Encyclopaedia GalacticaLiteraturAuswahl

Die Schwarze Perle

Inhaltsverzeichnis

Ursprung: Tiba Fe

Land: Kisadmur

Autor: Ildarion Corpas

 

Schelmerei betagt zum Heldenstreiche wird … 

LdY`s

 

Prolog

Vor mehr als einem halben Millenium schleicht ein Mann durch den Wald von Korezuul. Sein Herz ist von Trauer erfüllt. Seine Liebe trägt ein Kind im Leib, doch nichts an diesem Umstand bereitet ihm noch Freude. Es ist nicht lange her, da war sie glücklich und rannte mit ihm über das Moos des Waldes. Doch dann traf sie ein Stein. Der Berg ist eine wütende Gewalt. Niemand hat Schuld, niemanden trifft sein Hass. Das Kind wird sterben. Das ist das Urteil kundiger Köpfe. Er sucht nach einem Ausweg. Jede Nacht verbringt er an ihrem Lager. Doch bei Tage sucht er. Er weiß nicht, was es ist, was ihn ruft. Doch er geht in die Wildnis – immer wieder. Im tiefen Wald hofft er auf Gnade. Dann ist er selbst die Gnade.

Eines Morgens hört er das Winseln eines Tieres in Not. Sein Geist ist vernebelt von Müdigkeit, doch seine Sinne sind wach. Er läuft, springt über Busch und Bach und da, im finstersten Hag, wird das Wehklagen zu einem erbitterten Flehen. Die Luft ist erfüllt vom Summen giftiger Hummeln und als er in die Schatten tritt, kommen die fliegenden Wächter bedrohlich nah. Doch er fürchtet ihre Bisse nicht. Die Furcht liegt in seinem Bett. Hier gibt es nur Hoffnung und Gnade.

In der Dunkelheit windet sich eine Bestie. Ihr Fell ist weiß wie Schnee und grün wie das Laub im Frühling. Sie sieht ihn, fühlt sich bedroht, windet sich. Knurrend fletscht sie die Zähne und Geifer spritzt aus ihrem Rachen. Ihre Krallen scharren in der Erde. All dies sind Zeichen der Verzweiflung. Ihr Vorderlauf blutet, steckt in einer Eisenschlinge. Das Fleisch ist roh und der Knochen blank. Sie jault und schnappt nach ihm. 

Beschwichtigend hebt er eine Hand und sie packt seinen Arm. Ihr Biss ist kraftlos, doch auch ein schwacher Wolf hat scharfe Zähne. Er packt die Schnauze und drückt zu. Sie wehrt sich, doch er verschließt ihre Nüstern und ignoriert den eigenen Schmerz. Schließlich schwinden der Bestie die Sinne. Er lässt nach. Sie liegt still im Unterholz. Schnell öffnet er die Schlinge und bedeckt den Knochen. Sein Handwerk ist das Eisen, doch er weiß, dass dieses Tier kein Eisen mag. So bohrt er mit dem Schlingendraht Löcher in ihr Fell und schnürt die Wunde mit seines Bartes Haar. 

Nach getaner Tat sieht er sie an. Sie ist schön wie die Nacht und alt wie die Monde und sie hat ihn ordentlich verletzt. Aber sie ist ein Geist, ein Elt und ihre Gesetze sind die der großen Mutter. Als er geht und seinen eigenen Arm untersucht, hört er hinter sich ihr Knurren. Das erste Mal seit Tagen geht ein Lächeln über seine Lippen.

 

Die Zeit vergeht und mit der Zeit verliert der Mann seine Hoffnung. Die Heiler sind da. Sie glauben zu helfen, aber sie können es nicht. Als seine Frau niederkommt, ertönt nur ihr irres, Qual verzerrtes Stöhnen, doch kein einziger Kinderschrei. Traurig verlassen die Kundigen den Mann und nehmen die kranke Mutter mit sich. Ihr Geist ist auf immer verwirrt. Sie werden sich um sie kümmern. Ihn überlassen sie der Trauer und seinem toten Sohn. Doch kaum glaubt er sich allein, betritt eine andere Gestalt das Wehenzelt im Wald. Sie ist groß und dünn und ihr Geruch ist beißend scharf. Als er zu ihr aufblickt, zieht seine Narbe am Arm und uralte gelbe Wolfsaugen sagen ihm, er soll das Kind zu Boden legen.

Dieser Blick duldet keinen Widerspruch und so legt er den leichten Körper in das Moos. Sie aber streckt die bleiche Hand nach der Stirn des Welpen und der Mann sieht rings um den Arm eine tiefe Narbe von Eisendraht. Sein Barthaar ist vergangen, doch die Wunde ist schlecht verheilt und darum fürchten die Elt dieses Metall.

Die Waldwölfin gräbt mit ihrer Klaue Ritze in des Welpen Haut. Tief schneidet sie und aus ihrer Kehle dringen unverständliche grollende Worte. Lange hat sie nicht gesprochen. Nicht mit ihresgleichen und nicht mit anderen. Dann ist das Zeichen vollendet und sie leckt das Blut von ihrem Nagel. Ihr Leib krümmt sich, und dünn, blau und silbern fließt etwas von ihrer Zunge zu dem Mal auf der winzigen Säuglingsstirn. Da öffnet das Kind den Mund und schreit nach Leben und das Leben lässt sich niemals zweimal bitten. Mit Gewalt dringen Luft und Eltkraft in des Kindes Lungen und der Vater stottert fassungslos: »Meine kleine Stirn.«

Als er aufblickt, wendet sich die Hexe ab. Sie ist geschwächt um des Kindes Stärke. Dann kommen draußen Nebel herbei und dünner wird sie, bis der Wolf im Wald verschwindet. Der Mann aber dankt ihr tonlos, denn er weiß, nicht alle Wölfe zahlen ihre Schuld!

 

Ughnor, der stolze Schmied von Dranought wurde von einem unbekannten Amytoren gebissen. Er entkam der Bestie, doch am nächsten Tag färbte sich sein Bein dunkel und schwoll an. Wie alle Skergenvölker sind auch Nyghs immun gegen die meisten Gifte und Krankheiten und kennen sich daher auch nur sehr peripher mit solchen Dingen aus.

Trotz der enormen Regenerationsfähigkeit seines Volkes geht es dem Schmied von Tag zu Tag schlechter. Schließlich entscheiden sich die Ältesten eine Graukrähe zu bitten, nach Kisadmur zu fliegen und dort Ughnors Sohn Ughtred zu finden. Dieser zog vor langem aus, um die Sitten der Silberwölfe kennenzulernen und seinen Horizont zu erweitern. 

Die Krähe bricht auf und nimmt das große Wagnis auf sich, den gefährlichen Luftraum zwischen Korezuul und Kisadmur zu durchmessen. Sie fliegt ohne Rast über die Berge von Dran`Orad, wo kaum ein Flugschiff je verkehrt. Ihr Weg führt sie nach Elaiyney, von wo vor über einem Winter die letzte Nachricht des Sohnes gekommen war.

Doch sie findet ihn schneller als erwartet und berichtet Ughtred von dem Unglück. Dieser ist zutiefst bestürzt. Trotz seiner Differenzen mit dem Vater liebt er ihn und kann ihn nicht verlieren. In Elaiyney empfiehlt man dem Nygh, mit dem Flugschiff nach Shishney zu fliegen. Dort leben die Hexen des Doppelmondes und niemand in Kisadmur kenne sich besser mit Giften aus als sie.

 

In der Kaschemme der Eindornigen Quink sitzen ein Smavari, zwei Hobgoblins, ein Puca und ein Nygh an einem Tisch. Zum wiederholten Male spricht der Silberwolf von dem Gewinn und der Gerechtigkeit, welche diesen armen Wesen widerführe, wenn, ja wenn nur einer in der Lage wäre, ihm zur Seite zu stehen. Er selbst könne wohl die Klinge führen und der Puca hier hätte Macht über die Nebel der Sümpfe, doch den Verschluss, den könne nur ein Meisterdieb öffnen.

Der Nygh weiß sehr gut, um was für einen Verschluss es geht. Fast jeder Ladekran der Sternensegler und Wellenbrecher ist mit einer komplizierten Apparatur versehen, welche der Lademeister mit einem anderen Apparat über den Äther öffnen und schließen kann. So ist gewährleistet, dass die Ladung stets sicher auf dem Boden des Hafens landet. Er hat eine Rechnung mit dem Besitzer der betreffenden Barke offen. Der Kerl hat ihn von Bord geworfen und darüber hinaus seine Spinnenseide behalten. Was soll er jetzt den Hexen für ihr Gegengift anbieten? Und er hat die schönen schwarzen Frauen und Männer an Bord gesehen. Wie Vieh werden sie behandelt.

Ughtred, Ughnors Sohn blickt in seinen Becher. Was hat er mit dem Recht der Langohren zu tun? Daheim liegt sein Vater in Krämpfen und die Zeit bleibt schließlich nicht stehen. Wenn er nicht schleunigst dieses Antidot bekommt und die Heimfahrt antritt, wird der alte Mann sein Bein verlieren oder sogar sterben.

Das rattengesichtige Langohr mustert ihn wie eine Schlange. Dann sagt der Smavari mit seiner seltsam dünnen Stimme: »Ja, aber nein, vielleicht ist es auch einfach unmöglich, einen smavarischen Ladeverschluss mechanisch zu öffnen. Wahrscheinlich ist die Sache einfach zu schwer. Ich wette, keiner, ob Skerge oder Silberwolf, ist zu solch einem Kunststück in der Lage.«

Ughtred nippt an seinem Zuckerbier und wischt sich mit dem Handrücken über den Bart. Dann murmelt er verärgert: »Ich mach`s. Aber du lässt die Phani alle frei!«

Er knurrt, als sei er und nicht sein Gegenüber ein Wolfsblut. Doch alle außer dem gehörnten Puca lächeln zufrieden und prosten sich zu. 

Sechs und eine halbe Stunde später sitzt Ughtred durchnässt und ohne Perspektive, aber um eine Lebenserfahrung reicher, im Verlies der Smavarizitadelle.

 

Katha`Kyon dan Y`shandragor und sein Freund Northrian Kylvasar ven Arudsel liegen nach schweißtreibenden Aktivitäten in einem Separee des Hauses Lysai und genießen den schwarzen Dunst ihrer Pilzpfeifen. Kyons Geist ist schon von den Giften benebelt, aber er liebt es, Norths jugendlicher Stimme zu lauschen. Gleichmäßig plätschern die Worte des Geliebten dahin, bis Kyon plötzlich an die Oberfläche der Realität zurückkommt.

»Es beinhaltet durchaus interessante Informationen. Es könnte fast sein, dass der alte Haudegen da etwas Bemerkenswertem auf der Spur war«, hört er North sagen.

Langsam bildet der Rauch vergängliche Galaxien über den beiden hellhäutigen Gestalten. Kyon hebt sein Haupt aus dem Schoß des anderen und mustert die kleine Gehilfin, die auf einem Kissen unbeteiligt ihre Zehen untersucht. 

»Geht und holt Gelbwein. Benötigt mehr Zeit als nötig«, sagt er freundlich und weiß, dass sie nun nicht unangemeldet wiederkehren wird. 

»Ihr habt es gelesen?« fragt er, ohne North anzusehen. 

»Es liest sich gut«, erwidert der andere unbekümmert. 

»Woher habt ihr es?«

»Eure Mutter gab es mir bei meinem letzten Besuche.«

Kyon schweigt. Er denkt an den Kristall seines Vaters, den man nach dem Unglück am Rande der Wüste fand. Der Drache hatte den Reisenden offenbar ganz und gar verschlungen, doch seinen Packsattel nicht.

Er hatte das Tagebuch nicht gelesen. Diese Vergangenheit war ihm zu unbequem. Doch jetzt kratzt der Schmerz des Verlustes erneut an seinen Venen. Warum hat sie das getan? Tag um Tag sitzt sie in ihrem Stuhl und spricht kein Wort. Nichts kann ihr kleines, nach innen verkehrtes Lächeln erschüttern. In einer Welt der Agonie schläft sie mit offenen Augen den Traum des Irrsinns. Und jetzt sagt dieser Welpe, sie hätte ihm das Tagebuch des toten Gatten geliehen? Schicksals schwere Not – als wäre er selbst Opfer der Bestie geworden, windet sich sein Geist aus den Schleiern der Rauschmittel. Doch es ist zu spät. Schon plaudert North weiter, gerade so, als ginge es hier nur um den neuen Geliebten der Chayil`si.

»Er glaubte die Schwarze Perle gefunden zu haben …«

Kyon ist außer sich, doch wie so oft gelingt es dem Freund, den Trauernden zu beruhigen. Schließlich brechen sie auf und verabreden sich in Kürze im Hause Y`shandragor, wo North den Kristall zurückgeben will. 

 

Wenn es schief geht, dann aber richtig, denkt Ughtred und überzeugt sich von der Stabilität der Eisenpforte. Mit fragendem Blick mustert er das kleine Loch im Boden der Zelle. Ob die den Kopf eines Nyghs vermessen hatten, als sie die Latrine planten? Drei, vier Finger mehr hätten es sein müssen, dann würde er dieses verfluchte Land der Langohren – wenn auch stinkend – hinter sich lassen. 

Auf dem Zellengang sind Schritte zu hören. Jemand spricht. Sein Smavarisch ist schlecht, aber vieles versteht er instinktiv. 

Eine seltsam hohe Stimme – es klingt, als versuche ein Mann wie eine Frau zu sprechen – sagt: »Warum sollte ich euch helfen?«

Eine andere Person räuspert sich. Doch anstelle einer Antwort ist das Rascheln einer sich öffnenden Tasche zu hören.

Dann wieder die Fistelstimme: »Hm, wozu soll das gut sein und woher wollte ihr überhaupt wissen, welcher Schlüssel der richtige ist?«

Diesmal ist leise eine Antwort zu hören: »Ich habe es gelesen. Ganz. Und ich habe es verstanden.«

Wieder die Fistelstimme: »Und der Nygh kann das?«

Es dauert einen Moment, aber dann hebt sich die Sichtplatte der Zelle. Der Insasse zieht sich in den Schatten einer der Wandpylonen zurück. Durch die Öffnung sind in der Finsternis glimmende Smavariaugen und ein jugendliches Gesicht zu sehen. Dann fällt die Klappe scheppernd zurück und Schritte entfernen sich. Ja, wenn es schief geht, dann richtig.

 

Drei Tage später erfährt Kyon während einer Soiree aus dem Munde des Hausherren von einem aus dessen Sicht lustigen Unglück. Ein junger Stutzer namens Arudsel – was für ein Name – sei unter die Kufen eines Schlitten geraten und habe sich den Kopf derart angeschlagen, dass er in die Grube am Ostwall gestürzt sei.

Katha`Kyon dan Y`shandragor verlässt ohne Zugabe seiner Gesangskünste das Etablissement und eilt von Grauen erfüllt zur Pension, in dem die Arudsels Quartier genommen haben. Als er ankommt, findet er die Schwester des Freundes und das Sterben seiner eigenen Hoffnung im Blick der jungen Hexe.

 

Im Keller der Pension, in der ihr Bruder und sie seit einiger Zeit wohnen, steht die Hexe Yt`Talan ven Arudsel vor dem Leib des Toten. Huinkis, die alte mürrische Quink, unter deren Dach sie lebt, entzündet mehr und mehr Kerzen. Tal sucht in größter Konzentration nach den letzten Zutaten. Ihr Kessel brodelt und endlich ist es vollbracht. Als sie den Schlauch an der Maske von Northrian befestigt und den Hahn aufdreht, singt sie eine uralte Beschwörungsformel. Der Sud rinnt in die Venen des Toten und das Licht der Energiekristalle flackert. Geradezu hysterisch schreit die Hexe ihre Flüche heraus und wiegt sich mit vor Schweiß nassen Haaren im Totentanz. Dann ist es endlich vollbracht. North hustet, stöhnt und reißt sich die Maske vom Gesicht.

Plötzlich zischt ein Energiestoß durch den Raum. Das Licht geht aus und die Kerzen flackern. Die alte Quink schreit und mit ihr schreit der Erwachte. Irgendwo beginnt ein Kristall zu zischen und dann ist es vorbei. 

Tals Gedärme ziehen sich zusammen, als sie erkennt, dass die Beschwörung schief gegangen ist. Im violetten Grenzraum des feinstofflichen sieht sie mit psionisch verklärten Augen das silberne Band der Seele ihres Bruders zerreißen. Wenn sie nicht sofort handelt, ist die Essenz für immer verloren. Ihr Blick schreckt zu der Truhe ihrer Eltern. Sie hat das modrige Ding fast vergessen. Ohne zu zögern, reißt sie den Deckel auf und wirft all die Erinnerungen durch den Raum. Hinter ihr vergeht ihre Beschwörung. Sie weiß, sie hat versagt. Aber noch ist da eine Chance.

Endlich findet sie den Kriegshandschuh ihres Vaters. Das Leder ist brüchig und von Schimmelflecken überzogen, aber der Seelenstein schimmert unversehrt im Handrücken. Schnell schiebt sie die Hand in den Schaft, tastet mit den Fingern im Schmutz der Vergangenheit. Dann zündet der Shimwas im Handschuh und taucht das Gewölbe des Kellers in fahles grünes Licht. Erneut singt sie die Beschwörung. North ist noch hier. Der Stein zieht ihn heran und macht ihn kurz sichtbar. Dann knackt und zischt die Luft und alles was an Norths Essenz noch um sie ist, wird unweigerlich und irreversibel in den Shimwas gezogen.

Als Tal mit Tränen im Gesicht nach dem Handschuh sieht, verspürt sie ein Zupfen an ihrem Lendenschurz. Es ist Huinkis. Sie deutet zum Tisch, auf dem unbeweglich der tote Körper des Bruders kauert. Die Hexe streicht sich keuchend die nassen Haare aus der Stirn. Was hat sie getan?

 

Sie kommen noch in derselben Nacht. Unvermeidlich spürten sie den energetischen Vorgang. Gegen den Willen der großen Hexe, ihrer Mentorin hatte Tal die Erweckung geplant. Sie hatte alte Schriften, seltene und verbotene Substanzen und einen Zweiraumkonverter aus den Hexenhallen entliehen und schließlich fremde, unkontrollierbare kosmische Kräfte geweckt – ohne Erfolg. 

Jetzt muss sich Tal vor ihren Schwestern und Brüdern und vor allem vor Elisha Kyrin Akkatha yr Strontide, der ersten der Doppelmondhexen verantworten.

Schweigend stehen sie in dunklen Kutten im Haupthaus des Zirkels. Auf der Altarplattform erhebt sich Mutter Akkatha von ihrem Kreuzstuhl. Die hochgewachsene Smavari blickt mit Verachtung auf ihre Schülerin herab. Dann streckt sie ihren Zeigefinger aus und deutet anklagend auf Tal. 

»Bei allen Aspekten, was zum Großen Fresser habt Ihr Euch nur dabei gedacht?« 

Tal will etwas erwidern, mit ihren Beweggründen die Schuld mindern, doch die Hexenkönigin schneidet ihr das Wort ab und ruft: »Ein Zweiraumkonverter und die ätherischen Öle von Dur Nurenoth – sie werden oben in der Festung wissen wollen, was wir hier machen. Sie werden Fragen haben. Vielleicht wollen wir Sucullen auf die Tiba Fe einladen oder gleich die ganze Welt mittels Anomalie mit ihren drei Sonnen verschmelzen.«

Sie holt Luft, doch dann bremst sie ihren Zorn. Wortlos bildet sie mit den Händen Befehle. Kleiner- und Ringfinger der linken Hand bilden einen Kreis, während die zwei übrigen Finger und der Daumen ausgestreckt nach oben deuten. Die andere Hand schneidet durch die Luft und Tals Zukunft im Zirkel. Keine fünfzig Atemzüge später haben die anderen Hexen sie vor die Tür gesetzt. Polternd fallen ihre wenigen Habseligkeiten neben ihr auf das Kopfsteinpflaster. Es beginnt zu regnen – vom Himmel herab und aus Tals Augen. 

 

Tage nachdem der Leib des Northrian Kylvasar ven Arudsel vermeintlich den lösenden Sonnenstrahlen übergeben wurde, schlendert der von Trauer übermannte Kyon den Weg entlang, wo das Unglück geschah. Der Schnee in der kalten Grube ist geschmolzen und er blickt über die trostlose Halde. Dann beschließt er, hinunter zu steigern. Hier wandeln keine Smavari, doch er will es sehen. Er will den Schmerz mit Schmerz bekämpfen.

Als er am Grunde ankommt, blendet ihn das Sonnenlicht. Es wird von etwas draußen, außerhalb der Schatten reflektiert. Müde geht er ein Stück ins Licht hinaus. Seine Augen schmerzen und Dampf steigt aus dem Kragen seines Mantels. Dann bückt er sich nach dem Ding am Boden. Zwischen Schmutz und rohem Gestein greift er nach dem Kristall seines Vaters. Zögernd suchen seine vom Licht schmerzenden Augen die Klippe. Er befindet sich etwa fünfzig Schritte von der Unfallstelle entfernt. Der Kristall ist nicht auf natürlichem Weg so weit geflogen. North muss ihn geworfen haben. Vor dem Sturz, vor dem Schlitten. Doch weshalb? Ein Verdacht, eine Szene bildet sich in Kyons Verstand.

 

Kyon sitzt am Fenster seines Zimmers und betrachtet nachdenklich die Bilder, die der Kristall in den Raum wirft. Schlüssel, Wälder, die Wüste, Schilde und unzählige Fragen geistern durch die Luft. Die Erinnerungen an seinen Vater machen es ihm schwer zu begreifen, was er sieht. 

Kann es sein? Hat er all die Zeit seinen Vater zu Unrecht als wirr und versponnen eingeschätzt? Das Tagebuch spricht von einer virtuellen Karte, welche die Standorte verschiedener Schätzen anzeigen könne. In einem Mausoleum in Korezuul sei dieses Wunderwerk zu finden. Und man bräuchte einen Nygh, um Zugang zu diesem Ort zu erlangen. Ist es ein Zufall, dass er kürzlich auf der Brücke zum Pilzmarkt gesehen hat, wie die Wachen eins von diesen kleinen Dingern aus der Eisschlange fischten? Ein Dieb, dem es gelungen ist, einen Ladekran zu manipulieren. Leider haben seine Kollegen die Ladung mit ihm zusammen in den kalten Bach fallen gelassen.

Nur wenn, dann wie? Der Dieb ist in der Zitadelle. Und nur wer keine Luft zum Atmen braucht, kann durch die Kanalisation, um das Verlies von innen zu öffnen.

 

»Ihr habt was getan?« Kyon hat die Hexe wohl verstanden, aber er kann es nicht wirklich verinnerlichen. Sie hat versucht, den toten Bruder aus der Anderwelt zurückzuziehen, um ihn wie bei einer zweiten Geburt erneut an seinen Körper zu binden. Vergeblich. Natürlich. Aber ihre Mentorin ließ ihr den belebten, aber unbeseelten Leib. Warum auch immer. 

Er blickt in ihre seltsam unbewegten Augen. Hat sie gerade vorgeschlagen, sein Problem mit dem Toten zu lösen? Er hatte nach einer Alchemie gefragt, mit der er selbst durch die Kanalisation gelangen könnte, aber mit ihrem Gegenvorschlag hatte er beim besten Willen nicht gerechnet.

Er verlässt sie, aber schon auf dem Weg nach Hause weiß er, dass er wieder zu ihr gehen wird. Körper sind Material. Nichts von North ist in diesem toten Leib. Wie alle Silberwölfe hat er in der Tiefe seines Herzens keinerlei Bezug zu den physischen Überresten seines geliebten North. Er ist irgendwo. Nicht in diesen künstlich belebten Knochen und Muskeln.

 

Um den Nygh zu befreien, ist es notwendig, in den Kerker der Zitadelle einzubrechen. Unter dem Verlies befindet sich eine mit Wasser geflutete Kanalisationsebene. Es gibt einen Einstieg auf der nordwestlichen Seite des Gebäudes. Es muss schnell gehen, aber es wird funktionieren, denn die Wachen sind träge und notorisch unaufmerksam.

Es ist kalt und nur einer der Monde scheint bleich durch den wolkenverhangenen Nachthimmel. Das Wasser hat die Farbe von Blei. Kyon steht neben Norths Körper, während Tals Leib in selbst auferlegter Stase in seinem Haus weilt. North atmet nicht. Er kann durch die Jauche gehen. Besser noch, die dort unten hausenden Monster interessieren sich nicht für sein untotes Fleisch. Er ist ihresgleichen. Auf der Wachebene wird er den Kerker betreten und schließlich von innen das Seitentor öffnen – all dies vom in ihm steckenden Geist seiner eigenen Schwester. 

Es ist unheimlich zuzusehen, wie der Leichnam in das brackige Wasser gleitet. Kyon fröstelt und sieht sich um, als die Hexe im Körper ihres Bruders in die Jauche abtaucht. Über Kyons Kopf bewegt sich ein Licht. Ein Wächter patrouilliert über den unteren Wehrgang, aber wie erwartet, hat er keinen Grund zum Sockel der Mauer herunter zu blicken.

Kyon drückt sich dennoch tiefer in den Schatten. Da öffnet sich mit einem durchdringenden Knirschen die Eisenpforte zum Verlies. In der Dunkelheit steht der nasse Untote. Kyons Atem geht schneller. Er holt Luft, als müsse auch er tauchen und schlüpft die alte Treppe hinab.

Neue Gefangene werden in die obersten Zellen gebracht. Es wurde mit Sicherheit noch kein Urteil über den Dieb gefällt. Die Richter von Shishney lassen sich Zeit. Kyon öffnet Eisenklappen und versucht, etwas in den Zellen zu erkennen. Die ersten drei sind leer. In der vierten sitzt eine massige Gestalt auf dem Boden und er will nicht wissen, um was genau es sich hier handelt. Direkt in der nächsten Zelle liegt ein dürres Bündel Skergenfleisch auf der Pritsche.

Schnell zieht Kyon den Eisenriegel aus den breiten Schellen und öffnet die Tür. Der Gefangene richtet sich auf und blickt mit seinen seltsam glimmenden Tieraugen durch die Dunkelheit. Dann knirscht er: »Kann man hier nicht einmal durchschlafen?«

Auf dem Weg zum Hause Y`shandragor fasst Kyon kurz zusammen, wie es zu der Befreiungsaktion kam und dass man einen Vorschlag für den Herrn Dieb hätte.

Dieser entgegnet in gebrochenem Smavarisch, nicht ohne Entsetzen in der Stimme, dass er den neben ihnen torkelnden Toten kenne. Er wäre am Tag seiner Gefangennahme im Verlies aufgetaucht und hätte ihn begutachtet. Da hatte er natürlich noch gelebt.

Da bleibt Kyon stehen. North hatte das Tagebuch also tatsächlich verstanden und er hatte ganz offensichtlich versucht, denselben Weg einzuschlagen wie er. Nur wie? Wie war er in das Verlies gelangt. Unberührt berichtet der Nygh von dem anderen Silberwolf, der mit dieser seltsam weibischen Stimme gesprochen hatte. 

Kyon weiß genau, zu welchem Smavari diese Stimme gehört. Alag Dar`Ytavoulth, der Kerkermeister von Shishney. Er – oder es oder was auch immer – hatte North in die Zitadelle gelassen und mit ihm den Skergen begutachtet.

Nickend berichtet der Dieb von dem Gespräch der beiden Silberwölfe und Kyon durchflutet eine Woge der Erkenntnis und des Zorns. Dann stöhnt North mit seltsam entstellter Stimme: »Sie haben Northrian wegen des Tagebuches umgebracht!«

 

Drei ungleiche Gestalten sitzen an einem runden Tisch in einem typisch kisadmurischen Herrenhauszimmer, welches seine besten Zeiten lange hinter sich gelassen hat. An der Decke wehen graue Spinnfäden und die am Boden liegenden Teppiche sind ausgetreten und verblichen. Von der Dienerschaft fehlt jede Spur. Im Kamin prasselt ein grünes Feuer, doch seine Wärme scheint die drei nicht zu erreichen. In einer der Ecken kauert ein toter, aber auch doch nicht toter, immer noch nasser Smavari.

Ughtred hatte nicht schlecht gestaunt, als sein Befreier ihn in dessen Haus der offenbar schlafenden Hexe Tal vorstellte. Mit einem seltsamen Gurgeln war etwas Lebendes, Waberndes aus dem Toten gekrochen und hatte sich in den Frauenkörper zurückgezogen. Dann hatten sich die harten Schlangenaugen der Frau geöffnet und mit rauer Stimme hatte sie sich erneut vorgestellt: Elisha Yt`Talan ven Arudsel.

Der Nygh versteht noch lange nicht alles, was an diesem seltsamen Ort vor sich geht, aber dass er endlich eine dieser Gifthexen gefunden hat, lässt ihn über das Chaos der Smavariwelt hinwegsehen. 

Tal, Ughtred und Kyon sammeln sich. In der Mitte des Tisches liegt ein pinkfarbener Kristall. Er wirft sich langsam drehende Bilder von Bergen, Riesen und Landschaften in den Raum. Zögernd beginnen die drei ungleichen Gestalten ihre gemeinsame Zukunft zu planen …

 

Hexlein Hexlein schleicht ums Haus

Am Morgen nach der seltsamen Unterredung ging Kyon mit gemischten Gefühlen durch die Gassen der Oberstadt. Immer wieder fragte er sich, wie er in diese Sache hineingeraten war. Dann aber fühlte er sich auch wieder so, als hätte das Ganze unmittelbar mit seiner Familie begonnen. Natürlich hatte er nichts mit den Problemen des Skergen zu tun und auch die Belange der Hexe gingen ihn nichts an, aber das Karma hatte ganz offensichtlich das Wirken seines Vaters mit dem Schicksal der anderen beiden verwoben. Komische Sache.

Die Straßen der Oberstadt waren wie ausgestorben. Das lag an dem Ritual, das am Silbertor abgehalten wurde. Sie würden wieder einmal einen Riss in die Membran zur Anderwelt reißen, um Schiffe durch diese Sphäre zu weit entfernten Welten auszusenden. Diesmal würden zwei kisadmurische Sternensegler in das Reich der Gorden fliegen, um Tod und Verderben über dem Erzfeind auszuschütten. Kyon hatte noch nie einen lebenden Gorden zu Gesicht bekommen, aber er hatte unzählige Male die vielen länglichen Schädel betrachtet, die das eherne Tor der Bergkaserne schmückten. Er hatte noch nie gehört, dass ein Kriegszug ins gordische Reich jemals Schätze oder irgendeinen Gewinn außer den Schädeln der dortigen Bewohner erbracht hätte. Wofür also das alles? Er schätzte den Herrn von MirthasˋEysmi und würde nicht negativ über seine Wünsche und Entscheidungen denken, aber der Zweck der Kriegszüge wollte sich ihm dennoch nicht erschließen.

Im Westen wurde das frühe Licht der aufgehenden Sonnen vom kargen Boden der Ebene zurückgeworfen und verstärkt. Die ersten Gesänge des Rituals waren zu hören. Für die Aufgabe, die vor ihm lag, war genau dieser Kriegszug natürlich perfekt. Die Hexen des Doppelmondes würden nahezu alle auf der Plattform des Tores sein, um mit ihren gebündelten Kräften das Ritual zu vollziehen. Norths Schwester würde sicher niemandem im Zirkelhaus begegnen. Und auch er selbst könnte Glück haben und auf keinen nennenswerten Widerstand treffen.

