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Wunschfluch

Original: © Januar 2024 Blum

eBook: © Januar 2024 choose your art

Titelbild, Gestaltung & Satz: Blum

Korrektur: Sim, Vera Beiersdörfer

 

Speyer, Deutschland

Alle Rechte vorbehalten

 

Lieber Leser, solltest du Anregungen oder Kritik für unsere Produkte haben, würden wir uns sehr über eine eMail von dir freuen: xo@karma23.de

Über dieses Buch

Wunschfluch ist eine Geschichte aus dem Rollenspiel Karma²³ und spielt auf einer seiner Welten:

Über all die Zeitalter, in denen sich die Menschheit auf Terra entwickelte, übersah sie, was um sie herum vorging. Unzählige fremde Kulturen entstanden auf weit entfernten Planeten, Kriege wurden ausgefochten und Allianzen geschmiedet. Gottgleiche Wesen übten die Kontrolle über weitreichende Sektoren der Galaxie aus. Schließlich erreichten diese Mächte auch die Heimatwelt der Menschen und sie nahmen sich, was sie brauchten. Sie entführten Tausende von Menschen aus verschiedenen Kulturen und schufen sich aus diesem genetischen Grundstock ihre eigenen Sklavenvölker. Doch sie wussten nicht um die Natur der Menschen. Sie kannten nicht deren inneren Drang nach Freiheit und ihre enorme Anpassungsfähigkeit. Es kam, wie es kommen musste – während die Herren des Alls an Korruption und innerem Verfall litten, erhoben sich die menschlichen Sklavenkulturen und begannen ihren Siegeszug …

 

 

 

Für Oliver, den ich nicht kenne und der sich dies hier sicher ganz anders vorgestellt hat.

 

Kennung: L4Jn8p95-6 :: Quadrant: -6|136 :: System: Cashe :: Größe: 6 :: Gravitation: 1,0 G :: Umlaufzeit: 0,6 Standardjahre :: Trabanten: Ester, Turner, Calish :: Subraumanschluss: kT3QpD-SS4-D1,0D :: Sj 2.248 :: Name: Jerc :: :: ::

 

Sj 2.248, St 298, Herlind, Deinbach – diese profane Nachricht projeziert dein Nachttisch an die Wand, als die KI anhand deiner Biowerte erkennt, dass du das Reich der Träume verlassen hast. Warum Herlind? Als ob du nicht wüsstest, in welchen Land dein Bett steht. Unterkünfte wechseln selbst hier auf Jerc nicht ihre Standorte. Zumindest nicht solche, die sich in Häusern befinden. Oder doch? Deine Gedanken driften ab und du spürst das Ziehen von Morpheus Engeln an deiner zerrütteten Seele, doch der Nachttisch lässt nicht locker. Die in deinem Pad gefangene künstliche Intelligenz hat die Aufgabe, dich zu wecken und sie nimmt solche Dinge sehr ernst. Sie hat sich mit dem Emitter im Nachttisch verbunden und bringt das Bett zum Vibrieren; sanft aber bestimmt. 

Dein Herzschlag beschleunigt sich und deine Sinne werden langsam aktiv. Der schale Geschmack in deinem Mund und pochende Schmerzen hinter deinen Schläfen entreißen dich endgültig den Fängen des Traumgottes. Der Nachttisch besteht weiterhin auf seine dröge Botschaft an der Wand. Endlich gibst du auf und rollst dich aus den Federn. Das Zimmer ist kalt und die ausgetretenen Dielen knarren unter deinen Socken. Im Winter schläfst du immer mit dicken Socken. Maria hat das gehasst. Aber irgendwann hat sie alles an dir gehasst. Scheiß auf Maria.

Das Bad ist noch kälter als das Zimmer. Der Regulator zeigt mittlere Wärme an. Warum ist es dann kalt? Nichts ist hier wie es sein sollte. Aber das wusstest du, als du der Hauptcivic Adieu sagtest. In einer kleinen malerischen Gemeinde würdest du leben, deine Seele reinigen, alles vergessen. Nur der Galgenstrick lässt wirklich alles vergessen.

Der Regulator rumpelt unheilvoll, als du den Wasserregler betätigst. Brühend heiß schießt das Wasser aus der Decke. Unwillkürlich reibst du über die Stelle an der Schulter, die du dir vor zwei Phasen beim ersten Duschen in der neuen Wohnung verbrannt hast. Walther hat gestern erzählt, die MCO-Leute drüben in Idelberg hätten Schallduschen in ihren Büros. Larsen fragte, woher er das wüsste und der dicke Neiberliner hat gelacht und gesagt, er hätte da eine Freundin, eine dralle Shivaitin aus der Vorseherei.

Duschen, Zahnreinigung, Wetterdaten, News, Anzug, Pad, Schuhe, nichts gefrühstückt, aber der Küchenautomat funktioniert sowieso noch nicht – immer das selbe; Routinen, die noch den erträglichsten Teil deiner Tage ausmachen. Das morgendliche Highlight ist der Kuv und der Kringel in der Backstube Ecke Niederholzstraße. Die Bäckerin heißt Hilt. Vielleicht eine Abkürzung für Hiltruth oder einfach Hilta. Der Lieferant nennt sie Hilt. Er ist Shivait. Zumindest sieht er so aus. Es gibt nicht viele hier auf dem Land. Ein Talburianer könnte kaum mehr auffallen.

Hilt ist freundlich, hat etwas zu dicke Oberarme für deinen Geschmack, aber dafür wirklich schöne Brüste. Deine Verflossene hat auch schöne Brüste, aber daran denken wir nicht. Wahrscheinlich ist sie gar nicht die Bäckerin. Also Hilt. Sie ist eher die Tochter. Der Bäcker, man sieht ihn selten, da er nur nachts zu arbeiten scheint, ist ein grauer, gekrümmter Troll mit einem gewaltigen Hängebauch. Einmal hast du ihn im Jochbein, der einzigen Bar im Viertel gesehen. Seltsamer Mann. Hilt ist zu jung, um mit dem Troll verheiratet zu sein. Andererseits hat sie keinerlei Ähnlichkeit mit ihm. Wie seine Tochter sieht sie zumindest nicht aus. Die Vorstellung, sie könnte doch seine Frau sein, fährt dir in den Unterleib.

Bevor du gehst, überprüfst du die Wohnung. Die KI ist auf Standby, die Überwachung ist via Zerolink gekoppelt und der Regulator scheint zu regulieren. Durch das Fenster siehst du den grauen Tag anbrechen. Cashes rotes Riesengesicht dringt nicht durch die trüben Wolken, aber die Straße beginnt trotzdem langsam hell zu werden, als dringe das fahle Licht einer mythischen Unterwelt aus den moosbewachsenen Lücken des Kopfsteinpflasters. Draußen siehst du dein Gesicht in einer von Öl schimmernden Pfütze. Der Cargo-Pod-Verkäufer, vierzig Standardjahre alt, Junggeselle, übergewichtig und von seinem Leben entkoppelt. Du bist eine Kupplung, deren Verbindungszapfen abgerissen sind, ein Gravemitter ohne Kontakt zum Energieprovider, eine trübe Scheibe, durch die man den Weg nur noch als schemenhaftes Band erkennen kann. Was ist geschehen? Was hat dich so gemacht?

In diesem Moment vibriert dein Armbandpad. Du hebst ergeben den Arm und prüfst deine Sklavenfessel. Mr Hopkins von Stasis Motors MCE hat dir eine Nachricht geschickt. Der Deal ist angenommen, aber sie wollen nur acht anstelle von zwölf der Transporter. Damit bleibst du unter der erwarteten Gewinnlinie. Drei Sekunden später hast du überschlagen, dass mit dieser erneuten Niederlage weitere acht Prozent des Quartalsumsatzes fehlen. Aber nächstes Standardjahr wird alles besser. Deine Chefverkäufer gehen von wenigstens 26 % Abdeckung allein durch die MCO aus. Leider weißt du etwas, was sie nicht wissen. Die Wichser der Minenverwaltung haben letzte Phase einen Deal mit dem Weißen Stern abgeschlossen. Sie kaufen den abgelegten Armeeschrott der Kirner und sparen so Millionen. Deine Millionen. Du weißt es aus erster Hand. Du hast lachend mit dem fetten Versorgungsoffizier des Weißen Sterns Steak gegessen und so getan, als sei dieser Verlust eine Lappalie für deine Firma. Das ist eine Lüge. Aber du bist der Boss, du musst lügen.

In der Bäckerei ist es mollig warm und es duftet nach frischem Brot. Hilt lächelt dir freundlich zu und deckt schnell einen der kleinen Blechtische. Sie streift dabei in der Enge des Raumes mit ihren ausladenden Hüften deine Knie, macht aber kein Aufhebens darum. Die Spitzendecke auf dem Tisch ist herlinder Handarbeit. Ein Hirsch und ein schwarzer Vogel vor einem Gebirgsszenario. Grün, blau und rot – altbacken und rührend ländlich. Du stellst dir vor dieser Tisch zu sein. Mit einer altbackenen Decke über dir die Tage zu zählen, erscheint dir wie die Verheißung aller Himmel. Dein Pad zeigt dir ein Zeitfenster von 25 Minuten zur nächsten Monorail. Die Haltestelle ist keine fünf Minuten von hier. Wie wäre es, wenn du die Bahn verpasst? Das erste Meeting sind die Neuers. Sie wollen einen neuen CP. Normalerweise machst du gar keine Einzelverkäufe seit dein Vater den Schlüssel an dich weitergegeben hat. Früher wäre ein CP wichtig für deine Zahlen gewesen. Heute machst du das mit den Neuers, weil sie Bekannte deiner Eltern sind. Zehn Fahrzeuge haben sie bei euch gekauft. Immer wieder hörst du so etwas. Zehn Cargo Pods und alles Neufahrzeuge. Gute Kunden, ja – aber sie vergessen dazu zu sagen, dass die Käufe in einem Zeitraum von dreißig Standardjahren zustande gekommen waren. Und das ist noch gut. Alle drei Standardjahre ein Deal. Ob sie verstehen würden, dass ihr Kaufverhalten dich kaum über die Treulosigkeit der MCO hinweg trösten kann?

Der Kuv kommt und dein Pad bezahlt automatisch mit angemessen hohem Trinkgeld. Hilt lächelt ihr ländliches Lächeln, aber dein Herz bleibt kalt. Der Kuv verbrennt deine Zunge, doch auch das weckt dich nicht. Der Trott ist ein Monster und er frisst dich auf. Einmal heraus, einmal anders sein – aber nicht einfach Urlaub. Nach dem Urlaub in Nord musstest du gleich am ersten Tag drei Leute entlassen. Einer hat geklaut, harmlos, aber die anderen beiden haben nur ihre, den Vorgaben genügenden Zahlen nicht vorweisen können. Dir ist das auch passiert. Aber du warst der Sohn. Die beiden arbeiten jetzt für die Rail. Zweifellos verdienen sie kaum genug zum Leben, aber was hättest du machen sollen? Dein Leben, deine Firma, das zählt doch auch etwas! Oder zählt nur der Tisch und seine Decke?

Der Kringel ist hart. War zu lange im Autobrenner. Die Bäckerei wirbt mit einem Holzofen, aber du kannst eine Attrappe von einem Automaten unterscheiden. Das ist dein Job, dein Leben. Du bist selbst eine Attrappe und die erkennen sich gegenseitig immer. Außer dir ist nur noch eine Frau im Gastraum. Sie sitzt mit dem Rücken zu dir an dem Tisch neben der Toilettentür und blickt auf die trübe Straße hinaus. Ihr dunkelgrünes Kleid sieht irgendwie altmodisch aus und sie trägt einen schwarzen Hut mit einer kleinen, sehr dünnen Krempe und einem Konstrukt aus schwarzer Spitze daran. Ihr Auftritt erinnert dich an alte Gemälde von Terra, aber ihren glatten Wangen zufolge kann sie nicht älter als du sein. Als sie ihre Hand zu der Teetasse vor ihr ausstreckt, siehst du, dass sie ebenfalls Handschuhe mit schwarzer Spitze trägt. Vielleicht gehört sie einer der dunklen Sekten an; Baphmos Jünger oder einer noch verrückteren Gemeinde. Aber dafür scheint sie wiederum fast zu elegant zu sein. Überhaupt wirkt diese Frau, wie sie da an ihrem dampfenden Tee nippt, wie eine von jeder Gemeinschaft losgelöste, in sich selbst ruhende Einheit. Du siehst die winzigen Raucherfältchen ihrer Lippen, die sich nicht im Geringsten auf ihre Ausstrahlung der Souveränität auswirken, nimmst ihren gekrümmten Rücken wahr, der die Knochen ihrer Wirbelsäule gegen die dunkelgrüne Seide ihres Kleides drückt und erkennst in diesen Dingen die Zeichen ihrer Stärke. Sie ist sich ihrer bewusst! Das macht sie zum Gegenteil von dir. Und es macht dir Angst. Du gehst.

