichte. Er sah sie an und nippte immer wieder an seinem Scotch. Wie hätte er all dies auch ohne diesen ertragen sollen? Der Alkohol brannte ihm das Unvermögen aus den Sinnen, all dies zu begreifen.
»Wie alt bist du?«
Sie sah ihn an und trank nun auch einen großen Schluck.
»Über hundert, denke ich.«
»Hast dich gut gehalten«, versuchte er zu scherzen, aber die Stimmung ließ keinen rechten Humor aufkommen. Er musterte sie, wie er sie schon so oft gemustert hatte. Ihre glatte Haut, die schlanke aufrechte Gestalt. Sie wirkte höchstens wie dreißig oder vielleicht Mitte dreißig. Hundert Jahre … Er schüttelte den Kopf.
»Warum alterst du nicht?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht weil sie mich braucht.«
»SIE braucht dich?« Er lachte künstlich in sein Glas. »Sie ist so eine Art Übergott, Scheiße noch Mal, warum braucht sie dich?«
»Vielleicht weil sie einsam ist. Hast du ihr denn nicht in die Augen gesehen?«
Er hatte, drei oder vier Mal. Es stimmte, was Emma sagte. Da war eine Menge Einsamkeit in den Augen dieses Mädchens. Wo war sie überhaupt? Wo war sie immer?
»Wo ist sie? Ich meine, wo ist sie, wenn sie nicht hier ist?«
»Auch das weiß ich nicht. Vielleicht in ihrem Elfenbeinturm.«
Er lächelte müde und hob abwehrend die Hand.
»Ist sie oft bei dir?«
Sie nickte.
»Ja, aber sie lässt mich mein Leben leben.«
»Arbeitest du? Ich meine, wie machst du das mit den Behörden und so?«
»Solche Probleme gibt es in meinem Leben nicht. Sie fragen einfach nicht nach. Es ist wie eine unsichtbare Barriere um mich herum. Ich werde nicht einmal bei einer Straßenkontrolle angehalten.«
»Praktisch.«
Jetzt lächelte sie auch.
»Aber sie schützt dich nicht vor Unfällen?«
Emma sah ihn an.
»Vielleicht … hat sie eine andere Vorstellung was ein Unfall ist als wir beide.«
In dieser Nacht liebten sie sich das erste Mal auf dieser Seite der Realität. Als Eric später mit wachen Augen im Bett lag und die Decke anstarrte, schüttelte er nur noch unmerklich den Kopf, um sie nicht zu wecken. Dann überließ er sich der Mattheit seines Körpers und der Schwere des Alkohols in seinem Kopf.
Frühling 2008 bis Sommer 2011
Es war warm für die Jahreszeit und es hatte seit einer Woche nicht geregnet. Die Felder lagen noch brach, aber die ersten knospenden Triebe zeigten sich an den kleinen Obstbäumen am Straßenrand. Das Aroma des erwachenden Jahres lag in der Luft.
Emma trat auf die knarrende Veranda des alten Farmhauses. Behutsam, als hätte sie Angst, das Holz würde unter ihren Fingern zerbröseln, strich sie über das Geländer der Treppe. Der kleine Tisch, der Schaukelstuhl, die Blumenrabatten und sogar der verrostete Vogelkäfig, alles war da.
»Gefällt es dir?«
Das Mädchen war neben sie getreten und griff nach ihrer Hand.
Sie kämpfte mit ihren Tränen.
»Es ist, wie es war, als mein Mann es damals kaufte.« Mit schweren Schultern ließ sie sich zu Boden sinken und vergrub dann ihr Gesicht in ihren Armen. Greta setzte sich neben sie. Als Emma aufblickte und ihren Blick von den Feldern zu ihrer kleinen Freundin wandern ließ, fiel ihr eine Schramme an Gretas Knien auf.
»Bist du hingefallen?«
»Vorhin, als ich mir die Scheune angesehen habe.«
»Warum … ich meine … warum machst du es nicht weg?«
Greta sah sie mit ihren großen Augen offen an. Dann fuhr sie mit den Fingern über das getrocknete Blut, das schon einen Schorf auf der Wunde gebildet hatte.
»Weg machen ist doof. Wenn man alles wegmacht, bleibt nichts mehr übrig vom Leben.«
Emma starrte wieder auf die Felder hinaus.