Die Kapuze seines Mantels über dem Kopf ging er am Laden des Pfeifenmachers vorüber und widerstand dem Impuls, einzukehren. Es wäre so leicht, einfach abzubiegen. Andererseits war der Mann sicher ebenfalls beim Ritual zugegen. Niemand würde sich den Zauber des kreisrunden Tores entgehen lassen, während sich dieses öffnete und in violettem Züngeln einen Blick auf die andere Seite gewährte.

Aus den Schornsteinen der Häuser kräuselte sich bläulicher Rauch in den Himmel und versprach wohlige Wärme. Er konnte den Tabak des alten Quink förmlich auf der Zunge schmecken. Aus dem Norden Oriads will er den Tabak angeblich haben. Wie auch immer, das Zeug schmeckte unerhört rauchig und versetzte einen Mann binnen weniger Sekunden in einen Zustand der schwebenden Ruhe. Gerade wollte er schon mit der Hand nach dem dunkel angelaufenen Silberknauf des Ladens langen, um zu sehen, ob doch jemand da war, als sein Blick auf die beiden Türme der Hexenburg fiel. Seufzend ging er weiter und verfluchte sich dafür.

Reichte es nicht, dass sein Vater sich von einem Drachen hatte fressen lassen? Dieses vermaledeite Tagebuch hätte niemals wieder auftauchen dürfen. Warum hatte Mutter es nur an Northrian weitergereicht? Das war so sinnlos gewesen. Warum? Tagein, tagaus verbrachte sie ihre Zeit damit, aus dem Fenster zu stieren. Nichts und niemand interessierte sie, seit Kyons Vater Lonkaiyth für immer im Rachen der Bestie dahingegangen war. Warum dann jetzt dieses Erwachen? Als hätte sie gewollt, dass North sterben und ihr einziger Sohn zu einem Zerrbild ihres toten Gatten würde.

Natürlich wusste er genau, dass es nicht so war. Der Geist seiner Mutter war seit langem derart verwirrt, dass nur er allein verantwortlich für seine Lage gemacht werden konnte. Kein gefressener Vater und keine entgeistete Mutter waren schuld daran, dass er im Begriff war, in die Silberwacht einzubrechen. Weil er es wissen wollte. Weil er wissen wollte, wie es war, der Abenteurer zu sein. Seine Mutter hätte das ganz sicher nicht gewollt. Am Ende würde er ebenfalls im Rachen einer geflügelten Bestie landen und dann wäre sie ganz allein mit den Dämonen im Hause Yˋshandragor. Was ihn selbst geritten hatte, als er gestern zusagte, bei dieser Sache mitzuwirken, verstand er allerdings immer noch nicht zur Gänze. Wollte er gefressen werden? War es das? Vielleicht weil er sich nur schwer vorstellen konnte, ohne Northrian weiterzuleben. Das war natürlich Unsinn. Wie oft hatte er schon von Liebesliedern geschmachtet, in denen es darum ging, dass eine holde Maid ihr Leben gab, weil ihr Geliebter durch die Klinge eines grausigen Gorden gefallen war? Aber immer, wirklich immer, wenn er solche Lieder zum Besten gegeben hatte, war er mit den Sinnen bei den Mädchen und Jungen seiner Zuhörerschaft gewesen. Mehr oder weniger berechnend hatte er sie zu sich hergesungen. Mit lieblichen Worten der Sehnsucht umgarnt, waren sie ihm ins Netz gegangen und genau darum war North nicht der Grund. Er hatte ihn geliebt. North hatte ihn zum Lachen gebracht und dies gelang kaum jemandem. Echtes Lachen, nicht das Lachen des Spielmannes, des Barden, der sein Publikum umgarnte und so seinen Unterhalt bestritt – dieses Lachen hatte nur Northrian aus ihm herauskitzeln können. Dabei war Northrian alles andere als komisch gewesen. Er war nach Shishney gekommen, um den Chentai beizutreten. Die Scherbenesser waren alles andere als humorvolle Leute und North hatte sein Anliegen, einer von ihnen zu werden, wirklich ernst genommen. Wahrscheinlich wäre er der erste von ihnen gewesen, der in einer stillen Kammer in der Umarmung der Liebe Herzen hätte erwärmen können.

Kyon wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Er mochte nicht an den grotesken Zustand seines Freundes denken, der nun in der Vorkammer seines eigenen Wohnzimmers in einem Holzsarg ruhte, wenn man das überhaupt ruhen nennen konnte. Diese verrückte Hexe hatte ihren eigenen Bruder in eine lebende Leiche verwandelt. Geistlos, gefühllos und ohne Wahrnehmung lag Northrians Körper in dieser Kiste, dazu verdammt, langsam zu verrotten. Wo sein Geist und seine Essenz geblieben waren, wusste Kyon nicht einmal zu erahnen. Es gab Lieder über die Monde und zu ihnen aufgestiegenen Wolfsgeistern. Wie schön, wenn es so wäre. North würde da oben auf dem Rücken des Chayil auf ihn warten und gemeinsam würden sie dann für alle Zeiten die Tiba Fe umrunden. Er überlegte, warum er sich ausgerechnet den Fürsten als Totenmond ausgesucht hatte, aber er war sich sicher, dass North mit seiner Wahl zufrieden gewesen wäre.

Langsam ging er am Haus Djarias vorbei und überquerte die Kreuzung Ecke Freudengasse. Wie oft war er hier mit North zum Haus Lysai abgebogen oder auf dem Heimweg nach einem durchzechten Tag nach Hause. Er sah die Gasse hinunter, als suche er Norths Leibesabdruck in der Realität.

Kyon geht durch die Straße zum Haus Lysai und zählt die Schritte. Er hat einen schlechten Morgen hinter sich, denn seine Mutter weigert sich jetzt seit über zwanzig Tagen zu sprechen. Was ist nur mit ihr los? Vor ihm steht ein junger Mann, der sich mit mehreren Quink streitet. Er sieht den Silberwolf an und ist sofort in das schöne, seltsam unverbrauchte Gesicht verliebt. Die einfache Kleidung weist ihn als provinziell aus, aber die stolze Haltung macht diesen Mangel an weltgewandtem Auftreten wett. Langsam geht er auf ihn zu und verscheucht mit seiner Ankunft die aufdringlichen Quink. Er fragt nach dem Ziel des anderen und erhält zur Antwort, er kenne sich hier nicht aus, hätte aber gehört, das Haus Lysai sei nobel und würde nur von angenehmen Klientel besucht. Diese Rede vereinnahmt Kyon endgültig für den Fremden. Und dann wird sein Herz schwer. Er weiß nicht warum, aber da ist eine karmische Trauer, die ihn befällt. Schnell streicht er durch die Sphären seiner Gefühlswelt und kehrt in die Realität zurück. Heute nicht, denkt er. Heute das Lysai, morgen die Trauer …

Doch da war nichts von North. Sarg, erinnerte sich Kyon. Der Weg geht geradeaus zur Silberwacht. Was war es noch einmal? Eine Bleidecke, weil sein Vater es in sein Tagebuch geschrieben hatte. Von nun an würde sein Leben von den geschriebenen Zeilen der Scherbenschrift abhängig sein.

Mit trübem Blick sah er auf das Denkmal Raguels auf dem Platz vor den Wachtürmen hinüber. Auch so eine tragische Gestalt. Sie hatten das übergroße Abbild des einstigen Helden aus Gold geschaffen, dabei war er zu Lebzeiten ein Feind des großen Mirthas war. Silber hätte es sein sollen. Er zuckte mit den Schultern. Die Überlebenden schrieben die Geschichte, nicht die Toten. Wieder dachte er an das elende Tagebuch. Quinkdreck und Drachengalle, eine verdammte Bleidecke sollte es sein. Medizinische Utensilien und Waffen, Pfeile, Seile und Zelte, all dies war ja noch zu verstehen, aber eine Bleidecke? Jedes Kind wusste, dass Blei nichts gegen Drachenfeuer ausrichten konnte. Auch sein Vater hatte das gewusst. Spätestens als das Ende auf gewaltigen Schwingen über ihm den Himmel verdunkelt hatte.

Seiteneingang oder Haupttreppe zwischen den Türmen hindurch, dies war die Frage, die das Schicksal Kyon nun stellte. Er sah zur breiten Treppe empor und Erinnerungen an viele Zechen in den Wachhäusern dieses Gebäudes drängten sich in den Vordergrund. Auch sein Vater war hier ein- und ausgegangen. Kyon hustete, als könne er sich so der schlechten Laune entledigen, aber davon konnte keine Rede sein. Er war ein Sliyn und als solcher kam natürlich nur die Haupttreppe für ihn infrage. Was sollte sein? Andaloy miteinander, kann mir mal jemand eine schwere Bleidecke reichen?

Abgesehen davon würde der Großteil der Belegschaft ja am Tor drüben, den Hexen auf die Ärsche starren, während diese mit ihren kosmischen Kräften kosmische Schrecken beschworen.

Festen Schrittes erklomm er die hohen Stufen und wollte gerade das Tor dazu animieren, sich zu öffnen, als das gewaltige Ding diesem Wunsch von ganz allein nachkam. Er machte einen Schritt beiseite, als eine Horde von acht Kriegern in schwerem Rüstzeug und überlangen Lanzen aus der Haupthalle gerannt kam. Letzte Vorbereitungen für den Kriegszug. Von wem hatte er eigentlich zuerst von dem bevorstehenden Ritual erfahren? Nach kurzem Nachdenken fiel es ihm wieder ein. Yourgan Diariel dan Yr`Ithmor, einer der Wächter hatte es erzählt. Yourgan war kein Intimfreund von Kyon, aber er mochte den feschen Gardisten und Yourgan ließ sich gerne von ihm zu Gelbwein einladen. Außerdem mochte der Krieger Kyons Gesang und allein dafür liebte ihn der Barde. Hatte geliebt, würde es wohl zukünftig heißen müssen. Der Idiot hatte sich für einen Durchflug der Anderwelt und dem Angriff auf eine Gordenenklave gemeldet; freiwillig wohlgemerkt.

Kyon schüttelte den Gedanken ab, in Kürze vom Fall eines weiteren Freundes zu erfahren, war zu viel für diesen Morgen. Er wartete, dass die Krieger ihre Lanzen von der Treppe bewegten. Es sah irgendwie grotesk aus. Wie wollten sie mit den vier Mann langen Dingern kämpfen, wenn sie es nicht einmal schafften, sie halbwegs elegant aus der Wacht zu bekommen? Sie schwitzten jetzt schon und das im frühesten Frühling.

Er schaute von der Treppe nach Westen, aber die Gebäudedächer verwehrten ihm den Blick über die große Ebene vor Shishney. In wenigen Minuten würde sich ein gewaltiges Phänomen vor den Stadtmauern auftun. Zuerst in Blau und dann in züngelndem Violett würden die Hexen einen kreisrunden Riss in die Realität stanzen und dann die dahinter liegende Membran öffnen. Gravitationstentakel würden, vom Kern der Tiba Fe selbst genährt, zu den Sonnen schnellen und hoffentlich keine endgültige Anomalie auslösen. Die Randgebiete der bekannten Welt waren voll von verglasten Flächen, wo frühere Experimente dieser Art zu Chaos und Tod geführt hatten. Die Wissenschaft versicherte, man hätte diese Dinge nun im Griff, doch jeder Smavari wusste, das Chaos der Anderwelt war ungreifbar und Ungreifbares konnte man auch nicht im Griff haben. Warum also machte er sich überhaupt noch Gedanken? Gleich würden sie das Tor für die Schiffe zu irgendeiner Gordenwelt öffnen, dabei würde die Membran der Länge nach aufreißen und alles Leben auf der Tiba Fe in verkrustetes Glas verwandeln. Mit einem schnellen Schritt verschwand er in der Halle der Silberwacht.

 

Ughtred hatte angemerkt, dass man sich auf die Reise, die nun vor ihnen lag, vorbereiten müsse. Er hätte niemals mit der Reaktion der beiden Wölfe gerechnet. Ohne zu zögern, hatten sie beschlossen, die benötigten Ressourcen an Orten zu besorgen, denen er selbst keinen Gedanken gewidmet hätte. Allein die Tatsache, dass er ein zweifellos gesuchter Flüchtling war, hätte es eigentlich verbieten müssen, dass er durch die Straßen schlich; ganz zu schweigen davon, dass er gerade im Begriff war, in die Hexenburg einzubrechen, aus der die Hexe die vor ihm ging und der er das Leben seines Vaters anvertrauen musste, vor noch gar nicht langer Zeit, aus genau dieser Burg hinausgeworfen worden war.

Der eigentümlich sonore Gesang, der leise vom Süden an seine empfindlichen Ohren drang, geißelte dabei am meisten seine ohnehin strapazierten Nerven. Sie hatte versucht, es ihm zu erklären. Die Silberwölfe würden ein Loch in die Realität machen und dann Schiffe hindurch zu den Sternen fahren lassen, um dort draußen in der unendlichen Kälte die Bewohner einer anderen Welt anzugreifen und möglichst viele von ihnen zu massakrieren. Diesen Teil hatte er zumindest nachvollziehen können, denn genau so schätzte er die Bewohner Kisadmurs ein. Eine gute Ablenkung hatten sie gesagt. Nicht, es wäre eine Untat oder eine Gefahr für besagte Realität und das Leben auf der Tiba Fe – nein, es war eine gute Ablenkung für einen Einbruch.

Missmutig versuchte er, die Häuserschatten zu nutzen, aber es war schon zu spät am Morgen. Zu hell für einen Dieb, dachte er sarkastisch und senkte den Kopf. Das hier würde sowas von schief gehen. 

 

Tal lugte vorsichtig um die Ecke der Glockengasse, in der sich die Ostseite des Zirkelhauses befand. Warum man diese Straße so nannte war ihr unbegreiflich, denn der Glockenturm auf den sich der Name bezog, befand sich viele weitere Straßen und Abzweigungen entfernt. 

Die Luft schien rein zu sein. Es war schon recht spät am Morgen und viele Bewohner Shishneys schätzten das Licht der Zwillingssonnen nicht gerade und zumindest die Silberwölfe, nicht dem Ritual am Silbertor beiwohnten, würden nun zu Tätigkeiten innerhalb ihrer Behausungen übergehen. Quink wiederum musste Tal nicht fürchten. Natürlich war der Nygh hinter ihr alles andere als unauffällig, aber dafür bewegte er sich leise wie eine Giebelkatze.

Sie gingen schnell die Gasse in Richtung Bach hinunter, um zur Rückseite des imposanten Gebäudes zu gelangen. Das Irt bin`Lona oder Zirkelhaus war ein typischer Kreuzbau mit zwei Türmen. In früheren Zeiten gehörte das Gelände um das Haupthaus allein den Doppelmondhexen, doch vor einigen Millennien hatte sich die Schmiedegilde immer weiter ausgebreitet. Man hatte sich dafür entschieden einen Teil der Schmiedegebäude mit dem Zirkelhaus verschmelzen zu lassen. Viele Geschäfte der Gilde benötigen die Unterstützung der schwarzen Hexenfinger und umgekehrt profitierten die Hexen vom Ressourcenreichtum des Schmiedegewerbes. So wurde das  Irt bin`Lona von Osten her betrachtet praktisch unsichtbar; sah man von den beiden trutzigen Türmen ab, die über die Gilde hinausragten. Vom Westen, also der Quinkstadt aus, sah die Hexenburg natürlich nach wie vor wie eine Festung aus und bildete wie ehedem die Grenze zwischen Quink- und Oberstadt.

Der Pfad um das Gebäude herum wurde im Norden immer schmaler. Es hatte in der Nacht ein wenig geschneit und der Boden war glitschig und nass. Die Ejvyislath, der Bach, der sich durch Shishney zog, war – wie sein Name schon sagte, tatsächlich eine Eisschlange. Seine Ufer waren mit einer dünnen Eisschicht bedeckt und man musste wirklich aufpassen, nicht auszugleichen und im Wasser zu landen. 

Sie gingen weiter den Pfad entlang und kamen zu einer niedrigen Eingrenzung. Hier, wo das seichte Bachufer dem Zirkelhaus am nächsten kam, hatten die Doppelmondhexen ihre äußeren Kräutergärten angelegt. Es gab auch Gärten im Inneren der Burg, aber manche alchemistische Zutaten brauchten ganz bestimmte Voraussetzungen, um ihre Wirksamkeit auszubilden und dazu gehörten sowohl die Temperatur, als auch das Licht der fünf Monde und drei Sonnen (wenn sich auch der blaue Itaraun, der Bruder der Zwillingssonnen Argol Fe und Hiyween, nur alle eintausend Jahreszeiten blicken ließ).

Mit einem großen Schritt überquerte Tal eine Pfütze und hörte, wie der Nygh hinter ihr einfach durch das Wasser ging. Er sprach kein Wort, aber es war ihm anzumerken, dass er der Sache mit dem Einbruch in die Hexenburg mit gemischten Gefühlen gegenüberstand. Was für ein Dieb war das überhaupt? Ließ sich von der Stadtwache in die Zitadelle sperren und hatte jetzt Bedenken in ihr eigenes Zuhause einzubrechen. Na ja, wenn man einbrechen dazu sagen wollte. Sie hatte den Schlüssel nicht behalten dürfen, als man sie hochkant aus dem Zirkel warf, aber ein freundlicher Besuch würde doch wohl erlaubt sein!?

Sie streckte den Arm aus und deutete auf einen winzigen Pfad, der zwischen den mit Planen und Säcken abgedeckten Beeten auf die Mauern des Gebäudes zuführte. Ughtred schob sich an ihr vorbei und übernahm die Führung. Es war deutlich, dass er lieber im Dunkeln unterwegs gewesen wäre, denn er hatte noch lange nicht verinnerlicht, wie das Leben der Silberwölfe ablief.

Tal fröstelte, als sie hinter dem Nygh wartend von einem Fuß auf den anderen trat. Was konnte denn da so lange dauern? Leise beförderte der Nygh mehrere schlüsselartige Werkzeuge zutage. Sie schimmerten matt im Licht der aufgehenden Sonnen und zeugten von seiner Sorgfalt seinem Hab und Gut gegenüber. Dann schob er eins der Dinger vorsichtig in das Schlüsselloch und drückte ein zweites von unten dagegen. Das Ganze dauerte keine Minute, da ergab sich das Schloss dem Skergengeschick. Tal lächelte grimmig. Also doch ein Dieb.

 

Mit angehaltener Luft machte Ughtred einen Schritt nach dem anderen die leicht gebogene Treppe hinunter. Inständig hoffte er, dass die Bewohner dieses düsteren Gebäudes tatsächlich alle auf der Stadtmauer waren, um sich das Spektakel anzusehen. Dabei versuchte er, an das Spektakel an sich so wenig wie möglich zu denken.

Er war vor der Wolfshexe geblieben und hatte nur ihre Richtungsanweisungen Folge geleistet. Von der Ebene der kleinen Pforte in den Gärten waren sie zwei Hallen in Richtung des Hauptschiffes gegangen. Dann hatte sie ihn auf der rechten Seite in eine Art große Küche gelotst. Alles in der Hexenburg erschien ihm noch übergrößer und seltsamer als die restliche Wolfsstadt. Aus der Küche mit ihren Tischen, Truhen, Regalen und sonstigen Ablagen die von Tiegeln, Gläsern und Dingen die er nicht zuzuordnen vermochte überquollen, führte es eine Wendeltreppe in einen nach Dung stinkenden Keller der wiederum die Treppe aufwies, auf der er sich nun befand.

Sie waren tatsächlich niemandem begegnet und Ughtred war mehr als froh über diesen Umstand. Die Hexe hinter ihm hatte ihren eigenen Bruder in einen Untoten verwandelt. Er konnte gar nicht fassen, wie diese Wesen sich benahmen. Wie würden erst die Bewohnerinnen der Festung reagieren, wenn sie ihn hier vorfänden? Mit Grauen sah er sich als Leiche durch die Abwasserkanäle ihrer Kloaken wanken. 

Im diesigen Schein eines sehr schmalen Lichtschachtes konnte er eine Abzweigung der Treppe erkennen, die in die absolute Finsternis führte. Die Hexe tippte ihm jedoch mit der behandschuhten Hand auf die linke Schulter und gab ihm damit zu verstehen, dass er seinen Weg nicht verlassen solle. Das Gewölbe stank nach dem Schmutz vieler Millennien und noch etwas anderem. Da war etwas seltsam Spitzes, den Hals reizendes in der Luft. Er wollte gerade etwas sagen, als ihm eine unheimlich schräge und von irgend etwas gedämpfte Stimme zuvor kam.

»Sieh an, sieh an, wenn dies nicht die entehrte Lady ven Arudsel ist.«

Ughtred versuchte zu erkennen wer oder was da sprach und hielt erneut den Atem an, als er hinter sich ein erschrockenes Keuchen der Hexe vernahm. Das wars, sie waren verkauft und verloren und wie um diesen Gedanken noch zu unterstreichen, schälte sich vor ihm ein wirklich groteskes Wesen aus den Schatten der uralten Mauern. 

 

Tal sog scharf die faule Luft des Kellers in ihre Lungen, als sie erkannte, wer sich da vor dem Nygh materialisierte. Es war Jabracht, das verdammte Maskenmännlein ihrer früheren Mentorin Elisha Kyrin Akkatha yr Strontide, der ersten Doppelmondhexe von Shishney. Das Ding war nicht nur gefährlich weil es seiner Herrin diente, sondern weil Maskenmännlein generell unberechenbar und eben gefährlich waren. Sie verfügten über die übelsten psionischen Kräfte und kannten weder Moral noch Anstand. Losgelassen waren sie grausame Geister, die sich an den Perversionen ergötzten, welche sie anderen antaten.

Jarbracht war klein, er ging Tal gerade einmal an die Knie, und trug einen dunklen Mantel mit hohem Kragen. Seine verkrümmten Fingerchen steckten in etwas, dass wie schmutzige Binden aussah, aber das merkwürdigste an seiner Erscheinung war sicher die Maske, die seiner Spezies ihren Namen einbrachte. Es handelte sich um ein absonderliches Ding aus einem gummiartigen Material. Zwei kreisrunde Sichtöffnungen waren mit dickem, gelblichem Glas versehen und dort, wo Nase und Mund hätten sein sollen, befand sich eine Art stumpfer Trichter mit unzähligen winzigen Löchern. Ob das Wesen durch diesen Anhang atmen konnte, oder ob es überhaupt atmen musste, blieb ungewiss. Seine ganze Erscheinung hatte trotz der geringen Größe etwas unterschwellig gefährliches. Es war, als hätte es einfach generell nicht sein sollen und allein seine Existenz stellte eine kosmische Verschiebung des Gleichgewichts zwischen Normalität und Perversion dar. 

Sie wollte etwas sagen, sich für ihr Hiersein rechtfertigen oder gar um Gnade flehen, aber gerade als sie den Mund öffnete – als hätte der Quälgeist nur darauf gewartet – kam er ihr zuvor und rief mit seiner nervenaufreibenden dünnen Stimme: »Was genau suchst du wohl hier unten kleines Hexlein?«

Da überkam Yt`Talan ven Arudsel eine Welle des Zorns. Dieses Ding mochte Akkathas Faktotum sein, es mochte über gefährliche Kräfte verfügen, aber es war dennoch eine Kreatur der Silberwölfe und als solches, war es ihm auf immer und ewig und unter allen Umständen verboten sie, eine Smavari, mit du anzusprechen!

»Dreimal verfluchter Höllengeist, ich bin wohl YtˋTalan ven Arudsel und ja, ich bin eine Hexe, doch was auch immer du bist, mir steht zweifelsfrei von alters her eine gebührende Anrede zu! Verwehre mir einmal mehr das Ihr und du wirst der grausen Auflösung im endlosen Myron anheimfallen. So spreche ich im Namen deiner Herrin Elisha Kyrin Akkatha yr Strontide!«

Sie schrie die Worte in die Dunkelheit des Kellers hinaus und spuckte dabei Gift und Galle, so dass der Nygh sie nicht wiedererkannte. Ihr Gesicht war eine Fratze des Zorns und sie gab alles, um diesen Zustand noch zu steigern. Sie wusste ganz genau, dies war ihre einzige und letzte Chance, die Situation zu ihren Gunsten zu entscheiden. Jabracht mochte alt und mächtig sein, aber er hatte ihr gegenüber einen dummen kleinen Anfängerfehler gemacht und dies musste sie zu ihren Gunsten nutzen. 

Das Männlein krümmte sich unter den Hieben der Worte und konnte sich ihrer Bedeutung nicht erwehren. Ein dünner Klagelaut entrang sich dem Filter seiner Maske und er schlug die verkrüppelten Händchen vor die Gläser der Maske.

»Ooooooohhhh, uuuuuhhhhh«, jammerte er und krümmte sich immer wieder zusammen, als hätte ihn eine von Tals eigenen psionischen Disziplinen getroffen. Seine Pein schien ihn derart zu erschüttern, dass Tal beinahe Mitleid bekommen hätte und etwas sagen wollte, aber Jabracht kam ihr wieder zuvor und hob in einer beschwichtigenden Geste eines seiner verbundenen Händchen. Als er sprach klang seine Stimme gnadeheischend und tränenerfüllt: »Oh Hexlein Hexlein YtˋTalan, dieser schlimme Geist neigt sein unbedeutendes Haupt vor eurer Glorie. Auch wenn euer Fell zerzauster als das eines jeden Arwolfes ist«, er machte eine dramatische Pause, »habt ihr dennoch recht. Ich unwürdigster der Unwürdigen habe euch Schlimmes getan und es liegt nun in eurer Hand, über mein fürderes Schicksal zu entscheiden.« Er sank auf die Knie.

Es entstand ein Moment spannungsgeladener Stille, in der nur das unregelmäßige Schniefen des Männleins zu hören war. Tal und Ughtred trauten sich nicht etwas zu sagen. Sie warteten beide auf ein hämisches Lachen des kleinen Monsters oder auf eine andere Pointe seitens Jabrachts, die seine Rede Lügen strafen und ihrer beider Schicksal im Zirkelhaus der Doppelmondhexen besiegeln würde. Aber da kam nichts. Der Winzling wippte klagend auf seinen Knien vor und zurück und schniefte leise. Er hatte sein eigenes Urteil über sich gesprochen und erwartete nun die Strafe. Es dauerte noch über eine Minute, bis Tal die Sprache wieder fand, aber dann sagte sie mit halbwegs fester Stimme: »Also gut, du hast deinen Fehler erkannt. Ich bin gewillt Gnade vor Recht ergehen zu lassen, aber zur Strafe wirst du uns helfen unsere Mission hier unten zu erfüllen!«

Das Männlein hob langsam und irgendwie bedrohlich den Kopf als es sagte: »Euer Wort ist mir Befehl.« Dabei rieb er sich die kranken Händchen und legte in einer hinterhältig wirkenden Geste den Kopf schief, als überlege es jetzt schon, wie es besagte Befehle fehlinterpretiert zu Tals und Ughtreds Untergang nutzen könnte.

 

Als Kyon von der großen Halle der Silberwacht zu einer der vielen unteren Wachkammern schlenderte, wanderte sein Blick zu der gewölbten Decke empor. Er mochte den Baustil der Kriegshallen Kisadmurs. Er selbst war, wie nahezu alle Männer des Hauses Yˋshandragor kein Krieger. Gut, er hatte sich einer Ausbildung zum Bogenschützen unterzogen und beherrschte diese Waffe ebenso gut wie die Musikinstrumente die er spielte, aber einen Pfeil abschießen zu können machte ihn nicht zu einem Krieger. Zu diesem Prädikat fehlte ihm einfach der Wille Krieg zu führen. Viele seiner Bekannten und Freunde sahen sich auf diesem Weg und wollten große Taten vollbringen oder gar dem Reich dienen. Sie eroberten Welten für Ruhm und den goldenen Mirthas. Oft hatte man ihn gefragt, ob er nicht als Barde an Bord eines der Sternensegler gehen wolle, aber das Problem an Kriegszügen war nunmal der Krieg und Kriege brachten Tod und Verderben. Kyon stand der Sinn nach Leben. So einfach war das. Er konnte verstehen, dass man nach der Anerkennung anderer griff, schließlich tat er dies als Entertainer auch, aber musste man sich dazu einsauen und im Blute anderer baden? Nicht seine Welt, verdammt eindeutig nicht seine Welt!

Die Decke der Wacht war mit silbernen und goldenen Ornamenten verziert. Sie zeigten ein Relief von Zackenhörnern und Reitern mit langen Lanzen und pastellfarbenen Wimpeln. Alle Szenen waren prachtvoll in ihrer Darstellung und gaben das Dasein der smavarischen Kriegszunft überbordend edel und dekadent wieder. Feinde und Unterjochte waren in mattem Kupfer gehalten und gingen im strahlenden Feuer der Silberwölfe unter. Wie im echten Leben, dachte Kyon und stieg die schmale Treppe zur Wachkammer hinauf. Im inneren des kleinen quadratischen Raumes saßen drei Wächter und knobelten mit Knochenwürfeln um ihre Ressourcen. Als sie aufsahen, machten sie den Eindruck auf Kyon als hätten sie alle schlechte Laune. Wahrscheinlich haderten sie mit ihrem Schicksal, sich nicht für Mirthas und das Reich opfern zu dürfen und stattdessen hier auf nichts aufzupassen. Sie grüßten den Barden trotzdem, nahmen aber kaum Notiz von seinem Erscheinen. Er sah einen Moment lang dem Spiel zu und ging dann in einen Durchgang, der zu den Unterkünften, aber auch zu einem der Magazine führte.

Ein leises Lied auf den Lippen schob er sich an mehreren Zimmeröffnungen vorbei, bis er endlich zu einer schmalen Wendeltreppe kam, von der er wusste, dass sie ihn zu besagter Rüstkammer führen würde. Weit und breit war niemand zu sehen. Die Flucht war zugig, denn jemand hatte die schmalen Fensterchen offen gelassen und Kyon zog seinen Mantel am Hals zusammen. War es nur die Kälte oder hatte er Angst? Was würde schon sein, wenn sie ihn entdeckten? Er könnte immer noch sagen, einen Freund besuchen zu wollen und sich verlaufen zu haben. Lächelnd würde er nach dem richtigen Weg fragen; eine Entschuldigung war überflüssig.

Oben, im Flur der Magazine, war es noch kühler und auch hier schien niemand zu sein. Irgendwo weit unter sich hörte er das Bellen von Befehlen, aber er vermutete, die Krieger gingen für das große Ritual in Aufstellung und dies taten sie sicher nicht hier in der Waffenkammer. Vorsichtig ging er den Gang entlang und blickte im Vorübergehen durch die Schießscharten auf den Hof hinunter. Da standen sie in Reih und Glied. Silberne und goldene Rüstungen schimmerten im frühen Licht der Sonnen. Er schüttelte den Kopf. Gleich würden sie mit Fanfarengetöse losziehen und in Richtung des Tores marschieren. Wie viele von ihnen würde er niemals wieder sehen? Kriege, Abenteuer, das Leben an sich – all diese Dinge führen auf eine alles umhüllende Schwärze zu.

Kyons Schädel steht kurz vor dem Zerbersten. Er hat es wieder getan, entgegen besseren Wissens. Nass und erschöpft und mit den Stiefeln voller Sand sitzt er am Strand, eine endlose Wegstrecke von seiner Heimat entfernt. Abenteuer … 

Er schüttelte den Kopf und wollte weitergehen, aber sein Fuß schmerzte. Langsam verlagerte er sein Gericht auf den anderen Fuß und begann seinen Stiefel vom Schenkel zu rollen. Als er es geschafft hatte, drehte er ihn um und ließ den Sand und die kleinen scharfkantigen Muscheln darin auf den Steinboden prasseln. Er atmete tief durch und machte sich daran, den langen Stiefel wieder anzuziehen. Abenteuer …

 

»Wir brauchen einige Dinge aus der Kammer neben der alchemistischen Küche. Kleinigkeiten ohne großen Wert«, sagte Tal mit so ruhiger Stimme wie möglich. Sie hatte Angst, Jabracht könnte seine Meinung doch noch ändern und sie an seine eigentliche Herrin verraten. Sie wusste nicht wie Akkatha reagieren würde, wenn sie von Tals neuem Ungehorsam erfuhr, aber sie hatte auch keinerlei Interesse daran es herauszufinden. Doch das Maskenmännlein hielt sein Wort. Nicht nur, dass er keinen Alarm schlug, er ging ihnen die Treppe voraus, ließ in der Gewölbedecke sanfte, grünliche Lichter erstrahlen und führte sie schließlich in die gewünschte Vorratskammer für alchemistische Zutaten. Tal hätte jubeln können, aber sie hielt sich zurück. Man durfte das Karma nicht zu früh loben, wer konnte schon sagen, was noch alles geschehen würde?