Natürlich verpasst du die Monorail nicht. Vier der acht Männer in deinem Abteil kennst du vom Sehen. Sie grüßen jeden Tag den üblichen ländlichen Gruß, du grüßt zurück. Am zweiten Tag saß einer auf deinem reservierten Platz. Er muss es gewusst haben, denn sein Pad konnte die Fahrt so nicht bezahlen. Als du ihn höflich auf den Irrtum hingewiesen hast, ist er aufgestanden und hat einen anderen Platz für sich beansprucht. Nach einigen Tagen hast du erkannt, dass er immer auf dem reservierten Platz eines anderen sitzt. Nur auf deinen setzt er sich nicht mehr. Du zertrümmerst mit seinem Gesicht eine der Fensterscheiben und die KI des Zuges löst den Nothalt aus. Schutzmänner stürmen das Abteil. Die anderen Fahrgäste sind entsetzt. Wäre das eine Lösung? Du siehst den Mann an. Seine Schuhe waren teuer. Er hat es nicht nötig, zu schummeln. Er macht es nur, weil er es kann. Er bricht aus. Das macht ihn dir sympatisch.

Die Firma ist noch nicht erwacht. Drüben, über die Zufahrt des größeren der beiden Abstellplätze, fährt gerade Letha auf das Gelände. Du bist vor ihr bei der Tür, weil sie immer eine Ewigkeit braucht, um ihre Röcke zu richten. Du hast nie verstanden, warum sie in ihrem Alter noch so einen Fummel trägt. Sie hält sich für eine Elfe. Andererseits scheint sie glücklich verheiratet zu sein. Gibt es so etwas überhaupt? Sie ist über 50 und ihren Mann hat sie laut eigener Aussage mit 15 kennengelernt. Das ist zweifelsfrei ein Fake. Das mit dem Glück. Andererseits sieht sie für ihr Alter noch ganz gut aus.

Dein Pad öffnet die Tür und schaltet die Lichter an. Es riecht ein wenig modrig im vorderen Verkaufsraum. Der neue Sinistre V3 auf der Drehbühne hat Wachsreste an einem seiner Scheinwerfer. Du gehst in dein Büro und öffnest ein Fenster. Keine Gyros, ein Handgriff. Hölzerne Wandtäfelungen und der große Ledersessel deines Vaters beschreiben deine Herkunft. Modernisierung war nie das Motto deiner Familie. Credits lagert man ein. Das Ziel ist das Imperium, das Monopol oder was auch immer entsteht, wenn man alles spart, bis man zu alt ist, um zu leben. Deine Mutter ist einsam und tröstet sich mit den Geistern vielfarbiger Liköre. Dein Vater hat es cleverer angestellt und seinen Verstand wie einen Mitarbeiter, der die Quote nicht erreichen konnte, entlassen. Er erkennt dich noch, aber er weiß nicht, wer du wirklich bist. Früher unterhielt er Dirnen, die jünger waren als du; heute hat er eine Alterstherapeutin mit Oberarmen wie ein kirner Preisboxer.

Letha kündigt die Neuers an. Du siehst ihm an, dass er sich für den V3 draußen interessiert, aber natürlich wird sie die Entscheidung treffen. Sie erwarten einen Rabatt, der dir jede Rendite nimmt. Du sagst zu und löst später die Antigravkupplungen an allen vier Emittern ihrer nagelneuen Familienkutsche. Wenn du die KI des Pods täuschen könntest, würden sie bei schneller Fahrt die Träger verlieren und eventuell bis hoch über die alten Giebeldächer der Civic geschleudert werden. Der Gedanke erscheint dir nett, aber selbst wenn es geschehe, würdest du nicht dein Ziel erreichen. Dein Ziel ist nicht die Quote. Hier liegt das Problem. Es wäre einfach, wenn es ums Geschäft ginge. Du könntest kämpfen, lügen, betrügen, bestechen, drohen und verführen – alles Dinge, zu denen dein Vater dich erzogen hat. Alles was du bist, ein ehrbarer Geschäftsmann. Wenn du in den Spiegel siehst, erkennst du die dämonischen Züge der Wahrheit. Scheiße ist, zu was sie dich machten und Scheiße solltest du fressen.

Werner stockt, als er herein kommt und du gerade den Aschenbecher ausleckst. Die schwarze Brühe aus deinem Speichel und den Resten der Zigarre läuft dir über das Kinn. Der Chefmechaniker will gehen, aber du winkst ihn herein. Mit der Serviette von deinem Mittagstisch wischst du den Dreck von deiner Haut. Deine Poren sind grob. Es wird einiges darin hängen bleiben. Das erfüllt dich mit Genugtuung. Wenn du nur selbst der Ascher sein könntest. Das ist es, was du sein solltest. Etwas, in dem man seinen Dreck hinterlässt. Du fragst was es gibt und Werner stiert dich an, als hättest du gerade einer Blondine das Herzblut aus der Halsschlagader gesaugt. Die Augen des Arbeiters liegen tief in den Höhlen. Sie zucken vor Unsicherheit und verhohlener Abscheu. Ungeduldig fragst du erneut. Die bestellten Energiezellen für die drei 18er Südspann passen nicht. Wie kann das sein? Letha hat die Dinger nach der Anweisung der Werkstatt geordert. Wurden sie falsch bestellt oder falsch geliefert? Werner zuckt mit den Schultern. Wut steigt in dir auf. Du wirst später wieder sehr müde sein. Jetzt schreist du diesen dünnen, hässlichen Mann, der schon vor deinem Vater gebuckelt hat, in Grund und Boden. Er kann wahrscheinlich nichts dafür. Die Zellen waren nicht teuer. Die Auslieferung der Südspann-Pods wird sich verzögern, aber die Firma ist nicht haftbar. Solche Situationen sind per Vertrag versichert. Außerdem gehen alle drei Pods an einen Farmer, der mit Sicherheit keine Credits für einen Rechtsbeistand, geschweige denn für eine Klage übrig hat. Seit drei Standardjahren wütet der Fraß auf dem Land. Die Ernten sind schlecht. Warten sie eben auf ihre scheiß Cargo Pods. Soll sie alle der Gehörnte holen. Bezahlt sind die Dinger. Du faselst etwas von Entlassung und winkst den Mechaniker hinaus. Der Tag vergeht. Du denkst über eine weitere Zigarre nach. Renditen, schlechte, aber geschönte Bilanzen, der Abgabebescheid des Taxators, ein Digitalbrief deiner Schwester von Helion und zur Krönung eine Klageeinreichung wegen einer defekten Magnetbremse, die angeblich zu einem Unfall mit zwei toten Jugendlichen geführt haben soll – als du im Zug über die letzten zehn Stunden nachdenkst, erscheint dir der Tag noch harmlos. Schlimmer sind die Tage an denen überhaupt nichts passiert. Sommertage, ganze Phasen in denen kein Mensch die stinkende Luft des Verkaufsraums einatmet. Gähnende Agonie der Langeweile. Der klägliche Versuch eines schnellen Ficks mit einem der Verkäufer, bei dem du aber keinen hoch bekommst. Ihre Blicke, die sagen: der Chef sieht fertig aus. Was ist los? Machen wir dicht? Ihre kleingeistigen Ängste machen dich krank. Du willst nichts von ihren Familien wissen. Das ist meine Tochter Heide, sie will Konzertpianistin werden. Wir sparen auf ein Klavier. Könnte ich eine kleine Erhöhung meines Gehalts bekommen? Du möchtest das Klavier sein. Du willst die untalentierten Finger auf deinen Tasten herumhämmern spüren, bis all deine Seiten reißen. Du saugst an deinem Zahnfleisch auf der Suche nach Asche.

Ein paar Tage später sitzt du am frühen Nachmittag im Jochbein. Heute ist der Dreihundertste. Die Firma ist wegen der Feiertage geschlossen. Alle Welt besucht Kirchen, Tempel oder betet den Gehörnten in grotesken unterirdischen Grotten an. Die einen in weißen Gewändern, die anderen in blutroten Umhängen, alle jedoch in pathetischem Wahn. Du bist ein Kind Roms. Deine Familie gehört seit endlosen Generationen dieser Sekte an. Bis nach Terra lassen sich ihre Gene und der Glaube zurückverfolgen. Von blauen Teufeln durch die Endlosigkeit des Weltalls entführt, brachte man sie vom verdorbenen Elysium zum fruchtbar gemachten Hades Jerc. Du bist natürlich hier geboren und kennst Terra nur aus alten Datensätzen und von Gemälden in der Villa deiner Eltern. Der Dreigeteilte Gott hört dich nicht. Eine Zeit lang war dir der Glaube wichtig. Doch dann ist er, wie kürzlich die Zigarre von Herrn Neuers, erloschen. Du würdest auch den Altar ablecken, aber noch lieber wärst du der Altar. Sie sollen den Dreck der Erde auf dir verreiben und den Wein über dir ausgießen. Auf deinem kalten Steinrücken sollen Dreck und Wein sauer werden, bis der Gestank deine Gleichgültigeit übertünscht. Wenn dies möglich ist. Wenn es überhaupt möglich ist.

Am runden Tisch sitzen drei Farmer. Während sie unkonzentriert Tischmurmeln um Credits spielen und Unmengen von Bier in sich hinein schütten, wird ihre Unterhaltung immer lauter. Sie reden über den Fraß, das Wetter und die Weiber. Eins schlimmer als das andere. Interessant ist, dass der Fraß den größten Teil der Romantisierung abbekommt. Er wird als eine Art übernatürliches, von Göttern oder Teufeln beschworenes Phänomen geradezu verehrt. Die Frauen dagegen erhalten Spott und derbe Sprüche, denen zu entnehmen ist, wie gering sich diese hart arbeitenden Männer selbst einschätzen. Dann werden sie plötzlich leiser. Zuletzt hatten sie es von der Tochter eines Metzgers, der hier im Viertel das Schlachtvieh für sie bedient. Einer hat sich damit gebrüstet, der Kleinen den Arsch gekniffen zu haben. Aber dann fiel offenbar unerwartet der Name der letzten Straße und machte aus ihrem dümmlichen Gelächter ein seltsam zurückhaltendes Murmeln.

Die letzte Straße – huuuh. Am Südende der Civic befinden sich zwei alte, fast verfallene Farmhäuser. Du weißt nicht, ob sie überhaupt noch bewirtet werden. Als du sie dir im Herbst bei einem Spaziergang angesehen hast, waren alle Läden geschlossen. Nichts hatte auf menschliche Bewohner hingedeutet. Aber es war schon spät gewesen. Vielleicht zu spät. Die Verbindungsstraße zu ihren windschiefen Dächern ist die Viehdriftstraße, doch am Ende der verwahrlosten Farmgelände wird diese in einem langen Bogen zur Galgenstraße, die man hier durchaus trefflich, die ›letzte Straße‹ nennt. Sie wiederum führt über einen kleinen Hügel in die Dunkelheit der Wälder. Kurz vor den ersten schwarzen Bäumen, die seit Jahrtausenden die bleiche Erde des Landes jenseits der Zivilisation vor dem roten Licht Cashes verbergen, soll eine Hexe wohnen, die alle Wünsche erfüllen kann. Diese Geschichte hast du irgendwo aufgeschnappt. Vielleicht im Verkaufsraum des Schlachthofes oder im Tabakladen. Irgend jemand erzählt immer solche Geschichten über die düsteren Geheimnisse der Dorfgemeinden. Schwarze, dreibeinige Hunde, die von Dach zu Dach springen und den Schlafenden die Fersen abbeißen,oder tote Frauen im Froschteich, die nach Kindern Ausschau halten, gierig nach frischen Herzen. Letztes Standardjahr will man Fußspuren eines Riesen in einem der Nachbardörfer gefunden haben. Es gab darüber einen Bericht in der Rabenpost, in dem sich der Farmer mit den Gipsabdrücken ablichten ließ. Später hast du eine Annonce gesehen, die solche Abdrücke zu Preisen bewarb, die den Mann zweifelsfrei reich machen werden. 

Du bestellst noch eine Grüne Fee mit Laudanum und studierst deine Korrespondenz auf dem Armbandpad. Zwei weitere Absagen von größeren Unternehmen kamen in den letzten zwei Stunden rein. Haben die nie Feierabend? Man sollte meinen, solche wichtigen Entscheidungen finden während der Geschäftszeiten statt. Oder sitzen diese Arschgeigen gerade wie du in einem Pub, vergiften sich die Leber und feuern Absagen heraus? Weg mit dem Scheiß. Du musst pissen.

Als du zu deinem Platz zurückkehrst, sind zwei der drei Murmelspieler gegangen. Der verbliebene hockt vornübergebeugt im trüben Licht der Funzel über seinem Kopf. Der Lichtkreis sieht wie ein Heiligenschein aus. Er hingegen hat nichts von einem Engel oder göttlichen Wesen. Ohne Grund stehst du auf, orderst zwei Bier und zwei Eiszapfen und gehst zu dem Tisch. Beim Setzen knirscht etwas unter einem deiner Schuhe. Es ist eine Murmel. In deiner Hand glimmt das Glas rot wie das böse Auge eines Salamanders. Es zieht deinen Blick in seinen Bann. 

