Jamawai – Der Unterschlupf
Ursprung: Cemo 4
Land: Irsifate von Dagkad
Original: © April 2025 Blum
eBook: © April 2025 choose your art
Titelbild, Gestaltung & Satz: Blum
Korrektur: Blum
Speyer, Deutschland
Alle Rechte vorbehalten
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Über dieses Buch
Jamawai – Der Unterschlupf ist eine Geschichte aus dem Rollenspiel Karma²³ und spielt auf einer seiner Welten:
Über all die Zeitalter, in denen sich die Menschheit auf Terra entwickelte, übersah sie, was um sie herum vorging. Unzählige fremde Kulturen entstanden auf weit entfernten Planeten, Kriege wurden ausgefochten und Allianzen geschmiedet. Gottgleiche Wesen übten die Kontrolle über weitreichende Sektoren der Galaxie aus. Schließlich erreichten diese Mächte auch die Heimatwelt der Menschen und sie nahmen sich, was sie brauchten. Sie entführten Tausende Individuen aus verschiedenen Kulturen und schufen sich aus diesem genetischen Grundstock ihre eigenen Sklavenvölker. Doch sie wussten nicht um die Natur dieser Spezies. Sie kannten nicht ihren inneren Drang nach Freiheit und ihre enorme Anpassungsfähigkeit. Es kam, wie es kommen musste – während die Herren des Alls an Korruption und innerem Verfall litten, erhoben sich die menschlichen Sklavenkulturen und begannen ihren Siegeszug …
Kennung: C4Cn25p141-6 :: Quadrant: -25|141 :: System: Cemo :: Größe: 6 :: Gravitation: 0,9 G :: Umlaufzeit: 1,1 Standardjahre :: Trabanten: C4-1 (Waqba), C4-2 (Luma) :: Subraumanschluss: Tu2QpD-SS4-D2,5D :: Sj 2.223 :: Name: Cemo 4 :: :: ::
Das Wort Jamawai bedeutet, aus dem Cemolat der Irsifate von Dagkad übersetzt, soviel wie ›irdischer Schutz‹ oder einfacher ›Unterschlupf‹. Es leitet sich wahrscheinlich von dem kusunnischen Wort ›Mawa‹ ab, welches am besten mit ›Shelter‹, also ebenfalls ›Unterschlupf‹ übersetzt werden kann, wobei Mawa stets einen aus Beton gegossenen Bunker und nicht einfach nur ein in den Boden gegrabenes Kellerloch meint. Da die kusunnische Sprache jedoch immer militärische oder streng religiöse Anleihen in sich trägt, ist es kaum verwunderlich, dass die Fatima-Fati der Irsifate ihre eigenen düsteren Verschläge, wie alles in ihrer Sprache, leicht romantisieren.
Wir schreiben das Standardjahr 2.223, finden uns auf Cemo 4 wieder und beobachten eine Szene am Rande eines der Irsifate im Nordosten der Dagawüste. Hier, in den Weiten der Steppe, kann man viele Tage auf dem Rücken eines Daq über Land ziehen, ohne auch nur einer einzigen menschlichen Seele zu begegnen. Diese Landschaft ist so endlos wie die Meere anderer Welten, deren immerwährendes Blau Cemo 4 so schmerzlich vermissen lässt. Hier also, genauer an der Grenze des Irsifates Kamahal nach Debusa, in einem winzigen Nest namens Mafi trugen sich an einem frühen Herbsttag die Ereignisse zu, von denen ich nun berichten möchte.
In einer düsteren, nur von den Leuchtspurgeschossen verfeindeter Soldaten erhellten Nacht, lief Dagher, ein Fati aus dem verschlafenen Nest Mafi um sein Leben. Er war keine achtzehn Standardjahre alt und vor fünf Jahreszeiten war er nur der Sohn eines einfach Ziegenflickers gewesen. Seine Probleme kreisten um Löcher im Dach seines Vaterhauses und die schöne Mabriste, die Tochter des Nachbarn Dumen Manli und die schönste Fatima, welche je dem Sand der Wüste entsprungen war. Er hatte oben auf dem kleinen Ölberg Ziegen gehütet, über das Land geblickt und sich ausgemalt, wie es wäre, mit Mab eine Familie zu gründen und seine eigenen Söhne hier herauf zu schicken. Doch dann waren die Neobuds von Debusa über die Grenze gekommen. Es hatte keine Vorwarnung gegeben. Eben betrieben die Fatima-Fati noch regen Handel mit den Buds von Adun, dem Mafi gegenüberliegenden Grenzort in Debusa, als die Truppen des Fetten Mannes aufmarschierten und Adun zu einem Militärlager umfunktionierten. Zuerst war niemandem klar, was dies zu bedeuten hatte, denn die Bewohner der Irsifate hielten sich an die Grenzlinien und es kam so gut wie nie zu Problemen zwischen ihnen und der Bevölkerung Aduns, aber bald wurde ersichtlich, dass sich die Zeit des Friedens ihrem Ende zugeneigt hatte. Eines Morgens, vor etwa einem Standardjahr, überquerte ein debusischer Tank die Grenzmarke zwischen den beiden Civics und feuerte ohne Vorwarnung auf den Marktflecken von Mafi. Dabei kamen über einhundert Personen zu Tode, darunter einige Kanka und natürlich auch Neobuds, die hier mit den Einheimischen Handel zu treiben pflegten. Einer dieser Händler war Daghers Onkel Mesit. Er gehörte zu den ersten Toten des später als Kamahalkrieg in die generell kriegsreiche Historie Cemos eingehenden Auseinandersetzung zwischen Debusa und den Irsifaten von Dagkad.
Sie waren in die Dagawüste geflohen und hatten zugelassen, dass ihre Häuser verbrannten. Dann hatte man sich alter Werte erinnert, sich organisiert und noch in derselben Nacht zurückgeschlagen. Alle hatten gekämpft. Fatima und Fati jeden Alters hatten sich bewaffnet und im Glauben an die Schwarze Mutter zu einem Vergeltungsschlag aufgerufen. Und wie sie gewütet hatten, diese Kinder der Göttin Kama. Viele Tage und Nächte kämpften sie um ihren Grund und Boden und drangen sogar bis nach Adun auf der anderen Seite der Grenze vor. Sie kaperten Panzer und anderes Kriegsgerät und standen oft Seite an Seite mit ihren debusischen Freunden, die sich gegen ihr eigenes Volk stellten. Doch die Neobuds verfügten über bedeutend mehr Waffengewalt als die Grenzbewohner des Irsifates und bis der Irsi von Kamahal überhaupt von dem Angriff erfuhr, hatten debusische Aeros die ganze Gegend in Schutt und Asche gebombt.