Schnell und mit geübtem Blick suchte sie alle notwendigen Zutaten aus den kleinen Schränkchen, Truhen und Regalen zusammen. Dann öffnete sie eine der Seitentüren des Raumes und betrat eine Kühlkammer. Hier, in weiteren Regalen, befanden sich fertige Produkte, unter anderem das für Ughtreds Vater bestimmte Amytorenantidot. Sie lächelte grimmig als sie in den Vorratsraum zurückkehrte, einen der Schränke öffnete und noch ein paar Dinge mehr auf ihre und Ughtreds Tragebeutel verteilte. Wenn schon denn schon, dachte sie und machte Jabracht ein Zeichen, dass sie soweit wäre. Der kleine Maskenmann sah sich all dies in aller Ruhe an. Tal kniff die Augen zusammen. Übersah sie etwas? Warum machte er es ihr so leicht?

Sie zuckte mit den Schultern und gab nun auch dem Nygh zu verstehen, dass es Zeit war von hier zu verschwinden. Als sie gemeinsam die Treppe hinauf gingen, folgte ihnen das Männlein noch einige Stufen, doch dann blieb es stehen und verschwand hinter ihnen in der Dunkelheit des Kellers. Tal nickte und ging, ohne sich ein weiteres Mal umzuwenden. Es war, als könne sie damit einen Bann brechen.

Dreh dich nicht um Hexlein, geh deiner Wege, kehre nicht ohne den Schatz hierher zurück!

 

Vorsichtig öffnete Kyon die Tür zur Rüstkammer und spähte durch den Spalt. Alles schien in Ordnung zu sein, also schob er sich hinein und verschloss die Tür hinter sich. Wie alle Rüstkammern der Wacht war auch diese in mehrere Sektionen mit Stellwänden und Trennern unterteilt und konnte als unübersichtlich bezeichnet werden. An allen Trennwänden hingen Gestelle für Lanzenspitzen, Bolzen, Feuerlanzenauslässe und anderes Kriegszeug. Ungeduldig öffnete er eine lange Truhe, fand aber nur die Schäfte für Geschosse von Speerschleudern. In einer zweiten befanden sich Stachelkugeln, aber die dritte, die er öffnete, enthielt endlich was er suchte. Er schüttelte ungläubig den Kopf als er die schwere Bleidecke aus der Truhe hiefte. Schwer, viel zu schwer für einen Smavari, was tat er nur hier?

»Was genau tut ihr hier?« erscholl eine tiefe Frauenstimme aus dem hinteren Teil des Raumes.

Kyon schrak derart zusammen, dass er die Decke zu Boden fallen ließ und beinahe geschrien hätte. Als er sich aufrichtet und nachsah, wer ihn ertappt hatte, stockte ihm erneut der Atem. Es war keine geringere als Ayn Urkaiyney y`Yrten, die oberste Herrin der Silberwacht selbst. Nur warum? Warum war sie nicht draußen am Tor? Was hatte er nur getan, dieses Schicksal zu verdienen?

»Ich habe euch etwas gefragt! Und wer seid ihr überhaupt?«

Die Stimme der Kriegerfürstin kam näher. Endlich wandte Kyon sich vollends der großen Frau zu. Er räusperte sich, als er sagte: »Ich bin Katha`Kyon dan Y`shandragor, oh Herrin der Silberwacht, ich sehe eure Glorie.«

Sie trat neben ihn und plötzlich schien sie verwirrt zu sein. Mit bebenden Lippen sog sie die Luft in ihre Nüstern und er konnte sehen, wie sich die feinen Härchen in ihrem Nacken aufstellten. Eigentümlich berührt musterte er sie. Für eine Smavari war sie groß und vor allem wenig grazil. Ihre Oberarme zeugten mit dicken Muskelsträngen von ihrer Berufung als Kriegerin und ihr flacher, muskulöser Bauch wirkte hart wie Silberstahl. Kyon versuchte zu erkennen, was ihn an ihr am meisten interessierte und es waren eindeutig nicht ihre festen Brüste, sondern eher noch die markante Nase und ihre durchdringenden Augen. Sie trug nur eine Hebe aus dünnem Stoff und einen langen Lendenschurz, aber sie war ja auch hier zu Hause und wer rechnete damit, dass jemand in die Silberwacht einbrechen würde? Vielleicht würde sie in Zukunft gerüstet schlafen, überlegte Kyon.

Sie trat nun direkt neben ihn und sog erneut die Luft ein. Sie war eine Wölfin, versuchte ihn einzuordnen und hatte offensichtlich irgendwelche Probleme damit. Kyons eigene Unsicherheit war merkwürdigerweise verflogen. Diese mächtige Frau würde ihm nicht in die Quere kommen.

Sie strich sich die dunklen Wogen ihrer Haare aus dem Gesicht und sah ihn mit ihren eisblauen Augen direkt in die seinen.

»Der, dessen Vater von dem Lugen gefressen wurde«, stellte sie nüchtern fest und nahm noch einen Zug seines Geruches in sich auf. Er konnte sehen wie sich unter ihrem knappen Oberteil kleine Erhebungen bildeten als er sagte: »Sliyn Lonkaiyth dan Y`shandragor, das ist sein Name Wachtherrin.«

Sie ließ von seinen Augen ab und besah sich die Bleidecke zu ihren Füßen. Dann murmelte sie leise: »Lonkaiyth aus dem Hause Yˋshandragor. Ich erinnere mich. Schlimme Sache.« 

Einen Moment lang schwieg sie und Kyon wollte schon anheben um sich zu erklären, aber dann fragte sie ihn direkt: »Und was macht ihr nun hier in meiner Wacht?«

Ihre Stimme hatte deutlich an Härte verloren und er konnte sie nun ebenfalls riechen. Ein wenig verwirrt und für seine Verhältnisse eher ungewöhnlich verlegen machte er einen höflichen Schritt von ihr weg und sagte endlich: »Nun, es ist ein Abenteuer. Ich habe mich entschlossen in die Fußstapfen meines Vaters zu treten und nach der Schwarzen Perle von Gandband zu suchen.«

Sie sah ihn kritisch an und da war mit einem Mal etwas Verletztes in ihrem Blick. Spöttisch konterte sie: »Ihr wollt Lugenfutter werden?« Doch kaum hatte sie es ausgesprochen, war ihr anzusehen, dass sie ihre Worte bereute. Die Smavari waren nicht gerade für eine zimperliche Art bekannt und Spitzen wie die Ihre waren in einer Unterhaltung zwischen einer Ayn und jemandem der in ihr Schlafzimmer eingebrochen war noch gar nichts. Dennoch sahen ihre großen Augen mit einem Mal weit weniger eisig und hart aus.

»Nicht wenn es sich vermeiden lässt Lady Urkaiyney«, konterte er keck und deutete auf die Bleidecke. »Daher die bessere Vorbereitung als mein alter Herr es einst für notwendig hielt.«

»Eine Bleidecke gegen Drachenfeuer?« fragte sie erneut mit spöttischem Unterton. »Da werde ich euch kaum wiedersehen.«

Er lächelte, weil er wusste, dass sie natürlich recht hatte. Gegen den Odem eines Drachen war Blei nicht besser als eine dicke Schicht Lopenbutter. Eine vorsichtige Verneigung machend, sagte er mit fester Stimme: »Oh nein, die Decke soll anderen Zwecken dienen. Aber ich war noch nicht fertig. Ich wollte so viel von hier mitnehmen wie möglich.«

Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen und sie murmelte: »Die Schwarze Perle; ihr seid ebenso ein wirrer Geist wie Lonkaiyth. Möge er im Geist des Lugen seine Abenteuer finden.«

Kyons Magen zog sich unangenehm zusammen. Der Hinweis, dass sein Vater wahrscheinlich von der Chaosessenz des Drachen aufgenommen worden war und nun für den Rest aller Tage als Teil der Bestie existieren würde, gehörte nicht gerade zu seinen Lieblingsthesen.

Streng fuhren ihre Worte durch seine Überlegungen: »Rüstet euch aus. Bitte macht das mit Bedacht und dann verschwindet von hier, ehe ich euch doch noch dem Richter der Oberstadt vorführen lasse.«

Er bückte sich nach der schweren Decke und fand dabei sein Lächeln wieder. Als sie sich dicht an ihm vorbei schob, berührte ihre unbedeckte Flanke seine Hand und er fragte leise: »Schlaft ihr wirklich in der Waffenkammer? Ich meine, darf ich das in einem Lied verwenden?«

Sie sah zu ihm zurück und nahm ihm die Decke aus den Händen. Sie wog sie in einer Hand und knurrte leise: »Natürlich könnt ihr Herr Barde, aber schreibt die Melodie dazu in einem schön hohen Tonfall, denn ihr werdet keine Eier mehr für einen tieferen haben.«

Dann schubste sie ihm die Decke wieder vor die Brust als wäre das Ding aus Quinkhaut und stolzierte mit elegantem Hüftschwung, den er ihr überhaupt nicht zugetraut hätte, durch die Tür und überließ ihn so seinem Abenteuer.

Er hatte mühe die Decke zu halten. Sie musste wenigstens viermal so stark sein wie er. Ein seltsames Gefühl machte sich in seinem Herzen breit. Wäre es nicht besser gewesen, wenn sie ihn festgenommen hätte? Oder noch besser – sie hätte ihn mit in ihr richtiges schlafgemach nehmen können. Da hätte sie ihn mal so richtig bestraft und danach wäre er mit eingezogenem Schwanz nach Hause geschlichen und hätte über den ganzen Alptraum hier gelacht. Warum hatte er überhaupt einen derartigen Eindruck bei ihr hervorgerufen? Sie hatte seine Witterung aufgenommen und im selben Moment war sie verloren gewesen. Er hatte es genau in ihren Augen sehen können. Ihre Seele war in die Tiefe gestürzt und eine schwächere Frau, wäre dort unten ertrunken. Hatte sie in ihm einen Begatter erkannt? Smavarifrauen konnten so etwas. Fluch oder Segen – sie konnten riechen, wenn die Gene eines Mannes zu den ihren passten. Das Volk der Silberwölfe hatte nur sehr sehr selten Nachwuchs, aber wenn sich bestimmte Individuen trafen, verbesserte sich ihre Chance auf Nachwuchs deutlich. Aber ausgerechnet er und die Herrin der Silberwacht? Das Karma hatte wirklich Humor. Er musste sich das unbedingt merken. Vielleicht sollte er später wiederkehren und sich dieser Sache hingeben. Sie war zwar nicht die schönste Frau, die er kannte, aber sie war interessant und schien darüber hinaus für eine Kriegerin erstaunlich freundlich zu sein.

Er lachte und machte sich endlich daran, alles einzupacken, was ihm nützlich erschien. Ein riesiger Rucksack wurde mit militärischen Medpacks, Pfeilspitzen, Wasserflaschen und anderer, leichter Ausrüstung, die für Feldzüge hier gelagert wurden, vollgestopft. Am Ende schlich er gekrümmt und bepackt wie ein großes Dromirtha die Treppen hinunter. Keiner der Krieger nahm Notiz von ihm und als er auf die Gasse hinaus trat, versuchte er, seine Kapuze ins Gesicht zu zerren. Er sah zum Arsch der Raguelstatue hinauf und murmelte: »Ihr hattet sicher Träger Herr Raguel. Ich habe eine irre Hexe und einen Stumpen, aber wo sind die jetzt? Helfen sie mir etwa?«

Als er den Platz hinter sich gelassen hatte, blieb er stehen, ließ die Decke auf den Boden herunter und richtete seinen Überwurf. Die Sonnen brannten hell für einen Frühlingsmorgen. Sonnenfeuer und Drachenodem, Draiyn Andiled, wir kommen. 

 

Es war noch früh am Abend als Ughtred und der Silberwolf den Schankraum der Eindornigen betraten. Draußen erhellte das Flackern des Membranrisses die graue Dämmerung. Die Gassen waren nach wie vor leer. Niemand wollte sich auch nur den kleinsten moment des gruseligen Chaosrituals entgehen lassen. Ganz Shishney schien von einer morbiden Untergangsfaszination erfüllt zu sein.

Der Nygh hatte bei der Erinnerung an seinen letzten Besuch in der Kaschemme einen Knoten im Magen. Kyon, Ughtred hatte Probleme mit der Aussprache der Wolfsnamen, hatte beteuert, dass dies die beste Zeit wäre einen Kapitän für die Reise zu suchen. Schiffseigner, die in der Eindornigen einkehrten und sich nicht für Anderweltreisen interessierten, entsprächen genau ihre Ressourcenklasse. 

Missmutig ging der Nygh hinter dem Silberwolf her und kletterte auf einen der aus seiner Sicht viel zu großen Stühle an einem noch zu größeren Tisch. Es dauerte eine Weile, bis die anderen Besucher der Eindornigen sich an seinen Anblick gewöhnt hatten und er fragte sich die ganze Zeit, wann endlich die Stadtwache auftauchte, um ihn zurück in den Kerker zu bringen. Doch stattdessen kam eine schmutzige und sehr junge Quink an den Tisch und brachte dieses Zuckerwasser, das die Bewohner Kisadmurs Gelbwein nannten. Er konnte sich nicht erinnern, das Zeug bestellt zu haben und bei den Nippeln der Großen Mutter, er würde es auch nicht bestellen. Konnten denn in diesem Land nicht wenigstens die Quink irgendeine Art von Gerstensaft brauen? Zuckerwasser war etwas für Kinder.

Plötzlich deutete Kyon mit dem Stiel seiner Pfeife, er hatte sie gerade erst angebrannt, auf die Ledervorhänge der tropfenförmigen Eingangstür. Ughtred hob den Blick und dachte zuerst, der verdammte Kerl, der ihn zu der Sache am Bach überredet und damit in die Zitadelle befördert hatte, käme die kleine Treppe herunter, aber es war ein anderer Silberwolf. Er trug nur ebenfalls einen dreispitzigen Hut.

»Ist das ein Schiffskapitän nach eurer Ressourcenklasse?« fragte Ughtred übellaunig.

Kyon zog an seiner Pfeife und sagte ruhig: »Ein Moraidi. Ich weiß nicht, was er in Kisadmur macht, aber ich denke, wir sollten ihn fragen. Er wird es hier im Norden als Fremder nicht leicht haben und ist sicher auf jeden Fahrgast angewiesen.«

Fahrgast, wiederholte der Nygh die Bezeichnung, die sein Gegenüber gewählt hatte. Mussten die Wolfsschnauzen sich immer so dreieckig ausdrücken? Und dann dieses Ihr. Waren sie sich niemals selbst genug? Er verstand nicht, warum sich ein Wesen als Mehrzahl betrachten konnte. Aber er verstand ja auch nicht, wie man Zuckerwasser anstelle von Gerstensaft trinken und in einer Stadt voller Jauche leben konnte.

»Bah, gut, ich frag ihn«, sagte Ughtred, der endlich in die Gänge kommen wollte und ehe Kyon etwas erwidern konnte, war der kleine drahtige Mann auch schon von seinem Stuhl gesprungen. Er wartete einen Moment und ließ den vermeintlichen Kapitän in einer der vielen Nischen Platz einnehmen, doch sobald der, für einen Silberwolf erstaunlich dunkelhäutige Mann den obersten Knopf seines Mantels geöffnet hatte, war Ughtred auch schon zur Stelle. Er setzte sich unaufgefordert und frech auf einen der Stühle am Tisch des Kapitäns.

»So ihr seid also ein Marauder und ihr habt ein Schiffchen Herr Wolf, ob es euch dann auch genügen würde, uns für eine handvoll Ressourcen nach Nordwest zu bringen?« Ughtred war sichtlich stolz auf seine Ansprache, aber der Andere verstand zum Glück kein Wort davon. 

Bevor der Kapitän etwas antworten konnte, hatte sich Kyon zu dem Tisch gesellt. Er hob beschwichtigend die Hand und sagte: »Entschuldigt den Kleinen, Herr Kapitän. Aber ja, wir suchen tatsächlich Überfahrt und vielleicht können wir ja handelseinig werden.«

Der Moraidi griff sich in den Spitzbart und ließ dann grinsend seine Eckzähne blitzen. Dann gab er der Wirtin ein Zeichen und bestellte Gelbwein. Keine Stunde später hatten die Abenteurer ihre erste Passage auf einem südländischen Schiff namens die Unleidige gebucht.

 

Die Reise beginnt

Tal fluchte leise, als sie sich beim Versuch ihre Frisur zu richten in mit einem ihrer abgebrochenen Fingernägeln in einem der unbändigen Haarknoten verfing. Der Wind ließ sie frösteln, aber die Aussicht war atemberaubend. Im Süden war das Land so weit, dass man die Grenze Draiyn Andileds erahnen konnte und im Norden erhoben sich die Odoreys bis in den Himmel. Das ganze Land schien aus dunklen, mächtigen Nadelbäumen und riesigen verstreuten Felsbrocken zu bestehen. Als hätten die Urtitanen mit ihnen Murmeln gespielt, dachte sie und kaute dabei auf dem verschandelten Nagel herum. Am Horizont stiegen träge die rote Argol Fe und ihre weiße Schwester Hiyween in die kalte Luft auf. Tal kniff die Augen zusammen und schon die Kaputze ihres Ledermantels über den Kopf. Ihre Haut fühlte sich einerseits warm, aber auch taub an, wo die harten Strahlen der beiden Sonnen sie berührt hatte. Die Quinkmatrosen an Deck begrüßten den neuen Tag. Tal fragte sich wie sie das nur aushielten. Den ganzen Tag ohne Schutz dem Sonnenlicht ausgesetzt schufteten sie an Deck des Schiffes. Mit nackten Oberkörpern riefen sie sich in ihrer schnatternden Redeweise, aus der man kaum noch das Smavarische heraushören konnte, Befehle zu und schienen dabei die immer gieriger werdenden Sonnen überhaupt nicht wahrzunehmen. Vielmehr noch taten ihnen die bohrenden Finger der Himmelslichter ganz offensichtlich nicht weh. Glitschige Fischhaut, tote Reptilienäuglein, Schneckenschleim und Krötenzungen – Tal beneidete die seltsamen Mischwesen.

Schnell bog die junge Hexe den Rücken durch und versuchte, sich ein wenig in Position zu bringen, als Kyon aus der Kajüte im hinteren Teil des Schiffes trat. Er sah nicht minder derangiert aus als sie, aber das spielte für sie keine Rolle. Er war ein Sliyn und er war reich. Seine Kleidung, seine Haare, selbst seine Aura machten in ihren Augen selbst dann einen gepflegten Eindruck, wenn um ihn herum die unwirtlichsten Umstände herrschten. Selbst hier an Bord dieses nach Quink stinkenden Flugkutters und nach einer durchzechten Nacht sah er in seiner dunklen Lederkluft noch edel aus.

Dunkle Ringe unter den Augen sieht Kyon zu Tal auf. Er ist am Ende seiner Kräfte und wird den Tod willkommen heißen. Zuviel ist zuviel. Die Wildnis hat gesiegt …

Sie schüttelte ihren Kopf und die seltsame Vision kullerte aus ihren langen schmalen Ohren.

»Kalt oder?« versuchte sie einen Anfang, aber wie gewöhnlich erwiderte Kyon ihre Ansprache nur mit einem knappen Nicken. Er trat neben sie und zog seine Kapuze ebenfalls über den Kopf. Sie sah demonstrativ zu den beiden Sonnen hinüber und spürte das Bohren in ihren zusammengekniffenen Augen. Dann wandte sie sich ab und spuckte über die Rehling. Der Geschmack des moraidischen Rums überzog ihren Gaumen mit einem pelzigen Belag der sie an Schimmel auf einem Milchbecher denken ließ. Wie viele Tropfen hatte sie getrunken? Vier? Fünf? Konnte eine Silberwölfin so etwas überhaupt überleben? War sie tot und in den Tiefen des Myron gefangen? Sicher würden gleich Tentakel aus Kyons hartem Gesicht schlagen. 

Er sah selbst aus, als dächte er über die vergangene Nacht nach. Da war eine merkwürdige Leere in seinen Augen. War es ihm unangenehm mit ihr und dem irren Kapitän der Unleidigen geschlafen zu haben. Sie konnte sich ja kaum an die Geschehnisse nach dem Umtrunk erinnern und hoffte inständig, dass wenigstens der Skerge nicht mit von der Partie gewesen war. Angefangen hatte es mit einer Zote seitens des Moraidi und sie hatte ihre kleine Doppelklinge gezogen und ihm lachend gedroht den Bart damit zu kürzen; worauf er vorschlug ihren Bart in Augenschein zu nehmen. Sie hatte geprahlt frei von jedem Härchen zu sein aber die beiden Männer waren mit einer Aussage allein nicht zufrieden zustellen gewesen. Also hatte sie Rock und Lendenschurz gehoben und ihre Aussage mit blanken Tatsachen untermauert. Zu ihrem Glück hatte sie tatsächlich vor der Reise Sorgfalt walten lassen und ihren nagelneuen Phani auch noch das letzte Haar entfernen lassen. 

Die Herren trauten ihren Augen nicht und zogen ihre Handschuhe aus, um der Sache einen Gefühlstest zu unterziehen, denn die Welt war voller Täuschungen und nur was sich anfassen ließ, hatte überhaupt eine Chance, in die Kategorie Realität gehören zu dürfen. Schließlich hatte Tal lachend vorgeschlagen, nun den haarigen Kapitän ebenfalls zu glätten, und dieser ließ sich nach einem weiteren Tropfen Rum nicht lumpen und ließ ebenfalls die Röcke fallen.

So war eins zum anderen gekommen, aber irgendwie ärgerte sie jetzt Kyons stummes Verhalten. War sie nicht gut genug für ihn? Was genau sah der Herr Sliyn in ihr? 

Kyon deutete in Richtung des Gebirges. Ein Schwarm von Krähen zog ein Stück mit ihnen. Es mussten wenigstens dreißig dieser klugen Tiere sein, die da als schwarze Wolke neben ihnen her eilten. Wie ein düsterer Geist aus einzelnen Fasern stoben sie zuerst parallel zur Unleidigen und dann einmal über ihr hinweg und einmal unter ihr hindurch. Dann schwenkten sie nach Süden ab und verschwanden in den Weiten des Plagensumpfes. Tal sah erneut kurz in diese Richtung und schirmte dann ihre Augen endgültig von den Sonnen ab. Genug war genug. Sie hatte genug. Jetzt schon. Ihre Reise hatte erst begonnen und alles um sie herum fühlte sich falsch an. Sie sollte in Shishney in ihrem Zirkel sein. Ihr Bruder sollte von seinem Aufstieg in den Hallen der Chentai prahlen. Vorsichtig strich sie mit der rechten Hand über den Shimwas im Handschuh ihres Vaters. Es war egal was Akkatha sagte, sie würde einen Weg finden Northrians Geist und Seele aus dem Artefakt zu befreien und ihm ein neues Dasein zu schenken. Und wenn nicht, dann wenigstens einen erträglichen Aufenthalt im Jenseits. Der jetzige Zustand in dem Shimwas war ungewollt und nicht tragbar.

Vorsichtig sah sie zu Kyon hinüber. Ob er es ahnte? Der junge Barde blickte zu den Odoreys hinaus und schien überhaupt nicht zu denken. Was würde er wohl sagen, wenn er erführe, dass sein Geliebter nun direkt neben ihm an Bord dieses stinkenden Seelenverkäufers in einem Shimwas gefangen gehalten wurde? Pech und Schwefel, Höllenstein, es musste eine Lösung geben, aber mit dem blöden Sliyn hatte das ganz sicher nichts zu tun. Was hatte sie überhaupt mit dem Snob zu tun? Wäre er doch besser in seinem warmen Haus bei seiner irren Mutter geblieben. Was?

Sie machte auf dem Absatz kehrt und wollte gerade in Richtung Kajüte gehen, als sich die Tür knarrend öffnete und der Spitzhut des Kapitäns sichtbar wurde. Schnell änderte Tal die Richtung und ging zum Bug des Schiffes. Sie setzte sich auf die Reling und hielt sich mit dem Shimwashandschuh an einem der Takelseile fest. Windgeister zupften an ihrer Kapuze und wollten ihre Hexenhaut den Sonnen opfern. Quinkscheiße auf sie alle. Quinkscheiße.

Kapitän Yyveuis Randor trat neben Kyon und schlug ihm kameradschaftlich mit der behandschuhten Hand auf den Hintern. Er stank und Kyon musste sich beherrschen, die barbarische Geste unkommentiert zu lassen.

In einem wirklich rüden Ton dachte der Moraidi: »Na, est das was? Den Wind inne Haarr and de Luft um den Ohren – sˋest das Piratenleben. Ahoi and en Troppen von Rum!« Dabei legte er eine seiner Pranken auf die Schulter des Barden.

Kyon wusste nicht, ob es der moraidische Dialekt des Kapitäns, sein schrecklicher pseudophilosophischer Erguss oder der unerträgliche Mundgeruch des Seewolfs war, der ihm die Galle in die Kehle trieb. Er schluckte und versuchte, die Hand auf seiner Schulter zu ignorieren und hoffte inständig, dass Yyveuis von ihm abließ. Natürlich konnte davon keine Rede sein. Munter plauderte der Pirat weiter auf Kyon ein. Die Kleine wäre zwar nicht der tollste Wellenritt seines Lebens gewesen, aber anbetracht der Umstände wäre die Nacht doch wiederholenswert gewesen. Und dann das Waldtier. Der kleine hätte so seltsam dreingeblickt, dass es ihm, Yyveuis, einen derart prallen Ständer besorgt hätte, dass er überlege sich nun selbst einen Nygh zuzulegen. Komisch oder? Und dann der Handschuh. Er wisse ja nicht, warum die Hexe darauf bestanden hatte das Ding anzubehalten aber jetzt im Nachhinein hätte es sich als wirklich erbaulich herausgestellt. Sein Schwanz wäre nun zwar wund, aber das harte Leder hätte ihn …

Die Hände um die Reling gekrallt, schwor sich Kyon nie wieder moraidischen Rum zu trinken. Auch nicht einen Tropfen. Lebte der Nygh überhaupt noch? Er hatte mehr als einen ganzen Becher von dem Zeug gesoffen. 

Er ließ den Kapitän stehen und ging schwankend auf die andere Seite des Decks hinüber. Der Nygh saß auf dem Kajütendach und blickte witternd in die Ferne. Er sah so gesund aus. Diese Wesen waren widernatürlich. Er hasste die Winde, hasste das Schiff und er hasste sich. Was sollte das alles? Sein Vater war sicher auch auf solch einem Luftschiff gewesen, als er in Richtung Draiyn Andiled aufgebrochen war. Einen Augenblick überlegte er den Kapitän zu fragen, doch dann verwarf er den Gedanken. Stattdessen arbeitete er sich auf den feuchten Planken zu Tal an den Bug vor.

Er betrachtete ihre Silhouette, wie sie von links von den Geschwistersonnen angestrahlt vor ihm stand. Sie war so gewöhnlich. Ihr Mantel hatte tatsächlich Risse und war weder schwarz noch dunkelblau. Schmutzig war die einzige Bezeichnung, die ihm einfallen wollte. Und dann ihr Haar. Auf der einen Seite musste sie einmal eine Frisur gehabt haben, aber auf der anderen befand sich ein Vogelnest, an dem sie immer wieder herum zupfte. Es musste gebrannt haben. Wahrscheinlich hatte sie es sich bei einem ihrer Hexenversuche angezündet und unachtsam, wie sie war, einfach zu lange brennen lassen. Vorsichtig schob er seinen Hemdsärmel nach oben und begutachtete die feine Wunde, die sie ihm mit einem ihrer Fingernägel beigebracht hatte. Was für eine Nacht. Nie wieder Rum!

»Das da hinten muss Uraiyd sein.« Er deutete in Fahrtrichtung auf eine Unregelmäßigkeit im Gelände. »Danach kommt Elaiyney.«

Er wusste, dass sie ihre Route kannte, aber er wollte nun doch etwas sagen und etwas Klügeres war ihm auf die Schnelle nicht eingefallen.

Tal wandte sich ihm nicht zu. Warum eigentlich? Er war nicht nur ein Mann, sondern auch ein Sliyn! Sollte dies nicht genügen, dass sie sich zumindest nach ihm umwandte? Schon wollte er noch etwas sagen, als sich hinter ihm leise Schritte näherten. Es war der Nygh. Der Kleine ging wortlos an ihm vorbei und stellte sich neben die Hexe. Kyon musterte die Situation und sah sich selbst an genau der Position stehen, an der jetzt der Skerge stand. Er spulte die Realität zurück und versuchte, sich vorzudrängen. Träge und unendlich zäh zog er an der gravitativen Masse der Tiba Fe und damit an der Zeit und machte den ersten Schritt in die für ihn richtige Realität. Mit vor Anstrengung zusammengekniffenen Augen gab er alles, aber alles war leider nicht genug. So hätte er beim Versuch alles richtig zu stellen beinahe den Nygh berührt. Denn als Kyon die Augen öffnete, um das Ergebnis seines Schaffens zu betrachten, stand der Nygh wie ein Fels in der Brandung immer noch neben Tal.

Genervt und möglichst unauffällig machte der Silberwolf einen Umweg und begab sich auf die linke Seite der Hexe. So konnte er zumindest so tun, als wolle er sie gegen die Sonnen abschirmen.

»Proviant und Tiere werden nötig sein«, sagte der Nygh gerade. Er habe schon Notrationen besorgt, sei aber nicht sicher, ob diese reichen würden. Tal antwortete und gab zu bedenken, dass man in diesem frühen Stadium der Reise noch nicht wissen könne, wie, wo und wie viel Proviant man brauchen und besorgen könne, aber spätestens in Ilanwaiyn würde man schon weiter sehen.

Kyon resümierte die Worte der Beiden. Weder der Nygh noch sie sprachen ein aus seiner Sicht akzeptables Smavarisch. Tal hörte man die Herkunft aus Südkisadmur an. Da war etwas Breites und Züngelndes an ihrer Aussprache, als berühre sie bei jedem Wort mit der Spitze ihrer Zunge die Schneidezähne. Aber noch unerträglicher war natürlich die Aussprache des Tierwesens. Der seltsame kleine Mann sprach abgehackt und nutzte ständig dieselben Wörter. Es schien ihm ganz egal wie das klang, wenn man innerhalb einer einzigen Unterhaltung dreimal den gleichen Begriff einbaute. Ein Schiff fuhr, ein Schiff legte an, ein Schiff fuhr weiter – so konnte man doch nicht reden! Eine Himmelsbarke glitt dahin, ein Sternensegler kehrte heim und eine Tochter der Winde sagte lebewohl! So ging eine zivilisierte Rede. Nicht Schiff, Schiff, Schiff. Hinzu kam der Dialekt. Einzigartig unverständlich. Dann lieber mit Quink sprechen. Die waren zumindest einigermaßen in der Lage, die Schönheit des smavarischen Vokabulars zu würdigen.