»Kannste behalten. Hat mir keen Klügg gebracht«, kommt es von dem falschen Heiligen.

Schnell wandert die Glaskugel in deine Jackentasche. Du willst etwas sagen, aber der Wirt stellt die Biere zwischen euch, als wolle er zwei Raubtiere mittels Gitterstäben voneinander trennen. Du siehst zu ihm hoch und da kommen auch schon die Schnäpse dazu. Das Gesicht des Farmers hellt sich auf. Einerseits ist er es nicht gewohnt beschenkt zu werden, andererseits siehst du aber auch nicht wie der Gehörnte aus und hast ja auch nicht nach seiner dünnen Seele als Gegenleistung gefragt. So nimmt er den Kurzen zwischen Daumen und Zeigefinger seiner schwieligen Hand und führt ihn zittrig an die aufgesprungenen Lippen. Weg damit und schon greift er nach dem schweren Bierglas. Er hat Dreck unter den Fingernägeln und du beneidest ihn. 

»Wie kommichn zu der Ehren?« fragt er, doch dann setzt er hinzu: »Se sin der Neue. Han bey der Hanelind gemietet, owen an der Papierwerken ne?«

Du nickst und trinkst deinen Eiszapfen. Dann fragst du unvermittelt: »Wer wohnt da am Ende der letzten Straße?«

Er glotzt dich aus hervorstehenden Augen an und versucht, die Lage einzuschätzen. Was will der Lackaffe aus der Civic? Nervös aber auch irgendwie überheblich, kaut er auf seiner zerfranzten Unterlippe herum. Routiniert löst er einen Hautfetzen und befördert ihn mit der Zunge zwischen seine gelben Zähne, als er leise zischt: »Na de Hex!« Dann lacht er verlegen und zieht dabei die Nase hoch.

Du willst wissen, was das für eine Frau ist und warum sie da draußen vor den Wäldern lebt, aber er winkt ab und deutet auf dein Armbandpad. Zuerst verstehst du ihn nicht, aber dann sagt er, du sollst das Ding ›antun‹ und als du gehorchst, gibt er unsicher und händisch einen Suchcode ein. Du verstehst immer noch nicht, aber dann projeziert die KI eine Anzeige auf die schmutzige Tischplatte und der Kerl lacht dazu meckernd wie eine Ziege:

~ MARIELLE NORTHROD ~

WAHRSAGEREI · WUNSCHERFÜLLUNG · TOTREDNEREI

Galgenstraße 9, Deinbach {Südend}, Herlind

Vereinbaren Sie noch heuer einen Termin!

 

Darunter steht eine offizielle ID und ein Hinweis auf den von der Gemeinde verifizierten Arbeitsnachweis. Du ersparst dir die Überprüfung und beendest den Humbug. Als du gehst, winkt dir der Farmer hinterher. Seine Augen leuchten und sein Gesicht ist eine Grimasse alkoholisierter Fröhlichkeit, die im blauen Dunst der Wirtschaft hinter dir verschwindet.

Draußen ist es stockdunkel und es hat angefangen zu regnen. Schneeregen, zu fein und zu nass, um liegen zu bleiben, verwandelt die Straße in eine Masse aus grauem Matsch und glitschigem Schleim. Aber der echte Winter wird kommen. Vom Norden her hörst du die Schreie der großen Kolkraben. Sie singen das Lied der Nacht. In einigen Stunden verwandeln sie sich in bleiche Mädchen und Prinzen, die in Federmäntel gekleidet durch die finsteren Auen tanzen. Was würdest du geben, dich ebenfalls verwandeln zu können. Deine Finger spielen mit der Kugel in deiner Jackentasche. Ihre Oberfläche ist rau und du spürst die vielen winzigen Risse im Glas, die mikroskopische Schnitte in deinen Fingerkuppen hinterlassen. Sei eine rote Murmel. Lass dich auf den Boden fallen. Zerspringe in Tausende von messerscharfen Splittern.

Mehrere Tage denkst du an nichts. Du aktivierst Verträge, triffst Entscheidungen, von denen du weißt, dass sie für niemanden auf der Welt zum Guten führen können, presst Menschen in Formen und wunderst dich darüber, selbst keine andere Form annehmen zu können. Warum ist da niemand, der dich zu etwas anderem formen kann? Auf der Tischplatte in deinem Büro liegt die Murmel. Sie rollt nicht. Der Tisch ist zu plan, zu gerade. Wie du.

Am Dritten 51 ist die Kugel dann verschwunden. Du bist wie immer der erste auf dem Gelände. Als du gestern gegangen bist, lag sie noch da. Unbeweglich wie ein Berg, behauptete sie ihren Platz im Universum. Heute ist sie weg. Aber Berge verschwinden nicht über Nacht. Es braucht Milliarden von Standardjahren und geradezu göttlicher Kräfte, um aus einem Felsen eine Wüste zu machen. Deine Tischplatte ist nun eine Wüste, aber es ist nur diese eine einzige Nacht vergangen. Den restlichen Tag wütest du wie die Mannwölfe der Legenden. Eine Tasse zerbricht, Tränen fließen und einer der Verkäufer geht mit einem blauen Auge nach Hause. Er wird nicht kündigen. Er ist erst letztes Standardjahr Vater geworden und braucht die Credits. Letha kennt die Stunden des Sturmes und ist noch vor dem Ausbruch verschwunden. Du kündigst ihr digital (zum sechzehnten Mal) und wirst die Datei morgen dementieren. Beim ersten Mal hast du ihr Neiberliner Pralinen geschenkt. Danach wurde der Vorgang zur Routine. Dem Verkäufer mit dem blauen Auge wirst du Druck bei den Bilanzen erlassen. Wahrscheinlich werden alle von deinem Ausbruch profitieren; wirtschaftlich, nicht moralisch oder seelisch. Am Abend bist du immer noch schlecht gelaunt. Du isst in der Civic bei einem Fan-Jen-Doren Efunfuri-Huhn mit Klebereis und zahlst ohne Zugabe. Danach hast du die Monorail verpasst und stehst allein und frierend an der dunklen Haltestelle. Irgendwo heult ein Hund. Deine Krallen sind jetzt wieder fort, deine Rückverwandlung ist abgeschlossen. Tränen rinnen über deine Wangen und befeuchten die Haut deines Halses. Die Bahn kommt zwanzig Minuten zu spät. Dieser Zeitraum genügt, dir den Rest zu geben. Leider scheint dein Selbsterhaltungstrieb dich von sinnvollen Entscheidungen, die etwas mit Kinetik und Monorail-Strecken zu tun haben, abzuhalten. Also steigst du ein und fährst nach Hause.

Drei Tage hälst du es ohne die Murmel aus. Dann sind die letzten deiner Reserven verbraucht und du gibst deinem Pad den Befehl, die ID zu kontaktieren. Es ist Nachmittag. Die meisten haben das Betriebsgelände verlassen. Draußen bei der Werkstatt trimmt noch einer der Mechaniker einen Pod. Der muss morgen früh raus und der Mann, sein Name ist Hans Egert, braucht die Credits. Letha ist auch noch da. Sie leitet die KI an, Abrechnungsdateien zu generieren und isst dabei Pralinen. Heute morgen hat sie dir mitleidig zugelächelt. Bei ihr kommt das von Herzen. Unerträglich.

Die Stimme eines Droiden nimmt den Zerolink an. Blechern rattert er seinen Standard herunter: »Studio Northrod, Wahrsagerei, Wunscherfüllung, Totrednerei. Was können wir für sie tun?«

Alles was dir einfällt, ist der alte Witz über den Wahrsager, der wissen sollte, was sein Klient von ihm will. Du schweigst und blickst durch dein Flurfenster zu Letha in ihrem offenen Büro hinüber. Sie kann dich nicht hören, weiß nicht, mit wem oder über was du sprichst. Außerdem ist sie in ihre Arbeit vertieft. Sie blickt auch nicht auf. Der Droide wiederholt seine Ansage. Haben Hexen Droiden? Das Ganze ist derart dubios, dass du den Link kurzerhand beendest. Scheiße. Geh heim, schlafe! Es ist kalt und dein Bett ist warm. Morgen hast du einen schweren Tag. Die Vorseher von Minoto Generators kommen zu einem Videochat mit den Vorsehern der MI1. Es geht um einen Millionendeal. Wäre nicht gerade clever, als Gastgeber mit Augenringen im Gesicht das Potenzial deiner Firma zu präsentieren.

Noch einmal vergehen einige Tage. Du hast ein Hoch. Vertragsdaten werden aktiviert. Die MI1 beschert dir eine Rendite von 56.000 Credits. MG wird wenigstens das Zwanzigfache erwirtschaften und sie werden sich an dich erinnern. Thomas Betlehem, einer deiner besten Verkäufer, wird einen der Roadtrains aus der Lagerhalle auf dem Werftgelände los und Lethas Buchungsdaten erlauben dir eine kleine Ausschüttung für die ganze Belegschaft. Es geht dir gut. Es hat geschneit. Die Civic ist ein weißes Wunderland. Wie es wohl jetzt in Deinbach aussieht? Du trinkst noch einen Kuv mit einigen deiner Bediensteten und klopfst Betlehem auf die Schultern. Letha nickt dir aufmunternd zu, als wolle sie sagen: na geht doch. In der Bahn blickst du in die weiße Nacht hinaus. Deine Lieblingsstelle ist die lange Brücke, die das Tal überspannt. Man sieht nur die winzigen Lichtpunkte weit unten. Da ist ein Fluss, an dem wenigstens drei kleine Civics liegen. Irgendwann musst du dir die Gegend aus der Nähe ansehen. Einige deiner Arbeiter leben im Tal. Du weißt aber nicht genau wer. Auf der anderen Seite der Railbrücke ist die Welt eine Hügellandschaft aus weißen Flächen und dem nebeligen Grau des Winters. Die ersten Farmen tauchen auf und rauschen an dir vorbei. Im Winter klingen die Magnetschlitten über den Fahrgastzellen anders. Die Kälte lässt sie klirren und singen. Dafür dringt kein anderes Geräusch von draußen herein. Der Nebel verschluckt jeden Laut.

Deinbach liegt unter einer dicken Schneedecke begraben. Der ganze Ort scheint von Nebel durchdrungen. Die leere Monorailstation hat etwas Geisterhaftes. Deine Schuhe sind zu dünn und schnell werden deine Füße nass und eiskalt. Von der Hauptstraße aus siehst du in der Ferne die trüben Laternen der Papierfabrik. In der Civic würdest du dich von einem Droiden nach Hause fahren lassen. Hier gibt es solche Dienste nicht. Als du vor Phasen einmal bei strömendem Regen einen Fabrikarbeiter danach gefragt hast, dachte der Mann, du machst einen Scherz. Fröhlich ging er seiner Wege. Du frierst und kommst auf deinem Weg an einer der Farmen vorbei. Weiter entfernt hörst du das Muhen von Kühen. Sollten sie nicht schlafen, oder wittern sie dich und stufen dich ganz richtig als Gefahr ein? Dein Blick streift die Straße entlang und wandert erneut auf den Hof. Überall an den Wänden hängen Gegenstände des täglichen Gebrauchs. Alles ist voller Schmutz, der Boden ist aufgewühlt und gefroren, in einer Momentaufnahme aus Kuhscheiße und Morast. Über der Scheunentür hängt ein breites altertümliches Joch. Du stellst dir vor, es zu tragen, unter seiner Last zu zerbrechen. Darunter lehnt eine Mistgabel an einem Balken. Das Holz ist von der Kälte, der Sommersonne und allen anderen Elementen grau und spröde geworden. Die Zinken sind schwarz und sehen aus wie nasse Dornenzweige. Du willst das Holz und das Metall der Mistgabel sein. Täglich in die Gülle stechen, von ihren Säuren durchdrungen am Abend trocknen, ohne jede Aussicht auf Besserung, mit dem Ziel, eines Tages zu zerbrechen und im Morast in Vergessenheit zu geraten. All dies weit entfernt vom Verkauf und der Lüge. Weit davon entfernt. Daheim machst du dann einen Termin.