›Wenn man alles wegmacht bleibt nichts mehr …‹
Es dauerte Tage bis sie sich entschieden hatte, doch als es soweit war, schloss sie das Haus, seinen Zustand und die ganze Situation in ihr Herz. Sie würde es niemals so hinbekommen, wie Franks starke Hände es damals in den Fünfzigern getan hatten. Aber was auch immer sie aus dem Haus machen würde, sie würde es allein tun.
Zuerst aber musste sie es in ihre Realität rücken.
Greta zuckte nur mit den Schultern als Emma ihr erklärte, dass sie das Haus kaufen wollte. Aus ihrer Sicht gehörte es ja schon sehr lange Emmas Familie.
Nach mehreren Besuchen der Gemeindeverwaltung waren alle Verträge unterschrieben. Die Menschen in der Umgebung fanden es verrückt, dass eine alleinerziehende Frau mit ihrer kleinen Tochter so weit abseits der Menschen leben wollte. Aber sie scherten sich nicht weiter darum und wenn Emma in die Stadt kam, um im Baumarkt Renovierungsmaterial zu kaufen, wurde sie stets freundlich gegrüßt.
Es brauchte über zwei Jahre, um das Haus halbwegs bewohnbar zu machen. Sie verlegte Parkett, tapezierte, strich Wände und kletterte sogar in der Absicht Schindeln auszutauschen, auf dem Dach herum. Wie eine Besessene versuchte sie, alles zu tun, was einst Frank getan hatte. Jeden Tag hörte sie seine Stimme in ihrem Herzen. Als sie mit der Erneuerung der Stromleitungen allein nicht weiter kam und schließlich einen Elektriker kommen lassen musste, weinte sie Stunden lang vor Zorn, es nicht selbst geschafft zu haben.
Greta half ihr, reichte ihr Werkzeuge oder brachte ihr Limonade. Doch Trost brachte sie ihr nicht. Immer, wenn Emma verzweifelt die Schultern hängen ließ, ging Greta zur alten Scheune oder streunte durch die Gegend und lief Schmetterlingen hinterher.
Einmal sagte sie: »Warum weinst du?« Emma hatte gerade versucht, einen Nagel in die Wand zu schlagen und war dabei abgerutscht. Das verbogene Metall hatte ein hässliches Loch in die neue Tapete gerissen.
»Weil ich es nicht schaffe …«, schluchzte Emma verbittert.
»Was schaffst du nicht?« Das Mädchen berührte die Tapete und Emma dachte einen Moment das Loch würde sich nun schließen müssen, doch nichts dergleichen geschah.
Sie sah Greta an. Müde erkannte sie, wie wenig sie über ihr neues Leben wusste. Es würde sehr lange dauern bis sie sich daran gewöhnet hätte.
»Nichts meine Süße, nichts.«
***
Eric und Greta saßen im Schatten der Scheune und sahen Emma dabei zu, wie diese hinter dem Haus Wäsche abhängte. Er hatte angeboten ihr zu helfen, aber sie hatte lachend abgelehnt.
»Da fällt die Hälfte herunter und die andere Hälfte wird zerknittert im Korb landen. Nein, nein, das mache ich besser allein«, hatte sie ihn weggeschickt.
Am späten Nachmittag brauten sich im Westen dunkle Kumuluswolken zusammen. Es war warm, aber der Wind hatte aufgefrischt und bald würde das drohende Unwetter die Farm erreichen.
»Wie machst du es? Ich meine, stellst du es dir vor oder sagst du einen Zauberspruch auf oder wie?« Er hatte vorher nur selten allein mit dem Mädchen geredet. Auch bedankt hatte er sich nicht bei ihr. Wie auch? Alles was geschehen war, erschien ihm derart surreal, dass er es mit normaler Konversation nicht in Einklang zu bringen vermochte.
Dennoch dachte er ständig darüber nach. Er hatte mittlerweile eingesehen, dass er offenbar doch nicht komplett verrückt sein konnte und sich alles nur einbildete. Wenn er sich beim Arbeiten verletzte, blutete er und der Schmerz ließ ihn wach werden. Er begrüßte den Schmerz. Es schien alles echt. Jetzt, da er hier mit Emma und Greta in dem alten Farmhaus lebte, kamen ihm die Brustschmerzen, Nebenwirkungen der vielen Medikamente, die er zu sich genommen hatte, wie ein schrecklicher Albtraum vor. Er schien erwacht zu sein. Manchmal sah er die Vergangenheit als Illusion. Konnte es sein? War er vorher irre gewesen und hatte sich einfach erholt?