Er bremste sich in seinen Gedanken. Das stimmt natürlich nicht. Es wäre schön, aber nein, es stimmte nicht. Das Quaken der Quink war wenigstens ebenso hässlich wie ihre Gesichter und natürlich waren sie ebenfalls nicht in der Lage einen klangvollen Satz zu modulieren. Verärgert bekam er gerade noch mit, wie der Haarige Tal nach Ressourcen befragte. Wollte er jetzt am Ende auch noch für die Fahrt entlohnt werden. Kyon hätte ihn am liebsten über Bord geworfen, aber er hatte auch Respekt vor dem Nygh. Er hatte gesehen, wie der kleine Mann den Quink beim Beladen der Himmelsbarke geholfen hatte. Er war verdammt stark der kleine Mann.

Langsam sah Tal zu Kyon herüber. Klar, wenn es um Ressourcen ging, war er die Adresse der Wahl. Aber hier ging es nicht um sie und ihren dummen Zirkel. Hier ging es um etwas anderes. Es ging um die Reise. Oder das Abenteuer. Oder ging es um beides? Er versank in der Vergangenheit.

Kyon hockt auf einem Teppich aus Quinkhaut und spielt mit der Saite eines Instruments. Seine Mutter sitzt schaukelnd auf ihrem Stuhl am Fenster und blickt in den frühen Sonnenaufgang hinaus. Der kleine Silberwolf weiß noch nichts von ihrer Sonnensucht. Da kommt sein Vater herein. Er lacht. Er lacht immer. Er ist der fröhlichste Mann, den es gibt. Mit einem lustigen Hopser landet Kyons Vater neben ihm auf dem Teppich und hält dem Jungen eine hölzerne Figur vor die Nase. Es ist ein hässliches Ding mit unzähligen Armen und Beinen, die an Drähten zappelten. Kyon kräht und langt nach der Figur und sein Vater erzählt etwas über die Würmer der Anderwelt und Kultstätten, die er besuchen will, um noch mehr solcher einzigartigen Artefakte zu bergen. Dann wird er still und sieht in die Zukunft. Schließlich langt er mit freundlichen Augen nach Kyons Haaren und drückt dem Welpen die zappelnde Holzfigur in die Händchen. Kyon schneidet sich an einem der Drähte und beginnt zu weinen, aber der Vater ist schon aufgestanden. Er weilt in anderen Sphären und muss reisen. Stattdessen schält sich aus der Dunkelheit das Faktotum des Vaters. Das Maskenmännlein sieht sich die Wunde an und tröstet den kleinen Silberwolf. Eines Tages, ja eines Tages, wenn diese Wunde längst vergessen ist, wird auch der Welpe reisen und dem Vater folgen.

Kyon schreckte hoch als die Unleidige einen Luftsprung machte und danach auf ihre alte Bahn zurück sackte. Ja, es ging um die Reise, aber die Wunde war alles andere als verheilt. Er strich sich wieder über den Striemen den Tal ihm letzte Nacht verpasst hatte. Er würde immer Wunden haben.

 

Nachdem sie Nachmittags Uraiyd überflogen hatte, erreichte die Unleidige eine Stunde nach Einbruch der Dunkelheit Elaiyney. Kyon überreichte die ausgemachte Entlohnung dem Zahlmeister des Schiffes und half dann Tal und Ughtred mit der Ausrüstung. 

Sie hatten sich abgesprochen und waren zum Ergebnis gekommen, so schnell wie möglich das nächste Schiff zu chartern, um keine Zeit zu verlieren. Ughtred hatte mehrere Jahreszeiten hier verbracht und kannte sich recht gut aus. Er empfahl den Hanfboden, eine Kaschemme nahe der westlichen Schiffsanlegestelle, weil er selbst hier vor langer Zeit erstmals kisadmurischen Boden unter den Füßen gespürt hatte. Außerdem wusste er, dass es hier neben gutem Gelbwein und diesem widerlichen Faltersud für die Wölfe auch herzhaften Gerstensaft für die Quink und damit für ihn gab. 

Tal schüttelte jedoch den Kopf. Sie sog die frische Luft in die Lungen und sagte, sie wolle zuerst nach einer Alchemistin suchen. In einer stinkenden Kaschemme wäre es nicht besser als an Bord dieser Schiffe und sie müsse ohnehin ihre Vorräte auffrischen, bevor es weiterging. Gesagt, getan, gaben sich die Männer wichtigen Geschäfte in dem Gastraum hin und die Hexe schlenderte mit Hüftschwung davon.

 

Die ersten Werftarbeiter, allesamt Quink, konnten mit dem Begriff Alchemistin überhaupt nichts anfangen, aber als sie die Plattform über eine breiter, erstaunlich schön gearbeitete Holztreppe, die von mehreren natürlich gewachsenen Bäumen getragen wurde verließ, traf sie auf einen Quink, der einen Reisigbesen schwang und die Stufen vom Unrat der Schiffsbesatzungen befreite. Sie fragte den älteren Mann und dieser wies die Treppe hinab. Dann sagte er: »Denke, erstes oder zweites Haus auf der rechten Seite. Nehmt euch aber vor der Frau unter den Stufen in Acht Herrin.«

Tal wollte schon weitergehen, fragte dann aber doch, was er mit der Frau unter den Stufen meinte, aber der Alte war schon einige Stufen hinunter gegangen und gab keine weitere Auskunft. Sie zuckte mit den Schultern und hopste an dem Spinner vorbei. Unten gingen mehrere Wege von der Treppe ab, aber auf der Rechten Seite, gab es tatsächlich ein unglaublich schmales Häuschen mit einem Schild, auf dem Tiegel und Pipette abgebildet waren, ein eindeutiges Zeichen wie sie fand. Das Haus selbst war gerade einmal zwei Schritt breit und sie fragte sich wie man unter solchen Umständen wohnen konnte, aber dann erinnerte sie sich an die Quinkpension in der sie sich mit Northrian ein Zimmerchen geteilt hatte und ihr wurde schwer ums Herz. Niedergeschlagen von ihren eigenen Erinnerungen drückte sie gegen die Tür und fand sie verschlossen vor.

Es gab eine Schelle an einem gebogenen Federarm und sie schlug wütend nach dem Ding. Ein helles Klingen drang durch die unbelebte Gasse. Die junge Hexe blickte sich erschrocken um, aber offenbar interessierte sich keiner der Nachbarn der Alchemistin für deren Kunden. Kein Fenster öffnete sich und kein Vorhang wurde zur Seite gezogen und nur eine alte Quink mit einem Joch, an dem zwei schwere Wassereimer hingen kam die Gasse herauf, nahm aber ebenfalls keine Notiz von Tal.

Sie wollte schon ein zweites Mal nach der Klingel schlagen, aber jemand kam ihr zuvor. Die Tür wurde von innen aufgerissen und damit die Klingel erneut betätigt. Wie ein silbernes Fischlein zappelte das Ding an seinem Federarm auf und ab und bimmelte hilflos.

Tal war erschrocken, beruhigte sich aber sofort und sah die Person an, die durch den Türspalt kaum zu erkennen war. Mit dem Fuß schob sie die Tür weiter auf, obwohl die vermeintliche Besitzerin sich von innen dagegen stemmte. Was für ein seltsames Gebaren, dachte Tal und drückte die Tür endgültig auf. Vor ihr stand die Alchemistin. Es war wirklich eine Frau, aber was für eine. Das Gesicht des Wesens war durchscheinend wie das eines Geistes, die Haut war blütenweiß und ihre Augen lagen derart tief in den Höhlen, dass sie kaum noch als solche zu erkennen waren. Das Haar war zum Großteil ausgefallen und stand in kurzen struppigen Büscheln vom Schädel ab und Tal griff sich instinktiv ins eigene zerzauste Haar und betete, nicht eines Tages auch so zu enden. Sie nahm sich vor, so bald wie möglich etwas an ihrer Erscheinung zu ändern. Dann fiel ihr Blick auf die Hände der Alchemistin und sie erschrak. Die Finger waren verknöchert und verkrümmt und bestanden nur aus Haut und Knochen.

Unangenehm berührt sah Tal der Silberwölfin ins ausgemergelte Gesicht und stellte sich vor. Die andere tat es ihrer Kundin gleich und sagte mit eindeutigem Irrsinn in der Stimme: »Ich bin Uniath yr Dan`Nestraiyth, Alchemistin und Totenpflegerin von Elaiyney und habe daher wenig Zwei für Schwaz und Tratsch. Was wollte ihr aus diesem Gelass?«

Gelass war das richtige Wort für den Laden, dachte Tal und sah sich um. Alles war eng und unübersichtlich angeordnet. Bei einer Breite von höchstens zwei Schritten hatte die Verrückte es geschafft, drei Tische im Raum unterzubringen. Hinzu kamen Schränke, Regale und wenigstens zwei große Standuhren und zu allem Überfluss hing an der Decke ein ausgestopftes moraidisches Krokodil! Ansonsten war jeder freie Stellplatz mit Tiegeln, Flaschen, Schädeln, Pfannen, Schalen, Papiertüten und anderen Verpackungen – welche Tal nicht unbedingt sofort als solche erkannte – vollgestopft.

Sie brauchte einen Moment, um ihre Blicke am Abschweifen zu hindern, als sie in einer Ecke des Raumes etwas aus Federn bemerkte, dass sich bewegte, aber keinen materiellen Körper zu haben schien. Sie blinzelte es weg, nur um auf den toten Hobgoblin auf dem Tisch neben ihr aufmerksam zu werden. Er war teilweise mit Papierseiten abgedeckt, aber seine Brust war zu sehen. Man – oder wohl eher Frau – hatte ihn aufgeschnitten und mit einem violetten Moos ausgepolstert, auf dem nun tausende winziger weißer Pilze wuchsen. 

Tal rieb sich die Nasenwurzel und fragte nach den Zutaten, wegen denen sie dieses Höllenlabor betreten hatte. Die andere lachte irre und begann, Dinge zusammenzusuchen, bis sie abrupt mitten in der Bewegung verharrte.

»Zahlen, ihr könnt doch zahlen oder?« fragte sie mit gedehnter Stimme und fügte schnell hinzu: »Wiiiiier nehmen nur Ressourcen, denn nur Bares ist Wahres!«

Genervt holte Tal ein Säckchen aus ihrer Umhängetasche und zeigte der Alchemistin ein paar Nägel, einen kleinen Gemmen und einen seltenen, fliederfarbenen Klemmbaustein aus der fernen Zukunft. Die Mehr-oder-weniger-Tote beugte sich wie ein Rachegeist über Tals Hand, begutachtete das Zeug und schüttelte energisch den Kopf. 

Tal sah sie an und sagte halblaut: »Bares ist Wahres!?«

Wieder ein Kopfschütteln. Dann knirschte die Alchemistin: »Etwas Anderes, etwas Schönes, etwas Überraschendes zum Spielen und Naschen soll es sein.«

Tal verdrehte die Augen und beförderte ihren Sinth, einen kleinen Spiegel mit Silberrahmen, den ihre Mutter ihr geschenkt hatte hervor. Aus war es mit der Kosmetik und ihrer fürderen Selbstdarstellung. Aber egal, die Reise würde hart werden und sie hatte ja einen Sliyn der ihr wie ein Spieglein ständig vorhalten würde, wie ungepflegt sie aussah.

Der Höllengeist griff wie von Furien geritten nach dem Spiegel und wickelte sich fast um ihn herum. Tal fragte sich, wie sich eine Silberwölfin derart zusammenrollen konnte, aber sie hatte sich selbst noch nie im Schlaf gesehen und wusste daher nicht, dass sie ebenfalls zu diesem Frauentyp gehörte.

Schließlich willigte die verrückte Uniath ein und setzte ihre Arbeit fort, um die gewünschte Ware zusammenzusuchen.

Als die Alchemistin fertig war und Fragte, ob ihre Kundin Tragetaschen benötigte oder ob es so ginge – sie könne die Sachen auch als Geschenke verpacken – begann Tal alles in ihre eigenen Beutel zu räumen und verabschiedete sich; nicht traurig diese verrückte Episode dieser Geschichte hinter sich zu bringen. Doch plötzlich schien die Alchemistin einen klaren Moment zu haben und sagte mit, für ihre Verhältnisse recht normaler Modulation: »Habt eine gute Zeit Frau Hexe, und hütet euch, vor der Frau unter der Treppe!«

Beinahe hätte Tal nachgehakt, aber die Alchemistin war schon wieder in ihren irren Singsang verfallen, plapperte vor sich hin und pries Krokodilgalle gegen Fußpilz an. Daher entschied sich die Hexe, lieber sofort diesen Hort des Wahns zu verlassen, ehe sie selbst zu seinem Opfer werden konnte.

 

Der frühe Morgen hatte die Gasse mit Nebel gefüllt. Irgendwo war das kehlige Bellen von Lopen zu hören und die Alte mit dem Joch kam nun mit leeren Eimern zurück. Nachdenklich ging Tal langsam zu der Treppe zurück. Alles war so still und friedlich hier. Doch anstelle von Ruhe stahl sich ein eher ungutes Gefühl ins Herz der jungen Hexe. Dann bemerkte sie plötzlich eine Bewegung in ihrem linken Augenwinkel und blinzelte in den immer dichter werdenden Nebel. War da eine Frau auf den Stufen? Tatsächlich, eine nackte, dürre Frauengestalt mit hängenden Brüsten zappelte in ihr Blickfeld. Sie fröstelte und fragte sich, warum die Silberwölfin bei dem diesigen Wetter keine Kleidung trug. Als es um sie herum immer dunkler wurde, fühlte sie sich nur noch aufgefangen; wenn auch verloren im Nebel. Dann glitt sie in waberndes Nichts hinüber und das Letzte das sie spürte, war eine brennende Hitze an ihrer Kehle.

 

Im Hanfbogen unterhielten sich Kyon und Ughtred mit einem Kapitän namens Daarith Anhauly. Der Mann schien zwar selbst für Kyon merkwürdig verschrobenen Einsichten zu folgen, er war ein okkulter Fanatiker, der sich die Rückkehr der Nugai wünschte, um mit diesen gegen die Asan in den Krieg zu ziehen, aber er hatte auch ein Schiff und würde in Kürze in Richtung Nordwesten aufbrechen. Gerade waren sie mit dem Verrückten handelseinig geworden, als Ughtred fragte, wie lange so ein Hexeneinkaufsbummel normalerweise dauerte. Alarmiert sah Kyon auf und nippte bedächtig an seinem Faltersud. Nur ein Silberwolf konnte gleichzeitig erschrecken und in aller Ruhe eine heiße Brühe schlürfen, dachte der Nygh. Doch er selbst hatte tatsächlich eine ungute Befürchtung und konnte nicht mehr ruhig sitzen. Er stand auf und gab dem Barden ein Zeichen, es ihm gefälligst gleich zu tun und siehe da, der Silberwolf gehorchte.

Sie verließen den Hanfbogen und sahen zuerst nach Odugme, doch der hockte auf Norths Sarg und wusste auch nichts zu Tals Verbleib zu sagen. Wie auch, ohne Zunge, murmelte Ughtred leicht genervt und ging zum Ankerplatz hinaus. Wohin war sie gegangen? Er fragte zwei Quink, ob sie eine Hexe gesehen hätten und beide antworteten, es gäbe hier viele Hexen. Er schüttelte verdrießlich den Kopf, zwirbelte seinen Bart und strich sich dann über das Zeichen auf seiner Stirn. Er fragte sich, ob viele der Silberwölfe es erkannten, zwischen seinen restlichen Tätowierungen. Wie bei den Nyghs üblich, war der ganze obere Teil seines Kopfs mit grüner und dunkelblauer Farbe bedeckt. Linien und Muster überzogen seinen Schädel und das Wolfshexenzeichen war nur ein Teil dieses Schmucks. Als Kind, war es sehr deutlich zu sehen gewesen, aber als er alt genug gewesen war, sich unter den farbigen Dorn zu begeben, hörte es auf sein Leben zu überschatten. Zumindest hörte es auf, dass die Leute die ihn ansahen hinter seinem Rücken tuschelten. Er wusste ganz genau, dass dieses Zeichen sein Dasein bis in den Tod und vermutlich darüber hinaus beeinflussen würde.

Kyon trat neben ihn und nestelte an seiner Pfeife herum. Er war im Begriff das Rauchzeug anzuzünden und blickte in den aufkommenden Nebel. Wie konnte man Pfeife rauchen, wenn man jemanden suchte, den man mochte? Oder mochte er die Hexe gar nicht? Sie hatten doch beieinander gelegen, er war von ihrer Art, reichte das nicht, um sich Sorgen um ihren Verbleib zu machen? Wahrscheinlich dasselbe wie mit dem Faltersud. Andererseits, was wollte man von einem Wesen erwarten, dass eine Brühe trank, die aus zu Tode geschmorten Faltern extrahiert wurde?

Doch dann deutete Kyon auf eine der Treppen, die von der Anlegeplattform gingen. Hier schien der Nebel am dichtesten zu sein. Ughtred sah den Silberwolf an und fragte: »Warum da?« und Kyon antwortete lakonisch: »Sieht mit Abstand am ungemütlichsten aus. Da wird sie sein.«

Endlich war die Pfeife entzündet und Kyon machte den Ersten Schritt die Stufen hinunter. Es war kaum noch etwas zu sehen, so dicht war hier der Nebel. Ughtred schüttelte den Kopf, aber offenbar verfügten die Wölfe ja tatsächlich über Instinkte, die er selbst nicht nachvollziehen konnte, also ging er Kyon hinterher und überholte ihn schließlich, weil der Barde für seinen Geschmack der Sache immernoch nicht mit der notwendigen Dringlichkeit nachging. Dann stockte ihm der Atem. Genau dort, wo einer der Stützbäume der Treppe über das Geländer hinaus ragte und mit seinen verzweigten Ästen eine Art Wand bildete, hockte die Hexe mit dem Rücken gegen das Holz gelehnt. Reglos wie eine Puppe starrte sie mit offenen Augen in den Himmel und Ughtred befürchtete das Schlimmste. Verdammt nochmal, das konnte nicht sein! Seine Hexe, die Hexe für seinen Vater – bei allen Amytoren, das konnte, durfte und sollte einfach nicht wahr sein.

Er stürzte auf die regungslose Frau zu und schüttelte sie und jetzt war auch Kyon zur Stelle. Ughtred hob sie auf und gemeinsam trugen sie Tal bis zur Plattform hinauf. Tals Hals war rot von ihrem Blut und wies mehrere tiefe Wunden auf. Etwas, ein Tier oder vielmehr eine Bestie hatte sie gebissen und dann ihr Blut aufgeleckt. Atmete sie überhaupt noch? Ihre Augen standen immer noch offen, doch sie schienen ins Nichts zu blicken. Dann verpasste Kyon ihr ohne Vorwarnung eine schallende Ohrfeige und wenn Ughtred nicht dazwischen gegangen wäre, hätte er direkt noch einmal zugeschlagen. Tals Wange färbte sich rot, aber die Hexe blinzelte und schnappte nach Luft wie ein geretteter, beinahe ertrunkener Welpe.

Kyon flüsterte bestimmt: »Vampir!« Dann zog er an der Pfeife, blies die Hexe an und vertrieb so den bösen Geist und sagte in ihr Husten hinein: »Das wird wieder.«

Der Nygh sah ihn wütend an, aber er hatte keine Zeit, sich um den Snob zu kümmern. Vorsichtig versuchte er mit der Hand die Wunde zu reinigen, aber sie blutete immer noch. Dann suchte er in der Ausrüstung der Hexe nach einem Tuch und fand schließlich etwas Passendes, um es ihr um den Hals zu knoten. Tal machte einen mehr als erschlagenen Eindruck, der eindeutig nicht nur durch den Blutverlust hervorgerufen worden war. Hier waren üble Mächte im Spiel und Ughtred war froh, in seiner damaligen Zeit in Elaiyney von solchen Dingen verschont geblieben zu sein. »Verdammt«, sagte er wütend, »nichts wie weg von hier!«

 

So kam es, dass sie mitten in der Nacht und überaus übellaunig an Bord der Getroffenen unter dem finsteren Kapitän Daarith Anhauly gingen. Ughtred machte es sich in einer Hängematte im Mannschaftsdeck gemütlich. Ihn hatte der gestrige Tag nur wenig ermüdend, aber er hatte kaum Zeit gehabt, seine Gedanken zu ordnen und war daher froh, ein paar Stunden für sich zu haben. Die Sache mit der Hexe hatte ihn noch mehr aufgerieben. Es schien ihr zwar gut zu gehen und sie selbst machte sich offenbar am wenigsten aus der Verletzung, aber für ihn war das Ganze schlichtweg grauenhaft. Genau das war der Grund, warum die Ältesten und die Wissenswarer Korezuuls vor der Welt der Silberwölfe warnten. Natürlich hatte alles zwei Seiten, aber in diesem Fall hatten sie unumwunden recht. Wenn in Dranought, seiner Heimatstadt, ein Wesen durch die Gassen schlich und andere angriff, ihnen in die Hälse biss und dann ihr Blut tränke, würde jeder Nygh nicht eher ruhen, bis dieses Ding gestellt und erledigt worden wäre. Hier konnte man froh sein, eine lakonische Warnung zu erhalten. Ja, da geht es zu den Brunnen, ach und seid ein bisschen vorsichtig, unter der Treppe lauert ein Vampir. Ist der Frühling nicht wunderbar?

Darüber hinaus wunderte er sich, dass die Hexe sich keine Sorgen um irgendwelche Folgeerscheinungen machte. Gab ein bisschen Salz in eine Suppe und die Silberwölfe kosteten davon, kotzten sie sich die Seelen aus den Leibern. Bei starkem Sonnenlicht dauerte es nur Minuten, bis sich ihre ungeschützten Gesichter rot zu färben begannen. Würde man einen von ihnen nackt im Sommer auf die Straße ketten, er würde zweifelsfrei in einer spontanen Selbstentzündung in Fallen aufgehen. Ein einziger Tropfen Rum hatte Tal und Kyon derart zum Wanken gebracht, dass sie zusammen mit dem bärtigen Piraten eine lüsterne Orgie gefeiert hatten. Ach, ihr wurdet von einem Monster in den Hals gebissen? Ja, ich hoffe, es wird keine Narbe bleiben, aber zur Not kann ich ja einen Schal darüber drapieren. Würdet ihr Fuchsie oder Karmesin wählen, bei meinem aktuell doch sehr blassen Teint?

Er schüttelte den Kopf und rollte sich auf der Hängematte zusammen. Pest und Teufel, die machten ihn verrückt.

Unterdessen teilten sich Die Bett und Kajüte, doch sie waren beide zu erschöpft, um sich mit Peinlichkeiten zu befassen. Sie fielen fast gleichzeitig in tiefen erholsamen Schlaf. Vor der Kajüte hockte Odugme wie immer auf dem Sarg. Tal hatte seinen Namen aus ihm herausgekitzelt, was ob des Fehlens seiner Zunge alles andere als einfach gewesen war. Dies schien ihr wichtiger gewesen zu sein, als ihre Episode auf der Treppe von Elaiyney. Der Phani schlief im Sitzen, aber irgendein Teil seiner Wahrnehmung hielt Wache und wartete auf die Befehle seiner Herrin.

So verschliefen die ungewöhnlichen Reisegefährten den ganzen Reisetag und wachte erst auf, als das Schiff über Verith Kiriyn zu Boden ging. Hier wurde eine Ladung von Sklaven an Bord gebracht und dieser Vorgang machte derartigen Lärm, dass an Schlafen nicht mehr zu denken war. Bei den Sklaven handelte es sich um Amyril, amphibische Sumpfbewohner, die sich nackt und ängstlich im Laderaum zusammenkrümmten und unter großem Gewimmer ihrem Weitertransport entgehen sahen.

Den ganzen nächsten Tag verbrachte das Schiff an der Flanke des Gebirges und machte trotz diesigen Wetters gute Fahrt. Gegen Mittag überflog es Feynbaiyd und abends wurden die Segel eingeholt und die Ankerseile nach Orith Verias herabgelassen. Die Amyril wurden von Bord getrieben, aber Kapitän Daarith hatte offensichtlich noch einen weiteren Auftrag, denn emsige Arbeiter brachten Truhen und Fässer an Bord. Leider führte der Handel die Getroffene zurück in Richtung Shishney und so sehr es Kyon in den Fingern juckte, sie musste weiter nach Nordwesten.

Lichtblitze ziehen flackernd an ihm vorüber. Der Boden donnert und er muss sich an einer der Metallstangen neben und über ihm festhalten. Die Blitze sind gelbe Lichter im Tunnel um ihn herum und das Donnern und Flackern kommt von der Bewegung, in der er sich befindet. In der Bewegung, anders kann er seinen Zustand nicht beschreiben. Immer schneller geht die Fahrt, immer verwirrender rasen die Blitze um ihn herum und das Rattern unter ihm droht ihm die Sinne zu rauben. Dann bewegt sich eine Gestalt auf ihn zu. Es ist ein Mann, kleiner als er selbst und hässlich. Er trägt seltsame Kleidung und Kyon erkennt in ihm keinen Silberwolf, kann ihn aber auch keiner, ihm bekannten Spezies zuordnen. »Nicht nach Prag!« übertönt der fremdartige Mann das Chaos, welches sie beide umgibt. »Nie wieder Prag!«

Kyon öffnete vorsichtig die Augen und sah sich von den drei anderen umringt. 

»Was war denn das jetzt?« fragte Ughtred mit einem für seine Verhältnisse ungewöhnlichen Grauen in der Stimme. Tal blickt sich kurz um, als wolle sie feststellen in welcher Realität sie sich befand und sagte dann: »Er hatte eine Vision.«

»Dann soll er die in Zukunft bei sich behalten, der Herr Wolf«, blaffte der Nygh und wandte sich ab.

Kyon sah Tal und den neben ihr stehenden Phani an als er sagte: »Eine Art Fahrzeug und ein Mann, vielleicht eine Art Maskenmännlein, der mich vor einem Ort namens Prag warnte.«

Die Hexe nickte und sagte: »Wir haben das Rattern unter den Füßen gespürt und dachten es wäre ein Erdbeben gewesen.«

Dabei beließen sie es. Visionen kamen und gingen. Man würde sehen, was diese zu bedeuten hatte.

 

Orith Verias machte einen verschlafenen Eindruck und die Kaschemme an der Anlegestelle schien schlecht besucht. Kyon wäre am liebsten direkt in das nächste Schiff gestiegen, aber dies erwies sich als schwieriger als erwartet.

Zu dritt gingen Kyon, Tal und Ughtred von einem der an der Landeplattform festgemachten Schiffe zum nächsten, aber niemand konnte ihnen ein Schiff empfehlen, dass weiter aus Kisadmur hinaus gefahren wäre. Ermüdet und mit wenig Hoffnung im Herzen schlichen sie doch noch in eine der Kaschemmen. Kyon überlegte kurz ein Lied anzustimmen, denn der Schankraum war so trist und still, dass es ihm das Herz verdrehen wollte, aber dann deutete Tal mit dem Kinn auf einen Mann an einem der Tische. Der Schankwirt hatte ihr offenbar den Tipp gegeben. Gemeinsam standen sie wenige Sekunden später vor dem vermeintlichen Kapitän und Kyon stellte sich und seine Mitreisenden vor. Der andere stand nicht auf, machte aber Anzeichen, dass sie sich setzen könnten. Sein Name war Haadrian Streyney, der Kapitän der Verlorenen, aber er hatte weder Auftrag noch Befehl und so würde er hier vor Ort liegen bleiben. Kyon lächelte und beförderte ein Beutelchen mit Edelsteinen und einem Goldring zutage. Dies munterte den abgehalfterten Kapitän ein wenig auf. Nach Ilanwaiyn war es nicht weit. Ein Flugschiff konnte die Strecke in wenigen Stunden bewältigen. Warum nicht? Edelsteine und ein Goldring und noch dazu interessante Passagiere waren allemal besser als die schäbigen Kaschemmen von Orith Verias. Gesagt getan erhob sich Haadrian und erklärte den nun doch verdutzt dreinblickenden Gästen, wenn es nach ihm ginge, könne man direkt abheben!

In stockdunkler Nacht wurden die Segel gesetzt und das Schiff machte sofort gute Fahrt. Die Geister der Winde hatten sich offenbar auch vorgenommen Korezuul zu besuchen, denn sie rissen die Verlorene geradezu mit sich. So kam es, dass die Schwestersonnen noch nicht aufgegangen waren, als der Ausguck am höchsten Mast Licht ausrief und siehe da, bald darauf kamen die Häuser Ilanwaiyns in Sicht.

 

Vier Tage hatten die Schiffsreisen gedauert und nun waren sie endlich in Ilanwaiyn zu Boden gegangen. Ughtred wusste nicht ob man das so nannte wenn ein Luftschiff anlegte. Er hatte versucht die smavarische Sprache zu meistern, aber diese selbst auferlegte Bürde hatte sich als schwerer als erwartet erwiesen. Die Sprache der Silberwölfe war ein gesungenes Wirrwarr aus Begriffen und sich widersprechenden Aussagen, die nach mehrfachen Verneinungen ein Ja ergaben. Oder doch ein Nein? Oder ein Vielleicht? Er wusste es nicht, Er war müde vor Sorgen um seinen Vater. Hinzu kamen die Selbstzweifel. Es war ja nicht nur die Sprache, die ihm Schwierigkeiten bereitete. Früher war ihm das Wissen so wichtig vorgekommen. Er hatte die Kleingläubigkeit und die Enge Korezuuls gehasst. Dieb hatten sie ihn genannt; weil er Kristalle geliehen hatte, um sie zu lesen. Sein Volk mochte den Fortschritt nicht und tat alles um eben alles immer und immer beim Alten zu belassen. Aber da musste doch mehr sein? Die Wölfe flogen auf Schiffen in die Sterne hinaus! Was mochten sie dort finden? Das Universum musste endlos sein, wenn um jeden Lichtpunkt den er am Nachthimmel zu sehen bekam, Welten wie die Tiba Fe rotierten. Jede Welt hatte Bewohner und diese lebten in verschiedenen Kulturen und somit musste es unzählige Sprachen geben. Was noch? Er wollte seine Gedanken ordnen, aber wie immer wenn er über das Wissen an sich nachdachte überschlugen sie sich. Doch dann war da wieder sein Vater. Als die Krähe ihm die Nachricht über den Unfall überbracht hatte, war Ughtreds Herz beinahe zum Stillstand gekommen. Ein Amytor an sich war schon schlimm genug, aber einer dessen Gift bei einem Nygh wirkte, war nicht nur ungewöhnlich, sondern auch höchst gefährlich. Die Nyghs kannten keine Vergiftungen. Sie stammten von Crynos, dem Urtitanen selbst ab und keines seiner Kinder war empfindlich gegen Krankheiten oder Gifte. Dennoch schien die Ausnahme die Regel zu bestätigen, denn die Krähe hatte vom Hauch des Todes gesprochen. Ughtred war sofort aufgebrochen, aber er wusste noch nicht einmal genau, ob er sich auf einer Rettungsmission oder auf dem Weg zu einer Beerdigung befand. Dieb hatten sie ihn genannt und sein Vater hatte das Wort wiederholt. Sie waren im Streit auseinander gegangen und jetzt würde Ughtred den Schmied vielleicht nie wieder sehen. Aber er wollte selbst in Amytorenblut baden, wenn er es nicht wenigstens versuchte. Zumindest das Karma schien auf seiner Seite zu sein. Eine Hexe sollte es sein und eine Hexe hatte er gefunden. Wenn die Wölfin mit dem wirren Haar seinem Vater keine Heilung bringen konnte, dann konnte es niemand. Dann war da nur noch die große Mutter und ihre warmen Arme. 