Daghers Eltern, seine Nachbarn und auch Mabriste waren im alles verschlingenden Magen der Schwarzen Mutter verschwunden. Jetzt war er Teil einer versprengten Division von Wüstenkämpfern, die mit Asche und Rotz verschmierten Gesichtern in den Dünen lauerten und immer noch von einem Gegenschlag träumten, der ihnen die Vergangenheit und ihre Lieben wiederbringen sollte, jedoch nichts als Angst und Schrecken verbreitete.
Er rannte so schnell ihn seine Beine trugen, doch die Wicklung seines linken debusischen Stiefels hatte sich gelöst und flatterte nun wild um seinen Schenkel. Sein Vater hatte ihn immer wieder gerügt, die Kleidung des Feindes zu tragen, aber bis jetzt hatte er die gewickelten Stiefel der Neobuds stets geschätzt. Sie waren nicht nur kleidsamer, sondern auch praktisch, da man sie besser reinigen konnte als die Ziegenlederstiefel der Irsifate. Doch in dieser Nacht sollte ihm genau diese Vorliebe zum Verhängnis werden.
Zusammen mit zwei anderen Partisanenkriegern war er zu einem der Tanklager am Rande des Kriegsgebietes geschlichen. Sie hatten einen der Energieüberlader kurzgeschlossen und eine kleine, selbstgebaute Bombe an der Übertragungsleitung des debusischen Komandozeltes angebracht. Leider war ein Wachdroide auf einen seiner Mitstreiter aufmerksam geworden und hatte den Jungen kurzerhand erschossen. Sofort waren dutzende von Soldaten aus ihren Zelten gestürzt und hatten die Nacht zum Tag gemacht.
Die wilde Jagd ging nun schon seit einer guten halben Stunde und seine Lungen brannten. Er hatte die Umgebung und vor allem seine Freunde aus den Augen verloren. Allein und von Feinden verfolgt, die zweifelsfrei keine Gnade mit Attentätern haben würden, bewegte er sich durch das verminte Grenzgebiet und kämpfte gegen die Bewußtlosigkeit der Überanstrengung und Panik an. Er wusste nicht, in welche Richtung er lief, wusste nicht, auf welcher Seite der Grenze er war und er wusste auch nicht, ob er diese Nacht überleben würde. Vom Schrecken des Krieges, der endgültigen Niederlage und dem in Kürze bevorstehenden eigenen Tod erfüllt, begab er sich in die Hände Kamas und betete um ein möglichst schmerzfreies Ende in ihrem Mutterbauch.
Dann stolperte er über die eigenen Beine. Die Bandage des Debusastiefels hatte sich um sein anderes Bein gelegt und ihn zu Fall gebracht. Ein ohrenbetäubender Knall erscholl. Seine Flinte war unglücklich aufgekommen und ein Schuss hatte sich gelöst. Dagher zog den Kopf ein und fluchte tonlos.
Irgendwo hinter ihm wurde geschossen, aber er sah nur vereinzeltes Mündungsfeuer und es schien sich weiter zu entfernen. Hatten sie den Schuss gehört? Er war sich nicht sicher, ob sein Mündungsfeuer zu sehen gewesen war. Vorsichtig drehte er sich um, rieb sich das schmerzende Knie, mit dem er seinen Sturz abgefangen hatte und entwirrte seine Beine aus der Bandage.
Um ihn herum befanden sich die Trümmer von Panzersperren und Ruinen einer Civic. War das Adun? Das Lager der Fatima-Fati-Partisanen befand sich über einhundert Kilometer südöstlich der Grenze und sie hatten fast drei Tagesreisen gebraucht, um zu Fuß hierher zu gelangen. Der Plan war ihnen von den Bugai übertragen worden. Die kaftanischen Hilfstruppen aus dem Nachbarirsifat lagerten jedoch viele Tagesreisen in der Steppe der Daga. Man wartete auf weitere Kontingente militärischer Einheiten aus Dagaqusa, denn trotz ständiger Reibereien zwischen den Kusunnen im Westen der Wüste, hatte man sich nun, wo es gegen den gemeinsamen Feind ging, gegenseitige Hilfe versprochen. Kusunnen und Fatima-Fati nannten eine weit zurückreichende Historie blutiger Auseinandersetzungen ihr eigen, doch kamen die Neobuds von Debusa ins Spiel, begruben die Wüstentöchter und -söhne ihre religiösen und territorialen Streitereien und zogen gemeinsam ins Feld.
Dagher kannte keinen Hass der Nationen. Nicht einmal jetzt, nicht einmal nach all den Schrecken, die er erlebt hatte. Der Tod war ein ständiger Gast in der Wüste und er kam in den meisten Fällen auf leisen Sohlen daher. Schlangen, Skorpione, giftiges Wasser – allein der Durst brachte in jedem Sommer vielen Wüstenbewohnern den Tod. Die Menschen, die hier kämpften, gehörten derart vielen Ethnien an, dass Dagher sie nicht einmal korrekt aufzählen hätte können. Für ihn gab es nur die Truppen des Fetten Mannes, dem religiösen Anführer der Neos und die Bewohner des Grenzstreifens. Ob diese dem Lichtglauben der Neobuds, dem der Kusunnen oder dem Glauben an die Schwarze Mutter anhingen, spielte für ihn keine Rolle. Die Schlitzaugen von Adun hatten ihm niemals etwas getan und aus seiner Sicht waren sie die ersten Opfer des Feldzuges gewesen. Er mochte debusisches Essen und er mochte den Humor dieser Leute. Die, die ihm jetzt auf den Fersen waren, kannten die Wüste und sein Volk nicht. Sie kamen weit aus dem Norden und hatten die kalten Herzen der Leute vom Hochland.
Eine Landschaft aus gezackten Betonbruchstücken glitt an ihm vorüber und er konnte nicht mehr einordnen, ob er es war, der sich bewegte, oder ob das Land um ihn herum lebendig geworden war. Plötzlich erscholl dicht neben ihm ein saugendes Geräusch und im letzten Moment machte er einen Satz hinter die abgebrochene Wand einer zerbombten Kate. Ein Plasmageschoss zischte in seiner unmittelbaren Nähe in den Wüstenboden, machte Sand zu Glas und erfüllte die Nacht mit glutrotem Licht. Dann raste ein Aero über ihn hinweg und irgendwo südlich seiner Position ratterten Maschinengewehre. Das mussten seine Leute sein, die da auf das Aero schossen, aber er hatte komplett die Orientierung verloren, gefangen im Wüten des Krieges.