Achundzwanzig Standardtage, früher ist kein Treffen möglich. Frau Northrod scheint sehr gefragt zu sein. Der Droide ist nicht bestechlich. Er gibt überhaupt keine Antwort auf die Preisfrage. Was, wenn es dringend sei? Dann müsse man sich anderweitig Hilfe suchen. Gibt es kein: ›In besonders dringenden Fällen wenden sie sich an …?‹ Doch, zur Not könne man sich an Doktor Rheinwer im Alsbachthal oder an die Geschwister Riegel in Hochborn wenden. Du wartest. Eine Phase ist keine Zeit. Der Winter erstickt zwar die Geschäftigkeit deines Gewerbes, aber er wirkt auch ein wenig wie ein dämpfendes Rauschmittel. Opiumgleich schlucken Schnee und Nebel Ton und Licht und lassen dich durch die Stunden der Tage treiben. Nach dreiviertel der Zeit hast du die Sache vergessen. Leider verlierst du erneut einen wichtigen Handelspartner an die Kirn. Das Schlimmste daran ist, dass die Fahrzeuge, die man leichthin als Armeeschrott bezeichnet, hinsichtlich ihrer Tauglichkeit für die Minengesellschaften praktisch unübertrefflich sind. In Sachen Zuverlässigkeit, Haltbarkeit und Zweckmäßigkeit, können zivile Fahrzeughersteller einfach nicht mit der Armee mithalten. Die Neupreise sind natürlich astronomisch hoch und kein Farmer in Herlind könnte sich so ein Ding, wenn es frisch vom Band gelaufen kommt, leisten. Aber wenn die Heeresleitung sich erst einmal entschieden hat, eine Baureihe auszumustern, fügen diese robusten Fahrzeuge dem Markt ebenso drastische Schäden zu, wie sie es vorher mit ihren Kontrahenten auf den Schlachtfeldern getan haben. Du treibst dahin und suchst nach etwas am Horizont, aber der Winter hält dicht. Er lässt nicht zu, dass die Außenwelt dich erreicht. Doch es gibt Spione im Inneren. Technische Intelligenzen, die gegen den Alltag wirken. Geschäftig und unermüdlich triggern sie den Ablauf der Zeit. Schließlich informiert dich dein Pad – der wirksamste dieser leblosen Agenten – und läutet damit unwissentlich die Veränderung ein.

Zuerst empfindest du die Sache als lächerlich. Du fährst wie jeden Morgen in die Civic und versuchst wie immer, zu retten was zu retten ist. Trotz deiner ablehnenden Haltung bist du vorbereitet. Deine Geheimwaffe befindet sich in deinem Messenger Bag. Den ganzen Tag betäubst du deinen Verstand mit dem Schmerz deiner alltäglichen Sorgen. Aber sie spüren es. Während des Reports des Werkmeisters versucht er dein Gesicht zu lesen und versagt kläglich. Mehrfach verliert er den Faden und endet im Chaos. Du nickst und überlässt ihn seinen Ängsten. Letha Grün nickt nur und bringt dir einen neuen Kuv, nachdem du den ersten bei einer Temperatur hinunter gestürzt hast, die jeden anderen in die Notaufnahme des Mariannen-Lazarets befördert hätte. Selbst der hohlköpfige Pförtner Sepp (er heißt wirklich so und stammt aus der Frühzeit der Firmengründung) hebt seinen Blick, als ihr euch auf dem Weg zur Toilette, die er soeben repariert hat, begegnet. Würdest du es der restlichen Belegschaft erzählen, würde dir niemand glauben. Man geht allgemein davon aus, dass Sepp nicht einmal über die für solch eine Handlung notwendigen Muskeln und Sehnen verfügt. Sie spüren es. Etwas geschieht. Etwas verändert sich.

Wieder stehst du im Schnee. Die Zeit reicht nicht, um zur Wohnung oben bei der Fabrik zu gehen. Zum Glück hast du rein zufällig heute morgen deinen besten Anzug und festes Schuhwerk angezogen. In deinem Messenger lauern die Ecaibos aus feinstem Rindleder. Sie werden dich schützen. Nicht einmal im Büro hast du die Winterstiefeletten gegen diese Wunder der ecaibischen Schuhhandwerkskunst getauscht. 2.300 Credits inklusive Transfer und Abgaben haben sie dich gekostet. Es hat eine Zeit gegeben, da empfandest du Glück bei solchen Gedanken. Heute Abend abend leckt eine zarte Erinnerung an diesen Abschnitt deines Lebens an deinem Herzen. Trotzdem werden sie dich schützen. Diese Schuhe sind Schild und Schwert des Chefs. Sie wirken immer.

Du gehst mit einer Mischung aus Unsicherheit und Neugierde los und übertünchst deine Gefühle mit der Macht der Außenwirkung. Du bist der Boss. Herr Cargo-Pod-Handelshaus-Besitzer, Vorstandsmitglied der Herlinder Handelsgilde, Abteilung motorisierte Fahrzeuge, Geschäftsführer, Partner, Finanzier, Arbeitgeber, Ehrenmitglied des Bergschützenvereins zu Idelberg, Träger von 2.300-Credits-Schuhen von einem weit entfernten Planeten und treuer Sohn und Stammhalter einer altehrwürdigen, sehr sehr reichen Familie – nichts kann dich aus der Spur bringen. Nicht einmal die Tatsache, dass deine Schwester im Gegensatz zu dir tatsächlich Stammhalter in die Welt gesetzt hat. Aus der Spur bringen – wie auch? Dein Dasein kennt keine Spur.

Du gehst die Hauptstraße in Richtung Süden, kommst an dem Store vorüber in dem Frau Smitt, deine Haushälterin einkauft und siehst aus der Ferne das Verladeareal für die Viehtransporter. Die hiesige Monorail ist nicht stark genug für solche Gewichte. Die Tiere müssen über die Viehtriftstraße von den Farmen zur Rampe getrieben und hier in Roadtrains geladen werden. Zwar sind die abführenden Straßen alles andere als für die Breite und das Gewicht solcher Fahrzeuge ausgelegt und jedes Standardjahr brechen die Ränder in die Böschung herunter, wenn die riesigen Vollmaterialräder der Verladehänger über sie donnern, aber es gibt keine andere Möglichkeit. Vor langem dachte man über eine Umgehung nach, aber Geschäftsmänner in den Civics wie du lehnten eine Mitfinanzierung ab und überließen den Gemeinden diese Problematik und so verlief die Idee im Sand. Stattdessen repariert man dürftig in jedem Frühjahr die Straßenränder und kehrt Anfang des Winters die neu gebrochenen Krumen in die Entwässerungsgräben. Diese werden immer flacher und bieten schon seit langem den früher hier ansässigen Vögeln, Amphibien und Insekten keinen adäquaten Lebensraum mehr. 

Hier unten gibt es nur noch wenige Leuchten. Etwa eine alle fünfzig Meter. Wenn, wie jetzt, eine ausgefallen ist und eine weitere flackert, geht man durch eine Alptraumwelt verwahrloster Schuppen und nebelhafter Bewegungen. Überall lauern Geister. Die ganze Straße ist ein Friedhof verschwendeter Möglichkeiten. Nichts hier ist neu. Nichts außer dir. Und niemand braucht hier etwas Neues.

Du brauchst über zwanzig Minuten bis ans Ende der Straße und hast die Umgebung ganz anders in Erinnerung. Trotz der dicken Schuhe sind deine Füße eiskalt und dein Atem bildet dicke weiße Schlieren vor deinem Gesicht. Kommt der Nebel aus deinem Inneren? Erzeugst du den Winter in dieser Gegend? Auf einem der Schindeldächer bewegt sich etwas. Aus dem Augenwinkel glaubst du eine gedrungene Gestalt da oben zu sehen. Der Schemen zieht sich jedoch nicht in den abgebröckelten Schornstein zurück. Oder war es der Schornstein? Hat er sich bewegt? Oder war es dein schwindender Verstand, der all dies hier hervorruft. Du erzeugst nicht nur mit deiner kalten Lunge den Winter, du schaffst auch Alpträume. Du bist ein Gespenst in einer vom Schnee ersticken Geistercivic. Nichts lebt hier. Nicht einmal du. Dann endet die Straße und du bist gezwungen, in den hohen Schnee hinaus zu stapfen. In der fahlen Dunkelheit unterscheidet sich der unberührte Schnee gerade so sichtbar vom Horizont der Nacht. Geht die Straße in einem Links- oder Rechtsbogen über den Hügel? Du versuchst etwas zu erkennen, aber die Mauer der schwarzen Wälder in der Entfernung umgibt die ganze Gemeinde und bietet deinen Augen keinen Anhaltspunkt. 

 Jedes Kind weiß, dass Dämonen stets die linke Gabelung des Weges wählen, auch wenn dem Wissen eine gewisse Macht über sie innewohnt. Doch wo hausen diese Schatten? Im Reich der dunklen Wälder. Wenn die Straße also in einem Bogen in den Wald führt, dann gehen die Dämonen von dort aus in einem linken Bogen auf Seelenfang ins Land der Sterblichen. Klug machst du den ersten Schritt nach rechts, du bist auf dem Weg heraus, nicht hinein. Um dich herum herrscht das weiße Nichts. Schritt um Schritt entfernst du dich immer weiter von der Realität. Hinter dir verblassen die letzten Lichter. Nicht einmal die roten pulsierenden Schutzleuchten für Aeros der auf der anderen Seite der Gemeinde liegenden Papierfabrik sind jetzt noch sichtbar. Die letzten Häuser werden zu verwinkelten schwarzen Pyramiden in einem Reich der Finsternis. Vor dir liegt eine grau-weiße Welt aus Schnee und der Verheißung der ewigen Verdammnis in den Wäldern. So gehst du voran, ohne die geringste Idee eines vorgegeben Weges. Ein Rechtsbogen muss es sein, der rechte Weg wird dich durch die Kälte führen. Dann erahnst du endlich ein winziges rotes Glimmen in der nebelverhangenen Nacht. Halb erfroren kämpfst du dich darauf zu, wie ein Schiffbrüchiger, der das leuchtende Augen eines Seeungeheuers für ein rettendes Eiland hält. Dein Seeungeheuer entpuppt sich jedoch allmählich zu einer kleinen Laterne an einem abgewinkelten Pfahl auf der höchsten Stelle des Hügels, den du, ohne es zu bemerken, erklommen hast. Zitternd begutachtest du das Konstrukt. Dann dämmert dir, was du gefunden hast. Es ist der alte Galgen, den man mittels, wenn auch billiger, aber dennoch autoenergetischer Zeitschaltlampe, zu einer einzelnen Laterne in der Welt der Schatten umfunktioniert hat. Ein Ding von Menschenhand, einst dazu geschaffen, das Licht von Übeltätern auszulöschen, weist nun einem von ihnen den Weg entlang der Galgenstraße. Ein grimmiges Lächeln verzieht deine zweifellos blauen Lippen und lässt schmerzhaft deren Haut aufplatzen. Deine Zunge ertastet im Mundwinkel kupferne Feuchtigkeit. Endlich gehst du weiter und lässt den Ereignishorizont hinter dir.

Zeitlos wanderst du durch die Kälte der trostlosen Eislandschaft und fragst dich, wo die gefrorenen Leichen vorangegangener Besucher von Frau Northrod liegen mögen. Sicher befinden sie sich neben der Straße unter einer dicken Schicht aus Schnee und Eis, darauf wartend, vom Frühling befreit und zu duftender Schönheit erweckt zu werden. Ob sie jemand vermisst? Dich wird man vermissen. Nicht so wie den Vater, der auf dem Schlachtfeld eines Sternenkrieges von einer Ionenexplosion verdampft wird. Oder wie die Mutter, die im Kindsbett ihre Seele fahren lässt und den liebenden Mann mit einem letzten Hauch ihrer Stimme beauftragt, das Kind mit Erinnerungen zu füttern. Sie würden deiner wegen der wegfallenden Credits und der unsicheren, vagen Zukunft, die der Verlust deiner Person verheißt, gedenken. Dann würden sie dir ein leeres Grab widmen, die Erbfolge regeln, alles verlieren und dich endlich vergessen. Vergessenheit ist sicher ein Trost. Aber nicht für dich. Du suchst nach Größerem. 

Das Haus ist selbst in der Dunkelheit der frühen Nacht ein Kuriosum. Seine Basis ist viel zu klein und wirkt mit dem zu hohen und spitzen Dach mehr wie der Sockel eines Turmes, denn wie das Erdgeschoss eines Wohnhauses. Besagtes Dach besteht aus wenigstens drei Flächen, deren Winkel zueinander du in der Finsternis nicht zu erfassen vermagst. Gedeckt ist es mit riesigen schuppenartigen Schindeln, die noch schwärzer als ihre lichtlose Umgebung glänzen. Auf der dir zugewandten Seite des Hauses gibt es fünf Fenster in unregelmäßiger Anordnung und eine Tür, bei der du dich wunderst, dass sie sich auf Erdniveau befindet. Nicht das kleinste Licht zeugt von einer eventuellen Bewohntheit dieses Etablissements, doch dafür erwartest du jeden Moment, dass es sich auf seine Drachenbeine erhebt, seine fledermausartigen Hautflügel ausbreitet und sich vor deinen Augen, schwarzen Rauch ausatmend, in die eiskalten Lüfte erhebt, um in die schrecklichen Wälder zurückzukehren, aus denen es zweifellos einst gekommen war.