Er sah sich auf dem Landeflecken von Hirschheim um. Hirschheim, die Wölfe mochten solche Namen. Es schien ihm, als sehnten sie sich  nach einer Rückkehr zur Mutter, aber allein mit Worten würde ihnen dies sicher nicht gelingen. Sie hatten dieser Welt schlimme Wunden beigebracht. Allein Draiyn Andiled war das grausigste Zeugnis ihrer Taten. Die größte Wüste aller Zeiten war einst ein grüner Ort des Überflusses gewesen. Bis die Wölfe kamen. Nun war das Land östlich von Korezuul und Kisadmur ein glühendes, von Amytoren wimmelndes Sandmeer.

Kopfschüttelnd wandte sich Ughtred einem der Quink auf dem Platz zu und fragte nach einem Hafenmeister oder jemandem, den man um Proviant bitten konnte. Leider konnte der Arbeiter ihm keine Auskunft geben, deutete aber mit seinem Fingerdorn auf ein kleines Haus am Platz. Das Bogentor sei eine gute Kaschemme, in der man sich ausruhen und erkundigen könne. Also wartete der Nygh auf die beiden Wölfe und den großen schwarzen Mann. Als sie endlich auch von Bord kamen, berichtete Ughtred von der Kaschemme und die ungleichen Reisegefährten nahmen den Vorschlag an. Die Hexe befahl ihrem Sklaven, sich auf den Sarg des toten Bruders zu setzen und vor der Kaschemme zu warten. Die beiden Männer erinnerten sich nur zu gut an die Geschehnissen in Elaiyney und hatten nicht die geringste Lust, den Ort einer näheren Untersuchung zu unterziehen und so gab Tal nach und sie kehrten wortlos ein.

Wie in den meisten Gasthäusern der Wölfe wurde auch das Bogentor von einem, oder wie in diesem Fall einer Quink geführt. Man bestellt bitteren Faltersud und Ughtred fragte nach Gelbwein, Gerstensaft und vor allem jemanden, der sie ausrüsten könne. Die Wirtin, eine Frau namens Iktiks, schien den Nygh nett oder zumindest interessant zu finden und schenkte nicht nur großzügig Gerste aus, sondern beschrieb ihm den Weg zum Haus des Lopenhirten Ileandis Aarunaiydt. Er sei der Beste seines Faches und niemand hätte bessere Lopen unter Vertrag als er.

Gerade als Ughtred sein Wissen mit den beiden anderen teilen wollte, öffnete sich die Tür der Kaschemme und die Wirtin zog die Aufmerksamkeit des Nyghs mit einem Pfiff auf sich. Dann deutete sie mit den Fingerdornen beider Hände auf die Neuankömmlinge und brachte mit Gesten zum Ausdruck, dass es sich bei ihnen um keinen anderen als den besagten Hirten und seinen Leibwächter handelte.

Einige Augenblicke später hatten die drei den Silberwolf und seinen Begleiter, einen unglaublich massigen Quink an ihren Tisch gebeten und zu Gelbwein eingeladen. Ileandis war groß und schlank und sein Gesicht vereinte eine wilde herbe Seite mit der Schönheit der Smavari. Seine Augen waren stechend und gelb und erinnerten an die Blicke eines Raubvogels. Er trug nur einen dunklen weiten Rock und seinen Oberkörper zierten schwarze Striemen. Trotz seiner eher der Wildnis zugehörigen Natur schien er aber ein freundlicher Silberwolf zu sein. 

Der Quink an seiner Seite war ebenfalls eine Besonderheit. Er stellte sich selbst als Bjurk vor und als Tal ihn mit Du ansprechen wollte, tätschelte er ohne zu zögern seine gewaltige Kriegsaxt und sagte: »Entweder beide Du, oder beide Ihr, ganz nach belieben!« Seine Aussprache war dabei so fern des üblichen Quinkgequakes und sein Blick so hart und offen, dass Tal sich tatsächlich für ein beidseitiges Ihr entschied.

Ileandis verstand, um was es den Fremden ging, warnte nur einmal vor den Gefahren der Reise und akzeptierte dann ihre Dringlichkeit. Es schien, als litte er sofort mit Ughtred, als er von der Vergiftung dessen Vaters erfuhr. Schnell willigte er ein, seine Lopen zu bitten, die Reise zu unterstützen, ließ aber keine Zweifel daran, dass natürlich nur die Tiere selbst entscheiden würden, ob sie diese Gefahr auf sich nehmen wollten oder nicht.

Ohne weitere Zeit zu verlieren und immer wieder den Nygh anblickend stand er auf und machte eine weite Armbewegung zur Tür der Kaschemme. Als Ughtred noch einmal zur Wirtin blicke hatte er ihren Namen vergessen, aber er hob grüßend die Hand und nickte ihr freundlich zu. Die Zeche schien Bjurk mit einem Schnappen seines Eisenunterkiefers zu bestreiten, denn die Wirtin tat es ihm gleich, was bei den Quink als Zustimmung galt.

 

Tal betrachtete den seltsamen Mann, der da vor ihnen herging eingehend. Er zog ein Bein nach, aber Tal konnte auf Anhieb keine Wunde erkennen. Hatte er wie ihr Vater in einer der zahllosen Gordenoffensiven gekämpft? Sie beschleunigte ihren Schritt und schob sich neben ihn.

»Welche Verletzung können die Heiler nicht richten?« fragte sie direkt, wie es nun einmal ihrer Art entsprach.

Ileandis lächelte und ging weiter. Dann sagte er mit ruhiger Stimme: »Es ist keine Verletzung. Ich verwandle mich in einen Falken und der Prozess ist langwierig und zum Teil schmerzhaft.«

Die Hexe nickte und ließ sich wieder zu den anderen zurückfallen.

Über den höchsten Baumwipfeln der Odoreys kreist ein dunkles Kreuz. Wachsam sucht es nach Beute. Es jagt unermüdlich. Bald wird sein Blut die Art der Falken stärken. Wolfsblut …

 

Thorl stand schon als böses Auge am südlichen Horizont und überzog die Straße und Gassen Ilanwaiyns mit seinem roten Wiederschein. Es war noch früh in der Jahreszeit und die kommende Nacht drohte den Winter zurückzuholen. Das Haus des Hirten, wenn man sein Anwesen überhaupt Haus nennen wollte, war nicht nur riesig, sondern in seiner ganzen Struktur mehr als außergewöhnlich. Es erhob sich auf acht gigantischen Beinen, welche in Wahrheit Bäume waren, die mittels dunkelster Hexerei geformt worden waren. Die Kronen hatte man entfernt und die Rinde ebenfalls. Geblieben waren die gebogenen Stämme, auf denen eine längliche Plattform thronte. Von der Ferne musste diese gewaltige Struktur wie eine riesige Spinne aussehen, aber da sich das Anwesen tiefer als die Landeplattform des Ortes befand, konnte man es vom Südosten aus nicht erkennen. 

Mehrere geländerlose Treppen waren in die Stämme geschnitten worden und der Aufstieg konnte für jemandem, der nicht schwindelfrei war eine ziemliche Hürde sein. In einer Höhe von über acht Metern erreichte man schließlich wieder sicheres Terrain und konnte von hier oben aus, durch dutzende von Öffnungen in der Plattform, den Nutzen der Spinnenbeine erkennen. Dort unten, durch die Struktur des Hauses und viele Stellwände und Heuhaufen geschützt, lagerten die Lopen. Sie kauerten zwischen dem Heu oder rieben sich an den Säulen und schienen es sich gutgehen zu lassen. Durch die Plattformöffnungen konnte man ihre Zahl nur erahnen, aber es waren in jedem Fall wenigstens vier Arten von Lopen. Da gab es die mächtigen Orey`Orevi oder Zackenhörner, stämmige Dromirtha und wenigstens zwei weitere, sehr kleine Arten, die keiner der drei Reisenden kannte. Alle Tiere waren frei. Sie konnten kommen und gehen wie es ihnen beliebte und sie würden auch nur dann für die Silberwölfe arbeiten, wenn ihnen dies sinnvoll erschien.

Ileandis machte eine einladende Handbewegung zur Tür seines Hauses hin und schon öffnete sich diese. Eine schöne Frau mit ungewöhnlich bläulicher Haut hatte sie geöffnet und blickte die Neuankömmlinge mit unverhohlener Langeweile an. Der Lopenhirte stellte sie als Smiraiyg Kyshory yr Vnarialiss, einer Freundin vor.

Im Inneren des Hauses verbreiteten Feuerbecken ein warmes oranges Licht. Das ganze Gebäude bestand aus Holz und hatte im Inneren keine Trennwände. Es gab nur Deckenbalken, von denen Schleier hingen, um bestimmte Bereiche von anderen abzutrennen. Das Dach war hoch und luftig und im Gebälk hockten viele Vögel. Auch die Fenster hatten keine Scheiben und konnten nur mit Holzläden verschlossen werden, aber im Augenblick standen sie alle offen und nur ein großes Lagerfeuer in der Mitte des Raumes bot daher gemütliche Wärme.

Bald nach der Ankunft saß man bei besagtem Feuer und wärmte sich Hände und Füße. Die schöne und etwas kindliche Smiraiyg befragte mit gespieltem Desinteresse Kyon aus. Sie wollte wissen, wo er herkam und wie er an den lustigen kleinen Sklaven gekommen war. Sie deutete mit den Fußzehen auf Ughtred und kicherte, während sie eine Bemerkung über seine Größe und die hierdurch wahrscheinliche Beschaffenheit seines Gemächts machte. Als Kyon erklärte, der Nygh sei kein Sklave und schon gar nicht der seine, verzog die blaue Wölfin angewidert ihr Gesicht und hatte es plötzlich eilig, ihre Haare zu waschen. Sie stand auf und ließ Kyon absichtlich unter ihren Lendenschurz blicken, erreichte damit aber nichts und zog ab.

Ileandis und Bjurk warfen sich kurz einen Blick zu und als der Quink achtungsvoll nickte war auch dem Hirten anzusehen, wie überrascht er über die Haltung seiner Gäste war.

Sie aßen Suppe, die im Übrigen der Hausherr selbst zubereitet hatte – ganz eindeutig eine Obskurität im Hause eines reichen Smavari. Nach dem Essen, es konnte nur noch eine Stunde vor Sonnenaufgang sein, ruhten sich alle etwas aus und schließlich erhob sich der Lopenhirte und erklärte damit seine Bereitschaft, nun zu seinen Schützlingen hinunter zu gehen und Fürbitte zu halten.

Ughtred hatte lange nicht so gut gegessen, aber für ihn drängte die Zeit, also war er schon halb eine der Treppen hinunter gelaufen, als die anderen langsamer folgten.

Unten stellte Ileandis den drei Gästen eine Gruppe von Zackenhörnern vor. Ihr Anführer, ein Alino mit weit nach hinten ausladendem Geweih, einer schwarzen Zeichnung auf dem Rücken und stechenden roten Augen stand auf und begann Kyon zu beschnüffel. Er kannte die Wölfe und er kannte den uralten Packt zischen seiner Art und ihrer. Trotzdem war er vorsichtig. Weibliche Wölfe waren nur gefährlich wenn sie Junge hatten, aber männliche kämpften und töteten häufig auch ohne dringlichen Grund und waren daher mit Vorsicht zu genießen. Zuerst sog er Kyons Geruch von der Ferne in seine Nüstern, aber dann grub er seine nasse Schnauze in die Armbeuge des Barden und gab ihm dann einen rüden Schubser. Kyon wäre beinahe gestolpert, fing sich aber und wirkte verunsichert. Doch plötzlich trat Tal zu dem Albinoalpha und hob beschwichtigend eine Hand. Kräfte aus längst vergangener Zeit flossen aus dem Äther in ihre Kehle und als sie sprach, waren ihre Worte und ihre Stimme eins mit denen der Lopen. Guttural hauchte sie: »Dies ist Kyon und dies Ughtred von den Nyghs und ich bin Tal. Wir kommen als Bittsteller und erbeten deine Hilfe mächtiges Zackenhorn.«

Einen Moment herrschte Stille. Die Lopen sahen zuerst diese dünne Wölfin und dann ihren Alpha an. Doch dann nickte dieser und lachte mit den Ohren als er   mit tiefer, röhrender Stimmer antwortete: »Ich bin Donnerhuf und ich führe die Zackenhörner und wenn du wie meine Sippe gehen würdest, würde ich deinen Bauch mit Kindern füllen!«

Tal lachte und nahm dies als Komplement. Von diesem Moment an war sie sicher, in den Lopen Verbündete gefunden zu haben. Sie hatte die Fürsprache des Hirten überhaupt nicht gebraucht. Ihre eigenen Kräfte hatten gereicht. Sie erklärte Donnerhuf warum ssi nach Ilanwaiyn gekommen waren und dass ihr Weg sie bis nach Korezuul führen musste, denn dort galt es ein Herdenmitglied zu retten. Zuerst verstand der Alpha nicht was damit gemeint war, denn in seiner Vorstellung war es nicht möglich andere zu retten. Man konnte fliehen wie die Windgeister und in großer Not konnte man kämpfen und Räuber von Klippen stoßen, doch gegen Krankheiten konnte man nichts tun. Aber dann begriff er es doch, denn auch die Wölfe hier hatten schon Wunder an manchen seiner Art getan und diese Art von Wundern schien auch die dünne Wölfin vollbringen zu können. Wie sonst spräche sie die Sprache der Zackenhörner?

Schließlich stellte er zuerst seine eigene Herde und dann eine kleinere Gruppe von Dromirtha vor. Letztere würde man benötigen, die Ausrüstung und den Riesen, er meinte den Phani, zu tragen. Zackenhörner waren stark und schnell, aber um einen Riesen zu tragen, brauchte man einen anderen Riesen.

Da waren Donnerhuf selbst, Renner und Bienenstich, die Söhne des Alphas, Stolperstein, Bienenstichs Mutter, die mit seltsam weißen Augen in die Welt hinaus blickte. Rehlein, Donnerhufs Tochter und acht weitere Lopen, die jedoch nicht mit auf die Reise gehen, sondern hier bleiben würden.  Der Alpha der Dromirtha hieß Kreutzhorn und schien von eher schlichtem Gemüt. Regenbogen, seine älteste Tochter hatte einen großen tief roten und einen blauen Fleck im Fell und schien deutlich aufgeweckter zu sein. Dann gab es noch Fleckenbein, einen jungen und sehr dynamischen Bullen und Wangenrot, sein Weib. Diese neun sollten von nun an die Weggefährten der Wölfe und des kleinen Mannes aus Korezuul sein, wenn, ja wenn der Alpha der Wölfe und der Alpha der Lopen sich das Versprechen geben konnten.

Also intonierte Ileandis, der ebenfalls die Sprache der Tiere sprach den uralten Packt und übersetzte für Kyon, der ohne weitere Überlegungen als besagter Alpha der Wölfe herausgedeutet worden war: »Leben für Leben!«

Drei Worte und ohne zu zögern wiederholte Kyon den Spruch. Seit seinem Aufbruch aus Shishney war ihm nichts so einfach und leicht vorgekommen wie dieser Schwur. Er hatte nicht die Fähigkeit Tals mit den Tieren zu sprechen oder die Einfühlsamkeit Ughtreds sie mit dem Herzen zu verstehen. Er war ein Silberwolf mit all den Fehlern seiner Art. Doch das hier, das schien ihm auf eine ganz merkwürdige Weiße einfach. Diese Tiere hatten keinen Grund ihm zu helfen und würden es nur tun, weil sie freundlich waren. Dieses Gut schien ihm derart selten auf der Tiba Fe, dass er gar nicht anders konnte, als den Schwur von herzen zu wiederholen: »Leben für Leben!«

Er sagte es nicht laut und auch nicht mit Nachdruck, aber er sagte es im Brustton seiner eigenen Überzeugung. Er würde neben den Lopen stehen, wenn die Gefahren ihrer Reise dies nötig machten!

 

Nach der Zeremonie beschnupperten alle Lopen die neuen Gefährten, verloren aber schnell das Interesse und beschlossen, lieber noch ein wenig zu ruhen. Daher war es auch für die drei Abenteurer sinnvoll noch eine oder zwei Stunden zu schlafen, denn die Tiere würden möglichst bei Tage reisen und noch war die Dämmerung nicht weit fortgeschritten.

Wieder oben im Haus angekommen, legte sich Tal direkt in eine der mit vielen Kissen belegten Schlafstätten und rollte sich zusammen. Kyon und Ughtred fragten Ileandis und Bjurk nach dem Weg, aber beide waren sich einig, dass es am besten wäre, einen erfahrenen Führer, am besten einen der hiesigen Waldläufer anzuheuern. Draußen vor der Stadt gäbe es eine Taverne namens die Einöde. Dort könne man sicher jemanden finden, der sich in den nördlichen Wäldern Kisadmurs auskannte. Die Lopen kannten den Weg dorthin und man müsse sie nur machen lassen.

Damit gaben sich Kyon und der Nygh zufrieden und auch sie legten sich noch ein wenig zur Ruhe. Allein Ughtred tat sich schwer damit, die Augen zu schließen. Die Angst um seinen Vater wurde von Stunde zu Stunde größer. Er hatte schon viel von Amytorenverletzungen gelesen und was auch immer dem alten Schmied widerfahren war, wenn es mit einem Amytoren zu tun hatte, konnte es nur eine Katastrophe sein.

Er lag in einem der Lager und blickte zu einer der Öffnungen im Dach hinauf. Dort oben kletterte eine Krähe von einer Stange auf eine andere. Sie sah in die Nacht hinaus und dann zu ihm hinunter, als wollte sie sagen: »Auf was wartest du noch?« Er nickte und rieb sich geistesabwesend über das Zeichen auf seiner Stirn. Hexenkräfte, wohin man sah. Was konnte Tal noch alles vollbringen? Sie sprach mit Tieren! Sei guten Mutes, Herr Stirnlein! Sie mögen Wölfe sein, aber das Karma hatte sie an ihn geschmiedet und das Karma tat nichts ohne Grund!

 

Zwei Stunden später war es hell genug, um aufzubrechen. Unter dem Haus blökten die Dromirtha und Ileandis schlug mit einem an Schnüren hängenden Balken gegen die Holzwand, um alle zu wecken. Es dauerte nicht lange bis die Ausrüstung der Reisenden auf den Tieren verteilt worden war. Der Holzsarg wurde auf einem der Dromirtha festgezurrt. Der Lopenhirte hatte entsprechende Lastsättel, Gestelle und Decken zur Verfügung gestellt und die Tiere zeigten, dass sie diese Utensilien gewohnt waren. Odugme, der riesige Phani würde zumindest zu Beginn der Reise auf Kreuzhorn reiten. Für Kyon stellte sich Renner, für Tal Stolperstein und für Ughtred Bienenstich zur Verfügung. Als alle aufsaßen und Donnerhuf aus dem Verschlag trat hob Ileandis noch einmal die Hand zum Gruß. Leise murmelte er eine alte Formel die Glück bringen sollte. Dann setzte sich die kleine Herde in Bewegung.

Zuerst ging es nach Nordosten um die Strukturen Ilanwaiyns herum und schließlich auf der anderen Seite nach Nordwest in den Wald hinein. Es gab nur einen schmalen Pfad, der rechts und links von Dornengestrüpp und dichtem Unterholz begrenzt wurde. Der Wald war dunkel und kaum ein Strahl der beiden Sonnen erreichte hier den Boden. Die Luft roch würzig, nach Tannennadeln und den unzähligen Pilzarten, die hier gediehen. Es war neblig und kühl und weder Tal noch Kyon waren es gewohnt auf Lopen zu reiten. Auch auf Ughtred traf dies zu, aber ihm machte das Leben in der Wildnis nichts aus. Sein Volk hatte sich nie von der Natur abgewandt und er selbst hatte, wie alle Kinder der Nyghs, seine ganze Kindheit in den Wäldern verbracht. Als er Kyon auf seinem Sattel herumrutschen sah, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen. So würdig waren sie, so stark und so gefährlich diese Wölfe, aber oh, es ist kalt und uuh, es regnet und schon waren, ließen sie im wahrsten Sinne des Wortes ihre langen Ohren hängen.

Der erste Tag im Wald war tatsächlich alles andere als einfach für die kleine Reisegruppe. Schon gegen Mittag war es Odugme anzusehen, dass ihn etwas plagte. Man beschloss zu rasten und Tal untersuchte den Phani. Leider kam sie zu dem Schluss, dass ihm irgend etwas fehlte. Er schien nicht krank in diesem Sinne zu sein, sondern litt eher unter einer Mangelerscheinung. Schnell pflückte sie ein paar Beeren und gab eine Handvoll Zutaten aus ihrem alchemistischen Sammelsurium dazu. Als sie Odugme anwies, seine Maske zu lüften, damit er die Nahrung aufnehmen konnte, tat dieser wie ihm gehiesen und schluckte die Beeren fest, ohne sie zu kauen. Außerdem schien er zu wenig getrunken zu haben. Tal erkannte, dass sie vorsichtiger mit ihrem Statussymbol umgehen musste. Der riesige schwarze Mann war offensichtlich nur bedingt in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Wenn sie ihn nicht fütterte, würde er wie eine Blume ohne Wasser zugrunde gehen. Sie versuchte mehrfach ihn zur Kommunikation zu bewegen und befahl ihm sogar sich an sie zu wenden wenn ihm etwas fehlte, aber nach einiger Zeit wurde ihr bewusst, dass er dazu überhaupt nicht in der Lage war. Wie sein Geschlecht und seine Zunge, hatte man ihm auch den Selbsterhaltungstrieb genommen. Er gehörte nun ihr und so war es ihre Verantwortung, ihn instand zu halten. Seufzend setzte sie sich auf eins der angewinkelten Beine des Riesen und sagte zu Kyon: »Da haben wir uns etwas eingebrockt Herr Sliyn!«

Kyon nickte und ging auf und ab. Sein Hintern schmerzte und er hatte eindeutig auch eine Mangelerscheinung. In seinem Fall handelte es sich dabei aber nicht um zermatschte Beeren, sondern um Stühle und Betten.

 

Als die Nacht kam, spitzte sich all dies zu. Weder Kyon noch Tal hatten so richtig begriffen, wie es nun wäre, so auf Lopen durch den Wald zu reiten. Nicht nur, dass ihnen die Knochen und vor allem die Hintern schmerzten, es wurde dunkel und weit und breit kam keine Taverne in Sicht! Die Lopen machten Anstalten, sich in das Gestrüpp zu verteilen und zu äsen, aber wo waren nun die Betten für die Nachtruhe?

Kyon rutschte von Renners Rücken und ging zu Tal hinüber, um ihr von ihrer Lope zu helfen. 

»Zelt?« fragte er tonlos.

Die Hexe rieb sich den Hintern und blickte zu dem Phani auf. Schließlich nickte sie und gab dem Riesen den Befehl ebenfalls abzusteigen und das Zelt für sie und Kyon aufzubauen. Ughtred sammelte unterdessen ein paar Steine für einen Feuerkreis, das trockenste Holz, das er finden konnte, und hob darüber hinaus ein wenig Lopendung auf. Dann benutzte er etwas des mitgebrachten Heus und sein Feuerzeug und schaffte es trotz der feuchten Umgebung ein Feuerchen zu entzünden. Danach reichte er den Tieren von dem Heu und streichelte sie. Er mochte die Lopen. Nyghs hatten generell ein gutes Verhältnis zu Tieren und diese hier hatten auf ihr Blut geschworen, ihm zu helfen. Als Kyon den Schwur wiederholt hatte, war er selbst stumm geblieben. Aber eine Frage war für ihn diese Sache nicht. Leben für Leben, er nickte.

Am Feuer dachte man noch über Wachen nach, aber Kyon und Tal waren einfach zu erschlagen dafür, also lächelte der Nygh und erklärte, er wolle sich mit dem Riesen darum kümmern. Doch als die beiden Wölfe in ihrem Zelt verschwunden waren – er selbst dachte nicht einmal darüber nach ihnen zu folgen – gab er dem Phani zu verstehen, er solle nun ebenfalls ruhen. Dann schob er seine Decken zurecht und begab sich in die Welt des Halbschlafes. Er vertraute den Lopen und deren guten Instinkten und er vertraute auf sein eigenes Gehör. Nichts und niemand würde sich diesem Lage nähern können, ohne ihn zu wecken.

Irgendwo weit draußen im Wald heulte ein Arwolf und seine Schwestern und Brüder antworteten aus weiter Ferne. Kyon betrachtete Tal. Sie hatte sich hingelegt und in einen Klumpen aus verdrehten Knochen, bleicher Haut und wirren Haaren verwandelt. Er fragte sich, wie sie so schlafen konnte, aber ihr leises Schnaufen und die gruseligen, halb geöffneten, ins Nirvana blickenden Augen sprachen eine eindeutige Sprache. Er selbst hatte offenbar die Seite des Zeltes ausgewählt, auf der sich sämtliche Wurzeln des Waldes aufgetürmt hatten. Alles unter ihm war hart und piekste und er fand einfach keine Position, in der er es sich gemütlich machen konnte. Dann schlief er aber doch erschöpft ein und sah sich durch die Wälder irren.

Schnell wie der Winde geht es zwischen spitzen Ästen und schwarzen Stämmen hindurch. Jeder Tritt muss sicher sein, jeder Fehltritt führt zu geborstenen Knochen und schmerzhaften Striemen. Die Spur ist heiß. Blut und Schweiß. Tod bedeutet das Ende des Hungers. Vielleicht …

 

Gegen Mittag des nächsten Tages kamen sie an einem großen Baum vorbei, an dem ein toter Hobgoblin hing. Der Kadaver war mit einem überlangen schwarzen Pfeil an den Stamm genagelt und die Tiere des Waldes hatten sich längst an ihm gütlig getan. Kyon stieg von Donnerhufs Rücken. Der Albino hatte ihm am Morgen gestattet aufzusteigen und war trittsicher der Gruppe vorangegangen. Jetzt scharrte das mächtige Tier mit den Hörnern an einem Stumpf und schnaubte aggressiv. Es konnte die Gewalt in der Luft riechen. Der Hobgoblin war schon eine Weile tot, aber Gewalt braucht lange, um zu verfliegen.

Kyon machte den anderen ein Handzeichen und der Tross kam langsam zum Stehen. Dann stieg er vorsichtig über einen niedrigen Dornenbusch und bewegte sich auf den Toten zu. Er untersuchte den Pfeil und die Situation der Leiche. Sie hing in einer Höhe von fast zwei Metern. Zweifelsfrei war das Rotauge nicht in die Luft gesprungen. um sich akkurat an die Rinde pinnen zu lassen. Quinkscheiße, dachte Kyon und strich dabei vorsichtig über die schwarzen Krähenfedern des Pfeiles. Jemand hatte den Hobgoblin hochgehoben und dann den Pfeil mit bloßer Hand durch den dürren Körper ins Holz gerammt. Jukrey, ging es dem Barden durch den Kopf. Er hatte noch nie einen lebenden Jukrey gesehen, aber die Geschichten über die streitlustigen Mischwesen kannte er nur zu gut. Sie waren aus dem Fleisch derjenigen Silberwölfe hervorgegangen, die pervers genug gewesen waren, sich mit den stinkenden Hobgoblins zu vergnügen. Zweifelhaftes Vergnügen, dachte Kyon. Er konnte sich vieles vorstellen, aber da hörte für ihn der Spaß auf.

Wenn der Stamm oder die Rotte oder wie auch immer sich eine Gruppe von Jukrey zu nennen pflegte, noch in der Nähe war, konnte es brenzlig werden. Sie mussten die Taverne erreichen und jemanden finden, der sich mit so etwas auskannte. 

Schnell ging Kyon zu dem schmalen Pfad zurück und als die anderen ihn nach der Leiche fragten, berichtete er, was er entdeckt hatte. Keiner der anderen wusste mehr als er über die räuberischen Waldbewohner, aber sie wollten ihnen auch auf keinen Fall begegnen. Kyon zog sich an Donnerhufs Mähne in den Sattel und gab Zeichen weiterzuziehen. Er musste nicht darauf hinweisen, dass absolute Stille angesagt war. Selbst die Lopen schienen dies zu verstehen und setzten noch vorsichtiger als sonst einen Huf vor den anderen.

 

Der schwangere Silberwolf

Gegen Abend wurde der Weg etwas breiter und Holzschlag zeugte von der Nutzung des Waldes durch Zweibeiner. Kaum eine Stunde später verbreiterte sich der Pfad zu einem kleinen Platz, auf dessen rechten Seite ein Stall aus morschem Holz stand. Etwas zurückgesetzt schließlich, befand sich die Einöde und dieser Name hätte nicht besser gewählt sein können. Das einstöckige Gebäude machte einen durch und durch verwahrlosten Eindruck. Die Fenster waren geborsten und mit Leder geflickt, Schindeln lagen auf dem Boden und das Holz der Wände war überall wurmstichig und wies moosige Schimmelflecken auf. Dünner Rauch stieg aus dem rückwärtigen Kamin auf, wenigstens eine Sache, die auf eine gewisse Heimeligkeit hinwies.

Auf dem kleinen Platz stand ein sehr dicker Quink mit einer Axt. Vor ihm stapelte sich ein kleiner Haufen mit frisch gespaltenen Scheiten. Als er die Besucher auf ihren Lopen entdeckte, klappte seine eiserne Kinnlade herunter und es war ihm anzusehen, dass er sie nicht ohne die Hilfe seiner feisten Finger wieder nach oben bekommen würde. Das linke Scharnier war gebrochen und sein Kiefer wies eine dicke, rote Schwellung auf.

Zuerst machte er einen Schritt zurück, aber dann kam er aufgeregt auf die Reisegruppe zu und faselte etwas von dem Schangren, dem schangren Wulf im Hus.

Weder Kyon noch Tal verstanden ihn und Ughtred befand sich zu weit hinten, um mitzubekommen, was da vor sic ging. 

Es dauerte eine ganze Weile, bis alle abgesessen waren und Kyon den Burschen daran gehindert hatte, nach den Lopen zu langen. Er hatte sie in den nach Pisse stinkenden Stall führen wollen, aber natürlich hatte Donnerhuf dies abgelehnt. Es war dem Zackenhorn anzusehen, dass es kurz darüber nachdachte, den dicken Quink mit den Hörnern zu tode zu rammen, aber dann entschied es sich dafür an den Rand der Lichtung zu gehen und ein paar bewusstseinserweiternde Pilze zu kauen. Kyon, Tal und Ughtred wollten sich gerade besprechen, während der Phani die Lopen ablud, als auf der Holzveranda der Taverne weitere Quink erschienen. Direkt in der Tür stand ein stämmiger Mann mit Backenbart und durchdringenden Augen, aber hinter ihm, im Dunkeln des Hauses, kauerte eine weitere Gestalt und zielte mit einer Armbrust auf die Neuankömmlinge.

Doch nach einem kurzen Moment machte der Quink in der Tür einen weiteren Schritt ins freie und die junge Quinkfrau hinter ihm ließ ihre Waffe sinken. Weitere Quink kamen hervor. Eine jüngere Frau und eine sehr alte gebeugte Quink schoben sich neben den Mann mit dem Backenbart. Dann stellte dieser sich und seine Leute vor. Der Wirt hieß Tomnuk und sein Weib, die junge Quink, die ständig ihre Fingerdorne aneinander rieb hörte auf den Namen Bradis. Die Frau mit der Armbrust war Driquis, eine Jägerin, die als Dauergast in der Einöde lebte und das Haus mit Fleisch versorgte. Den Dicken nannte der Alte Druk und die Vettel war Titwa, Brandis Mutter. Im inneren der Taverne war noch Tomnuks Sohn Jukuk und irgendwo mussten sich Mepid & Odel, die zwei nutzlosen Hobgoblins der Einöde herumtreiben.