Dicht hinter ihm wurde nun auch wieder geschossen und er war sich sicher, die Soldaten der Neobuds hatten ihn entdeckt. Immer näher kam das Gewehrfeuer und auch das Aero überflog ihn ein zweites Mal. Die Luft stank nach ätzendem Gas und er versicherte sich, dass seine Gasmaske richtig saß. Er bekam kaum noch Luft und hätte die Maske am liebsten abgenommen, aber er wusste genau, was dies zur Folge hätte. Dann konnte er das Funkfeuer debusischer Soldaten hören. Sie hatten ihn gefunden. Er verfluchte sein Missgeschick und entschuldigte sich im Geiste bei seinem toten Vater. Wie immer hatte der Alte recht behalten. Ernst schwor er den Toten, nie wieder anderes Schuhwerk zu tragen, als das der Irsifate seiner Ahnen.
Zitternd erhob er sich, versicherte sich des festen Sitzes der verfluchten Bandage und machte sich auf den Weg. Gewehrfeuer, der Suchscheinwerfer des Aeros und wieder ein Plasmageschoss animierten ihn noch schneller zu rennen. Er sprang über einen längst aufgegebenen Schützengraben und gelangte in die Schatten weiterer Häuser, deren obere Stockwerke fehlten. Stolpernd und schlitternd versuchte er, möglichst viel Distanz zwischen sich und seine Verfolger zu bringen. Sie schossen immer noch, aber er konnte nicht sagen, ob er ihr Ziel war. Weit entfernt stotterten schwere Projektilgeschosse und verwandelten den südlichen Horizont in ein Gewirr aus schwachen gelben Linien, die für Dagher ein wenig wie Glühwürmchen wirkten. Dann schlug ein Geschoss in die Mauerkrone eines nahegelegenen Hauses ein und er duckte sich. Panisch vor Angst kroch er unter einem zerbrochenen Türsturz hindurch und fand sich in einem Viereck aus Betonwänden wieder. Das Gebäude erschien ihm seltsam falsch an diesem Ort, bis er erkannte, dass es einfach nur neu war. Die Buds hatten es im letzten Standardjahr gegossen. Es war ein Bunker im Stil der kusunnischen Mawa. Vier Wände, ein flaches, schräg abfallendes Dach. In der Wüste schaufelte man Sand über die ganze Struktur und machte daraus eine mehr oder weniger unsichtbare Unterkunft für Soldaten und Daq. Dieses Jamawai, wie man diese Art von Unterschlupf auf Cemolat nannte, hatte eine Kantenlänge von nur zehn Metern und würde kaum für eine Gruppe von Daqreitern reichen, aber die Neobuds hatten es sicher auch für andere Zwecke errichtet. An einer der Wände war die Energieleitung für einen Langstreckentransmitter zu erkennen. Die Apparaturen fehlten jedoch. Der Bunker war aber auch nicht gesprengt worden. Man hatte ihn einfach nur verlassen.
Dagher lauschte, konnte aber seines laut pochenden Herzens wegen, die Geräusche draußen nicht richtig einordnen. Er lehnte sich an eine der Mauern und versuchte, sich zu beruhigen. Der Teststreifen an seinem Arm zeigte eine niedrige Sättigung von Giftgas an und er konnte sicher sein, dass die Dichtungen seiner Maske halten würden.
Er atmete und lauschte erneut. Dann gefror sein Herz. Direkt über ihm waren die Stiefel schwer gerüsteter Neobuds zu hören. Das Knirschen der eisernen Sohlen unterschied sich derart von dem lederner Stiefel, dass es ihm tief ins Mark drang. Dann hörte er den Singsang der Buds. Ihre Sprache wurde gesungen. Er konnte sich auf dem Markt mit den Schlitzaugen unterhalten, aber die Soldaten verstand er nicht. Sie sprachen einen nördlichen Dialekt, klangen harsch und geschäftsmäßig.
Verzweifelt suchte er nach einem Ausweg. Er erwog sich zu ergeben, sah aber die vielen enthaupteten und mumifizierten Leichen seiner Leute vor seinem inneren Auge und spürte, wie er Schüttelfrost bekam. Von einer tiefen, kosmischen Angst vor einem grauenhaften Ende im Wüstensand erfüllt, blickte er sich panisch um. Kälte, Hitze, Kälte und immer wieder Hitze, würden seinen kopflosen Leib zu einer porösen Hülle für Generationen von Insekten verwandeln.
Da sah er den länglichen Schatten. Eine der Wände des Jamawai ging nicht bis zum Boden. Es war ihm vorher nicht aufgefallen, denn als er den Bunker zuerst in Augenschein genommen hatte, waren seine Augen nicht an die absolute Finsternis hier unten gewöhnt gewesen, aber nun sah er, dass es hier einen breiten, etwa dreißig Zentimeter hohen Streifen gab, der noch dunkler als die restlichen Wände war. Er kroch auf dem Bauch dorthin und untersuchte den Spalt, während über ihm Stiefel das Dach des Bunkers polierten.
Vorsichtig, um möglichst keine Geräusche zu verursachen, nahm er den Filtertornister von seinem Rücken und legte auch sein Ersatzgewehr ab. Die große Flinte hatte er nach seinem Sturz liegen gelassen und auch der Sprenggürtel war unterwegs von seinen Schultern gerutscht. Er versuchte seinen Kopf durch den Spalt zu drücken, doch der Filter der Gasmaske passte nicht hindurch. Erkennen konnte er durch die Glaslinsen ebenfalls nichts.
Über ihm donnerte ein Befehl und jemand kam um das Jamawai herum. Fieberhaft blickte er auf den Teststreifen am Arm. Er musste eine Entscheidung treffen. Eine Kugel, eine Machete oder das Gas. Er hatte viele gesehen, deren Lungen verätzt worden waren. Ihre Augen hatten die Farbe überreifer Beeren angenommen und dann waren ihre Zungen dick und blau geworden. Schnell löste er die Klemmen der Maske an seinem Turban und hielt dabei die Luft an. Wie lange würde er ohne zu atmen auskommen? Die Maske durch den Spalt schiebend, versuchte er sich zu beruhigen. Gleich auf der anderen Seite würde er sie wieder überstreifen. Er schob sie etwas weiter und dann entglitt sie seiner Hand. Er presste das Kinn auf den sandigen Bunkerboden und zog das Genick ein. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit und dann hörte er den leisen Aufprall von Gummi, Leder und Kunststoff auf sandigem Grund. Hinter dem Spalt musste sich eine Öffnung befinden. Vielleicht ein Kellerzugang des angrenzenden Hauses. Keller waren hier im Grenzland nichts Ungewöhnliches. Der Boden im Norden der Irsifate war härter als im Zentrum der Steppe.