Als du den abgeschmackten Türklopfer in Form einer Schlange anhebst, öffnet sich die Tür unvermittelt und du blickst in das fahle cyklopische Auge eines veralteten Protokolldroiden. Dieses Modell ist dir fremd. Die Oberfläche seiner Hülle ist verrostet, was ungewöhnlich genug ist, denn du kennst keine Kultur, die Droiden aus nichtrostfreien Legierungen baut. Das wäre so, als schüfe man das endlose Leben in einer nach kurzer Zeit verwelkenden Hülle. Unter dem Rost erkennst du eine pastellblaue Färbung mit roten Applikationen. Am ehesten shivaitisch, denkst du und kämpfst mit dem Kältetod. Deine zitternden Knie drohen nachzugeben, doch in diesem Moment macht der Blechmann einen Schritt zur Seite und seine Hand vollführt eine universelle Geste, die dir den Eintritt gestattet.

Beim Betreten der Stube bringst du Schnee und Kälte mit dir, doch der Droide bleibt ungerührt. Er wartet, bis genug Platz entstanden ist und schließt hinter dir die Tür. Eine seltsam intensive Wärme und der Geruch nach karamellisiertem Zucker, Zimt und Gewürzen, deren Namen du nicht kennst und etwas kosmisch altem, Modrigem dringen in dein Bewusstsein und holen deine Seele zu dir ins Haus. Du hattest gar nicht bemerkt, dass sie schüchtern draußen vor der Tür geblieben war. Jetzt hast du sie wieder. Schade, ohne sie fühlte sich das Hier und Jetzt irgendwie leichter und bei weitem weniger grotesk an. Hustend schälst du dich aus der im Nachhinein viel zu dünnen Jacke und überlässt sie den dreifingrigen Spinnenhänden des Droiden. Er lässt sie in einem hohen, viel zu schmal wirkenden Schrank verschwinden. Jetzt nimmst du den Raum bildlich und nicht nur seine übermächtige Geruchswelt wahr. Er ist klein, eng und mit altmodischen Polstermöbeln vollgestopft. Wer braucht im Eingangsbereich seines Hauses zwei sich gegenüberstehende gepolsterte Chaiselongues? Wären sie besetzt, müssten Personen, die zwischen den Sitzenden hindurchgehen wollen, deren Knien ausweichen. Hinzu kommen auf beiden Seiten je zwei der schmalen Schränke, von denen sich einer als Standuhr entpuppt. Regale mit Zinnkrügen und viel zu eng nebeneinander hängenden Portraitgemälden realistischer und daher eher unattraktiver Personen des Landlebens, nehmen dem Zimmer jeglichen Raum zum Atmen. Das Ganze wirkt sehr alt und nur unzureichend gepflegt. In einer der hoch gelegenen Zimmerdecken befindet sich ein schwarzes Gespinst, welches unmöglich von einer herkömmlichen Spinne stammen kann. Viele Standardjahre später wirst du in der Ermangelung besserer Handlungsmöglichkeiten versuchen, die Farben innerhalb des Hauses zu rekapitulieren, doch außer der Hülle des Droiden und den Augen seiner Besitzerin wirst du nichts zustande bringen.

Von langer Hand geplant entledigst du dich deiner Stiefel und schiebst sie unter eine der Sitzgelegenheiten. Aus deiner Umhängetasche holst du die Ecaibos und steigst mit klammen Füßen hinein. Leider hat die Wanderung durch die Eiswelt und die unerwartete Groteske des Hauses die Wirkung dieser Maßnahme ein wenig getrübt. Der Droide wartet in höflicher Distanz, welche der physikalischen Möglichkeiten des Zimmers geschuldet eher gering ist. Schließlich bist du bereit und er sagt mit teilnahmsloser Modulation, dass die Mistress dich erwarte. Dem Schuhtausch misst er keine Bedeutung bei. Dafür öffnet er die Verbindungstür zum nächsten Raum und führt dich durch ein winziges Treppenhaus, in dem sich zwei irrwitzig schmale Wendeltreppen befinden. Die eine führt nach oben, der über vier Meter entfernten Decke entgegen, die andere verliert sich in der unabgedeckten Schwärze eines Loches im Boden. Zweifellos handelt es sich dabei um einen Zugang zum Skrotum des Drachenleibes. Auch hier sind die Wände dicht mit verblassten Bildern behängt. Offenbar zeigen alle Gemälde einer Wand Landschaften im Frühjahr, die der nächsten die selben Blickwinkel im Sommer und so weiter. Manche der Bilder, beziehungsweise der dargestellten Orte, kommen dir auf eine beunruhigende Weise bekannt vor; aber wieder wirken sie infantil und verkehrt in ihrer Ausführung. Es gibt nur eine weitere Tür zwischen den Kindertreppen, in deren oberen Bereich ein rautenförmiges Fenster aus dunklem, bernsteinfarbenem Buntglas prangt. Der Raum dahinter scheint sich flackernder Beleuchtung zu erfreuen. Erst jetzt fällt dir auf, dass dieses Fenster neben dem glimmenden Sensor des Droiden die einzige Lichtquelle innerhalb des Hauses zu sein scheint. Mit einem reibenden Geräusch, das dir eine Ahnung von rieselndem Rost vermittelt, öffnet der Droide auch diese letzte Warnung und lässt dich ein. Endlich betrittst du das Reich von Frau Northrod und du wirst schon sehen, was es dir bringt.

Der Salon ist den Maßen der Außenwände entsprechend ebenfalls alles andere als geräumig. Und auch hier wurde keinesfalls an Möbeln gespart. Ein Paravent trennt die Fläche zu allem Überfluss in den minimal größeren Bereich, in dem du dich befindest und in eine düstere Ecke, deren Zweck sich dir entzieht. Ein runder Holztisch, in dessen Mitte ein unordentlich zerknittertes schwarzes Tuch liegt, verhindert alleine schon jede schnellere Bewegung im Zimmer. Hinzu kommen zwei gewichtige Stühle mit breiten lederbezogenen Lehnen, eine Truhe, ein Schränkchen auf dem ein hässliches ausgestopftes Tier ruht, ein weiterer schmaler Schrank (größere Schränke fänden hier keinen Platz) und ein weiteres Sofa, welches wie die Stühle, mit abgesetztem speckigen Leder bezogen, wie ein totes Urzeitwesen an einer der Wände kauert. Letztere sind wieder mit zahllosen, aber eher kleinen Bildern und mehreren ausgestopften Vögeln behangen. Das Ganze erzeugt eine ungute Balance zwischen klaustrophobischer Enge und unzumutbaren Geschmacksverirrungen. Die Krönung dieser Darstellung ist aber keinesfalls das ausgestopfte schuppige Tier, welches von der hohen Decke hängt oder der glühend heiße gusseiserne Ofen in Form eines dicken sitzenden Drachens, sondern die schmale Frau, die auf dem dir gegenüber stehenden Sessel ruht. Seltsam ist hierbei keineswegs ihr Aussehen oder sonst etwas an ihrer Person, als vielmehr das Wiedererkennen, welches sich sofort bei dir einstellt, als du ihrer ansichtig wirst. Sie trägt nun ebenfalls ein grünes, enges Kleid, welches jedoch minimal weniger förmlich wirkt als jenes, das sie damals in der Backstube anhatte. Der Verzicht auf das Tragen ihres Hutes lässt dich nun ihr Gesicht in all seiner Härte und Besonderheit wahrnehmen. Es ist schmal und von uneinschätzbarem Alter gezeichnet und wird nicht von den sehr hohen Wangenknochen oder den kaum vorhandenen hauchdünnen Augenbrauen, sondern von den zwischen diesen beiden Attributen lauernden, tief hellgrünen Schlangenaugen beherrscht. Tot fixieren sie deinen Leib in stiller Übereinkunft mit deiner aussichtslosen Situation. Klar zeichnet sich deine unmittelbare Zukunft ab. Sie wird dich in Kürze erwürgen und mit Haut und Haar verschlingen. Dieses Gesicht, die merkwürdig trocken und bleich wirkende Haut, die dick mit Lippenstift übermalten blutlosen Lippen und vor allem ihre steife und bis auf den minimal gekrümmten Rücken musterhafte Haltung, machen dieses Wesen zu einem Paradebeispiel einer menschlichen Fassade. Du musst es wissen, du gehörst zu ihrem Schlag.

Wie alt sie sein mag, fragst du dich zum wiederholten Mal, während sie sich mit einer eleganten Bewegung, die ihr Hauskleid zum Rascheln bringt, erhebt. Ist das überhaupt ein Kleid, oder ist es nicht vielmehr ihre getarnte Schuppenhaut?

Du stellst dich in Geschäftsmanier vor und machst eine für dich ungewohnte Verbeugung. Danach erfüllt dein ganzes Repertoire der gehobenen Klasse den seltsam engen Raum. Du entzündest ein Feuerwerk des weltgewandten Lebemannes und wartest auf die entsprechende Anerkennung in ihrem Gesicht. Doch ihr Himmel bleibt schwarz, wie der Kajal um ihre unergründlichen Augen. Anstatt ihrer Stellung als Dienstleisterin gebührend zu entsprechen oder wenigstens deine Schuhe wahrzunehmen, macht sie dir mit einer einzigen schnellen Bewegung ihrer linken Hand klar, dass ihre Zeit knapp bemessen ist und du dich setzen sollst. Im selben Moment sitzt du. Der Impuls kam nicht aus dir heraus und deine natürlichen Instinkte schrillen dir Warnrufe entgegen, doch das Kaputte in dir erschauert dabei wohlig. Im selben Moment wird dir klar, dass du hier richtig bist. Kaum hat sie ihre schmale Hand mit den schwarzen langen, wahrscheinlich falschen Nägeln auf die Tischplatte abgelegt, sprudeln die Worte aus dir hervor. Es macht die Runde in der Gemeinde, sie könne praktisch jeden Wunsch erfüllen und du musst wissen, was solch ein Dienst kosten soll. Ein Lächeln stiehlt sich auf ihre Raucherlippen und zum ersten Mal hast du ihr echtes Interesse geweckt. Ohne zu ahnen, welches Verlangen genau dich verzehrt, hat sie dich als ›ich-bezahle-jeden-Preis-Kunden‹ erkannt.

»Wahrsagerei, je nach Richtung und Distanz 460 bis 700 Credits pro Sitzung, Totrednerei verbal zwischen 600 und 900 Credits. Sollen anderweitige Wahrnehmungen hinzukommen oder gar Ectoplasma sichtbar gemacht werden, fängt die Seance bei 1.200 Credits an. Wünsche sind, ihren Inhalten gemäß, Verhandlungssache«, legt sie los.

Du stuzt. Das ist fast, als würdest du dir beim Verkauf eines Cargo Pods zuhören. Profan, geschäftstüchtig, aber eben profan. War das ein Scherz? Der Impuls aufzustehen und diesen Ort des schlechten Geschmacks zu verlassen, ist geradezu übermächtig, aber irgendetwas, in dir – oder ist es außerhalb von dir? – zwingt dich auf deinen Platz. Ohne dass du etwas erwiderst, nickt sie genervt. Wieder siehst du dich selbst. Sie wollen einen Beweis. Der Cargo Pod kann noch so exakt beworben sein, alle Kunden können noch so zufrieden über seine Vorzüge reden, die werden immer dennoch einen Beweis wollen. Eine Sekunde versuchst du den Zusammenhang von dir zu schieben, aber in deinem Gehirn knackt es seltsam und du kommst nicht umhin, ihrem Blick recht zu geben. 

»Denken sie an etwas!« sagt sie mit einer Mischung aus strengem Befehlston und ergebener Zustimmung.

Du willst protestieren, gehorchst aber. Langsam streckt sie die Hand nach dem Tuch in der Mitte des Tisches aus und nimmt es in ihre Krallen. Darunter kommt ein in das Holz geschnitztes Kleeblatt aus drei, sich im Dreieck gegenüberliegenden Dreien zum Vorschein. Drei, die Zahl des Todes. Eine Sekunde verharren deine Augen auf der groben Schnitzerei, dann blickst du auf und siehst gerade noch, wie dein Gegenüber das Tuch mit den spitzen Fingernägeln der anderen Hand aus der ersten zieht. Auf ihrer Handfläche bleibt ein kleiner runder Gegenstand zurück. Sie sagt mit einer krankhaft wirkenden Selbstverliebtheit in der Stimme: »Gehört das Ihnen?«

Alles in dir zieht sich zusammen. Sie haben dich zum Narren gehalten, dir den sprichwörtlichen Bären aufgebunden und das Beste, jemand deiner eigenen Belegschaft hat die ganze Nummer initiiert. Wahrscheinlich die Grün. Die blöde Schlampe, du hättest es wissen müssen. Sie tändelt doch schon immer mit ihrem Hokuspokus um alle herum. Wahrscheinlich ist sie die Cousine der scheiß Drachenlady, für deren Humbug du durch den Nordpol gewandert bist. Immer schneller kocht dein Blut auf und erzeugt den unermesslichen Druck, der in Schmerz, Chaos und urwüchsiger Gewalt auszubrechen droht. Doch ehe dies geschieht, legt sie die kleine rote Murmel auf die Tischplatte zurück. Der Glasglobus rollt träge auf dem unebenen Holz herum, wird von der Schwerkraft eingefangen und entdeckt sein Ziel. Langsam nimmt sie etwas Fahrt auf und kullert schließlich in die dir am nächsten gelegene Drei. Diese Vertiefung ist ihr Ruheplatz. Von hier aus starrt sie dich an. Wie ein winziges, zu Glas geronnenes Drachenauge in einem vertrockneten, gewundenen Flussbett, liegt sie nun ruhig vor dir. Alles liegt vor dir.