Die Gäste stellten sich nun ebenfalls vor und Kyon wollte den Hobgoblin auf dem Weg erwähnen, aber der Wirt kam ihm eindringlich zuvor. Ähnlich wie der Bursche mit der Axt stammelte er zuerst, aber dann nahm er sich zusammen und berichtete von dem Unglück, welches über sein Haus gekommen war. Dabei war ihm deutlich seine Besorgnis anzusehen.

Er beginnt mit den Worten: »Der smavarische Jäger Ulithan bor Trynordt`orbenith war vor sechs Tagen im Wald von Amytoren angegriffen worden. Er und sein Sklave, ein Midyarkrieger namens Grogtkro, waren den Bestien zwar entkommen, doch der Angriff war für den Jäger dennoch nicht ohne Folgen geblieben. Einem der Amytoren war es offensichtlich gelungen, den Silberwolf zu infizieren. Grogtkro, hatte dann seinen Herrn zu nächsten Taverne getragen, also zu uns.«

Mit Entsetzen in der Stimme fügte er hinzu, dass der Jäger nun seit fünf Tagen hier schwanger darniederläge!

Bei dem Wort ›Schwanger‹ stutzten alle ein wenig und Tal hakte nach: »Was meinst du damit Wirt? Schwanger …«

Tomnuk trat von einem Bein auf das andere und rieb sich nervös über das Eisenkinn. Dann sagte er verdrossen: »Er hat einen dicken Bauch, ist krank und etwas in ihm bewegt sich. Er hat seine Laken vollgeschissen und sein Fleisch stinkt nach Tod. Es ist nicht wie bei meinem Weib, aber trotzdem wird es rauskommen. Es wird aus im rauskommen und zwar bald!«

Seine Augen wurden Hart als er hinzufügte: »Das wird nicht gutgehen für uns.«

Kyon hatte genug. Er wollte sich die Sache jetzt selbst ansehen und machte einen Schritt auf die Holzstufen der Einöde zu. Tal hob die Hand und sagte: »Wartet Sliyn.«

Sie rief nach Ughtred der Odugme geholfen hatte die Lopen zu füttern und wiederholte dem Nygh in Kürze was der Wirt gesagt hat. Mit grimmigem Blick zog der kleine Mann eine seiner vielen Wurfäxte und ging hinter Kyon und der Hexe in die Taverne hinein.

Im inneren stank es nach Schimmel, moder und ranzigem Fett. Der Vorraum war mit Ledervorhängen vom Hauptraum getrennt. Irgendwo weinte leise ein Quinkkind und die Wirtsleute drängten sich vorsichtig hinter den Gästen in ihr Zuhause.

Es herrschte eine schmutzige Unordnung und der Hauptraum wurde nur von einem winzigen Fensterchen in der Nordwand und herunter gebrannten Wachsfressern auf den vor Dreck starrenden Tischen erhellt. Der Wirt deutete auf die Zimmertür am hinteren rechten Ende der Westwand. Sie war als einzige geschlossen, aber schon hier draußen im Hauptraum konnte man den säuerlichen Gestank der aus dem Zimmer drang riechen. Kyon ging zu dem offenen Kamin in der nähe der Tür, zog unbemerkt einen seiner Pfeile aus dem Köcher und legte ihn unauffällig an sein Bein an. Dann ließ er Ughtred und Tal den Vortritt. Der Nygh griff nach dem Querriegel und schob die Tür vorsichtig nach innen. Der Gestank wurde von einer Ahnung zu einer das Atmen erschwerenden Bürde. Tal hustete und Kyon musste sich im ersten Moment abwenden. Nur Ughtred wahrte die Fassung. Er machte einen mutigen Schritt in die Kammer und sah zuerst, welche Schrecken sie beheimatete.

Auf einem nassen Bett aus Stroh und einem schleimigen Laken lag der aufgedunsene nackte Leib eines Wesens, dass wahrscheinlich einmal der besagte Waldläufer gewesen war. Seine Glieder waren dürr und ausgemergelt, die Wangen eingefallen und der Bauch zu einem grotesk gespannten Ball aufgedunsen. Die Haut war derart gespannt, dass seine Adern ein violettes Netz darunter bildeten und ihn ganz und gar bläulich wirken ließen. Sein Kinn lag auf seiner Brust und seine Zunge hing ihm aus dem Hals. Mit fiebrigen hin und her huschenden eitrig gelben Augen suchte er die Alptraumsphären der Anderweltschrecken nach einem Entkommen aus seiner Lage ab, doch da war keine Rettung.

Neben dem Lager, gegen die schimmelige Wand des Zimmers gedrückt, kauerte ein riesiges, auf ein Minimum seiner natürlichen Größe zusammengefaltetes Wesen in einer Art Schuppenpanzer. Als es seinen kantigen Kopf hob sah es die Besucher mit traurigen Echsenaugen an. Es war der Midyar, von dem der Wirt gesprochen hatte. Er regte sich, war sich nicht sicher, ob dieser Besuch etwas Gutes oder schlechtes bedeutete aber Ughtred hob beschwichtigend die Hand. Der Nygh hatte noch nie einen der mächtigen Midyar gesehen und dem Reptilkrieger war anzusehen, dass es ihm in Sachen Nyghs ebenso erging. Doch als er die Silberwölfin hinter dem kleinen Mann erblickte, schien er sich zu beruhigen.

Mit seiner gewaltigen Pranke deutete er hilflos auf den Kranken und murmelte das schwer verständliche Wort: »Meister.«

Ughtred machte Tal Platz, damit sie den Waldläufer untersuchen konnte. Draußen ließ sich Kyon noch einmal den Namen des Mannes nennen. Er gab ihn an Tal weiter und diese versuchte Ulithan anzusprechen, doch ohne Erfolg. Sie überlegte, was nun als nächstes zu tun sei. Vorsichtig bewegte sie sich in dem engen Zimmerchen neben das Bett, bemüht, möglichst nichts von all dem Schmutz und Schleim zu berühren. Dann machte sie dem Nygh ein Zeichen, ihr noch etwas mehr Platz zu machen.

Sie zog das Lager einen fußbreit von der Wand weg und er Midyar half ihr sofort. Sie wunderte sich über die Auffassungsgabe des Wesens, hatte sie sich die Midyar doch eher als dumpfe Befehlsempfänger vorgestellt. Doch dieser hier schien seinen Meister nicht nur zu mögen. er schien auch mehr als einen Nervenknoten in seinem knöchernen Hinterkopf zu lagern.

Mit geschickten Fingern öffnete sie eine ihrer Umhängetaschen und klatschte etwas pudriges zwischen ihre Handflächen. Dann machte sie kreisende Zeichen in die Luft und begann schließlich damit, einen Kreis aus einem weißen Pulver um das Bett zu ziehen. Dies war mühsam, denn der Schmutz und die Enge der Kammer hinderten sie daran, dass Hexenpulver gleichmäßig aufzutragen. Doch Tal war in solchen Dingen ebenso zielstrebig wie in allem, was sie in Angriff nahm und so gelang es ihr, den Kreis fertigzustellen. Als nächstes ging sie wieder auf die Knie und vollendete das Hexenzeichen, indem sie ein Pentagramm in den Kreis Einbrachte. Linie für Linie streute sie das Pulver aus und schob sich dabei zum Teil flach unter das Bett durch den Schmutz der Kammer. Kein Wunder, dass sie immer so aussieht, dachte Kyon, der versuchte, etwas von draußen zu erkennen.

Schließlich streckte sich die verbannte Doppelmondhexe und ließ ihre Wirbel krachen. Dann tat sie dasselbe mit ihren geschwärzten Fingerkuppen und dann summte sie ein leises Hexenlied. Vorsichtig tastete sie den zum Platzen aufgeblähten Bauch ab und erzeugte so einen Furz, der die Luft in der Kammer endgültig unerträglich machte. Selbst Ughtred hustete und nur der Echsenkrieger verzog keine Miene, was aber unter Umständen der Tatsache geschuldet war, dass sein Gesicht von Natur aus mehr oder weniger unbeweglich waren und Midyar über einen wenig differenzierten Geruchssinn verfügten.

Kopfschüttelnd beförderte die Hexe ein Tuch zutage und wickelte es sich um Nase und Mund. Dann zückte sie ihr doppelkingiges Hexenmesser und besah sich die Schneiden. Das Metall blitzte selbst bei der geringen Beleuchtung und Tal gab nach draußen weiter, dass sie mehr Kerzen brauche. Kyon wies den Wirt an und binnen weniger Minuten verbesserte sich das Licht in der Kammer. Aber da hatte Tal schon mit ihrer grausen Arbeit begonnen. Sie hatte sich über den abnormen Leib des schwangeren Silberwolfes gebeugt und einen ersten Schnitt gesetzt. Lendenschurzschnitt, dachte sie und zog die Klinge vorsichtig über die gespannte Haut. Sofort quollen Schleim, Blut und Haare hervor. Tal gab einen erstickten Laut von sich, denn Blut war eine Sache, Haare hingegen überraschten sogar sie.

Mit spitzen Fingern zog sie das schmierige Zeug heraus und dann geschah das Unfassbare. Der Bauch des Mannes brach an der Schnittstelle auf und in einem Schwall aus Blut und Innereien klatschten zwei zappelnde Körper zu Boden. Der eine landete innerhalb des Kreidekreises und gefror zu einer grotesken Parodie eines vielgliedrigen Embryos. Der andere aber, rutschte auf die Außenseite, kam zuckend auf die Beine und kroch sofort mit Hilfe seiner drei Arme von dem Kreis fort. Er kreischte ohrenbetäubend und kostete alle damit eine Sekunde Aufmerksamkeit. Dann stieß sich das plärrende Ding vom Boden ab und flog dicht an Tals wirren Haaren vorbei aus der Kammer seiner widerwärtigen Geburt.

Kyon hatte kaum Zeit für eine Reaktion. Sein Autonomer Bogen flog ihm zwar noch in die ausgestreckte Hand und entfaltete sich mit einem satten Klacken, aber da war das affenähnliche Säuglingsmonster auch schon mitten in seinem Gesicht. Ein Pfeil löste sich, sirrte an Tals Kopf vorbei und grub sich mit der gefährlichen Jagdspitze tief ins morsche Holz der Kammer. Dann ließ Kyon den Bogen fahren und wedelte panisch mit beiden Händen vor seinem Gesicht herum. Der Amytor hatte sich mit seinen Gliedern in Kyons Haaren gekrallt und drückte ihm nun eins seiner glitschigen Händchen gegen die zusammengepressten Lippen. Das monströse Ding versuchte, sich essen zu lassen. Es drückte und schob und gab sich alle Mühe, mit seinen winzigen Fingerchen chaotisch zappend Kyons Lippen so weit zu öffnen, um wenigstens ein Händchen in seinen Rachenraum zu bekommen. Kyon würgte und schließlich bekam er das Ding zu fassen und zerrte es von seinem Gesicht. Sofort drehte sich das Ding in der Luft, kam federnd auf dem Boden auf und hechtete in weitem Bogen an Tals Klinge vorbei auf Ughtred zu.

Dieser hatte nicht gewartet und war mit einer seiner Äxte gegen das stillstehende Brüderchen (oder Schwesterchen oder was auch immer) im Kreis der Hexe vorgegangen. Die Axt steckte in dem schleimigen, aber unbeweglichen Körper und er hoffte inständig, dass diese Behandlung bei dem Babyamytoren genügen würde. Als er aufsah, kam das andere Dinge gerade durch die Luft geflogen. Er sah noch, wie Tal es verfehlte und hob schnell seine zweite Wurfaxt, um es abzufälschen. Zum Glück war er schnell genug und der Amytor prallte gegen das Knie des Midyar, der versuchte, sich in dem engen Raum zu entfalten. 

Doch das Höllenbaby war nicht verletzt. Es drehte sich kreischend und zappelnd, nahm Anlauf und schoss erneut an der verdutzte Hexe vorbei, durch die Zimmertür und lande, genau wie zuvor, in Kyons Gesicht. Dieser hatte mit allem gerechnet, bloß nicht damit und war gerade damit beschäftigt gewesen sich verzweifelt den Schleim vom Gesicht zu wischen und sich die allumfassende Frage zu stellen: bin ich schwanger?

Platschend drang das zappelnde Fleisch wieder gegen seinen Mund und versuchte erneut in ihn zu dringen. Er musste mit aller Kraft verhindern zu schreien und schaffte es auch diesmal nur knapp, das Ding mit einem schmatzenden Geräusch von sich zu zerren und auf den Boden zu befördern. Doch diesmal war etwas anders. Er hatte es offensichtlich verletzt. Eines seiner drei Ärmchen war gebrochen und seine Geschwindigkeit hatte sich verlangsamt. Dann donnerte, mit einem entsetzlich endgültigen Krachen, die Wurfaxt des Nyghs in den Holzboden der Taverne und spaltete den Schädel des winzigen Amytoren in zwei schleimige Hälften.

 

Ughtred beobachtete Kyon, der ihm gegenüber am Tisch saß. Der Wolf hatte sich immer wieder von den Quink frisches Wasser bringen lassen und Mal für Mal sein Gesicht damit gewaschen. Er hatte gegurgelt, seine Haare durchdrängt und seine Ohren gereinigt. Als der Nygh gedacht hatte der Barde wäre endlich fertig hatte dieser sich wie ein nasses Tier geschüttelt und von neuem begonnen. Ughtred fragte sich, ob sich Silberwölfe mit der Zeit in Wasser auflösen würden.

Die Quink names Bradis kam an den Tisch und stellte einen Topf ab. Kyon wollte schon danach greifen, erkannte aber seinen Irrtum, denn er hatte gedacht in dem Topf wäre endlich warmes Wasser für ihn.

Vorsichtig versuchte Ughtred ein Lächeln, aber es schien misslungen bei der Wirtin angekommen zu sein, denn sie wandte sich erschrocken ab und ging, um Holzschalen und Löffel zu besorgen. Er war nicht sicher, ob er überhaupt etwas hinunter bekommen würde. Zwar machte ihm der Gestank ganz offensichtlich wirklich nicht so viel wie den Wölfen aus, aber allein der Gedanke an die vergangenen zwei Stunden war nicht unbedingt appetitanregend. Als Bradis jedoch zwei Holzschüsseln auf den Tisch klappern ließ, roch er an dem Topf und schüttete sich etwas von seinem Inhalt ein. Die Suppe war dünn, aber sie hatte gekocht und allein deswegen mochte er sie schon. Als er probierte, schmeckte er vor allem Salbei und irgend eine Wurzel, die er nicht zuordnen konnte. Egal, er musste essen, so war das nun einmal.

Kyon war immer noch mit seinem Gesicht beschäftigt und machte auch nicht den Eindruck, als würde er den Rest des Dämons aus seinem Kopf schruppen können. Es war, als könne Ughtred die Gedanken des Barden lesen. Bin ich betroffen? Hat es mich infiziert? Bin ich schwanger von einem vielarmigen Amytorenbaby, das mich in kürze ausweiden wird?

Er schüttelte den Kopf und steckte seine Nase in die Suppenschüssel. Er wusste nicht genau, ob das Ding seinen Mitreisenden infiziert hatte, aber er hatte das Gefühl, als wäre alles mit ihm in Ordnung. Er ging einfach davon aus, dass er es gespürt hätte, wenn der Silberwolf sich angesteckt hätte. Es wäre auch einfach nicht fair gewesen. Er musste seinen Vater retten und dafür würde er Kyon brauchen, so einfach war das. Er würde weder den Barden, noch die Hexe auf dem Weg verlieren; ganz sicher nicht.

Langsam schlürfte er den Rest der Suppe und sah zu der Tür mit dem Waldläufer hinüber. Sie stand immer noch offen und aus dem Inneren drangen nach wie vor leise gemurmelte Flüche. Seit über einer Stunde nähte Tal den Waldläufer zusammen. Die alte Quink half ihr dabei. Sie hatten gemeinsam die Innereien des Verletzten in seinen ausgehöhlten Leib zurückgeschoben und dann begonnen zu nähen. Dazwischen hatte Tal immer wieder eine blaue Flüssigkeit über die offenen Wunden geträufelt. Am Anfang hatte Ughtred noch eine Weile zugesehen, doch er fühlte sich fehl am Platz und hatte ich irgendwann wortlos zurückgezogen. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass der Kerl noch zu retten war, aber was wusste er schon über die Hexenkräfte der Wölfe? Wenn sie den Waldläufer rettete, dann würde sie auch seinem Vater das Leben schenken. Irgendwie machte ihn das Ganze seltsam ruhig. Es erfüllte ihn mit Zuversicht, denn die Hexe hatte nicht einmal gezögert bevor sie angefangen hatte zu nähen. Jeder andere hätte Zweifel in den Augen gehabt, doch nicht sie. Für sie war da einfach nur Haut, Knochen und Fleisch, welches wieder an die richtigen Positionen gebracht werden musste und genau dies war ihre Aufgabe und ihre Berufung. Sie erzeugte Realitäten und konnte sie auch jederzeit zerschmettern. Er hatte Respekt mit der Hexe. Oder war es sogar Angst? Fürchtete er die Silberwölfe? Er war von zuhause weggegangen, um das Wesen der Welt und vor allem das der Silberwölfe kennenzulernen. Jetzt wo er das Gefühl hatte zu begreifen zu lernen, wirkte es auf ihn, dass er auf dieses Wissen vielleicht doch besser verzichtet hätte. Hatten die Wissenswahrer seiner Heimat recht? Sollte Wissen nur an bestimmte Geister weitergereicht werden? Aber das konnte einfach nicht sein. Das Wissen muss einfach nur in Form gebracht werden. Jetzt war es noch roh und gefährlich aber er kannte auch Bücher und Schriften, die so in Reihe gebracht worden waren, dass ihre Inhalte ihre Dornen verloren hatten. Dies musste sein Ziel sein. Er würde hart daran arbeiten müssen, aber er wollte ein Mittler dieses dornigen Wissens werden. Er wollte es so weit zähmen lernen, dass andere es ebenfalls begreifen und lieben könnten.

Am Nebentisch hockte Grogtkro der Midyar. Tal hatte sie aus dem Krankenzimmer gescheucht und nun wartete er auf die Genesung seines Meisters. Die Quink hatten ihm einen Brei aus Insekten vorgesetzt und scheinbar mochte er das Zeug.

Ughtred stand auf und ging zu dem riesigen Reptilmann. Er fragte nicht erst und setzte sich. Der Midyar aß. Sonst tat er nichts. Er griff mit großen Krallenfingern in die Schüssel und beförderte den Brei aus Beinchen und Flügeldecken in seinen schmalen Mund. Dann schluckte er ohne zu kauen und der Nygh konnte ihn gut verstehen, denn er wollte sich überhaupt nicht vorstellen wie es sein musste Insekten zu essen.

Einige Minuten wartete er noch, dann sagte er in gebrochenem Smavarisch: »Der Silberwolf ist dein Freund oder?«

Sein Gegenüber hörte auf zu schlingen und sah den Nygh an. Dann sagte er stumpf: »Meister.«

Ughtred erwiderte: »Du bist viel größer und stärker als er, wie kann er dann dein Meister sein?«

»Du, Sklave von die!« Er deutete mit der Klaue seines linken Daumens auf Kyon. Dann fügte er hinzu: »Midyar Sklaven von die! So es war, so es ist.«

Ughtred heftete seine Augen auf das wurmstichige Holz der Tischplatte und nickte. Dann sagte er: »Du wirst das nur schwer begreifen können, mein großer Freund, aber ich diene den Wölfen nicht. Genaugenommen sind sie sogar mit mir auf dem Weg, um etwas für mich zu tun.«

Der Midyar sah auf. Es war ihm anzusehen, dass er doch verstanden hatte was der kleine Mann sagte. Er sagte ruhig: »Aber die nicht deine Sklaven. Die nie Sklaven!«

Ughtred nickte und bestätigte die Aussage. Hier war niemand niemandes Sklave und dies würde auch so bleiben.

Ein Moment der Stille war entstanden und als der Nygh es merkte sagte er: »Wir wollten deinen Meister«, er dehnte das Wort und rollte dabei mit den Augen, »als Führer anheuern. Wir müssen den Norden Kisadmurs durchqueren und finden kein Schiff. Mit den Lopen ist der Wald schwer zu bewältigen und wir können es uns auf keinen Fall erlauben zu spät nach Korezuul zu kommen. Es geht um Leben und Tod.«

Der Midyar hörte aufmerksam zu und überlegte danach eine Weile. Ughtred hatte schon das Gefühl, er hätte gegen eine Wand gesprochen und beinahe wäre er aufgestanden und zu Kyon zurückgekehrt, aber dann öffnete Grogtkro seine schmalen, harten Lippen und sagte: »Grogtkro kennt guter Weg!«

Ughtred sah den Reptilkrieger an. Dann fragte er, ob er richtig verstanden hätte. Der Midyar könnte an die Stelle des Waldläufers streten? Er ließ den Krieger seine Aussage mehrfach wiederholen ehe er abrupt aufsprang und zu Kyon eilte, um die Neuigkeit mit ihm zu teilen.

 

Am nächsten Morgen wusch sich Kyon Gesicht und Haare. Seine Haut hatte einen rötlichen Farbton angenommen und er fühlte sich krank. Immer wieder kratzte er sich im Nacken und dann rieb er wieder und wieder mit einem schmutzigen Lappen über seine wunden Lippen. Schließlich trat Tal zu ihm und schlug ihm klatschend den Lappen aus der Hand. Sie starrte ihm in seine stahlgrauen Augen und ihr Blick sagte: noch einmal der Lappen und ich schneide euch die Lippen aus dem Gesicht. Kyon ließ die Arme sinken und Tal beförderte ein kleines Tiegelchen aus einer Gürteltasche zutage. Sie öffnete es und nahm mit einem ihrer Finger etwas der darin befindlichen Paste heraus. Kyon musste sich zusammenreißen, ihren eingerissenen Fingernagel unkommentiert zu lassen, aber dann strich sie ihm mit dem Finger die lindernde Salbe auf die Lippen und die wunden Stellen im Gesicht und Nacken. Die Sonnen waren gerade am Aufgehen und ihr Licht hatte noch nicht ihre stechende Kraft erreicht. Er ließ sich die Behandlung gefallen und nahm den Geruch der Hexe in sich auf. Wie viele Tage und Nächte waren sie eigentlich schon unterwegs? Sie roch nach Schweiß und dem Blut des Waldläufers.

Sie hatte den Mann scheinbar gerettet. Als sie mitten in der Nacht mit ihm fertig gewesen war, hatte sie Kyon geweckt und ihm von ihrem Erfolg berichtet. Jetzt lag der Waldläufer in der gereinigten Kammer und die Hexe hatte ihn mit einem ihrer Mittelchen in eine künstliche Stase versetzt. Er würde leben.

Als Kyon ihr von dem Vorschlag des Midyars berichtet hatte, war Tal schon im Sitzen eingeschlafen.

Er sah zu den Lopen hinüber. Der Nygh half Tals Sklave die Packsättel aufzubringen und die Ausrüstung darauf zu befestigen. Der Phani wirkte fahrig und schwach. Wie konnte ein Riese schwach wirken?

Es dauerte noch einige Zeit, bis alles fertig vorbereitet war, aber dann zog sich Kyon in Donnerhufs Sattel und es konnte endlich losgehen. Grogtkro brauchte kein Reittier. Er ging dem Zug mit gewaltigen Schritten voran. Kyon war für einen Silberwolf durchaus gut gewachsen, aber der Echsenmann überragte ihn bei Weitem. Schnell wie ein Fuchs pflügte der Krieger durch das Unterholz hinter der Einöde. Die Wirtsleute standen am Waldrand und blickten ihren Gästen hinterher. Ihnen waren ihre gemischten Gefühle in die schmutzigen Gesichter geschrieben. Einerseits waren sie dankbar, dass die Silberwölfe sie vor weiteren Angriffen der Amytoren gerettet hatten, aber andererseits waren sie auch froh, sie nun wieder losgeworden zu sein. Amytoren waren eine Sache, aber was auf der Tiba Fe konnte letzten Endes schlimmer sein als Silberwölfe?

Der Tag war feucht und die Luft Kalt und Nebel lag noch im Unterholz. Es gab weder einen Pfad noch einen Wildwechsel und der Midyar stapfte über nahezu unberührten moosigen Waldboden. Zum Glück war dieses Gebiet nicht ebenso zugewuchert wie die meisten Waldflächen der unteren Lagen der Odoreys. Andernfalls wäre es praktisch unmöglich gewesen, diese Richtung ohne Feuerlanzen zu beschreiten.

Es dauerte keine Stunde, da veränderte sich das Bild des Waldes. Große, vor langer Zeit in Form gebrachte Steinbrocken zeugten von einer früheren Besiedlung des Gebietes. Es musste Millenien her sein, denn alles war von Wurzeln und Moos bedeckt, aber die Zeichen waren eindeutig. Hier stand vor langer Zeit ein Turm und dort hatte es eine Art Haus mit einem großen Innenhof gegeben. Die Ruine war zwar kaum noch als eine solche zu erkennen, aber hier hatte einst eine kleine Ansiedlung oder zumindest eine Festungsanlage gestanden. 

In Kisadmur waren solche Orte alles andere als ungewöhnlich. Smavari bauten Häuser, Türme und Brücken und dann rissen ihre Kämpfe oder eine aus ihren Experimenten resultierende Explosion sie wieder ein.

 

Tal glitt von Bienenstichs Rücken. Das Tier war nervös, aber es lag nicht an der Umgebung. Bienenstich war einfach immer nervös und Tal wünschte sich inständig, dass sich ihr Morgen eine andere Lope widmen würde. Dennoch strich sie Bienenstich über die Flanke und bedankte sich bei ihm. Dann wandte sie sich einem der größeren Steinblöcke zu und rief zu Kyon hinüber: »Schonmal von dem hier gehört?«

Der Barde schüttelte den Kopf und bückte sich nach einem Stein. Tal ging ein Paar Schritte zwischen den Brocken und Bäumen hindurch. Die meisten der Pflanzen hier mussten lange nach dem Untergang der Anlage entstanden sein; wahrscheinlich Millenien danach. Ihr Blick wanderte einen der mächtigsten Stämme hinauf und überlegte, wie alt dieser Baum wohl war. Manche der Bäume Kisadmurs konnten leicht fünf Millenien und mehr alt werden. Ein Baum der Größe wie der, vor dem sie hier stand, mochte sogar noch älter sein. Vielleicht war er älter als ein Smavari?

Sie holte zu dem Midyar auf. Seinen Namen konnte sie sich einfach nicht merken. Sie hatte einmal gehört, die Kriegerspezies kenne nur wenige, für sie traditionelle Namen. Aber Grokokoko war für sie zu zungenbrecherisch. Dagegen war Odugme ja noch einfach.

»Hey du, warum gehts nicht weiter? Wir haben nicht ewig Zeit, dem Skergen brennt der Hintern.«

Der Angesprochene stieg auf einen der größeren Brocken und deutete in die Dunkelheit zwischen ein Paar Bäumen. Tal war es vorher gar nicht aufgefallen, aber hier stimmte eindeutig etwas mit dem Licht nicht. Es war dunkler als es hätte sein sollen. Ihre Nackenhaare stellten sich auf und die Hand im Handschuh mit dem Shimwas wanderte dorthin, wo Norths Schwert hätte sein sollen, doch es war nicht da. Es hing wie die Zeltstangen auf einem der Tragesättel der Dromirtha. Langsam und geordnet trat sie den Rückzug an und fühlte sich besser, als plötzlich Kyon neben ihr auftauchte.

Sie deutete auf die Stelle zwischen den Bäumen und ging dann weiter zu der Lope mit dem Schwert. Das Ding hatte ein hohes Gewicht und hier zwischen den Bäumen konnte sie es nicht sonderlich gut schwingen, aber sie fühlte sich verdammtnochmal besser, wenn sie es bei sich hatte. Kyon schien die Aura des Ortes ebenfalls zu spüren, denn er hatte seinen Bogen vom Rücken genommen und das Ding hatte sich leise klackend wie ein riesiges Insekt entfaltet und die Sehne gespannt.

Doch der Midyar schüttelte er in einer seltsam smavarischen Geste seinen schuppigen Kopf und deutete in den Wald hinaus. Dann intonierte er: »Gut Weg!«

Gutweg, Gutweg, ihm ist es wahrscheinlich recht, wenn sie weg wären. Merkte der Idiot nicht, dass hier negative Kräfte wirkten? Tal schüttelte den Kopf und sagte laut: »Lass uns diesen Ort umgehen. Kann ja kein Problem sein, nur ein Stückchen weiter.«

Doch der Schuppenkrieger schüttelte erneut sein Haupt und machte einen Schritt auf die ungute Stelle zu und rief: »Gut Weg hier! Kommen!«

Als Kyon zu ihm aufholte ließ Tal genervt die Schultern hängen. Ughtred der sich neben sie bewegt hatte fragte: »Was ist? Wo gehts weiter?«

Doch Tal blaffte nur: »Gutweg!« und ließ ihn stehen.

 

Dann standen sie vor der dunklen Öffnung zwischen den Steinen. Mehrere Bäume bildeten eine v-förmige Schlucht um eine Art Rampe, die ins Erdreich zu führen schien. Irgend etwas glomm da unten grünlich und schwankte dabei hin und her. Die Decke des weiter von der Lichtung wegführenden Tunnels war flach und wies verrostete Schienen oder metallene Träger auf. Kabelreste hingen wie Spinnweben in einer der Ecken und auf dem Boden lagen zersplitterte und blind gewordene Glasbrocken, die vor langer Zeit vielleicht einmal Teile von Lampen gewesen waren.

Tal sah zu, wie Kyon sich hinkniete, damit er in einem besseren Winkel in die Dunkelheit blicken konnte. Dann hörte sie ihn den Midyar fragen, wohin der Tunnel führen würde, doch der Echsenmann wiederholte nur seinen Spruch mit dem guten Weg.

Sie trat neben Kyon und nickte. Endlich hatte sie verstanden und sie fand es alles andere als lustig, was nun kommen würde. Andererseits hatte der Midyar natürlich recht. Davon ausgehend, dass er und sein Meister die Gegenseite dieses Ortes kannten, konnte dies die Abkürzung sein, die Ughtreds Vater retten konnte. Das, vor dem sie hier im Wald, in dieser verdammten alten Ruine standen, war ein Vortex, ein Tunnel durch die Anderwelt!

 

Sie hatten nun über eine halbe Stunde darüber gerätselt, ob sie dem Midyar vertrauen sollten, ob dieser wusste was er tat, ob der Waldläufer es wusste und ob all dies hier in einer Katastrophe enden würde. Kyon hatte nicht die geringste Luft durch einen Vortex zu nutzen von dem er nicht wusste wo er hinführte. Da hätte er auch gleich an Bord eines der Sternensegler gehen und sich von einem Gorden Enthaupten lassen können. Tal vertrat die Meinung, dem Reptiloiden vertrauen zu können. Immerhin hatte sie seinen geliebten Meister gerettet. Und außerdem waren Vortexe von Smavari wie ihnen geschaffen worden. Die wussten schon was sie taten oder getan hatten. Ughtred kannte das Konzept von Subraumschleudern, hatte aber noch nie eine benutzt. Nein danke liebe Mitreisenden und die Lopen würden ihm mit Sicherheit zustimmen. Zwei gegen eine, ging es im durch den Kopf aber im selben Moment kam ihm sein Vater in den Sinn und er stellte fest, dass er letzten Ende nahezu alles tun würde um den alten Schmied zu retten. War er nicht in eine Hexenburg eingebrochen? Hatte sich nicht aus einem der Wolfskerker befreit? Anderweltschleuder hin oder her, er wollte nicht zu spät kommen. Dennoch schwieg er als Kyon sein eigenes Argument mit den Lopen vorbrachte.