Schnell, nur schnell – er durfte nun keine Zeit verlieren. Wenn er nur noch eine Minute zögerte, war er verloren. Entweder würden ihn die Soldaten oder die verpestete Luft töten. So schnell er konnte, ohne dabei zu laut zu sein, kroch er mit dem Kopf voran durch den Spalt der Bunkerwand in die dahinter befindliche Dunkelheit. Beinahe wäre er wie seine Maske in das hier befindliche Loch gefallen, aber er konnte sich an dessen Rand festhalten und erspürte metallene Stiegen. Schnell griff er auf die andere Seite hinüber und zog den Tornister und sein kurzes Gewehr zu sich. Dann lauschte er eine Sekunde. Doch als ihm bewusst wurde, dass er nicht mehr lange ohne zu Atmen aushalten würde, warf er kurzerhand den Tornister und die Waffe in das Loch und begann mit dem Abstieg. Wenn er Glück hätte, wäre seine Maske unversehrt und dort unten würden seine Verfolger ihn sicher nicht finden.
Mit aller Kraft presste er die Lippen aufeinander, aber der Abstieg war dennoch zu lang. Es waren nicht wirklich viele Stiegen, aber er hatte einfach keine Kraft mehr und so schaffte er nur die Hälfte der etwa drei Meter und als ihm schwarz vor Augen wurde und Kama nach ihm züngelte sog er mit dem Grauen des bevorstehenden Todes erfüllt die stinkende Luft ein. Dabei kletterte er weiter und ignorierte den ätzenden Geschmack in seinem Mundraum. Unten angekommen tastete er in der Dunkelheit nach der Maske und fand sich in einem erneuten Alptraum wieder. Wie verrückt glitten seine Hände durch den Sand, trafen auf gestampfte Erde, fanden den Tornister und das Gewehr, aber nicht das Leder der Gasmaske. Gerade als er aufgeben wollte, gedachte er der kleinen Taschenlampe an seinem Waffengurt, fummelte mit zitternden Händen daran herum und fand schließlich den Druckschalter. Kaltes Licht erfüllte die staubdurchsetzte Luft um ihn herum und gerade am Rande des Lichtkreises, erkannte er etwas Längliches. Es sah aus wie der zusammengeringelte Leib einer schwarzen Schlange, aber er griff ohne Zögern danach und sein Herz machte einen Freudensprung. Es war tatsächlich einer der Riemen seiner Maske und nach einer kurzen Inspektion – beide Gläser und der Filterstutzen hatten den Aufprall heil überstanden – setzte er sie auf und befestigte die Klemmen.
Zuerst hielt er die Luft an, dann atmete er vorsichtig ein. Es gab keine Reinigungsfunktion, was bedeutete, dass er die schlechte Luft in der Maske verbrauchen musste. Erst dann würde der Tornister ihn versorgen. Schwindelig wartete er auf das Ergebnis und versuchte dabei, die Schmerzen in seiner Lunge zu ignorieren. Dann atmete er. Es war ihm schleierhaft, wie er noch am Leben sein konnte. Die Buds verwendeten normalerweise Gas, dass nach einem einzigen Atemzug tödlich war. Offenbar hatten sie hier überhaupt nicht mit dieser Art von Waffen gearbeitet. Was er in den Lungen hatte, musste die normale Dosis der Cemoluft gewesen sein. Er schüttelte den Kopf und wartete noch einen Moment, ob er nicht doch noch kollabieren würde, doch der Tod zog sich, wie die Soldaten über ihm, zu anderen Gefilden zurück.
Lauschend wartete er quälende Minuten, aber hier unten war nichts von seinen Verfolgern zu hören. Kama hatte ihm den Weg zu diesem Jamawai gewiesen und sie hatte ihm ebenfalls den Schacht in die Tiefe geschenkt. Nun war es an ihm, dieses Geschenk zu würdigen, indem er überlebte, um von ihren Wundern zu berichten.
Vorsichtig klemmte er seine Lampe vom Waffengurt ab und schüttelte sie kurz. Sie war autoenergetisch und lud sich durch kinetische Energie auf. Doch ihr Speicher war alt und verbraucht und konnte nur noch Energie für eine überschaubar kurze Leuchtdauer halten. Außerdem war die Linse trüb und das Leuchtmittel hatte seit langer Zeit seinen Zenit überschritten. Aber hier draußen, in der Wüste, nutzte was man hatte und er und seine Lampe waren hier unten beste Freunde. Er leuchtete den Raum aus und versuchte zu verstehen was er sah. Der Schacht führte in einen niedrigen Gewölbekeller mit mehreren Nischen, die wie Grabstätten wirkten. Sie waren gerade groß genug für einen menschlichen Körper, aber die Art und Weiße, wie die Struktur aufgebaut worden war, erinnerte ihn an nichts, das er kannte. Er duckte sich und ging dann in der Hocke vom Schacht weg in den Gewölbekeller hinein. In einer der Nischen lag doch etwas. Es war schwarz und im ersten Moment dachte er, es sei ein Tier, aber es bewegte sich nicht und so bewegte er sich näher heran. Vorsichtig berührte er es mit dem Lauf seines Gewehrs und hob es ein Wenig hoch. Es handelte sich um ein Kleidungsstück und sofort erkannte er die Machart der seltsam bauschigen Kaftane der Kanka. Es war ein Balonat und es war ganz offensichtlich sehr alt.
Einen Moment überlegte er, aber dann erschien ihm dies als Antworten auf seine Fragen zu passen. Er kannte sich nicht sonderlich gut mit den architektonischen Gepflogenheiten der Kanka aus, da auch sie sich an das Leben der gemischten Ethnien auf Cemo 4 angepasst hatten und meist in ganz normalen Häusern wohnten, aber dieser Keller passte zu seiner Vorstellung von ihrer Art. Kanka waren nicht kleiner als Menschen und sahen auch nur unwesentlich anders aus – sie gingen aufrecht, hatten Arme und Beine und einen Kopf und waren unter normalen Bedingungen kaum von Menschen zu unterscheiden, aber dieser seltsam flache Ruheort für Tote, passte einfach zu ihnen. Warum jedoch niemand hier ruhte, verstand Dagher nicht. Er suchte nach Anzeichen einer kürzlichen Räumung des Kellers, aber überall lag der Staub vieler Jahreszeiten und auch der sandige Boden wies außer seinen eigenen Abdrücken nur Spuren kleiner Tiere auf. Obwohl, er leuchtete den Boden genauer aus, da war eine seltsame Spur. Zuerst hatte er sie gar nicht wahrgenommen, aber da war eine Art Schleifspur, so schmal wie zwei Hände, die von einer der Nischen in die Tiefe des Kellers führte.
Was war das? Es sah aus, als hätte jemand ein Tuch über den Boden gezogen. Die Spur war nicht tief und längst wieder von Staub bedeckt, aber sie war dennoch zu erkennen. Dagher überlegte, was eine solche Spur verursacht haben könnte. Vielleicht eine Schlange, die sich seitlich windend vor einem Feind flüchtete. Er zuckte mit den Schultern und beschloss, sich den Rest des Kellers anzusehen.