Vor einigen Tagen hatte er mit seinem Bruder telefoniert. Die Ärzte sprechen von einem kleinen Wunder. Ja, es gehe ihm gut. Wie es Vater ginge? Gut? Okay.
Man erinnerte sich an ihn. Er war nicht in Peter Pans Zauberwelt abgetaucht. Er war einfach nur gesund. Verdammte scheiße!
Greta spielte mit einem Gänseblümchen, das einsam zwischen den kargen Grashalmen sein Dasein fristete. Dann riss sie es ab und begann die Blätter einzeln auszuzupfen. Erik durchfuhr ein Ziehen. War es das? Machte sie es genauso?
»Ich träume«, sagte sie leise.
»Du träumst?«
»Ja. Du doch auch. oder?«
»Schon, aber wenn ich aufwache, habe ich nicht Charlie Chaplin zum Leben erweckt.«
Sie hatte die Hälfte der Blätter ausgerissen und zu Boden rieseln lassen. Von der Seite sah sie zu ihm herauf.
»Der Komiker. Du weißt schon, schwarzer Anzug, Melone, Spazierstock …«
Sie nickte. Dann sagte sie trocken: »Der ist `77 gestorben.«
»1977, das wusste ich gar nicht.«
»In der Schweiz. Er ist einfach eingeschlafen.«
»Woher weißt du das?«
»Habe ich gelesen.«
Er schwieg. Gelesen also. Einen Moment dachte er darüber nach, was er über den Schauspieler wusste und musste grinsen. Er liebte den Film, in dem Chaplin die Nazis auf die Schippe nahm.
»Ich mag ihn als Hitler«, sagte er und fand im selben Moment seine Formulierung unpassend.
»Den Film habe ich gesehen. Der ist lustig.«
»Hast du da auch was dran gedreht?« Eric merkte wie ihm bei seiner Frage flau im Magen wurde.
»Woran hab ich gedreht?«
Er rieb sich die Stirn. »Ich meine am Krieg. Hast du da auch was gemacht?«
Plötzlich wurde sie noch ernster als sie es ohnehin schon ständig war. »Eric, wie viele Menschen sind da gestorben?« Die Frage klang derart sachlich, dass er nur eingeschüchtert die Schultern hob und wieder sinken ließ.
»Ich habe geträumt. Meinst du es gefällt mir, mich über solche Dinge zu unterhalten? Ich bin ein kleines Mädchen …«
Da wurde aus Erics flauem Magengefühl Wut. Er stand auf und machte einen Schritt von ihr weg.
»Wie, du hast geträumt? Du bist kein kleines Mädchen. Was auch immer, das ganz sicher nicht.« Er wischte sich die Spucke von den Lippen. Dann fügte er hinzu: »Scheiße, was soll das bedeuten, du hast geträumt? Hast du den ganzen scheiß Krieg geträumt?«
Sie ließ die Blume zu Boden fallen und stand auch auf. Geziert klopfte sie sich den Staub von ihrem Hintern.
Zuerst dachte er, sie würde jetzt weglaufen, verschwinden wie sie es oft tat, doch dann stellte sie sich vor ihm hin und sagte: »Eric, ich bin nicht so wie du dir Gott oder den Tod oder so etwas vorstellst. Ich träume ganz oft. Manche Träume sind gut. Manche sind ganz schlimm.« Da rann ihr eine Träne über die Wange und in diesem Moment lösten sich all die Fragen in Eric und er kniete sich zu ihr hinunter und schloss sie in seine Arme.
»Es tut mir leid. Ich wollte nicht …«
»Du kannst doch nichts dafür.«
»Gibt es etwas, das ich für dich tun kann?« Er hielt sie auf Armlänge von sich und sah ihr so aufmunternd er konnte ins Gesicht.