Tal hatte bisher nur einmal zu den Tieren gesprochen, doch als sie es nun erneut tat, klangen die Laute aus ihrem Munde fast noch fremdartiger als beim ersten Mal. Es war, als lerne sie die Lopensprache besser zu intonieren und um so deutlicher sie für die Tiere verständlich wurde, um so seltsamer klang sie für Kyon und Ughtred.

Sie fragte den Anführer der Zackenhörner, ob er bereit wäre seine Herde unter die Erde zu führen und einen Sprung durch die Anderwelt zu wagen. Es war schwer zu erkennen, ob Donnerhuf etwas mit diesen Begriffen anfangen konnte, aber er nickte einfach und hob dann den Kopf, um einen Befehl zu röhren. Eine Minute später standen alle Lopen in Reih und Glied und warteten auf den Aufbruch. Tal sah zu Kyon hinüber und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen als sich der Barde den Mundwinkel rieb und imaginären Amytorenschleim entfernte. Sie würde es vielleicht mit wegküssen versuchen müssen. Für sie war eindeutig, dass er nichts abbekommen hatte und wenn doch, war sie ja jetzt eine Expertin für Amytorenschwangerschaftsabbrüche.

Schließlich griff sie Bienenstich in die Mähne und flüsterte ihm Mut zu und tatsächlich ließ sich das sonst eher zurückhaltende Tier von ihr an seinem Vater vorbei als erster auf die Rampe in die Dunkelheit hinunter ziehen. Die Lope rollte mit den Augen und atmete hektisch, aber Tal ließ nicht locker. Sie redete auf Bienenstich ein und als das violette Flackern am Ende des unterirdischen Ganges in Sicht kam, wurde ihr seltsam warm ums Herz. Dies war die Kraft der Anderwelt, der auch sie selbst entstammte.

Langsam dreht sie sich in den Armen ihrer Mutter. Ihre Augen glänzen, als sie zum ersten Mal im Leben in die feinstoffliche Welt hinüber greift und mit den feinen Wurzeln der Macht spielt. Sie zupft hier und da und sieht, wie ihre Mutter an Substanz verliert. Ein Nervengeflecht um schimmernde Knochen greift auch sie in dieses Netz und zeigt Tal seine Vorzüge. Alles an ihm ist mit der Realität und der Anderwelt verbunden. Alles ist alles und kann alles. Dann zieht Tal an einem der Fäden und knickt ihn ab. Vor ihren Augen öffnet sich auf der anderen Seiten dieser leuchtenden inneren Welt der Mund ihrer Mutter zu einem Schmerzensschrei.

Dann macht Tal einen Schritt in das violette Leuchten hinein, zieht die sich werdende Lope mit sich und wird vom Sog der Membran ergriffen. In Shishneys Zitadelle gibt es Vortexe mit geringer Reichweite zu einigen Unräumen, in denen zuweilen Bälle abgehalten werden. Als sie in Shishney angekommen war, hatte sie eine dieser Schleudern benutzen dürfen, um in die Verwaltung zu gelangen. Das Gefühl des durch den Äther geschossenwerdens hatte sie als nahezu orgasmisch empfunden. Alles an ihr schrie nach dieser Form der übernatürlichen Befriedigung und ihr Innerstes drohte sich nach Außen zu kehren. Dann kam der Fall.

 

Ughtred stürzte durch ein sich drehendes Chaos aus violetten Strängen und Lopenbeinen. Eben war der schwarze Mann noch neben ihm gewesen, aber dann hatte sich die Welt gedreht und nun fiel er durch einen Tunnel aus Raum und Licht. Er schrie und plötzlich wurde sein Flehen nach dem Ende dieses Chaos erhört und aus einem kosmischen Fallen durch den Rand der Anderwelt wurde ein echter Sturz auf das Zentrum der Tiba Fe zu. Sein Schrei wurde in der Realität hörbar und neben ihm schrien zwei Lopen. Grelles Licht blendete ihn und dann kam der erste Aufprall. Er rollte, blieb eine Sekunde in heißem Sand stecken, überschlug sich und kullerte immer noch schreiend einen steilen Hang hinunter. Alles um ihn herum war Chaos, aber jetzt war dieses Chaos real! Sand, Hitze, Steine und ein Lopenhuf, der ihn schmerzhaft in den Rücken traf ließen ihn dies erkennen. Dann übernahmen seine Instinkte sein Handeln, er sprang ab, sobald wieder einmal seine Beine den Boden berührten, segelte durch die Luft und kam schließlich nach einer eleganten Drehung als bisher mit seinem Hintern auf und schlitterte nun den Rest des Hangs hinunter.

Vor sich konnte er Tals Schwert durch die Luft fliegen sehen. Er hoffte inständig, dass es keine der Lopen in der Mitte durchsäbeln würde. Irgendwo hörte er die Hexe fluchen und dann donnerte der Albino an ihm vorüber. Das große Tier hatte schneller als er selbst den Hang als das erkannt, was er war und somit seinen Sturz gebremst. Mit allen vier Hufen weit nach vorn gestreckt glitt das Zackenhorn an ihm vorüber und machte einen fast witzigen Eindruck, als es den Kopf zu ihm herüberdrehte und mit aus dem Maul spritzenden Speichel ebenfalls zu schreien schien.

Unten kam es unweigerlich zur Karambolage. Wie auch immer einst die andere Seite des Vortexes ausgesehen haben mochte, jetzt befand sich hier ein Höhenunterschied von über zwanzig Metern. Am schlimmsten aber war, dass sich auch hier Steine einer alten Ruine befanden und diese die Schlittenfahrt noch gefährlicher machten. Ughtred hatte gesehen, wie eine der großen Lopen mit dem Hintern an einem Stein hängen geblieben war, sich überschlagen hatte und unten in zwei weitere Tiere hineingedonnert war. Zum Glück war es Tal gelungen, unten aus der Reichweite der Nachzügler zu hechten. Sie stand unten und wedelte mit den Armen, als könne sie damit irgendetwas erreichen.

Eine nach der anderen rammten die Lopen ihre unten angekommenen Vorgänger und auch Kyon und der Phani teilten dieses Schicksal. Doch wie durch ein Wunder, vielleicht waren es die helfenden Hände der Großen Mutter oder das Karma selbst hatte sich auf ihre Seite gestellt, aber niemand hatte sich ernsthaft verletzt. Eines der Dromirtha hatte eine klaffende Wunde am Gesäß, aber Tal hatte sofort begonnen, sich der Verletzung anzunehmen. Kyons Stolz schien etwas mehr gelitten zu haben, aber er hatte keine Zeit sich auf diese Art der Verletzung einzulassen, denn kaum war etwas Ruhe eingekehrt, als der nächste Angriff kam.

Ughtred sah mit an, wie Tal etwas auf die Hinterhand der verletzten Lope strich, als ihr entblößter Arm zu qualmen begann. Unbarmherzig strichen die glühenden Finger der Tagesschwestern über die bleiche Haut der Silberwölfe und ließen sie brennen! 

 

Wolf oder Wölfin? 

Kyon schob vorsichtig seine Kapuze zurück. Die Dämmerung hatte endlich die Kontrolle über die Ruine übernommen und die Geschwistersonnen waren am Horizont verschwunden. Keinen Moment zu früh, dachte er, denn seine Haut brannte und spannte und er hatte schwierigkeiten etwas zu sehen. Er konnte nur hoffen nicht ganz und gar zu erblinden. Sie hatten sich in die Schatten der Ruine verkrochen wie Insekten in einer Quinkkaschemme wenn die ersten Gäste eintrafen. Alles an ihm war Schmerz. Aber er war auch froh, denn es hätte schlimmer kommen können. Der Sturz den Hang hinunter war fast unnatürlich glimpflich für alle ausgegangen. Er hatte sich die Schulter geprellt aber wie durch ein Wunder war keiner seiner Knochen gebrochen. Auch die Lopen schienen bis auf leichte Verletzungen unversehrt und am besten hatte es der scheiß Skerge getroffen. Warum eigentlich? Der Mistkerl hatte keinen einzigen Kratzer abbekommen und stand jetzt noch am Rande des letzten Sonnenscheins, denn wie hätte es anders sein sollen, das Sonnenlicht machte ihm natürlich nichts aus.

Kyon knurrte leise und überlegte dem Nygh einen Pfeil zwischen den kleinen Tieröhrchen hindurch zu jagen, aber dazu hätte er ja seinen Bogen benötigt und der lag irgendwo draußen zwischen dem Rest der Ausrüstung.

Dann eben kein Pfeil. Er sah zu Tal hinüber. Leichter Dunst stieg von ihrem Mantel auf. Erschrocken stellte er fest, dass seine eigene Kleidung ihn besser geschützt hatte als sie ihre. Hätte er ihr nicht seinen Mantel geben sollen? Er hatte es ja nicht gemerkt, nicht seine Schuld. Er schluckte und fühlte sich plötzlich noch elender – seltsam, dass dies überhaupt möglich war, aber auf der Tiba Fe war vieles möglich.

Dann wandte sich der Nygh zu ihnen um und kam in die Schatten herüber. Zufrieden stemmte er die Fäuste in die Hüften und sagte unverdrossen: »Na das war mal ein Ritte.«

Kyon sah Tal an und dann wandten sie gleichzeitig ihre verbrannten Gesichter dem kleinen Mann zu. Sie sagten nichts, sahen ihn nur an, bis dieser blaffte: »Was? Ist es meine Schuld? Anderweltschleudern, Ruinen, Abhänge und die Sonne, ja natürlich, hätte ich all dies doch anders arrangiert.«

Wütend stapfte er davon und begann die Ausrüstung zu bergen. Kyon sah Tal an und sie begann an ihrem Gürtel herum zu nesteln. Dann richtete sie sich auf und schüttelte sich. Sand flog durch die Luft. Fluchend beförderte sie ein Fläschchen zutage und schüttete sich etwas von dessen Inhalt auf die Hand und begann es in ihrem Gesicht zu verteilen. Unachtsam und ohne Vorwarnung warf sie es Kyon zu, dieser bekam es an die Stirn, woraufhin es zu Boden fiel und zerbrach. Er sah sie an und führte einen Finger zu der frischen Wunde, aus der ein dünnes Rinnsal seines Blutes über seine Wange bis zum Mundwinkel floss. Zwei Pfeile, ganz eindeutig zwei Pfeile.

 

Kyon war sich nicht ganz sicher, aber die Ruine, bei der sie aus dem Vortex ausgetreten waren, musste Irith Adnor sein. Er hatte in einem der Bücher seines Vaters gelesen – ja es hatte eine Zeit gegeben, er war noch ein Welpe gewesen, da hatte er sich von seinem Vater begeistern lassen – die Festung wurde vor über fünfzehn Millenien errichtet, konnte den Ansturm der Wüste aber nur kurz die Stirn bieten. Die Draiyn waren gekommen und hatten die Mauern mit ihren Chitinpanzern geschliffen und alles smavarische Leben ausgelöscht. In einem anderen Bericht sollen es große Amytoren aus den höheren Lagen der umliegenden Gebirge gewesen sein, die der Smavarifestung ein Ende bereitet hatten. Sein Vater hatte gelacht, als er ihn gefragt hatte, was nun stimmte. Sein Vater hatte immer gelacht.

Es war jetzt Nacht und nur drei der fünf Monde erhellten das Land mit ihren unterschiedlichen Lichtern. Tals Haut spannte immer noch und er hasste die Wüste jetzt schon. Wenn er sie überreden wollte, war es dringend notwendig, den Rand des Gebirges zu erreichen, denn ohne Schatten wären er und die Hexe verloren. Dann könnte der Nygh gerade sehen, wie er klar käme.

Mühsam erstieg er eine Mauerkrone und blickte in die Richtung, die er für den Norden hielt. Weit entfernt zog sich ein dunkles Band vom linken zum rechten Rand seines Horizontes. Das Land war auf eine schreckliche Weiße flach und wies ganz offensichtlich keinerlei Schutz auf. Bei dem dunklen Band musste es sich um DranˋOrad handeln. Dieses Gebirge trennte Korezuul von Kisadmur. Sie waren weit gekommen.

Im Westen gab es ein weiteres Gebirge, aber seine geographischen Kenntnisse reichten nicht aus, es zu benennen. Im Tagebuch seines Vaters war die Rede von einem Pass. Er nestelte den Datenkristall hervor und ließ ihn auf seiner Handfläche schweben. Zögernd betrachtete er das Ding. Northrian – dann griffen seine Gedanken  nach dem Stein und dieser öffnete das Tagebuch des Vaters. In der Luft vor Kyons Augen zeichnete der Kristall die leuchtende Schrift des Abenteurers in die noch warme Luft.

 

Ab dem schroffen Dran`Orad geht es durch den Sand nach Westen. Rastet nicht in trügerischer Heimeligkeit der Steine von Irith Adnor, denn keiner weiß zu sagen, wer oder was hier noch nach Schatten, Ruhe oder Nahrung sucht. Alt sind sie, diese Steine und bezeugen können sie die rasende Gier der Draiyn. Besser nutzen Reisende des Berges Schatten, doch auch hier heißt es: seid auf der Hut, dies Land ist wild! 

Nach der alten Festung geht`s nahe an den Dran`Orad. Keinen Schritt weiter nach Westen führt der Weg, denn sonst, ja sonst ist da das Nest der Schabenmänner. Zkatiyit, ein Name so unaussprechlich wie jene, die in dieser Stätte hausen. Von wilden Wüstenjägern hört man Geschichten über die Draiyn. Heute sind sie friedlich und locken euch mit ach so süßem Zuckerwerk, doch schon am nächsten Morgen sind sie hungrig und siehe da, ihr seid es, nach dem es ihre klickend Münder nun gelüstet. »trc Naidric trc«, dies Wort ist wohl zu merken, denn wer es kennt soll nicht zum Mahle werden!

Besser sucht den Pass im Norden und geht den geraden Weg, vorbei an ihrem Nest. Vorsicht nur – der Berg kennt viele Pässe und wer in den falschen geht, findet schwer wieder heraus. Ich erwähnte schon, in den Höhen hausen Amytoren und so ist es auch in denen des Dran`Orad.

Weiter geht es durch die Wüste und jetzt nur noch hoch nach Norden und bald schon ist der Horizont das Ziel. Schon sieht man mehr als Wüstensand, den breiten Rücken des Leang`Orad und dies Gebirge ist der Sockel, da es einst erbaut: Dranought, östlichste Grenzstadt Korezuuls.

 

Erst jetzt fiel es Kyon auf, dass der Midyar nicht durch den Vortex gegangen war. Aber warum auch? Er hatte ihnen tatsächlich einen guten Weg gezeigt, denn wenn sie alleine weiter nach Westen gezogen wären, hätten sie viele Tage länger gebraucht, nur um am Ende auch hier zu landen. Er zuckte mit den Schultern und rief nach Ughtred. Tal sah gerade nach der verletzten Lope und schien damit vollauf beschäftigt zu sein. Als der Nygh zu ihm auf die Mauer geklettert war deutete Kyon auf die transparente Darstellung des Tagebuchs in der Luft und zitierte seinen Vater: »Besser sucht den Pass im Norden und geht den geraden Weg.« Er deutete nach Norden und fügte hinzu: »Schätze dies ist unsere Richtung.«

Doch Ughtred rieb sich die Augen und schüttelte dann den Kopf als er leise murmelte: »Nee, das ist die Südostflanke des DranˋOrad, wenn wir dahin ziehen, bewegen wir uns zurück nach Kisadmur.«

Kyon nickte, weil er nicht richtig hingehört hatte, aber dann verstand er die akzentbelasteten Worte des Nyghs doch und sagte: »Zurück? Was redest du da? Von der Wüste aus liegt Korezuul im Norden. Das ist eindeutig unsere Richtung.«

Doch Ughtred blieb hartnäckig. Sie stritten sich noch eine ganze Weile und erst als der Nygh den groben Verlauf des Gebirges in den Sand gezeichnet hatte, ließ Kyon von einer sicheren Meinung ab. Vielleicht hatte der Stumpen ja recht und wenn nicht, war es ja nur zu seinem eigenen Schaden. In Korezuul würde man sicher einen anderen Weg finden, in dieses blöde Grab einzudringen. Wer brauchte den Kerl schon?

 

Etwas später rieb sich Ughtred die müden Augen, denn nun musste er der Hexe auch noch erklären, dass Gebirge nicht einfach ein Strich am Horizont waren. Natürlich ließ auch sie sich von der Perspektive täuschen und wäre wie der schlaksige Schönling zurück nach Kisadmur gezogen. Nein, nein und nochmals nein, ihr Weg führte sie nach Westen. Vielleicht könnte man das Gebirge des Schattens wegen in Richtung Nordwest etwas schneller erreichen und er sah ein, dass solch ein Umweg hilfreich sein könnte, wenn er die beiden lebend zu seinem Vater schaffen wollte. Aber Norden ging gar nicht. Immer wieder redete er auf die beiden ein, denn auch Kyon, den er zwischenzeitlich überzeugt zu haben geglaubt hatte, wollte es nun wieder besser wissen und das Ganze wäre sicher noch ewig so weitergegangen, wenn er ihnen nicht beim Leben seines Vaters geschworen hätte ihnen Undorn zu öffnen und was auch immer daraus zu holen, auch wenn sie für ihren Vater zu spät in seiner Heimat ankämen.

Fast noch schwerer war es, sie zu überzeugen, noch heute Nacht aufzubrechen. Die Zeit eilte nach wie vor und er wollte den gewonnenen Vorsprung nicht wieder verlieren. Außerdem hatten sie hier mit Sicherheit nichts zu gewinnen. Sie würden noch mehrere Stunden reiten können, ehe die Sonnen zurückkamen und dann würden sie ohnehin rasten müssen. Er wollte sich jetzt noch gar nicht vorstellen, wie das ablaufen würde, aber diesmal mussten die beiden wenigstens in ihrem Zelt sein, wenn die Tagesschwestern ihre Krallen nach ihnen auszustrecken begannen.

Nach langem Hadern entschied man sich dann tatsächlich noch ein paar Stunden durch die Wüste zu ziehen. Die Lopen waren zwar alles andere als begeistert, aber sie hatten beim Sturz fast die Hälfte ihres Wasservorrates verloren und die Wahrscheinlichkeit, hier draußen Wasser zu finden, war gering. Sie mussten das Gebirge also so schnell wie nur irgend möglich erreichen. Donnerhuf gab also seinen röhrenden Befehl und nahm wieder höchstpersönlich den Alpha der Silberwölfe auf. Als Ughtred auf eine der großen Lopen zur Ausrüstung kletterte versuchte er sich so einen Rundumblick über die Umgebung zu verschaffen, aber die Beschaffenheit der Wüste war ihm derart fremd, dass jeder Schatten und jeder Stein eine Gefahr für ihn darstellen konnte. Plötzlich sehnte er sich mit jeder seiner Fasern nach seiner Heimat. Als er damals seinen Geburtsort Dranought verlassen hatte, war er unter Schimpf und Schande geflohen. Engstirnig hatten ihn seine engsten Bekannten einen Dieb gescholten. Nur weil er sich gegen dieses dumme Gesetz gewehrt hatte, welches es ihm verbieten wollte Wissen anzuhäufen. Wie waren denn die Wissenswahrer so klug und wissend geworden? Sicher nicht durch die Ausführung des Schmiedehandwerks. Nicht dass er nicht gerne schmiedete, aber konnte man nicht Schmied sein und Bücher lesen?

Der Streit mit seinem Vater hatte ihm den Rest gegeben. Bist du ein Dieb oder mein Sohn? Als ob das Vergessen der Rückgabe eines Buches oder Lesekristalls ihn von seinem Vater für immer entbunden hätte. Dabei wusste er ganz genau, dass sein Vater dies ebenfalls nicht zugelassen hätte. Selbst wenn er geblieben wäre und der Stadtrat hätte ihn offiziell verurteilt, hätte sein Vater ihn weiter geliebt. Er hätte ihn niemals davon gejagt. Aber er selbst, wie hätte er die Blicke seines Vaters ertragen sollen. Seine ganze Kindheit hatte er die unfreiwillige Trennung des Vaters von seiner geliebten Frau ertragen. Der Alte redete nicht über diese Dinge, aber Ughtred hatte Tag um Tag diesen Schmerz im Blick des Vaters gesehen. Jeden Tag seines Lebens. Hunderte von Jahreszeiten; kalte, milde, warme – eben alle. Immer dieser Verlust. Und seine Mutter? Wenn er sie besuchte, war er nicht einmal er selbst. Er war ihr ein Fremder. Sie erkannte ihn nicht. Nach außen schien sie ganz normal zu sein, aber selbst wenn er sie umarmte, war da eine Spannung in ihr, die sich unentwegt fragte, wer bin ich? Wer ist dieser junge Nygh und was will er von mir?

Er rieb sich die Stirn, wie er es so oft tat, wenn er mit seinem Schicksal haderte, aber dann fanden seine Finger die narbenartige Vertiefung auf seiner Stirn und er fuhr sie nachdenklich nach. War er damals im Geburtshaus gerettet oder verflucht worden? Er versuchte im Dunkeln vor sich die Hexe zu erkennen. Er konnte hervorragend im Dunkeln sehen und so fanden seine Augen ihr Ziel. War sie es gar am Ende? War sie die Waldwölfin, die seine Familie auserkoren hatte, auf immerdar geneckt und verletzt zu werden?

Er kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich auf das Reiten. Dann sprang er ab und rannte zu einem der Kreuzhörner, um auf ihm weiter zu reiten. Er hatte eingesehen, dass er von weiter oben auch nicht wesentlich besser sehen konnte. Sie mussten die Lopen schonen. Die Tiere waren ihre einzige Chance auf ihrem Weg durch die Wüste.

 

Als die Morgendämmerung sich an sie heran schlich, war Tal am Ende ihrer Kräfte angelangt und auch Kyon hing vor ihr schlaff in seinem Sattel. Die letzten beiden Stunden waren wie in Trance an ihr vorübergezogen und sie fragte sich, wie sie das schaffen sollte. Die Schiffsreise war schon nicht nach ihrem Geschmack verlaufen, aber das hier war schlicht die Hölle.

Sie sah sich um, aber egal wohin sie ihren Blick richtete, überall war sie nur von Sand und Steinen umgeben. Sie wusste nicht einmal mehr, ob sie noch der richtigen Richtung folgten. Das Gebirgsband war einmal da und einmal nicht. Vermutlich weil die Wüste hier hügelig war und die Anhöhen ihr immer wieder unmerklich die Sicht nahmen. Ihre Verzweiflung ob des kommenden Sonnenaufgangs machte sie noch unfähiger, ihre letzten Kräfte zu mobilisieren. Schließlich gab sie ihrer Lope zu verstehen, dass sie anhalten solle und dann rutschte Tal kraftlos aus dem Sattel in den Staub der Wüste.

Auch die übrigen Tiere kamen langsam zum Stehen. Es spielte keine Rolle mehr, nach einem besseren Platz für den Tag zu suchen. Nichts hier unterschied sich voneinander. Sand, Steine und wieder Sand bestimmten die einzige Realität um sie herum. Noch blieb ein wenig Zeit, zumindest das Zelt aufzubauen. Odugme nahm die Plane von der großen Lope und begann damit, doch als er mit dem Gestänge anfangen wollte, brach er kraftlos in die Knie. Tal sah noch, wie der Nygh ihm zu Hilfe eilte, doch dann hatte sie nicht einmal mehr die Kraft zu sehen. Sie zog ihre Kapuze so fest um ihre Ohren wie sie konnte und dann erwartete sie das Gericht der Schwestern Argol Fe und Hiyween. Und dieses Gericht ließ nicht lange auf sich warten. Sekunde um Sekunde schliffen die Klauen der Tagesgestirne die Schatten aus dem Wüstenboden und bald herrschte sengendes allumfassendes Licht.

 

Vor wenigen Tagen war Draiyn Andiled nur eine Konstante in seinem geographischen Wissen gewesen. Dieses endlose Land im Westen, welches sich einmal um den Ganzen Globus zog und wo nun eben sengende Hitze und gefährliche Monstren herrschten. Er hatte die Wüste stets als einen Ort betrachtet, den er niemals sehen würde. Man konnte Lieder drüber singen – In der Hitze der Glut oder Knöchlein, bleich Knöchlein im Sande – aber man ging dort nicht hin. Irgendwo am Rande der Wüste gab es Orte, an denen man Gelbwein von den Wüstenstämmen bekam. Sie tauschten nicht, sie gaben einfach, weil die Smavari es geschafft haben, sich als ihre Kinder auszugeben. Aber selbst diese Schnittstellen waren garantiert nichts für ihn. Er trank den Gelbwein, aber die Becher zu füllen, war Aufgabe der Quink.

Kyon kroch aus dem Zelt und versuchte so gut es eben ging mit der Situation zurecht zu kommen. Der Nygh hatte ein Feuer gemacht und die Glut war noch rot und sandte dünne Rauchfähnchen in die Luft. Es war kühl und Kyon wunderte sich. Sollte es nicht heiß sein?

Auf einer nahen Düne standen mehrere der Zackenhörner beisammen und blickten in die Nacht hinaus. Die Sonnen konnten eben erst untergegangen sein, denn er konnte ihren Widerschein noch wahrnehmen. Langsam stolperte er ein Stück vom Zelt weg und verrichtete seine Notdurft. Dann ging er zurück und setzte sich dem Nygh gegenüber. Der kleine Mann sah ihn mit schmalen Augen über das erloschene Feuer hinweg an. Sie schwiegen. Er dachte an die Schuld und die Bedingungen, die ihn in diese Lage versetzt hatten. Das Tagebuch seines Vaters und der Vater des Nyghs. Hatte YtˋTalan nicht auch von ihrem Vater gesprochen. Kyon meinte sich zu erinnern, sie stamme von einem in Ungnade gefallenen Kriegshelden ab, der knapp davor gewesen war den Titel des Sliyn zu erlangen, dann aber seinen Vorgesetzten den Rücken zugekehrt hätte, um jetzt in der Provinz Pilze zu züchten. Stimmt, North hatte ihm von seinen Eltern erzählt.

Kyons Blick wanderte zu der Holzkiste, die keine zehn Schritte von ihm entfernt im Sand lag. Er wollte gerade die Augen schließen, als der Nygh sagte: »Die Geschwister sind abgetaucht. Wir sollten aufbrechen, sonst werden wir erneut im Sand ruhen müssen.«

Am liebsten hätte Kyon ihn angeschrien. Sollten, müssen – ein Smavari sollte und musste nichts! Aber er hatte keine Kraft. Allein die Vorstellung gleich auf dem Rücken von Donnerhuf, wenn das blöde Vieh es ihm heute überhaupt gestatten würde, auf seinen Rücken zu klettern, Stunde um Stunde durch den Sand zu schaukeln, raubte ihm die letzte Hoffnung. Er sehnte sich nach seinem Bett, nach dem Lachen der Freunde und nach den süßen kleinen Gehilfinnen im Hause Lysai. Vor seinem inneren Auge erschien Pegual Athmortis, der Besitzer besagten Freudenhauses und fragte ihn, was er bei allen Höllen hier draußen in der Wüste verloren hatte. Kyon konnte nur nicken und dem großgewachsenen schlanken Mann mit den schlohweißen Haaren zustimmen.

 

Kurze Zeit später trieb Kyon das Albinozackenhorn an, zu Ughtred aufzuholen. Der Stumpen hatte die Führung übernommen, was vor allem daran lag, dass er behauptete die Richtung zu kennen und dass die Hexe irgendwo weiter hinten nach ihren Giftzähnen suchte. Kyon war selbst am Ende seiner Kräfte, aber Tal schien es nicht besser zu gehen. Sie hing in ihrem Sattel und ließ sich treiben, als tänze sie mit dem Siechtum.

Mit Mühe zu dem Nygh aufgeschlossen sagte Kyon: »Müssen wir  nicht langsam nach Norden?«

Ughtred schüttelte den bärtigen Schädel und deutete mit der Faust in eine Richtung. Vor Kyons Augen war alles verschwommen. Staub lag in der Luft und er hatte das Gefühl, die Wüste entzöge ihm mehr als nur die Flüssigkeit. Er versuchte die Konturen des Horizonts zu begreifen, sah aber nur dunkle und dunklere Wellen und dazwischen die eine oder andere helle Stelle.

»Das da drüben ist der südlichste Ausläufer des DranˋOrad. Wir müssen an ihm hier unten vorbei. Wenn wir zu früh nach Norden abbiegen, zwingt uns der Berg zurück.«

Kyon versuchte die Worte einzuordnen, aber in seiner Welt ging man nach Norden, wenn man nach Norden musste. Warum sollte man nach Westen oder gar nach Süden ziehen. Versuchsweise lenkte er Donnerhuf aus der Gruppe heraus in die Richtung, die er für Norden hielt, aber seit Irith Adnor hatten die Lopen offenbar beschieden, nur noch auf Ughtred zu hören. Donnerhuf machte zwar einen Bogen auf seinem Weg, kehrte aber nach einer Weile wieder auf den Weg der anderen zurück und Kyon hatte weder die Kraft, noch den Elan mit dem Alpha zu diskutieren.

 

Gegen Mitternacht hatten sie offenbar die tiefste Stelle vor den unteren Gebirgsausläfern erreicht, denn nun wurde der Boden schroffer und es ging bergan. Vor ihnen erhob sich im Schein der Monde eine gezackte Gebirgsfront, deren Flanken ganz und gar kahl zu sein schienen. Hoch über ihren Köpfen waren ab und an bewegliche Punkte zu sehen. Was auch immer das war, es musste riesig sein, wenn man es von hier unten aus sehen konnte.

Der DranˋOrad zwang sie nun tatsächlich, nach Südwesten auszuweichen. Kyon war mehr oder weniger fassungslos und versuchte seinen Unmut mit Tal zu teilen, aber diese stierte nur stumm in die Richtung, in die der Nygh sie führte. Ins Verderben, dachte Kyon, ergab sich aber in sein Schicksal. Die Schmerzen in seinen Gliedern, der Hunger und der Durst und seine juckende, spannende Haut nahmen ihm jede Möglichkeit, Anteil an seinem Schicksal zu nehmen. Würde Draiyn Andiled auch seine Totenstätte werden? Irgendwo am Rande der Wüste hatten sie die Überreste der Karawane seines Vaters gefunden. Irgendwo würde auch er liegen, da war er sich jetzt ganz sicher.

Er wollte gerade sterben, da hob der Nygh vor ihm die Hand und gab Zeichen zum Halt. Donnerhuf blieb aprupt stehen und Kyon hatte Mühe sich an der langen weißen Mähne der Lope festzukrallen. In Ruhe zugrunde gehen, würdevoll, ging es ihm durch den Kopf, als er zu Boden glitt. 

Langsam schlossen die anderen Lopen auf und Kyon konnte nicht umhin, wie schlecht der Phani aussah. Er hockte zusammengesackt auf dem Rücken von Kreuzhorn und rührte sich kaum. Schlaff ließ sich der Barde zu Boden sinken und beobachtete wie der Nygh, offenbar immer noch kräftig genug, um sich zu bewegen, zu dem Riesen ging und ihm half abzusteigen. Er wunderte sich über den Impuls, helfen zu wollen, aber dann sah er einfach nur zu, wie sich der kleine Mann um alles kümmerte.

Das Zelt entstand vor seinen Augen, die Lopen wurden von ihren Sätteln befreit, ein Feuer wurde entzündet und all dies tat der Nygh. Kyon war sich jetzt allerdings sicher, es hier mit einem Höllenwesen zu tun zu haben.