Am Ende des niedrigen Gewölbes befand sich ein schmaler Durchgang, der in einen seitlichen Gang führte. Die Lampe voran schob er sich hindurch und blickte zuerst in die eine, dann in die andere Richtung. Beide Gangenden mündeten in einen weiteren Kellerraum. Er entschied sich für den Linken und stellte fest, dass zumindest der Gang einen halbwegs aufrechten Gang erlaubte. Vorsichtig ging er durch die Dunkelheit und erinnerte sich erst jetzt wieder an die seltsame Spur. Er suchte danach und schalt sich einen Narren, denn nun überlagerten seine eigenen Abdrücke alles Alte. Vorsichtig machte er einen Schritt zurück und beleuchtete den Boden, aber die Lampe wurde schwächer und er musste sie erneut schütteln. Da war nichts. Er versuchte, sich umzudrehen, aber der Gang war schmal und er blieb mit dem Tornister hängen. So beschloss er zuerst, den hiesigen Raum zu inspizieren und sich dort umzudrehen und die andere Seite zu erkunden.
Gesagt, getan, erreichte er den kleinen, noch höheren Raum am Ende des Tunnels und versuchte etwas zu erkennen. Er atmete auf, als er eine Treppe nach oben erkannte. Es war eine Steintreppe, was ihm sagte, dass er in einem relativ großen, wahrscheinlich in irgendeiner Art offiziellen Gebäude sein musste. Vielleicht war der Bunker ein Teil einer von den Buds errichteten Kaserne. Aber nein, das Gewölbe war viel zu alt und auch dieser Kellerraum war nicht neueren Baudatums.
Schnell untersuchte er die Wände. Daqscheiße und Mörtel, Risse und die typische weiße Tünche, die überall in den Irsifaten zur Verwendung kam, zeichneten diese Struktur als alt aus. Es musste sich um ein Verwaltungsgebäude oder vielleicht um eine Karawanenstation handeln.
Der Keller war leer geräumt. Bis auf einige zerbrochene und damit unbrauchbare Plastikkisten und ein zerfleddertes Rad eines Bodenfahrzeuges gab es hier nichts zu sehen. Er lauschte einen Moment, weil er dachte, etwas über sich gehört zu haben, und entschied sich dafür, sicherheitshalber in den Gang zurückzugehen. Auf seinen Tornister achtend tat er dies und versuchte dabei so leise wie möglich zu sein. Er war müde und seine Lunge schmerzte. Die Schleifspur hatte er vergessen.
Der Raum auf der anderen Seite des Kellers war noch größer und wies mehrere Durchgänge und ebenfalls Treppen auf. Eine führte nach Oben, war aber mit einer Klappe aus dickem, schmutzig braunem Kunststoff verschlossen. Die andere schien diesen Teil des Kellers mit einer noch tieferen Ebene zu verbinden. Der Raum selbst war mit Gerümpel und verrotteten Nahrungsmitteln gefüllt. In einem angrenzenden Raum befanden sich Plastiktonnen mit Gerbstoffen und anderen Chemikalien. Dagher hob kurz die Maske an und testete die Luft. Gerbstoffe – aber offenbar nichts Schlimmeres. Wobei … da war noch etwas. Er hatte die Maske schon wieder zurechtgeschoben, aber dann nahm er sie erneut vom Gesicht und konzentrierte sich auf die Rezeptoren in seinem Gaumen. Da war ein Hauch von brackigem Wasser und wenn er sich konzentrierte, meinte er auch ein leises Plätschern zu hören. Schnell setzte er die Maske auf und ging zu der Treppe. Er hatte schrecklichen Durst und wenn es hier einen unterirdischen Brunnen oder eine Zisterne gab, würde er zumindest dieses Problem lösen.
Die Stufen waren weniger sandig als der übrige Keller und als er den metallenen Handlauf berührte – im Übrigen eine Seltenheit hierzulande – wäre er beinahe abgerutscht. Er war feucht. Die Göttin meinte es offenbar gut mit ihm. War Kama nicht die einzige Devi, die ihren Kindern zuweilen wohl tat? Mit einem Lächeln auf den Lippen ging er hinunter.
Der Raum, in den er kam, war klein und die Wände wiesen einen schwarzen Belag auf, den er nicht zuordnen konnte. Er rieb mit dem Handschuh darüber und stellte fest, dass das Zeug eine schmierige Konsistenz hatte. Aber für Moder, konnte es selbst in einem Keller mit eigenem Brunnen hier in der Wüste kaum genug Feuchtigkeit geben. Erneut hob er kurz die Maske an und roch an der Wand und tatsächlich, es roch nach feuchtem Moder und Algen. Verwundert ließ er die Lampe kreisen und suchte nach dem Grund für diese Atmosphäre. Hier gab es keinen Brunnen, aber dafür einen bogenförmigen Durchgang in eine weitere, durch einen leicht abfälligen Gang noch tiefer gelegenen Raum. Der Tunnel war ziemlich niedrig, wie das erste Gewölbe und er musste den Kopf einziehen, um ihn zu passieren. Unten angekommen betrat er einen runden, sehr hohen Raum, der sicher oben auf das Bodenniveau traf und nur mit einer rostigen Platte abgedeckt war. Das musste der Brunnen sein. Und tatsächlich befand sich in der Mitte des etwa sechs Meter durchmessenden Raumes eine etwa hüfthohe Steinumrandung mit einem Plastikdeckel darauf. Auch hier waren die gemauerten Wände schwarz von Moder und Algen und er wagte es nicht, die Maske abzunehmen.
Vorsichtig untersuchte er den gut zwei Meter durchmessenden Deckel. Auf einer Seite gab es ein Loch, neben dem ein Plastikeimerchen an einer dünnen Leine lag. Er lugte in die Tiefe, konnte aber nichts erkennen. Schnell ließ er den Eimer hinunter. Die Leine war recht lang, aber der Stand des Brunnen musste hoch sein, denn er zählte nur etwa vier oder fünf Meter, bis das Eimerchen auf dem Wasser aufkam. Als er es wieder heraufgezogen hatte, hob er die Maske und nahm einen Schluck. Er hatte keine Wahl. Sein eigener Wasservorrat war aufgebraucht. Er konnte zwar als Fati recht lange ohne Wasser in der Wüste überleben, aber hierzulande gab es ein Sprichwort: ›Lieber einen verdorbenen Magen durch schlechtes Wasser, als mumifiziert in der Trockenheit.‹
Er trank und das Wasser schmeckte ein wenig schal und der in der Luft vorherrschende Geruch übertrug sich auf seine Kehle, doch wie auch immer, es war Wasser und damit willkommen. Sich zügelnd beschränkte er sich auf einen halben Liter und füllte mit dem Rest des Eimers seine Feldflasche. Soweit, so gut, er war entkommen, hatte Wasser und einen Unterschlupf. Seine Notration aus getrocknetem Waranfleisch würde ihn leicht vier bis sechs Tage bei Kräften halten. Er würde sich ausruhen und warten, bis oben die Luft rein wäre. Reine Luft – gab es so etwas auf Cemo überhaupt?