In Erwartung deines Ausbruches starrt das Wesen auf der anderen Seite des Tisches dich an. Den Bruchteil einer Sekunde siehst du ihre Eckzähne aufblitzen, dann schluckst du und schmeckst Blut. Als du wieder aufblickst, suchst du immer noch nach einer Ähnlichkeit zwischen Frau Northrod und Letha Grün, aber keine Frau, die du kennst, erinnert dich nur im Geringsten an die Hexe. Und ja, es gibt keinen anderen Begriff, der aus deiner Sicht noch passender für die Frau in dem Stuhl die gegenüber wäre. Du hast keine Antwort auf das hier, aber ihr Griff in dein Herz lässt nach und die Wut ist so gebrochen wie dein Widerstand. Hätte sie dir etwas zu trinken angeboten, würdest du davon ausgehen, vergiftet worden zu sein. Du wurdest vergiftet. Diese Frau benötigt dazu nur keine Hilfsmittel wie Dornreich oder Schwarzfeder. Ihr Blick, ihre Stimme, ihre Ausdünstungen haben deine Adern mit Gift vollgepumpt und dir jede Chance auf Gegenwehr genommen. Du bist ein Werwolf in einem Käfig aus Silberstäben. Langsam, gehorsam streckst du die Hand nach der Kugel aus. Fast erwartest du, dass sie vor dir zurückweicht, aber du nimmst sie in die Hand und ballst letztere zur Faust. Was spielt es für eine Rolle? Selbst wenn Letha etwas mit deinem Hiersein zu tun hätte, wenn der versoffene Farmer ein Gehilfe und das Treffen in der Bar eine Overture hierzu gewesen wäre, was würde das an ihr ändern? Sie, diese grünäugige Schlange, würde trotzdem mit ihren Klauen in deinen Brustkorb greifen und dein Herz zerdrücken.

»Ich will die Stelle eines Gegenstandes einnehmen. Es soll nicht irgendeiner sein. Es soll etwas Schmutziges sein. Auf einer Farm oder so, ein Gebrauchsgegenstand. Am besten irgendetwas, das mit Gülle und Dreck zu tun hat …«

Sie sieht dich mit einer Mischung aus diffusem Unglauben und Amüsement an. Ihre Lippen kräuseln sich mädchenhaft und lassen sie plötzlich wirklich jung aussehen. Ihre Augen kleben an deinen und dann sagt sie: »Nein, im Ernst, wir haben nicht den ganzen Abend Zeit. Nach Ihnen kommen noch zwei weitere Klienten. Bitte sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann.«

Ihre Reaktion macht alles noch grotesker. Sie ist so normal. Kaum jemand auf der Welt hätte anders reagieren können, als deinen Spruch als Scherz aufzufassen. Und jetzt sieht sie dich auch noch aufmunternd an. Irgend etwas klickt in dir. Im selben Moment, in dem du Hoffnung schöpfst, zerbricht irgendwo deine Welt. Die Quantenideologie lässt aber keine Raumzeitüberschneidungen ungestraft zu. Sonnen dehnen sich zur Unendlichkeit aus, verbrennen alles und jeden und werden zu Schwarzen Löchern, in denen nur noch negative Energie und Geister existieren. Es klickt erneut und du spürst die Murmel in deiner Faust. Du kannst dich nicht erinnern, sie aufgenommen zu haben, aber sie ist da. Dein Handballen schmerzt, wo sich die kleine Rundung in das Fleisch drückt. Ohne zu atmen sagst du deinen Wunsch erneut auf. Es fällt dir nicht schwer und nicht leicht. Ganz anders als früher, als deine Großeltern dich die Geschenke erst dann öffnen ließen, nachdem du ein Gedicht aufgesagt hast, kannst du dich heute an jede Silbe des Gesagten erinnern. Sie sind dir in die Seele und diesem schrecklichen Ort in die Grundmauern gebrannt. Dann holst du Luft. Du hättest es bleiben lassen können, aber immer noch treibt dich dein unpassender Selbsterhaltungstrieb zu solchen Scherzen. Du atmest und ihr blickt euch an. Zuerst ganz ruhig, wie zwei Menschen, die gerade noch einmal aus einem Cargo Pod gesprungen sind, bevor dieser einen Abhang herunterfallen konnte. Ihr habt aufgeschlagene Knie und blutige Handflächen, aber eure Herzen schlagen und ihr lebt. Dann sagst du es zum dritten Mal. Ruhig und in deinem geschäftsmäßigsten Ton. Du rollst die Kugel in der Hand hin und her. Das gibt dir die Kraft, um sie herausfordernd anzusehen.

Sie überlegt noch einen Moment, braucht ebenfalls etwas Zeit wegen der Quantensache, aber ihr Haus steht mit einer Hälfte im Zwischenreich und so fängt sie sich. Kurzerhand aktiviert sie das unter der Tischplatte eingelassene Pad und lässt sich ihren Planer auf das Holz projezieren. Mit dem Finger wischt sie eine Seite weiter und  tippt dann einen Tag an. Sie blickt auf, ich gebe stumm mit einem knappen Nicken mein Einverständnis. Dann sagt sie mit dem erleichterten Timbre der Überlebenden in der Stimme: »Das macht 13.900 Credits auf Plex. Die Anzahlung von Neunhundert können sie mit meinem Assistenten per Pad zu Pad begleichen.«

Du fragst dich, wie oft sie mit Menschen wie dir zu tun hat. Hat sie aus Angst zugesagt? Es ist fraglich, welchen Ausgang dieses Intermezzo hätte noch nehmen können. Zweifellos bist du mittlerweile zu allem fähig. Wenn nichts anderes, dann zumindest dies hat dir der heutige Abend bewiesen. Aber sie ist ganz ruhig. Es ist als hättest du nur darum gebeten, mit deiner toten Mutter sprechen zu dürfen. Sicher seltsam genug, aber garantiert nicht mit der Istsituation zu vergleichen. Aber gut, lassen wir es auf uns zukommen. Du erhebst dich und willst noch etwas sagen, aber sie hebt die Hand und berührt mit einem warmherzigen Gesichtsausdruck ihre vom Rauchen gezeichneten Lippen. Du gehst.

Im Treppenhaus erwartet dich der Rostmann. Ohne ein Wort nimmt er neunhundert Credits auf einem Pad mit abgeplatzen Ecken entgegen. Dann führt er dich ins Vorzimmer zu deinen Winterschuhen. Auf dem linken Chaiselongue sitzt eine ältere Frau, ihr gegenüber ein Mann um die Dreißig. Erstaunt nimmst du zur Kenntnis, dass sie das mit den weiteren Klienten ernst gemeint hat. Der auf dich energisch wirkende Mann blickt nicht auf, aber die Frau sieht dich mit einem verkniffenen und gleichzeitig todtraurigen Gesichtsausdruck an. Du murmelst leise eine Verabschiedungsfloskel und verlässt mit den Ecaibos in der Hand das Haus. Draußen hat sich nichts verändert, außer, dass hier nun ein alter Carg Pod steht. Natürlich sind die beiden nicht zu Fuß hier heraus gekommen. Mit jetzt schon wieder halb erfrorenen Fingern beförderst du die Schuhe in deine Tasche und verfluchst dich. Einmal hättest du einen der Pods aus dem Werk nehmen können. Aber nein, du fährst nicht. Andere fahren, du nicht.

Die nächsten neun Tage vergehen wie in Trance. Du nimmt nicht wirklich wahr was geschieht, aber du funktionierst. Es müssen wichtige Treffen stattgefunden haben, es wurden Verträge aktiviert, Buchungen getätigt, über das Leid und Wohl von Mitmenschen entschieden und Urlaube bewilligt. Daran erinnerst du dich, als du an diesem sonnigen Morgen das Haus verlässt. Letha ist heute ebenfalls nicht in der Firma. Das erste Mal seit du übernommen hast, habt ihr gemeinsam frei. Sonst würdest du dies niemals zulassen und ihr erstauntes Gesicht, als sie hörte, dass du ihr nicht nur freigeben, sondern selbst auch ausbleiben würdest, war Balsam für deine Seele. Es war das, was hätte besser sein können. Dieses freundliche, erfreute Gesicht war eine schmale Landzunge, die zu dieser unerreichbaren Insel der Normalität führte. Sie wollte ablehnen. Nein, nein, sie hatte ja nicht wissen können, dass der Boss diesen Tag braucht. Selbstverständlich kommt sie. Nein. Alles ist gut. Sie soll ihren Tag genießen. Sie zögert, macht sich Sorgen, aber dann sieht sie, dass die Schlacht längst verloren ist. Jeder muss sich selbst retten. Dein Lächeln drückt ihr auf das Herz. Sie nickt nur und weiß, nichts ist gut.

Im Gegensatz zu den letzten beiden Phasen ist das Wetter angenehm. Es ist spät für deine Verhältnisse. Die Sonne scheint dir ins Gesicht und trocknet dir zusammen mit der eiskalten Luft die Lippen aus, bis sie spannen. Der Himmel ist ganz klar. Keine einzige Wolke verdunkelt den Horizont und du kannst von der Straße aus bis zur Monorail-Brücke über das Tal hinaus sehen. Festen Schrittes gehst du los. Auf der Auffahrt zu deiner Wohnung begegnest du Frau Smitt. Sie ist mit drei Einkaufstaschen und einem zusätzlichen Rucksack beladen. Du zögerst und überlegst, ob du ihr Hilfe anbieten sollst, aber dann schaffst du es nicht mehr rechtzeitig zu deinem Appointment. Den ganzen Morgen hast du schon nach Ausflüchten gesucht. Die Haushälterin wäre der erste sinnvolle Grund für eine Verspätung, aber das geht natürlich nicht. Du tippst entschuldigend mit dem Finger auf dein Armbandpad, um ihr anzuzeigen, dass du es eilig hast und ihr nur darum nicht ihre schwere Last abnehmen kannst. Sie nickt nur ein stilles ›Grüß den Vater‹, schnauft und stampft weiter die Einfahrt hinauf. Du lässt sie und den Rest der Welt hinter dir.

Im Gegensatz zu neulich Abend ist dir der Weg heute leichter. Es ist zwar fast ebenso kalt, aber die Luft ist so klar und trocken, dass du ohne Probleme atmen kannst. Außerdem hast du vorsorglich zwei Paar Socken und erneut die dicken Winterschuhe angezogen. Du bist bereit. Auf der Viehtrift ist wenig Verkehr. Ein Farmer kommt dir mit einem Cargo Speeder entgegen. Auf der Ladefläche stapeln sich mehrere Rollen von Rautendraht. Einen guten Tag ausgesucht für Arbeiten an den Zäunen, denkst du und drückst dich an den Straßenrand, damit er an dir vorbei gleiten kann. Er grüßt und reibt sich dabei den Kälterotz von der Nasenspitze. Seine Wangen sind rot und von blauen Adern durchzogen – Eisluft und Alkohol haben sein Gesicht bunt angemalt. Ansonsten begegnet dir nur noch ein Jäger mit seinen beiden Bluthunden. Der junge Mann erinnert dich mit seinem Schneid an jemanden, aber die Uniform lenkt deine Gedanken ab und als einer der Hunde an deinem Hosenbein schnüffelt, stutzt der Kerl das Tier derart zurecht, dass du dich an deinen Umgang mit der Firmenbelegschaft erinnert siehst. Mit gesenktem Kopf gehst du weiter. Dein Ziel ist einer der Höfe. Sie wartet dort auf dich. Und tatsächlich, gerade als das Wetter beginnt umzuschlagen, als im Nordosten die ersten grauen Wolken sichtbar werden und feiner Schneeregen einsetzt, siehst du sie aus einem Cargo Pod aussteigen. Ihren Droiden hat sie ebenfalls mitgebracht. Er hält ihre Hand, bis sie sicher auf dem erdigen Grund der unbefestigten Straße steht. Anstelle des Hauskleides trägt sie wie damals, als du sie das erste Mal gesehen hast, ein enges, elegantes Kleid; diesmal in schwarz und anthrazit; darüber hat sie einen Ledermantel mit schwarzen Fell- und Gefiederapplikationen gelegt. Auch der Hut ist anders. Der heute erinnert mehr an die Pelzkappe einer Kirn in den Bergen Galbas. Eine Sonnenbrille rundet ihr schräges Outfit ab. Sie hebt gelangweilt ihre in Lederhandschuhen mit Fellbesatz steckende Hand und winkt dich, als du nicht reagierst, ungeduldig zu sich heran. Ohne weiteren Gruß beschreibt ihre Hand einen Bogen über den Hof. Ein Hund bellt in seinem Zwinger. Der Farmer fährt gerade mit seinem Cargo Crawler auf das Feld hinaus. Auf der anderen Seite des Geländes ist eine Koppel, in der ein Mädchen gerade ein Pferd sattelt. Ob es weitere Personen gibt, weißt du nicht, aber hier, bei der Scheune, sieht euch niemand. 