»Was würdest du den tun?«
Er sah zu Boden. Was er tun würde? Er versuchte sich vorzustellen was er machen würde, wenn er die Macht hätte, die Realität zu formen. Szenerien von Kriegen, Hungersnöten, Flutkatastrophen und anderen Schrecken gingen ihm durch den Kopf. War so etwas generell möglich? Konnte es eine Gesellschaft ohne Katastrophen geben? Eine Welt des Glücks und der Zufriedenheit?
Rassismus, Vergewaltigung, Kindesmisshandlung, Mord und Todschlag, die Gier nach Reichtum und dieses endlose Verlangen nach allem was man nicht haben konnte – obwohl er wusste, dass all diese Dinge falsch und schlecht waren, war es nicht leicht für ihn, sich eine Welt ohne sie vorzustellen.
Er würde sich wünschen, alles richtig zu stellen.
Dann sprach er es aus.
Alles – ein großes Wort.
Aufmerksam sah das Mädchen ihn an. Als ihre Augen sich in seine bohrten, wusste er, dass etwas geschehen war. Hatte sie seine Gedanken gelesen? Gab es irgendetwas, das sie nicht konnte.
Da fielen die ersten Regentropfen auf seine Arme und ein kalter Wind erfasste Gretas Haar. Er stand auf und schlug sich nun ebenfalls den Staub von der Hose. Er deutete zu Emma hinüber, die sich mit den großen, wie Segel im Wind flatternden Laken abmühte. »Jetzt sollten wir ihr aber doch helfen.«
Gemeinsam rannten sie zu ihr hinüber. Zu dritt nahmen sie die letzten Wäschestücke von den Leinen und liefen dann so schnell sie konnten ins Haus.
Der Sturm hatte sie erreicht.
2011
Emma schlenderte mit Greta die abendliche Straße entlang. Es war noch nicht sehr spät, aber Wolken verdunkelten den Himmel und es hatte gerade anfangen zu nieseln.
»Sollen wir ins Kino gehen? Sieh mal, da drüben gibt es ein ganz altes Kino in dem sie jeden Mittwoch Klassiker vorführen. Früher bin ich manchmal da gewesen.«
Sie sah zu dem Kino hinüber und schüttelte betreten den Kopf. Als sie mit Frank das letzte Mal dort gewesen war, hatte man genau jene Filme als neu gepriesen, die heute an Mittwochen gezeigt wurden. Sie war selbst ein wandelnder Klassiker.
Doch ehe sie, wie es immer noch ab und an passierte, in ihren trübsinnigen Gedanken versinken konnte, packte sie Greta bei der Hand und zerrte sie in Richtung des Lichtspielhauses.
Ohne aufzupassen sprang das Mädchen auf die feuchte Straße und übersah dabei die sich nähernden Lichter des Wagens …
***
»Ich wünsche mir, dass alle Menschen glücklich sind. Alle. Ich meine richtig glücklich. Sie sollen nicht unter Drogen stehen oder so etwas. Und sie sollen auch Menschen bleiben.« Eric wischte sich den Mund mit dem Ärmel seines Baumwollhemdes ab. Dann senkte er den Blick und starrte in die leere Tasse, in der sich eben noch heiße Schokolade befunden hatte.
Ihm gegenüber saß Emma am Tisch. An der Längsseite wiederum hockte Greta. Sie sagten beide nichts. Emma legte still ihre Fingerspitzen an die Schläfen. Fast unmerklich zitterte sie. Dann rollte ihr die erste Träne über die Wangen und schließlich wurde aus einem Rinnsal ein Strom. So sehr weinte sie, doch dabei kam nicht der geringste Laut über ihre Lippen, so dass es Eric sogar unheimlich war, sie anzusehen. Als hätte jemand den Lautstärkepegel eines Fernsehers auf Null gedreht.
Greta sah Eric an. Auch sie gab keinen Ton von sich.
»Was?«, sagte er atemlos. »Das ist doch ein guter Wunsch. Warum nicht das?«
Er klopfte mit beiden Händen an der Tasse auf den Tisch.
»Alle Menschen sollen glücklich sein. Wenn schon, denn schon. Es muss keine Kriege geben und all den Scheiß …«
Er verstummte. Gretas Augen hatten etwas magisches, derart tiefes, dass er das Gefühl hatte, ganz nackt vor ihr zu sitzen. Er kam sich vor, als hätte er ein Verbrechen begangen, doch dabei hatte er nur vorgeschlagen, das Bestmögliche aus alle dem hier zu machen. Er hatte gesehen, wozu das Mädchen fähig war. Er glaubte an sie. Sie war in der Lage, die Austreibung aus dem Paradies rückgängig zu machen.