So ging er guten Mutes die Schräge des Ganges nach oben und entschied sich für den anderen Kellerraum. Dort roch es nicht nach Feuchtigkeit und er hoffte sogar, die Maske abnehmen zu können. Im Raum mit den Gerbstoffen suchte er sich eine Plastikplane aus dem Gerümpel als Decke und schleppte sie mit zu seinem Schlafplatz. Hier richtete er sich so gut es ging ein, legte den Tornister ab und prüfte ein letztes Mal den Teststreifen, bevor er auch die Maske vom Gesicht streifte.
Er aß Waran und überlegte, ob er es sich erlauben konnte, mit seinem Autokocher einen Kuv zu kochen, aber dann hatte er doch Angst vor der Entdeckung und verzichtete. Stattdessen trank er noch einen Schluck des Wassers und richtete sich dann zum Schlafen ein. Seine Glieder waren schwer und seine Lungen brauchten dringend Ruhe. Er zog die Plane über sein Gesicht, schloss die Augen und schlief binnen einer Minute ein.
Sofort nach dem Einschlafen war ihm, als ob er träume. Zuerst war es dieses seltsame Plätschern, welches ihn immer wieder von anderen Träumen ablenkte. Verärgert versuchte er, sich auf seine sonstigen Probleme zu konzentrieren und fokussierte Bereiche des Unterbewussten an, die sich mit den Verlusten befassten, die er in letzter Zeit erlitten hatte. Er versuchte das Gesicht seines Vaters heraufzubeschwören und sich in einem Alptraum um Krieg und Niederlage zu verlieren, doch immer wieder war da dieses Plätschern und das Gefühl, etwas wichtiges zu verpassen. Dann sah er sich selbst, oder wohl eher seinen Geist, denn seinen Körper hatte er unter der Plane gelassen, durch den Keller schweben. Er kam an der Treppe und schließlich bei dem schrägen Tunnel an, der zum Brunnen führte. Jetzt hörte er das Plätschern noch lauter als zuvor und da war noch etwas anderes. Dünn und seltsam schrill drängte sich ein anderes Geräusch in seinen Traum. Er glitt über die Öffnung in der Abdeckung des Brunnenschachtes und lugte in die Dunkelheit hinunter, doch es gab kein Licht und so konnte das Wasser unten, still oder bewegt, auch keines reflektieren.
Schon wollte er sich abwenden, da drang erneut das Geräusch in seinen Traum und er wandte sich noch einmal dem Loch im Deckel zu.
Schreiend erwachte er und hielt sich sofort den Mund zu. Was hatte er nur gesehen? Verdammt und was hatte er sich nur gedacht? War sein Schrei bis nach oben gedrungen und vor allem waren die Buds noch da? Erstarrt vor Anspannung und Schrecken lauschte er und je ruhiger er selbst wurde, um so besser konnte er hören, dass es oben nichts zu hören gab. Dennoch stellten sich seine Nackenhaare auf. Er kniff sich in den Arm und biss die Zähne zusammen, als der Schmerz in sein Gehirn brandete. Doch trotzdem konnte er es hören. Er war wach, aber da war dieses Plätschern des Brunnens und auch dieses andere Geräusch, dieses hohe Wimmern.
Langsam, um selbst keine Geräusche zu machen und seine eigene Aufmerksamkeit nicht zu trüben, schälte er sich aus der Plastikplane und fluchte tonlos über deren Geraschel. Er hatte furchtbare Angst, das Geräusch aus dem Brunnen zu verlieren, wusste aber nicht warum. Als er die Plane nach einer gefühlten Unendlichkeit zu Boden gleiten ließ, richtete er sich auf und wollte sein Geweht aufheben, aber dann ließ er es doch bleiben. Wie in Trance schlich er leise durch den Keller. Er wiederholte seinen Traum und war sich sicher, das Falsche zu tun. Widerwillig versuchte er sich zu wehren, aber seine Neugierde obsiegte, also ging er zu dem niedrigen Tunnel und lauschte an dessen Eingang. Da war es. Ganz deutlich hörte er das Plätschern und ein leises Wimmern, wie von einem Tier, dass um sein Leben rang. Vielleicht war ein Waran oder ein Füchschen in den Brunnen geraten. Das musste es sein.
Gebückt ging er wieder den Tunnel hinunter und bemerkte erst jetzt, dass er seine Gasmaske bei seinem Lager gelassen hatte. Er schmeckte die Luft und zuckte mit den Schultern. Schlimmer konnte es kaum noch werden und hier unten war die Feuchtigkeit ein Schutz. So kam er im Keller an und schüttelte seine Lampe. Ihr trüber Strahl traf auf die Öffnung der Abdeckung und glitt darüber hinweg. Vorsichtig trat er näher und lauschte. Es hatte für eine Sekunde aufgehört, aber jetzt war es wieder eindeutig zu hören. Es war viel höher als das Winseln eines Tieres und er wunderte sich, diese Tonlage überhaupt hören zu können. Der Lichtstrahl wurde nun unten vom Wasser reflektiert und dann sah er etwas.
Klein zappelte es für einen Herzschlag durch den Lichtstrahl seiner Lampe. Dann verschwand es wieder in der Dunkelheit. Da es aber immer noch dieses Geräusch verursachte, ging er davon aus, dass es noch nicht ertrunken war. Machten Warane solche Laute, wenn sie ertranken?
Ohne weiteres Zögern schob er den Deckel des Brunnens von sich weg. Zuerst dachte er, das Ding säße fest, aber als er sich mehr anstrengte, kam es in Bewegung und schließlich rutschte es über die Steine der Abgrenzung. Als er die Hälfte geschafft hatte, umrundete er den Schacht und zog von der anderen Seite. Er schnaufte und zerrte wie ein Esel an einem Pflug und endlich schaffte er es, dass der schwere Deckel ganz von der Mauer rutschte. Wieder hatte er Angst vor Entdeckung, aber als er nach oben blickte, war ihm schnell klar, dass er sich viel zu tief unter der Erde befand. Er und das wimmernde Ding im Brunnen. Tief unter der Erde.
Er richtete sich auf und griff nach dem Rand der Seite. Seine Lampe irrte über das schwarze Wasser. Da war etwas. Das Wimmern war leiser geworden. Wahrscheinlich hatte das Tier die Kraft verlassen. Es hatte nur noch Sekunden, bis es aufgeben und an den Grund des Brunnen sinken würde.