Du schaust dich genauer auf dem Hof um, nimmst all die Einzelheiten in dich auf, die vielen alltäglichen Dinge, die nichts von denen Seelenschmerzen wissen, weil sie unbeseelt schmutzig und rein zugleich sind. Und über allem das sich verändernde Wetter. Es ist, als hätten die Götter beschlossen, hier eine Art Höhepunkt zu inszenieren. Einen Abschluss in einem infernalen Drama. Der Himmel über dir färbt sich mit jeder Minute dunkler. Lautlos sagst du wieder und wieder zu dir: ›Ich wünschte, ich könnte mit einem dieser Dinge einfach für eine Zeit lang Platz und Aufgabe tauschen, eine Zeit lang ein leichtes Leben, ohne den Druck von Gut und Böse führen.‹ Der Wind rauscht durch deine Haare. Der Norden droht nun mit einem Gewitter. Um diese Jahreszeit kann der Wind binnen weniger Minuten Schnee aus den Bergen herunter bringen. Wieder siehst du zu der Scheune hinüber. Nichts regt sich. Was hat dich nur bewogen hierher zu kommen?

Dann wendest du dich der Hexe zu. Der Droide steckt dir eine seiner Hände entgegen. Der Impuls nachzuhaken drängt in dir an die Oberfläche, aber für Fragen ist es zu spät. Du greifst in die Tasche deines Mantels und beförderst ein bernsteinfarbenes Plex hervor. Es lag in der Dunkelheit des Stoffes direkt neben der roten Glaskugel. Du überreichst die restliche Bezahlung und der Droide wendet sich ab und geht zur Straße zurück, wo der Cargo Pod auf ihn und seine Herrin wartet. Sie steht mit dem Rücken zu dir. Jetzt berührt sie wie eine Künstlerin, die auf eine Eingebung hofft, ihre Stirn. Dann macht sie eine drehende Bewegung mit der Hand, als wolle sie sagen, los los, jetzt sagen Sie schon, was Sie auf dem Herzen haben. Du hebst die Schultern und lässt sie wieder sinken. Was soll das werden? Der Schnee verwandelt den Erboden in kalten Morast. Dann sagst du es erneut, höflich und seltsam feierlich: »Also, ich würde mich freuen, wenn sie meinen Wunsch erfüllen würden.«

Sie wendet sich dir zu und antwortet gegen den stärker werdenden Wind »Ich befürchte, wir haben sehr unterschiedliche Vorstellungen von diesen Dingen.«

Du musst jetzt laut sprechen, um die Elemente zu übertönen: »Ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt. Können sie den Wunsch erfüllen? Können sie den Zauber jetzt einfach machen und meinen Wunsch Wort für Wort erfüllen?« Tränen laufen dir über die Wangen und Schneeflocken vermischen sich mit dem Rotz, der aus deiner Nase läuft. »Sehen Sie, ich würde wirklich, wirklich sehr gerne den Platz und die Aufgaben mit einem der Gegenstände hier tauschen und mein beschissenes Leben hinter mir lassen!« Du sprichst mit Nachdruck und deine Verzweiflung wird auf deinem Gesicht zu einem hysterischen Grinsen.

Sie nimmt mit einer genervten Geste die Sonnenbrille ab und rollt mit den Augen, weil sie dich ganz eindeutig obskur findet, aber auch sie muss ihre Brötchen verdienen, also ruft sie über den Wind hinweg: »Egal welcher Gegenstand?«

Du zuckst wieder mit den Schultern und fragst: »Was würde gehen, ich meine, was genau würde das Ganze für mich bedeuten?«

Du blickst zu dem Mädchen mit dem Pferd hinüber. Sie hat es sich anders überlegt und ist gerade dabei, den Sattel wieder herunter zu nehmen. Wäre der Sattel eine Option? »Egal, scheiß egal, Hauptsache raus aus mein Leben, so schlimm kann es ja kaum werden oder?«

Die vermeintliche Hexe reibt sich mit ihrer behandschuhten Hand die schmale Nasenwurzel. Dann schüttelt sie den Kopf und nickt zu der Scheune hinüber. »Einerlei, würde es die Schubkarre da tun?«

Du lachst, als du antwortest: »Na, wenn schon, denn schon. Ich will etwas Echtes, etwas, das mich wirklich aus meinem Dasein herausreißt. Etwas, das mich wachrüttelt, etwas Gemeines, das mit diesem Leben hier, mit Dreck, Jauche und Gülle zu tun hat.« Du machst eine Pause und siehst ihr mit all deiner Verzweiflung und deinem Wahn ins Gesicht, als du hinzufügst: »Was wäre denn etwas wirklich Außergewöhnliches? Eine Schubkarre, ich weiß nicht.«

Sie macht einen Schritt auf dich zu, blickt dir in die Augen und du kannst ihren aufkommenden Zorn in den Pupillen erkennen. Dann zischt sie laut gegen den Wind an: »Mann, suchen Sie sich einfach etwas aus und dann sehen wir was daraus wird. Gülle wird dann ganz sicher ihr kleinstes Problem sein.«

Ergeben lässt du die Schultern sinken. Kaum hörbar murmelst du: »Überrasche mich Hexe!«

Ihre Gesichtszüge werden noch härter und ein böses Lächeln umspielt ihre schmalen Lippen. Dann befördert sie einen kleinen Parfümflakon aus ihrer Manteltasche. Immer mehr Schnee fällt vom Himmel, aber das scheint ihr egal zu sein. Sie ist konzentriert und ihre Augen kleben an dir, als wäre sie tatsächlich eine Schlange und ihre Aufgabe wäre es, dich in ein Kaninchen zu verwandeln. Mit spitzen Fingernägeln spielt sie mit der winzige Flasche und hält sie dir schließlich vor das vor Kälte steife Gesicht. Heiser murmelt sie: »Trink das! Dann zähle laut von neun herunter bis auf drei!«

Du nimmst den Flakon, öffnest den Verschluss und blinzelst gegen den Schnee an. Dann legst du die Öffnung an deine Lippen. Der Geruch von Nelkenöl sticht dir scharf in die Nebenhöhlen. Du fühlst die ölige Substanz auf deiner Zunge. Es ist nur ganz wenig, ein einziger Tropfen und du hast Angst, etwas verschüttet, verloren zu haben. Deine Gesichtshaut ist kalt und heiß. Verzweifelt versuchst du, die Wirkung des Giftes zu erahnen. Laudanum ist es nicht. Da passiert nichts. Dann fällt dir der Rest ein. Vorsichtig öffnest du den Mund und zählst: »Neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, z…« Erschrocken bremst du dich. Beinahe hättest du weiter gezählt. Na und? Hätte es einen Unterschied gemacht? Zum Teufel mit dem Humbug. Du wirst nicht am Strick vorbeikommen. Irgendwo wird es hier ja wohl einen geben, verdammte Scheiße. Wie so oft in deinem Leben nimmt dir deine eigene Wut, dein unstillbares Verlangen, die Gier nach Erfüllung und deine infantile Ungeduld, jede Chance zu bemerken, was mit dir geschieht. Du hörst Letha Grün sagen, du solltest jetzt zuerst einmal einen beruhigenden Tee trinken. Die liebe Letha. Wie sehr du dich in diesem Moment nach ihr sehnst.

In Wahrheit geschieht es schnell und irreversibel. Du glaubst, alles sei noch wie es war, aber dann bemerkst du langsam die feinen Unterschiede. Bei sieben schon hat sich die Welt um dich herum zu verändern begongen. Es schneit immer noch, aber die winzigen Spitzen der tanzenden Eiskristalle haben keine Wirkung mehr auf die Nerven deiner Haut. Zuerst ist es die Frau, deren Veränderung dir aufgeht. Ihre Haut wird runzelig und ihre Augen wirken noch grüner als je zuvor. Sie krümmt sich wie eine Made, die sich müht, aus ihrem Kokon auszubrechen. Dabei sind die Spitzen ihrer Wirbel jetzt so dominant, dass sie durch das Leder ihres Mantels drücken. Ist das überhaupt ein Mantel? Sind es nicht vielmehr nasse, ledrige Schwingen, die sie um ihren dürren Schlangenleib gewickelt hat? Du erkennst im Saum des vermeintlichen Kleidungsstückes ihre franzige Schambehaarung und stößt ein hysterisches Bellen aus. Doch dann ist es dein Blickwinkel, der die größere Veränderung einleitet. Im selben Moment, in dem du den ersten Buchstaben der ›Zwei‹ aussprichst, zieht sich deine Welt zusammen und wird kleiner und kleiner. Die Hexe schreit und entfernt sich von dir, ohne dass sie oder du auch nur einen einzigen Schritt machen. Nun ist sie weit weg und sie scheint immer noch größer zu werden. Neben ihr steht plötzlich ein Mann. Er sieht aus wie du. Es ist nicht einfach eine Ähnlichkeit, alles an ihm ist genau wie bei dir. Er ist du. Sein Schritt färbt sich dunkel und er macht hilflose Gesten mit seinen Händen. Die Hexe greift nach seinen Schultern und schüttelt ihn. Da sinkt er vornüber in die Knie und greift sich an den Hals. Mit dem Gesicht voran fällt er in den frischen Schneematsch.

Du wunderst dich, denn du bist geschätzt über zwanzig Meter von der Frau und deinem seltsamen Double entfernt. Was genau passiert hier? Aus der Distanz kannst du sehen, wie die Frau neben dem Mann auf die Knie sinkt. Sie wirkt plötzlich gar nicht mehr so bedrohlich, eher hilflos und erschrocken. Trotz der Entfernung kannst du gut sehen, was da drüben vor sich geht. Noch hast du nicht bemerkt, dass der Begriff ›Sehen‹ längst jede Bedeutung für dein Dasein verloren hat. Bläschen steigen neben der Nase des Liegenden auf. Indess nimmt der Schneefall immer mehr zu. Es ist, als wollten die Geister der Elemente einen Vorhang über dies Trauerspiel breiten. Doch dieser Vorhang nimmt mehr als nur die Sicht. Als die Frau zum Himmel aufblickt, scheint sie die selben Gedanken zu haben. Sie tut nichts, ruft keine Hilfe herbei und lacht leise, aber ohne Freude. Er rührt sich nicht. Er hat seinen Körper auf eigenen Wunsch verlassen. Ohne eine Chance zu entrinnen ertrinkt der Mann, der du warst langsam im kalten Matsch des Hofes.

Du selbst kannst dich nicht rühren. Nicht einmal die Augen. Nichts an dir ist beweglich. Dein Blickwinkel ist starr. Du siehst wie der Leib auf dem Boden ein letztes Mal zuckt. Er atmet Schmelzwasser, erzeugt durch die letzte Wärme seiner eigenen sterbenden Lungen. Minuten vergehen. Die Hexe hat ihre Pelzkappe abgenommen. Sie lacht immer noch lautlos und ihre Haare sehen dünn und klebrig im immer weiter rieselnden Schnee aus. Dann ist es schließlich vorbei. Er ist ertrunken. Drei Zentimeter Schneematsch haben sein Ende entschieden. Dies und die Tatsache der Reglosigkeit. Keine Hilfe wurde ihm zuteil, aber so hatte er es offenbar gewollt. Hatte er? Einerseits erscheint dir sein Los wie eine vorzügliche Gnade, doch andererseits weitet sich diese ja nicht auf dich aus. Mit aller Kraft versuchst du zu erfassen, was mit dir geschieht, doch dir stehen keine Sinne zur Verfügung, die für Aufklärung sorgen könnten.