Später in der Nacht, er lag neben Emma in ihrem gemeinsamen Bett, starrte er an die Decke. Sie hatten sich nicht geliebt. Emma hatte kein Wort gesprochen. Als er ins Bett gestiegen war, hatte sie ganz still da gelegen, aber er war sicher, dass sie genauso wenig schlief wie er.
Ruhelos wanderten seine Augen über die dunkelgraue Decke. Das spärliche Mondlicht, das sich durch die Gardinen des Fensters herein stahl, ließ die Schatten der Bäume vor dem Haus auf den Wänden tanzen.
Etwas summte in seinen Ohren. Dazwischen kamen leise pochende Geräusche, wie weit entfernte Paukenschläge. Es rasselte und dann kamen Schreie hinzu.
»Das ist es Eric«, flüsterte Emma. Sie rührte sich nicht.
»Was?« Er versuchte sich zu konzentrieren. Waren das Flugzeugmotoren? Eine kaum spürbare Erschütterung ging durch die Grundbalken des alten Hauses.
»Der Krieg, die andere Realität. Manchmal, wenn sie sehr unruhig schläft, ich meine wenn sie hier im Haus schläft, kann man es wahrnehmen.« Ihre Stimme klang so heiser, dass er es mit der Angst zu tun bekam.
»Was passiert mit uns, Emma?« Seine Frage war Ausdruck all seiner Ängste.
»Mit uns? Wir werden glücklich sein Eric. Auf irgend eine Art werden wir glücklich sein.«
»Wie?«
Sie blieb eine Weile stumm, doch als er gerade nachhaken wollte, flüsterte sie: »Menschen können nicht miteinander glücklich sein. Nicht auf Dauer. So sind wir. Um deinem Wunsch zu entsprechen, werden die Menschen getrennt werden müssen. Alle oder zumindest fast alle.
»Wie soll das gehen?«
»Ich weiß es nicht, aber ich sehe es vor meinen geschlossenen Augen. Da sind Enklaven in der Ewigkeit mit wenigen Menschen. So wenigen, dass sich kein Krieg lohnt. Und ich sehe viele gar nicht mehr. All jene, deren Glück nur im Unglück anderer besteht, Erik, all jene werden vergehen; denn alle Menschen sollen ja glücklich sein. In ein solches Schema passen keine Sadisten, Vergewaltiger und Mörder.«
Er streckte seine Hand nach ihr aus, traute sich dann aber nicht, sie in der Dunkelheit zu berühren. Eine unsichtbare Barriere schien sich zwischen ihnen erhoben zu haben.
Er sagte: »Was wird aus ihnen?«
»Weg. Weg wie Frank, Peter, Emma …«
»Aber sie kann doch nicht alles auslöschen«, protestierte er leise.
»Auslöschen? Es wird sie nie gegeben haben.«
Er legte sich auf den Rücken und lauschte in die Nacht hinaus. Er konnte jetzt deutlich das Rumpeln und Klappern von Panzerketten und hustendes Maschinengewehrfeuer in der Ferne hören. Er begann zu zittern. Emma stöhnte leise neben ihm. Erschrocken wandte er sich ihr erneut zu.
»Was hast du?« Seine Frage klang in seinen eigenen Ohren überflüssig und dumm.
Die Antwort kam nur als stiller Seufzer: »Nichts Frank …«
Als er sich zu ihr umdrehte, sah er in das brüchige Gesicht einer sterbenden alten Frau.
Zu keiner Zeit und nirgendwo
Da ist eine weite Landschaft mit einem hohen Gebirgszug an ihrem Horizont. Zwischen engen verschneiten Schluchten, durch die der Wind heult, führt ein gewundener Pfad zu den Gipfeln der Berge hinauf. Weit oben, auf dem höchsten der Berge, erhebt sich ein uralter Turm. Kein Wächter steht vor den Toren, kein Schlüssel passt in das Schloss.
Im obersten Stockwerk des Turmes, gleich unter den Zinnen, gibt es eine Kammer. Ihre Wände sind mit seidenen Vorhängen bedeckt. Den kalten Stein des Turmes aber, kann der feine Stoff nur vage verdecken.