Dagher griff nach dem Eimer, der mit dem Deckel zu Boden gegangen war und warf ihn hinunter. Er zog an der Leine und umrundete den Brunnen, um das Ding von der einen Seite des runden Schachtes zur anderen zu bewegen und dem Tier eine Chance zu geben, es zu erreichen. Und tatsächlich, endlich straffte sich das dünne Seil.
Dann begann der junge Mann daran zu ziehen. Natürlich rieb der Eimer über die Steine, den es gab keinen Zugbalken oder etwas Vergleichbares, dass Eimer und Seil in der Mitte gehalten hätten, aber das Wimmern hatte aufgehört und so ging Dagher einfach davon aus, das weder er, noch das Tier eine andere Chance auf Erfolg hatten, als den Weg zu beschreiten, den er gerade vorgegeben hatte. Er versuchte den Eimer so behutsam wie irgend möglich nach oben zu befördern und ignorierte dabei seine Angst, ihn an einem Stein zu verkanten und umzukippen. Dabei kam ihm die Zeit, die er brauchte, an der Leine zu ziehen, schier endlos vor. Er sah vor seinem inneren Auge den Tod seines Vaters, die vielen Freunde, die um ihn herum unter dem Gewehrfeuer der Neobuds gefallen waren, und das blutige Gesicht der schönen Mabriste. Er sah brennende Ziegen über einen Hügel laufen, ein von einer Granate verstümmeltes Kind und den älteren Soldaten, dem er mit seiner Flinte ein Auge ausgeschossen hatte. All dies erlebte er wieder und wieder, während er den Abrieb des Plastikeimers an den rohen Steinen des Brunnens entlangschrammen hörte. Tränen liefen ihm über die Wangen und seine Hände schmerzten, denn die Leine war dünn und der Eimer nun schwer wie eine Munitionskiste.
Doch er schaffte es und am Ende griff er nach dem Henkel des Eimers und hievte das Gefäß auf den Brunnenrand. Schwer atmend richtete er sich auf und versuchte etwas zu erkennen, aber der Eimer war voller Wasser und einer Art Lappen aus Gaze oder einem anderen groben Material. Er fingerte nach seiner Lampe, die schon wieder schwächer geworden war, und in genau diesem Moment gab es einen Ruck und der Eimer kippte über den Rand. Das Wasser platschte auf den sandigen Kellerboden und mit ihm der restliche Inhalt des Eimers.
Dagher machte einen Schritt zurück, doch als sich nichts bewegte, leuchtete er den nassen Haufen, der sich am Boden ausgebreitet hatte, mit der Lampe an. Es war eine Art Beutel aus grobem Sackleinen. Er hatte die Größe eines Sitzkissens oder eines Ziegenkopfes und machte einen sehr zerschlissenen Eindruck. Dagher wollte nach dem Sack greifen, doch in diesem Moment erwachte das Ding zum Leben und rutschte mit einem Winseln von ihm weg. Er glaubte noch etwas Langes, Haariges herausragen zu sehen, doch dann schwanden ihm die Sinne und er schlug hart mit dem Kopf gegen den Brunnenrand und fiel dann, wie zuvor der Sack, zu Boden.
Sein Kopf pochte, als hätte ihn ein Daq abgeworfen. Um Dagher herum herrschte immer noch Dunkelheit und er fühlte sich steif und dehydriert. Wie lange hatte er hier unten in diesem Kellerloch geschlafen? Er versuchte, sich zu bewegen, aber ein stechender Schmerz bohrte sich in seinen Nacken. Er zischte und griff sich an den Hals und gab sich Mühe, sich dabei zu orientieren. Blinzelnd versuchte er, etwas zu erkennen oder sich zu erinnern, aber sowohl im Keller als auch in seinem Schädel herrschte zu Dunkelheit. Mit zitternden Händen tastete er den Sand nach seiner Lampe ab und kämpfte gegen die Panik an, als er sie nicht sofort fand. Er gemahnte sich zur Ruhe und bedachte die Schwarze Mutter mit einem kleinen Gebet. Das beruhigte ihn tatsächlich und als er etwas bedachter zu Werke ging, fand er das stabförmige Gerät mit dem abgeknickten Kopf unter seinem linken Bein. Er schüttelte es heftig, drückte den Schalter, aber nichts geschah. Dann erstarrte er. War da ein Geräusch? Er lauschte in die Dunkelheit. Ein Blick nach oben versuchte, den dünnen Lichtrand der äußeren Brunnenabdeckung zu erkennen, aber da war nichts als pure Finsternis. War er so hart aufgeschlagen, dass er davon erblindete? Er fuchtelte mit den Händen vor seinen Augen herum und meinte, die Bewegung zu erkennen. Wieder schüttelte er die Lampe und diesmal zündete der Mechanismus. Das winzige Leuchtmittel verbreitete ein schwaches, gelbliches Licht, ein Zeichen für sein krankhaftes Alter. Es würde nicht mehr oft wiedererweckt werden können. Dagher hoffte, es würde ihn wenigstens noch hier unten zu Diensten bleiben.
Langsam bewegte er die Hand mit der Lampe im Kreis. Er hatte sich in dem tiefsten Raum mit dem Brunnen gewähnt, aber er lag in dem Keller mit der Treppe und der Plastikplane, in dem er einige Stunden – so fühlte es sich zumindest an – geschlafen hatte. War er hierher gekrochen? Beim besten Willen, die Erinnerung daran blieb aus. Was hatte er noch einmal in dem anderen, tieferen Raum gemacht? Mit ernster Miene kämpfte er gegen die Nackenschmerzen an und richtete sich endlich so weit auf, dass sein Kopf eine Chance erhielt, zumindest etwas klarer zu werden. Erneut leuchtete er den Raum mit der Lampe ab. Die Treppe nach oben wies keinerlei Anzeichen für einen kommenden Morgen auf. Er blickte auf die Uhr, doch das Display war gesprungen. Tonlos fluchte er und sah auf den Teststreifen am anderen Arm. Negativ, die Luft war erstaunlich rein und das war sein Glück, denn er trug immer noch keine Atemmaske.
Mit vorsichtigen Bewegungen, um seine Glieder nicht zu sehr zu belasten, hob er die Plane auf, um nach der Maske zu suchen. Es war angenehm, eine Weile ohne den Anpressdruck des Dings gewesen zu sein, aber man sollte sein Glück nicht überstrapazieren. Wo war sie nur?