Plötzlich blickt die Frau zu dir herüber. Sie greift ohne hinzusehen in eine der Jackentaschen des Toten und befördert die rote Glaskugel zu Tage. Ein Souvenir Obscura, passend zum Interieur ihrer Drachenhöhle. Langsam steht sie mit kalten Gliedern auf, blickt noch einmal zu dem Ertrunkenen herab und befördert ihre Kappe und die Murmel in eine ihrer Manteltaschen. Die ganze Zeit lässt sie dich nicht aus den Augen. Es ist, als seist du ein seltenes flinkes Vögelchen, dass jede Unachtsamkeit zur Flucht nutzen würde. Aber deine Flügel sind für immer gestutzt. Wie eine Katze auf der Pirsch setzt sie sich in Bewegung, kommt langsam mit geschmeidigen Bewegungen auf dich zu. Ihre Neugierde verzerrt ihre Gesichtszüge zur hungrigen Fratze eines Raubtieres. Als sie bei dir ist, geht sie in die Knie und betrachtet dich mit schräg gelegtem Kopf. Ihr Gesicht schwebt über dir wie ein von flatternden schwarzen Tentakeln umrahmtes Nachtgestirn. Du versuchst, ihre Empfindungen zu erraten. Neben der ihr eigenen Arroganz ist etwas frisches hinzugekommen. Es ist das Gegenteil der Gereiztheit, mit der sie dir begegnete. Ihre Augen sind es. Sie strahlen eine seltsam kindliche Neugierde und Freude am Unbekannten aus. Dann hebt sie dich auf. Deine Welt dreht sich während sie dich von allen Seiten begutachtet. »Gülle ja?« murmelt sie und lacht ihr verrücktestes Lachen.

Du nimmst wahr, wie sich die Stalltür quietschend öffnet. Die Hexe hat Mühe, das schwere Ding auf seinen verrosteten Schienen zu bewegen, aber sie ist motiviert. Da ist eine Kuh. In mehreren leeren Ställen gärt Heu. Dieser Prozess sorgt nicht nur für den hier vorherrschenden beißenden Gestank, sondern gibt auch Wärme in die Luft ab. Irgendwo klirren Ketten. Draußen blitzt es, ein Zeichen dafür, dass nun aus Wind und Schnee doch noch ein echtes Gewitter wird. Du fühlst nichts, doch du kannst sehen. Bist du tot?

Dann bückt sich die Frau und du bewegst dich mit ihr. Dein Blickwinkel ist ihrer Hand Untertan. Ein Großteil davon wird von zwei ihrer Finger beansprucht. Sie hebt mit der anderen Hand etwas vom Boden auf und scheint es mit dir zu vergleichen. Das Ergebniss stellt sie zufrieden. Es handelt sich um eine Art kleines Gitter. Nicht größer als zwei Handflächen, besteht es aus einem einfachen Gußeisenrahmen und mehreren schmalen Stegen. Es ist schmutzig und alt und eine der gegossenen Stege ist gerissen und abgeknickt. Kuhscheiße tropft auf den ohnehin nassen Boden. Dann, mit einer Drehung ihrer Hand ändert sich deine Aussicht und du siehst die schmale Rinne im dunklen Boden der Scheune, aus der sie das Ding gehoben hat. Das Ding ist ein Abflussgitter und da wo es nun in der von Steinen gesäumten Rinne fehlt, klafft ein Loch.

Mit einer langsamen Bewegung ihrer Finger, die Berührung des Boden vermeidend, legt sie dich an diese Stelle. Du passt genau hinein. Mit einem schmatzenden Laut rastest du ein! Sie erhebt sich und blickt sich zufrieden in der Scheune um. Dann reibt sie den Schmutz von ihren Handschuhen. Als sie sich mit einem kecken Schwung ihrer Hüften dem Ausgang zuwendet wird dir klar, das du sie nie wiedersehen wirst.

Mehr als zwanzig Mal wechselt die Jahreszeit. Kühe kommen und Kühe gehen. Vor langer Zeit sagte jemand zu dir, Gülle sei das Wenigste, das dir Sorgen bereiten würde. Es sind nicht die Hufe der Tiere, die deine Struktur zermürben, nicht der Urin und auch nicht die anderen beißenden Exkremente, die dir zu schaffen machen. Es ist die unausgewogene Flachheit deiner Welt. Du kannst nicht sehen, riechen oder hören, aber du nimmst alles um dich herum wahr. Doch es ist unecht, scheußlich flach und falsch. In dir gibt es keine Empfangsstelle für all das Grauen, das du so gerne Willkommen geheißen hättest. Menschen können das Grauen erleben, daran zu Grunde gehen oder gar daran wachsen. Wärst du doch nur gewachsen. Es muss eine Zeit gegeben haben, in der dies möglich war. Du erinnerst dich dunkel an das liebe, wohlwollende Gesicht einer Frau und den Tee, den sie dir zu trinken rät. Heute ist das Getränk deiner Wahl Jauchewasser, doch wie es dir einst unmöglich war, den Tee zu genießen, fehlt dir nun die Möglichkeit zur Verzweiflung. Du bist Eisen. Dein Geist ist Eisen. Wieder bist du aus einem Guss.

Ohne eine Ahnung seiner Ausdehnung durchschwimmst du den Ozean der Zeit. Die Veränderungen deiner Umgebung verblassen. Mensch und Tier gehen über dich hinweg und haben dich dabei längst vergessen. Doch nichts ist für die Ewigkeit! Nicht einmal ein gusseisernes Abflussgitter. Eines Tages kommt der Farmer und sucht nach dir. Du überlegst, ob du rufen sollst, aber deine Rufe machen den Menschen Angst, verursachen Krankheiten und machen die Milch sauer. Der Mann hat einen Eisenhaken dabei. Du ergreift automatisch Partei für den Haken. Von dem Mann bist du weit entfernt. Trotzdem haben offensichtlich beide gemeinsam Macht über dich. Sie nehmen dich kurzerhand aus dem Boden. Erstmals seit so langer Zeit nimmst du den Ort des Geschehens wieder aus einem anderen Blickwinkeln wahr. Alles hat sich verändert. Maschinen sind hinzugekommen, die Boxen der Nutztiere haben andere Formen angenommen, aber immer noch gibt es Kühe und wohl auch Pferde. Aber deren Ausbleiben hättest du auch ohne den Farmer mit seinem Haken bemerkt. Schließlich warst du all diese Zeit für ihre Hinterlassenschaften zuständig. Zumindest auf irgendeine Weise; zurückhaltend, ohne die Aufgabe irgendeiner Weiterverarbeitung. 

Der Haken bringt dich ins Freie. Beim letzte Mal, als du Kontakt mit der Außenwelt hattest, war es Winter. Heute liegt kein Schnee, aber der Atem des Mannes ist als weißer Dampf zu erkennen. Auf der Zufahrt des Hofes fehlt dir etwas. Nur für einen Herzschlag streift deine Wahrnehmung diese Stelle, doch es reicht, um in dir die Sehnsucht nach einer anderen Welt wachzurufen. Doch all dies ist zu weit von Gusseisen und Rost entfernt. Du kannst das Thema an sich erspüren, aber darüber hinaus bleibt es ungreifbar für dich. Dann hat er dich auf die andere Seite des Hofes gebracht. Alle Sinne ausgestreckt suchst du sogleich am Boden nach einer Rinne. Deine Vorstellung der Realität erwartet eine Rinne. Man könnte sagen, du bist für Rinnen geschaffen wie Tore für Scheunen oder Striegel für Pferde. Doch da ist keine. Stattdessen hat ein anderer Mann in einem offenen Teil des Haupthauses eine Maschine gestartet. Rauch steigt auf und die beiden Lebenden unterhalten sich während sie auf ein geheimnisvolles Ergebnis der Maschine zu warten scheinen. Das Ding hat eine Öffnung, ein Maul und als der eine Mann es mit einem Hebel öffnet, kannst du kurz die Glut darin erahnen. Aber es ist noch nicht gut und da der Mann den Hebel wieder fahren lässt, beschließt auch du zu warten. Nicht lange und er legt dich ins Feuer. Das Maul der Maschine ist geräumig, aber du teilst ihn nur mit den Flammen. Es ist heiß und wird immer heißer. Dann verändert sich dein Sein und du fließt nun selbst in eine schmale Rinne innerhalb der Kehle der Maschine. Rinnen sind dein Heil, denkst du und schon bist du wieder im Freien. Als wundersam saubere, nur noch von einer dünnen, bröseligen Haut bedeckte Flüssigkeit fließt du heiß in eine Form, wirst kurz darauf von einer Zange herausgebrochen und dem Wasser überlassen. 

Wieder geht es in das Maul der Maschine, doch nicht erneut durch die Rinne und du fragst dich, wie sich die Zange fühlen mag, wie sie so mit dir in der Glut schwitzt und im Eimer zischt. Dann geht es hopp auf ein breites Eisen und du erkennst den Amboss und schon erfolgen die ersten Schläge, dir die richtige Form aufzuzwingen. Du wehrst dich nicht, hast es nie getan, warum jetzt damit beginnen? Das Letzte, das du diesen Tages wahrnimmst, sind die Schläge des Hammers und die immer neue Hitze der Glut.

Beim nächsten Erwachen nimmst du den Geruch von Pferd war. Da ist das Odeuvre von Angstschweiß und Pferdeäpfeln in der Luft. Die Zange hält dich, doch da sind auch schwielige Finger und ein Huf. Teile von dir, zu spitzen Nägeln geformt, dringen durch dafür in deinem Leib gelassene Löcher in die Tiefe des Pferdefußes. Das Tier zuckt, versucht auszuweichen, du hast noch keine eigene Meinung zu der Sache. Jemand flucht und lacht dabei, der Hammer schlägt die Nägel in den Huf. Hammer, warst du einst ein Mann? Dann lassen sie das Bein des Pferdes fahren und du triffst auf die lehmige Erde des Hofes. Zwei, drei Schritte tänzelt das große Tier hin und her, versucht sich an sein neues Schuhwerk zu gewöhnen. Du siehst Erde, Licht, Schlag um Schlag, Erde und Licht. Die Krume bleibt in deinen Kanten hängen, wird ausgekratzt und dringt erneut zwischen Huf und Eisen. Das ist es, was du nun bist. Zu einem Hufeisen machten sie dich und wieder ist dein Dasein unmittelbar mit den Ausscheidungen des Tieres verwoben. Links hinten und hinten ist der Ort, wo man nun einmal mit Scheiße rechnen muss. Hätten sie dich vorne angebracht, aber nein, es musste links hinten sein. Du kannst nur noch wenig sehen, aber dumpf spürst du die Schläge der Hufe. Mit jedem Tritt sitzt du fester und wenn es über Stein geht, sprühst du Funken. Das Pferd gewöhnt sich schlecht an dich. Nachts summst du Lieder der Liebe und raubst dem Tier den Schlaf. Sie glauben, das Tier wäre krank oder einfach blöd, aber sie wollen es noch eine Weile versuchen. Leider verblasst deine Erinnerung an das arme Tier meist gen Mitternacht und dann siehst du Bilder von Gesichtern, die du einst kanntest. Die Namen dazu sind fern, nicht einer will sich dir offenbaren.

Du gehst von Pferd zu Pferd, aber nach und nach verlierst du an Substanz und dies scheint nicht nur dich, sondern den ganzen Hof, vielleicht das Land oder einfach die Zeit zu betreffen. Immer weniger geht es hinauf, immer weniger Pferde lernst du kennen. Du weißt alles über sie, mehr als jeder Schmied, jeder Veterinär oder Farmer, mehr sogar als das Mädchen, dessen Sattel du einst hättest sein können und das nun zu einer alten Frau geworden ist.

Und eines Tages fällst du, wie schon so oft zuvor, vom Huf. Doch diesmal nimmt dich keiner auf. Kein Nagel ist mehr für dich da, keine Zange und kein Hammer. Rost färbt deine Haut, Moos dringt in deine Nagellöcher und du verweilst, endlich ganz und gar verloren, an der Kante einer Böschung. Unzählige Male geht die Sonne über diesen Ort. Im Frühling ruhen schwarz-gelbe Feuersalamander neben dir und im Winter wartest du geduldig auf die Zeit der Schmelze. Aber auch jetzt bist du nicht ganz aus der Welt. Vielleicht, wenn du ein Stück tiefer gefallen wärst, in den Bach unter dir. Dann hätte dich vielleicht keiner gefunden und du lägst für immer dort unten in der frischen Kälte. So aber greifen eines Tages junge Finger nach deinem Bogen, heben dich ins Licht und rosige Wangen bestaunen ihren Fund. Das Wort ›Glück‹ fällt aus einem bärtigen Kinn und die kleinen Wangen lachen ehrfürchtig und vergnügt. Schließlich erhälst du doch noch einmal einen Nagel und so landest du an einer hölzernen Wand. Zu dieser Zeit ist von deinem Geist nichts Nennenswertes übrig, so dass du an deinem vergessenen Platz ruhen kannst. Nur ganz selten, tief in der Nacht, erwachst du manchmal und wenn dich dann ein klitzekleiner Funke der Erinnerung durchfährt, summst du leise ein Lied.

 

Grün, grüne Fee,

Dein Leuchten bringt mir Heil

So lag ich tief im Schnee,

Vergessen für lange Zeit

 

Gruß dir grüne Fee,

Verwehrt war mir dein Licht

In tiefester Seelenpein

Bitt` ich, vergiss mich nicht