Auf dem Boden der Kammer liegt ein großer dicker Teppich. In der Mitte sitzt ein kleines Mädchen. Sie sitzt auf dem Teppich und spielt ein Spiel. Mit ihren Augen streift sie über den Flor und sein Muster scheint sich unter ihrem Blick immer wieder neu zu arrangieren. Auch die Farben der Fäden verändern sich in fließender Bewegung. Eine Landschaft entsteht; eine Landschaft mit einem Gebirge. Und auf der Spitze des Gebirges thront ein Turm. In dem Turm wiederum gibt es ein Mädchen. Sie sitzt auf einem Teppich.
Alles was jemals war, alles was sein wird, hält sie in Händen.
So wie wir …
***
Vorsichtig nahm er einen Schluck des heißen Kaffees aus seiner Tasse. Kaffee war gut. Der herbe Geschmack, diese bittere Erinnerung an Vergangenes, half ihm seinen Geist intakt zu halten. So wie sie ihm half.
Es stimmte. Menschen konnten nur sehr schwer wirklich glücklich gemacht werden. Waren sie in der Gruppe, begannen sie einander zu hassen. Waren sie allein, verzweifelten sie an der Einsamkeit. Es bedurfte eines wirklich komplizierten Gefüges, alle Individuen einer Gemeinde bei Laune zu halten. Oder war es am Ende doch nicht möglich? Konnten Menschen auf Dauer gar nicht glücklich sein? Er fragte sich zum bestimmt zehn millionsten Mal was das eigentlich war – dieses Glück.
Er gestattete sich nur selten, an all die Anderen zu denken. Waren sie glücklich? Es musste ja so sein. Oder hatten sie aufgehört zu existieren?
Eine Falte bildete sich auf seiner Stirn, langsam, zögernd. War er glücklich? Und wenn nicht, würde er dann vergehen?
Im angrenzenden Schlafzimmer lag Bette in ihrem großen, runden, gemeinsamen Ehebett. An der Tür stehend betrachtete er seine schlafende Frau. So oft er sie ansah, ihre Rundungen bewunderte, so oft durchfuhr ihn eine wohltuende Wärme. Er konnte nur hoffen, dass sie mit ihrem Dasein zufrieden war; und vor allem, dass sie beide das Glück und nicht das Unglück des jeweils anderen brauchten, um selbst in Zufriedenheit leben zu können.
Er hatte nicht sonderlich gut geschlafen in der vergangenen Nacht. An Tagen wie diesem kamen ihm immer wieder kleine Zweifel. Sie stahlen sich in sein Leben und versuchten, wie die feinsten Wurzeln einer Pflanze, in seinem Herzen Halt zu finden. War er glücklich, wenn er zweifelte?
Doch dann huschte ein vergnügtes Lächeln über sein Gesicht. Er raffte sich auf, strich sich durch den dichten Vollbart und machte einen Schritt zur Verandatür hin. Draußen war der Tag angebrochen. Über der Savanne lag noch der Dunstschleier der kühlen Nacht; aber das Morgenrot der aufgehenden Sonne war ein starker Verbündeter gegen sein Frösteln.
Er blickte auf sein Land hinaus. Eine kleine Herde von Elefanten kam schlaftrunken aus einem Hain und pilgerte, die Jungtiere mit ihren massigen Leibern schützend, zu dem nahegelegenen Wasserloch. In der Ferne konnte er auf einem der verkrüppelten Affenbrotbäume einen weißen Panther ausmachen. Von den trötenden Morgenrufen der Dickhäuter aufgeschreckt, glitt die Katze von ihrem Aussichtsplatz und verschwand im hohen Gras. Die Nacht tauschte ihren Platz mit dem Tag.
Ja, er war glücklich. Auch mit all den kleinen Zweifeln. Denn welcher Mensch war schon wirklich zufrieden, wenn alles in seinem Leben zweifelsfrei in Ordnung war?
In diesem Moment des Sonnenaufgangs erkannte er, dass damals in dem Krankenhauszimmer, in dem er das Mädchen zum ersten Mal gesehen hatte, sein Name zum allerersten Mal ausgesprochen worden war.
Davor, war alles Traum …