Er stockte. Wieder ein Geräusch. Da war etwas im selben Raum wie er. Es war ein Ratschen oder Rascheln, ganz leise, aber vernehmbar genug, dass es ihm die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Er leuchtete die Ecken des Kellers aus und versuchte etwas zu erkennen. Vielleicht war es nur eine Maus oder eine kleine Schlange, die hier unten, genau wie er, Schutz suchte. Ihm war schwindelig und als er sich an die Augen griff, hörte er das Schaben erneut. Diesmal war er sicher, eine konkrete Richtung ausgemacht zu haben. Er machte einen entschiedenen Blick auf die Ecke, die er ausgelotet zu haben glaubte, und richtete den dünnen Lichtkegel der Lampe dorthin. Da war es. Was war es? Es war der Sack aus dem Brunnen.
Vorsichtig näherte er sich dem Ding etwas mehr und berührte es mit der Stiefelspitze. Da bewegte es sich. Wieder war dieses hohe, seltsame Geräusch zu hören.
Dagher erschrak und stolperte einen Schritt zurück, doch der Sack setzte sich ebenfalls in Bewegung. Langsam wie eine seltsam weiche Schildkröte kroch er auf Dagher zu und hinterließ im Sand des Kellerbodens diese seltsame Schleifspur, die ihm schon mehrmals aufgefallen war.
Es kam näher und näher und er konnte deutlich die Bewegungen innerhalb des Sackes erkennen und als es nur noch eine Armlänge von ihm entfernt war, schob sich erneut etwas Langes und auf eine widerlich erschreckende Art Haariges aus der Öffnung im Leinen.
Dagher schrie panisch auf und rutschte durch den Sand bis an die Kellerwand und zappelte immer weiter, als diese ihm eine weitere Flucht verwehrte. Das Sackding kroch auf ihn zu und pellte sich weiter aus seiner zerschlissenen Haut. Der haarige Arm – oder was auch immer es war – schob den Sack weiter auf und dann – Dagher stockte erneut der Atem – kam seine eigene Gasmaske zum Vorschein.
Als er erwachte, berührten Sonnenstrahlen die schlechte Wicklung seines Stiefels. Die Luft schmeckte nach Staub und einem frühen Morgen. Dagher blinzelte sich den Dreck aus den Augen und sah sich um. Der Kellerraum war nun gut genug ausgeleuchtet, dass er alles ohne Lampe erkennen konnte. Sein Kopf dröhnte. Er rieb sich mit dem Handschuh über das Gesicht, sah auf das gesprungene Display seines Armbandpads und richtete sich auf. Mit steifen Gliedern versuchte er sich zu erinnern. Der Sack aus dem Brunnen – er rieb sich erneut über das Gesicht und schüttelte dann den Kopf – was für ein grotesker Traum.
Vorsichtig beugte er sich nach seinem Filtertornister und schüttelte den Schlauch aus. Er musste seine Maske anziehen. Ein Blick auf den Teststreifen an seiner Jacke beruhigte ihn zwar, aber erstens konnte der Streifen aufgebraucht sein und zweitens änderte sich die Atmosphäre häufig und wahnsinnig schnell. Außerdem waren draußen sicher noch Neobuds unterwegs. Sie konnten jederzeit die Entscheidung treffen, das Gebiet, in dem sich Dagher befand, erneut zu vergasen.
Akribisch suchte er im Gerümpel, faltete schließlich die Plane unter der er geschlafen hatte zusammen, um auch sie als Versteck für seine Maske ausschließen zu können und war sich endlich sicher, in diesem Bereich des Kellers überall nachgesehen zu haben. Möde hob er sein Gewehr auf und lauschte in Richtung der Treppe. Was für ein verrückter Traum, ging es ihm durch den Kopf, aber war es unter diesen Umständen ein Wunder, seltsame Träume zu haben? Hatte er die Maske in dem kankarischen Grabraum abgezogen? War sie dort?
Sein Gewehr umhängend blickte er noch einmal in jede Ecke des Kellers und zuckte dann mit den Schultern. Er bückte sich unter dem niedrigen Türsturz hindurch und betrat den schmalen Gang. Dann bog er nach rechts ab und arbeitete sich bis zu der Grabkammer vor, doch auch hier fand er seine Maske nicht. Als er mit dem Hinterkopf an einem etwas aus der Decke stehenden Stein entlang schrammte fluchte er leise und beschloss auch diesen Kellerbereich aufzugeben. Die Maske war nicht hier.
In seinem Traum hatte es am Ende des Ganges zum Ausgang einen weiteren Raum und dann noch einen gegeben. Ganz unten war da ein Brunnen gewesen. Traum oder Realität, überlegte er. Er schüttelte seine Wasserflasche. Sie war leer. Trotzdem, vielleicht würde er dort die Gasmaske finden. Er schob sich in den Gang, passte mit seinem Tornister auf und kam schließlich in den hinteren Keller. Sein Kopf dröhnte und er konnte in der staubigen Luft schlecht atmen. Vorsichtig hustete er den Staub aus und blickte sich um. Hier war es dunkler als in seinem Schlafraum. Er klemmte erneut die Lampe vom Träger seines Tounisters und richtete den Lichtstrahl auf den Boden. Die Welt begann sich um ihn herum zu drehen. Kopfschüttelnd versuchte er zu begreifen, was ihn so zermübte. War es die Luft oder der Durst? Er kniff die Augen zusammen. Da war eine Linie im Sand. Es war ein dünner Strich am Boden und er bildete eine Grenze zwischen diesem Raum und dem, in dem er in seinem Traum den Brunnen entdeckt hatte.
Vorsichtig ging er in die Hocke und sah sich die Linie im Sand genauer an. Er beleuchtete die beidseitigen Dämme und die Tiefe der Rinne. Alles in ihm schrie nach Wasser, aber sein Verstand sagte ihm, überquere diese Linie und du bist verdammt!
Als er die Treppe ins Licht hinauf ging, war es, als ließe er einen Teil seines Lebens in diesem Jamawai. Das Gebäude an der Oberfläche war ganz und gar zerbombt und es war ein Wunder, dass der Keller diesen Angriff als Ganzes überstanden hatte. Dagher wickelte sich sein langes Tuch um Gesicht und Hals und ließ nur einen schmalen Streifen für die Augen frei. Er blinzelte in die Sonne und blickte dann in die Weite der Steppe hinaus. Er hatte einen weiten Weg vor sich und er hatte weder Wasser noch eine Maske, aber er war guter Dinge. Die Schwarze Mutter würde ihn beschützen.
Er blickte sich um und verbeugte sich vor dem Unterschlupf, der ihn gerettet hatte. Dann kniete er nieder, legte die Hände flach auf den sandigen Boden und berührte sie mit seinem Gesicht. Kama war sein Schutz.
Als er sich wieder erhob, zeigte der Teststreifen eine niedrige Konzentration von Giftstoffen in der Luft an. Er würde es bis zum Basislager seiner Schwestern und Brüder schaffen. Müde, aber voller Hoffnung machte er den ersten Schritt.