 

Im Zelt kam Tal zur Besinnung. Sie war sich nicht sicher, wie sie hier hereingekommen war und sie konnte sich auch nicht erinnern, sich ausgezogen zu haben. Neben ihr lag Kyon und wimmerte leise. Auch er war nackt und sie wunderte sich über die längliche Wunde an seinem Rücken. Er musste sie sich beim Sturz in die Ruine gestern – oder war es vorgestern gewesen? – zugezogen haben.

Vorsichtig öffnete sie eine ihrer Taschen und trug behutsam etwas von ihrer Heilpaste auf die Wunde auf und unterbrach ihr Handeln jedes Mal, wenn Kyon sich im Schlaf rührte.

Sie fühlte sich ebenfalls erschöpft, aber sie hatte einen Großteil des letzten Ritts im Sattel geschlafen, etwas, dass Kyon offenbar verwehrt geblieben war.

Wieder zuckte Kyon zusammen und ein langgezogenes Schluchzen entrang sich seinen Wangen. Er träumte von der großen Agonie, dachte sie und gab ihm von ihrem Geruch zu trinken. Dies beruhigte ihn und er sank tiefer in die Ebenen der Träume. Dann verknotete sie ihre Glieder, um eine Position einzunehmen, in der sie ihr Gesicht in seiner Achselhöhle vergraben konnte. So fanden die beiden Smavari zum ersten Mal auf ihrer Reise einen Moment in Zeit und Raum, in dem sie die Bedingungen der Realität überwinden konnten. Energie bleibt immer gleich, kann nur verschoben werden, so sahen es Schiffsbauer und Schmiede, aber hier erwuchsen durch die Mischung zweier erschöpfter Energiepoole zwei deutlich gestärkte Kräfte.

 

Vier Tage und vier Nächte verbrachte die Reisegruppe zwischen den Schatten des Gebirges und der Wüste. Sie wichen nicht von Ughtreds Weg und erst als der Nygh endlich nach Norden blickte und den Lopen sagte, von nun an ginge es in dieser Richtung weiter, wurde den beiden Smavari klar, dass der kleine Mann sie und diese Unternehmung gerettet hatte. Selbst Odugme ging es ein wenig besser, denn der Nygh hatte einen Großteil seiner eigenen Wasserration an den Riesen weitergereicht. Als sie schließlich einen Tag später in die Schlucht, von der das Tagebuch sprach einritten und kaum eine Stunde später ein dünnes Rinnsal fanden, glaubten sie den Tiefpunkt ihrer Reise überschritten zu haben, aber das Karma machte natürlich über die Naivität seiner Kinder.

 

Es war noch dunkel, als die kleine Reisegruppe zwischen den Flanken der Schlucht Halt machte. Nach wie vor drängte die Zeit, aber die Erschöpfung der Silberwölfe ließ im Augenblick keinen Gewaltmarsch mehr zu. Kyon hatte sich zwar ein wenig erholt und schien sich vorgenommen zu haben, von nun an die Ausdauer des Wolfes zu leben, aber sowohl Tal als auch ihr Phani waren nach wie vor am Ende ihrer Kräfte. Auch war es dringend notwendig, die Lopen zu schonen. Gerade die jüngeren Tiere hatten Probleme mit ihren Kräften zu haushalten. Zu Beginn einer Etappe schritten sie weit aus und es konnte ihnen gar nicht schnell genug gehen, aber dann waren sie bald ermüdet und fielen immer wieder zurück.

Ughtred hatte wie immer das Zelt für Tal und Kyon aufgebaut, sich danach um die Tiere gekümmert und hockte jetzt mit untergeschlagenen Beinen am Feuer. Er war müde, traute aber der Schlucht, in der sie sich befanden, nicht. Das, was der Verfasser des Tagebuches Pass nannte, war kaum als solcher zu erkennen. Vielmehr teilte sich das Gebirge und Ughtred hatte das Gefühl, rechts und links in einem kleinen Tal eingekesselt zu sein. Hätte er jemanden angreifen müssen, wäre dies die optimale Stelle dafür. Feinde konnten sich in den Spalten der Felswände verbergen und mit Steinen oder anderen Geschossen angreifen, ohne Gefahr zu laufen, im Vorfeld gesehen zu werden.

Misstrauisch beäugte der Nygh die dunklen Hänge und wartete auf die Katastrophe. Er versuchte, sich den Wortlaut des Tagebuches ins Gedächtnis zu rufen, aber Kyon hatte den Kristall mit ins Zelt genommen und er wollte nicht stören. Wer hätte sagen können, was die beiden da im Zelt trieben. Mit verzogenem Gesicht dachte er an ihre erste Schiffsreise und war froh, keinen Rum mitgenommen zu haben. Andererseits hätte er jetzt gerade wirklich nichts gegen ein Schlückchen. Oder noch besser: einen Becher Gerstensaft, dass wäre es jetzt: kühl und frisch aus dem Fass.

Gerade wollte er die Augen schließen und weiter über Gerstensaft nachdenken, als unerwartet die Plane des Zeltes zurückgeschoben wurde und Kyons bleiche Augen in der Nacht erschienen. Ughtred dachte sich zuerst gar nichts dabei, aber dann sah er, dass der Silberwolf ganz und gar nackt wahr. Sein leib schien fast im schwachen Schein des Lagerfeuers zu glimmen und er sah seltsam dürr und knochig aus, wie er da auf allen Vieren durch den Staub kroch. Plötzlich hielt er an, krümmte sich zusammen wie eine Katze kurz vor dem Erbrechen eines besonders großen Gewöllebrockens und gab dabei ein kehliges Knurren von sich, welches so gar nicht nach ihm selbst klang.

Ughtred stand auf und musste mit ansehen, wie sich der Barde mehr und mehr zusammenkrümmte und dann gab es einen unglaublich lauten Knacks, der eindeutig aus Kyons Rückgrat gekommen war. Der Nygh sog scharf die Luft ein und wollte etwas sagen, aber da war es schon zu spät. Schnell und ohne weitere Vorwarnungen brach Kyons Rücken auf und in einer unwirklich grün lodernden Flamme schälte sich unter Keuchen ein Ding aus ihm heraus. Ich träume, oder schlimmer, der Amytor hatte Kyon doch erwischt, dachte Ughtred und schlug Alarm, aber bis Tal ebenfalls verwirrt den Kopf aus dem Zelt stecken konnte, war das Wolfsding längst aus seinem Wirt herausgekrochen. Nun stand es vornübergebeugt in Kyons Hautresten, schüttelte sich und blickte dann zum Nachthimmel hinauf, um ein dünnes Heulen von sich zu geben. Es war noch dürrer als Kyon, hatte stacheliges schwarzes Fell und eine schmale Wolfsschnauze. Seine Augen wirkten tot und lodernd zugleich und das grüne Züngeln umgab es wie eine Schutzschicht aus lebendigen Elementen. Dann machte es einen Satz über das Feuer hinweg und sprang mit kraftvollen Bewegungen die östliche Flanke des Passes hinauf. Ughtred wollte hinterherlaufen, entschied sich aber sofort dagegen, als Tal endlich ins Freie getreten war.

Sie kam zu ihm und sah ihn mit einer Mischung aus Entsetzen und Ungläubigkeit an. Dann flüsterte sie: »Es ist in uns allen, aber ich hätte niemals geglaubt, dass es sich ausgerechnet bei ihm manifestieren würde und warum ist es weiblich?«

Ughtred hätte am liebsten geantwortet, dass der Kerl ja nicht sein Gespiele sei und das schließlich sie die Hexe wäre und dass er ja wohl als letzter mit der ganzen Sache zu tun hätte, aber er blieb ruhig und rieb sich die Stirn.

Mehrere Minuten standen sie so da und blickten in die Hügel hinauf. Dann drehte sich Tal zu der Stelle der Transmutation um und untersuchte die Überreste. Sie kannte viele Fälle solcher Ausbrüche. In Kovarin, dem kleinen Ort im Süden Kisadmurs, in dem ihre und North Eltern lebten, gab es einen Lykanthropen, der es kontrollieren konnte. Er war ein alter, stattlicher Mann, der die liebe lange Nacht auf der Bank vor seinem Haus hockte und mit den Kindern der Quink spielte und wenn ihm dieses Verhalten nicht seltsam genug mehr vorkam, riss er seinen Leib auf und entließ den Wolf in die Realität. Dann rannte er durch die Wälder und Pilzhöhlen, heulte und schlug Wild und nach einer Weile kam der Wolf zurück und gab den Mann in ihm wieder frei. Andere Werwölfe hatten es nicht unter Kontrolle und ab und an brach die Bestie einfach aus und es konnte lange dauern, bis sie ihren ursprünglichen Trägern wieder gestatten zurückzukehren. Von einem Mann, der eine Werwölfin in sich trug, hatte Tal bis heute noch nie gehört, aber jetzt, wo sie es mit eigenen Augen gesehen hatte, kam es ihr seltsam normal vor. Was spielte es für eine Rolle, es waren zwei ganz und gar getrennte Wesen, die sich da eine Existenz teilten, warum sollten sie demselben Geschlecht angehören?

Wann würde Kyon wiederkehren? Mussten sie warten? Tal wiederholte die Fragen laut, erwartete aber gar keine Antwort. Ughtred jedoch sagte: »Ich weiß nicht, wie du das siehst, Frau Hexe, aber ich bin mir sicher, dem Gift im Leib meines Vaters ist der Barde egal. Was meinst du?« Er wartete nicht auf eine Antwort und fügte hinzu: »Außerdem sah dieses Wesen für mich alles andere als verloren aus. Ich wette, es wird uns folgen!«

Sie untersuchten einen kurzen Moment die Überreste, kamen aber zu dem Schluss, dass sie eine Art Abfallprodukt der Transmutation waren. Schlacke, Hautfetzen und Haare waren übrig geblieben, nichts aus was man Kyon hätte wieder zusammensetzen können. Also beschlossen sie, das Zeug mit Sand zu bedecken und zu versuchen, noch ein, zwei Stunden zu ruhen. Ughtred hatte recht, etwas anderes konnten sie ohnehin nicht tun.

 

Der Felsgrat war hart und scharfkantig und sie wunderte sich ein wenig über die Veränderung der Landschaft. Als sie das letzte Mal aus den Augen des Mannes geblickt hatte, war die weiße Zeit in vollem Gange gewesen. Jetzt schien nicht nur die Jahreszeit eine andere zu sein. Um sie herum gab es nicht mehr die dunklen Wälder ihrer Heimat. Die Berge mit ihren kühlen Höhen waren verschwunden. Stattdessen hatte sich um sie herum eine bittere Ödnis aus Staub, Sand und Felsen ausgebreitet. Verwundert versuchte sie, sich zu orientieren, Witterung von etwas Bekanntem aufzunehmen, doch das einzige, dass sie zu kennen glaubte, war dort unten in der Senke. Ein wager Geruch drang zu ihr herauf. Dort unten, gab es eine andere Wölfin.

Beobachtend wartete sie. Lauernd, ungesehen schlich sie durch den Äther, neben der Gruppe von Geistern in der Schlucht. Immer wieder stellten sich ihre Ohren, wenn sie versuchte vorherzusehen, was vor ihr lag. Dann überkam sie die Einsamkeit und wie immer verlor sie kurz darauf das Interesse an dieser Seite des Daseins. Langsam zog sie sich in ihn zurück und schließlich gewährte sie ihm den Ausbruch.

Und so trat Kyon aus dem Schatten der Wölfin. Er hatte durch ihre Augen gesehen, wie immer, hatte durch ihre Nüstern die Witterung aufgenommen, wie ehedem und durch ihre Ohren gehört, wie vom Anbeginn seines Daseins. Als er jetzt aus ihrem Rücken brach und sie verging wie alle Male zuvor, nahm sie ihm die Erinnerung an ihre Zeit. So erwachte er auf dem Felsgrat, nackt und allein und wie immer, wusste er nichts von dem, was diesen Zustand hervorgerufen hatte.

 

Kyon öffnete die Augen. Ihm war kühl, denn es war Nacht. Das Letzte an das er sich erinnern konnte, war das Feuer und das Zelt. YˋTalan hatte ihn gewärmt und versucht seine Sorgen zu besiegen. Er sah sich suchend um, doch hier waren weder die Lopen, noch der Nygh, noch der schwarze Mann und auch die Hexe war nicht da. Stattdessen blickte er auf ein Meer aus grauen und braunen Felsen, die von drei der Monde beschienen, um ihn herum die Landschaft beherrschten. Wage konnte er erkennen, wo der Pass verlief. Er versuchte sich zu orientieren, aber es fiel ihm schwer etwas auszumachen, dass ihm die Himmelsrichtung anzeigen konnte. Er machte einige Schritte den Hang hinab und schnitt sich den Fuß an einem scharfen Grat auf. Stolpernd rutschte er nur wenige Schritte abwärts und schon hatte er eine tiefe Schnittwunde in der Wade und eine schmerzhafte Prellung am Knie. Vorsichtig krabbelte er auf allen Vieren tiefer und suchte verzweifelt nach einem Zeichen, doch um ihn herum war nur wüstes Ödland. Sie hatten ihn zurückgelassen. Sein Dasein war verspielt und wenn er hier sein Leben beendete, würde er für alle Zeiten als Geist durch die Ödnis ziehen müssen. Tränen stahlen sich in seine Augen und er war versucht, um Hilfe zu rufen, aber dann erinnerte er sich an die geschriebenen Worte seines Vaters. Die Wesen der Wüste waren gefährlich. Er konnte es sich nicht erlauben, eins dieser Dinger auf sich aufmerksam zu machen.

Immer wieder zerschnitt er sich die Fußsohlen und eckte mit den Zehen an. Beim Versuch, weiter noch unten in die Senke zu kommen rutschte er ab und stieß sich derart den Ellenbogen, dass er beinahe laut aufgeschrien hätte. Er wusste weder, wie er in diese finstere Situation geraten war, noch wie lange es her war, dass er sich mit Tal ins Zelt zurückgezogen hatte. Wo waren sie nur? Warum hatten sie ihn einfach so im Stich gelassen? Vielleicht war er auch tot und dies war, wie es sich anfühlte. Konnten die Toten die Lebenden genauso wenig sehen wie umgekehrt? Versuchsweise rief er leise YˋTalans Namen und nach einer Weile versuchte er es zuerst mit Donnerhuf und dann sogar mit Ughtred. Niemand antwortete. Langsam und von der tiefen Trauer des Verlassenseins erfüllt schlurfte er weiter am Hang entlang, bis er an eine Stelle kam, von der aus er in der Tiefe zwei Lichtpunkte sah. Das eine war etwa auf seiner Höhe. Das andere war ein ganzes Stück den Pass entlang. Er entschied sich für das weiter entfernte Stück, weil er damit den Abstieg verlängern und aus seiner Sicht ungefährlicher angehen konnte. Doch nach nicht einmal einhundert Schritten machte er Halt. Er war dem Licht praktisch überhaupt nicht näher gekommen, was bedeuten musste, dass es nicht nur recht groß, sondern auch in einer ziemlichen Entfernung von ihm sein musste. Er überlegte kurz und blickte zu dem Licht hinab. Viel näher, aber der Abstieg würde hart werden, dachte er und ergab sich in sein Schicksal. Es war kühl und er war es nicht gewohnt nackt zu gehen. Frierend und vor Anstrengung und Schmerzen zitternd, rutschte er mehr als er ging und immer wieder riss er sich die Haut auf. Es dauerte lange, doch endlich kam er unten an. Vor ihm prasselte das Feuer seiner Freunde. Den Nygh konnte er nirgendwo sehen, aber Tal beugte sich gerade über ihren Riesen und wandte Kyon dabei den Rücken zu.

Langsam und mit zitternden Gliedern näherte er sich dem Feuer und dann wandte sich Tal um und sah ihn. Sie gab einen erstickten Laut von sich und kam vorsichtig auf ihn zu. Einen Moment hatte er fast das Gefühl, als hätte sie Angst vor ihm, aber dann füllten sich ihre Augen mit einer Woge aus Sorgen und als er schließlich am Feuer in die Knie ging, sprang sie zu ihm und nahm ihn in die Arme. Er schluchzte und krallte sich in Tals Kleidung fest.

In dieser Nacht konnte die Reise nicht weitergehen. Kyon rollte sich im Zelt zusammen und schlief bis spät in den kommenden Tag hinein. Erst als die Zwillinge den Zenit überschritten hatten, wurde das Lager aufgeräumt und die Lopen, die Kyons Rückkehr in der Nacht verpasst hatten, begrüßten ihn herzlich.

Nach dem Aufstehen hatte Tal ihn mit Fragen überschüttet, aber er hatte sie allesamt abgewehrt. Was hätte er sagen sollen? Da war nichts. Er konnte sich nicht erinnern, was vorgefallen war. Die ganze gestrige Nacht und die Zeit der Sonnen davor waren wie ausgelöscht aus seinem Hirn. Auch als sie ihm von der Werwölfin erzählte und ihm die Stelle zeigte, an der Ughtred und sie die Schlacke vergraben hatten, schüttelte er nur den Kopf und wusste nichts dazu zu sagen. Was er wohl wusste, war, dass etwas mit ihm nicht stimmte. North hatte ihm schon gesagt, dass er zuweilen in der Dunkelheit das Bett verlassen hatte und sich dann nachts darauf an nicht erinnern konnte. Gerüchte waren aber nicht dasselbe wie Zeugen.

Um ihn herum stampften Lopen und Donnerhuf stieß ihn hart mit der Schnute an, als wolle er sagen: Auf, auf kleiner Wolf, es geht weiter! Dann trafen sich Kyons Augen mit denen von Ughtred und der Nygh fragte freundlich, wie es ihm gehe. Da war eine Vorsicht im Blick des kleinen Mannes, die vorher nicht dagewesen war, und das ärgerte Kyon. Ohne Erinnerung zu sein und dann für etwas gefürchtet zu werden, auf das man ja offensichtlich keinen Einfluss hatte, war mehr als lästig. In diesem Moment legte ihm von hinten Tal in einer vertraulichen Geste die Hand auf die Schulter und sagte überzeugt: »Wir werden daran arbeiten. Man kann es kontrollieren.«

Es, es, er ließ den Kopf hängen und fragte sich wo das alles hinführen sollte. Wie konnte er es ihnen nur begreiflich machen? Es, war ihm Quinkscheiße nochmal egal. Er erinnerte sich nicht. Seine Füße waren voller Wunden und er war zu Tode erschlagen und nun musste er weiter auf diesem stinkenden Vieh durch diese trostlose Wildnis reiten. Das sollte man unter Kontrolle bringen, aber dazu fehlte es an Vernunft! Er sollte sofort nach Hause gehen, aber die Lopen in ihrem Leben-für-Leben-Pflichtgefühl würden den Teufel tun und immer und immer weiter auf diesem Weg hier bleiben. Sie folgten Instinkten und einem uralten Schwur, er aber war einfach nur dumm. Mit hängendem Kopf entzog er sich Tals Hand und zerrte an Donnerhufs Sattelgurt. Das Zackenhorn gab einen keckernden Laut von sich und gab damit das Zeichen der Aufbruchbereitschaft. Was hatte er nur getan?

Einige Minuten später saßen sie in den Sätteln und Kyon berichtete von dem anderen Licht, welches er vom Kamm aus gesehen hatte. Es musste etwa eine, vielleicht zwei Wegstunden vor ihnen gewesen sein. So kamen sie vorbereitet in Sichtweite eines ausgebrannten Lagerfeuers, an dem vier Draiynkrieger saßen.

 

Der Größte der Draiyn musste wenigstens so groß wie Odugme sein. Er hockte breitbeinig auf einem vor urzeiten ausgebleichten Baumstumpf und stocherte mit einem Stock in der übriggebliebenen Glut. Sein linkes Bein musste vor kurzem abgetrennt gewesen sein, denn es war nachgewachsen, hatte aber noch nicht den Umfang des anderen Beines erreicht. Dünn wie ein Kellerspinnenbein und seltsam zerbrechlich ging es in den schweren Leib des Insektenmannes über. Er war mit einem Doppelspeer bewaffnet und der Draiyn neben ihm trug zwei sehr lange und noch gefährlicher wirkende Wurfspieße. Das Lager war schlicht. Draiyn nutzten zwar zuweilen auch Zelte oder bauten sich Sandburgen, aber eine kleine Jagdgruppe wie diese hier schlief eher unter offenem Himmel und machte sich keinerlei Mühe mit Aufbauten.

Als die Reisegruppe sich näherte, begann der Häuptling mit einem seiner Großarme zu winken, zwitscherte etwas in seiner Klicklautsprache und deutete auf die Brocken, die im Feuer lagen. Sie waren noch zu weit entfernt, aber Ughtreds Augen waren scharf genug, um zu erkennen, dass es sich bei den Überresten im Feuer um den Chitinpanzer eines weiteren Draiyn handelte. Er hatte schon gehört, dass die Wüstenbewohner in schlechten Zeiten kannibalisch veranlagt waren aber jetzt, in dieser Situation, hob ihm der Gedanke den Magen. Er flüsterte seine Erkenntnis Tal zu und diese nickte angespannt. Kyon hatte schon nach seinem Bogen gegriffen und deutete mit dem Kinn auf die Beiden Flanken des Passes. Dort kauerten je ein weiterer Krieger und auch diese beiden hatten lange Wurfspieße in ihren vier Klauen. Sein Kcric war rudimentär und so wartete er, bis die anderen zu ihm aufschließen und fragte: »Spricht jemand deren Sprache?«

Tal antwortete leise: »Ein wenig«, aber dann war es Ughtred, der Kreuzhorn ein Stück nach vorne trieb und laut zu den Draiyn hinüber rief: »trc Naidric trc!«

»Was hat er gesagt?« fragte Tal und Kyon antwortete: »Kein Essen, eine Begrüßungsformel wahrscheinlich. Er will ihnen sagen, dass wir keine Beute sind. Ich bin gespannt.«

Tatsächlich schienen die Insektenkrieger den Nygh zu übersehen. Ihr offensichtlicher Anführer war aufgestanden und winkte noch freundlicher. Er deutete mit seinen beiden kleineren Armen auf das Feuer zu seinen Füßen und bot der Reisegruppe seinen gebratenen Kollegen an. Die Draiyn begannen alle zu winken – dann griffen sie an.

Von diesem Moment an ging alles sehr schnell. Kyon, der überhaupt nicht überrascht war, ließ sofort den Automatikbogen aufschnappen und binnen einer Sekunde hatte er einen Pfeil abgeschossen. Leider vertat er sich und die Eergiespitze des Geschosses prallte zuerst auf einen Felsbrocken und setzte sich wie ein Stein auf einer Wasserfläche über mehrere Brocken fort, ohne einen der Draiyn zu berühren. Kyon rief: »Zurück«, denn er wollte Zeit gewinnen. um den Vorteil des Fernkampfes auszunutzen aber schon im nächsten Moment waren fünf der Angreifer vom Boden abgesprungen und flatterten so schnell auf die Reisenden zu, dass Kyon keinen weiteren Pfeil abschießen konnten, bevor der erste der Insektenkrieger dicht vor Tal aufkam. Diese hatte das Kreuzschwert ihres Bruders gezogen und wirbelte damit im Kreis. Sie erwischte den Draiyn vor ihr und einen Zweiten, der zu seinem Unglück im ungünstigsten Moment ebenfalls in ihre Reichweite geraten war. Doch obwohl die Klinge durch die natürliche Panzerung der Insektoiden drang und dem Vorderen sogar einen seiner Hauptarme abgetrennt hatte, schienen die Wesen ungehindert weiter zu kämpfen. Kyon so, wie Ughtred eins seiner Wurfbeile in einem Gegner versenkte und ihn dann unglaublich flink mit der Handaxt weiter bearbeitete, aber auch hier schien der Krieger den verursachten Schaden kaum zu spüren. Kyon schoss einen weiteren Pfeil ins getümmel und verletzte einen der Draiyn, aber es war zu spät. Der Speerkämpfer war neben Odugme gelandet und rammte diesem die Waffe durch die Hüfte bis in den Boden. Der Riese war schwer getroffen und konnte sich nicht auf den Beinen halten und Kyon sah das Ende vor seinen Augen. Die Lopen schrien Donnerhuf rammte einen  der Insektenmänner aber auch dieser Angriff hatte nur eine minimale Wirkung und gerade als der Draiyn vor Ughtred mit seinem Doppelspeer ausholte platzte Tal der Geduldsfaden.

Sie griff mit zu einer Raubvogelkralle verkrampften Hand in den Äther über sich und verursachte eine schwere Störung im Gleichgewicht der Realität. Als sie eine Sekunde später die Augen auf die Draiyn richtige war es um vier von ihnen geschehen. Ein psionischer Schwall von Schmerz und Leid drang durch ihre Leiber und ließ sie erzittern. Sie krümmten sich zusammen und Tals erste beiden Gegner bemerkten überhaupt nicht wie das riesige Schwert sauber ihre Köpfe abtrennte. Der einzige Gegner der nicht betroffen war, landete vor Kyon und bevor dieser den Bogen heben konnte, rammte der Insektenmann auch ihm den Speer in den Leib.

Ughtred wirbelte herum und rannte los. In vollem Lauf schleuderte er seine zweite Wurfaxt und traf den Draiyn am Kopf. Das Wesen drehte sich im Kreis und als der Nygh es erreichte, donnerte er ihm die Handaxt in die Stirn und spaltete ihm damit den Schädel. Schließlich wurde auch der letzte Gegner, der ebenfalls unter Tals übernatürlichen Kräften litt,  zum Opfer ihrer Klinge.

Der Anführer der Draiyn hatte sich längst in die Lüfte geschwungen. Er verließ den Kampfplatz in Richtung Südwesten und das Letzte an was Kyon dachte, bevor er die Besinnung verlor, war, dass er sicher Verstärkung rufen würde. 

 

»Schnell, der schwarze Riese wird dir verbluten Hexe«, keuchte Ughtred und stupste dabei Tal gegen den Arm. Kyons Wunde blutete heftig aber zumindest stecke kein mannslanger Speer in ihm und außerdem war er ein Smavari und Tal würde ihn in jedem Fall zuerst versorgen. Sie hatte den Ausrüstungsbeutel mit den medizinischen Ressourcen ausgeleert und arbeitete fieberhaft daran, alles zusammen zu suchen, was sie brauchte. Kompressen, das Wundgel und hier eine heilende Netzspinne, die man in die Wunde einbringen konnte, um innere Blutungen zu unterbinden. Schnell drückte sie zwei Skorpionkapseln an die Wundränder und betäubte so Kyons schlimmste Schmerzen. Später müsste sie ein Antidot verabreichen und so die Nebenwirkungen gering halten. Dann führte sie einen dünnen Drainageschlauch aus Katzendarm ein und nähte ihn mit einer Goldnadel am Wundrand fest. Sie zischte, Ughtred solle den Mund halten und ihr helfen, die Wunde zusammenzuziehen und der Nygh gehorchte.

Gemeinsam gelang es ihnen, Kyons Verletzung zu stabilisieren und fürs Erste zu verschließen. Später würde man sie erneut öffnen müssen. Schlechte Flüssigkeiten würden ablaufen und weitere Heilmittel konnten eingebracht werden. Jetzt strich sie schnell mit fahrigen Bewegungen eine stark regenerative Paste auf und legte danach Kyons Kopf zurück in den Sand. Er war zu sich gekommen, litt aber unter den Schmerzen und hatte keine Kraft, sich selbst in eine halbwegs gute Position zu bringen. Aber er beruhigte sich und die Medizin tat das Ihrige, die Schmerzen zu lindern.

Erschöpft stand Tal auf und blickte in den Himmel. Wolken hatten sich über dem Pass zusammengezogen. Auf einer Anhöhe standen die Lopen und blickten zu ihr herunter. Zum Glück regnete es noch nicht. Vor Kurzem hätte sie sich für ein bisschen Regen einem Troll hingegeben, doch jetzt würde es sie bei ihren Bemühungen die Verletzten zu versorgen behindern. Sie streckte sich und wandte sich dem knienden Phani zu. 

»Zieh es aus ihm raus Nygh«, blaffte sie und deutete wild entschlossen auf den Speer. Ughtred ging wortlos zu dem riesigen Mann, packte den Schaft des Speeres und zog. Ein stöhnen erfüllte den Pass und dann gab es einen knackenden Laut, als die Klinge im Inneren Odugmes an einer Rippe abglitt und schließlich aus ihm heraus brach. Blut strömte aus der Wunde und der Riese kippte nach hinten und blieb ausgestreckt liegen. Tal stürzte zu ihm und verabreichte ihm sofort ein stärkendes Mittel, wusste aber nicht einmal, ob es bei seiner Art überhaupt wirken würde. Dann bat sie den Nygh den Verletzten auf die Seite zu drehen, denn sie musste die Rückseite der Wunde verschließen. Die Zeit drängte, denn er hatte jetzt schon zuviel Blut verloren und sie wollte ihn unbedingt retten. Es war ihr Phani und die wuchsen schließlich nicht an den Bäumen.

Verbissen arbeitete sie an dem riesigen Loch in Odugmes Rücken und versuchte sich jeglicher Gefühle zu enthalten, aber sie merkte selbst wie verzweifelt sie war. Damit er atmen konnte, hatte sie ihm die goldene Maske abgenommen und achtlos in den Sand geworfen. Sie durfte weder den großen schwarzen Mann, noch Kyon verlieren. Alles hing davon ab, die beiden wieder reisefähig zu machen, denn auch sie wusste, die Draiyn würden wiederkommen.

Sobald die Wunde rückwärtig mit Mull und Heilpaste verschlossen war, entließ sie Ughtred und begann das Innere der Wunde zu reinigen.

Der Nygh stand auf und sah sich um. Zeltstangen und Planen und die Lopen, das ist die Lösung, dachte er und ging zu ihrer am Boden verteilten Ausrüstung. Er suchte die langen zusammenklappbaren Stangen und begann sie mit Nur und Seil zu festigen. Dann ging er daran, die Planen zu zerschneiden und mit groben Stichen und den Schnüren der Naht des Zeltes um die entstandenen Schienen zu nähen. Seine handwerklichen Fähigkeiten hatte er von seinem Vater gelernt und er hatte gut aufgepasst. Die Idee mit der Schleppe, die er baute, hatte er jedoch aus einem Buch der Silberwölfe entliehen.

Er brauchte fast ebenso lang wie Tal mit dem Riesen. Stunden vergingen und die Angst vor den Wüstenkriegern wuchs von Minute zu Minute. Inzwischen hatte sich Kyon aufgerichtet und versuchte sogar Ughtred zu helfen, aber er tat sich schwer damit und der Nygh hatte Bedenken, ob der Silberwolf wenigstens reiten können würde.

Schließlich kamen die Lopen zu ihnen. Sie witterten, dass ihre Hilfe benötigt wurde und noch während Tal auf dem Bauch des Phani saß und an seiner Hüfte eine letzte Naht setzte, zogen die Lopen und Ughtred den schwarzen Mann auf die am Boden liegende Schleppe. Dann drückten der Nygh, Tal und Kyon das Gestell nach oben und Regenbogen, Kreuzhorns älteste Tochter streckte den Hals durch die Zuggurte. Das Dromirtha war stark genug, den Phani zu ziehen, hatte aber ein wenig ausladendes Geweih und passte daher am besten durch die Gurte.

Als alles getan war, sahen sich die drei an.

»Wird es gehen?« fragte Tal und deutete mit dem Kinn auf Kyons Hand, die er auf seine Verletzung gepresst hatte. Er folgte ihrem Blick und verzog das Gesicht, weil sich der Verband dunkel gefärbt hatte. Im ersten Moment dachte Tal, er würde zusammenbrechen, aber dann streckte er die Hand aus und Ughtred legte ihm wortlos den Smavaribogen hinein. Der Nygh hatte die Waffe aufgehoben und vom Sand befreit. Mit grimmigem Blick presste Kyon hervor: »Lasst uns keine Zeit verlieren, sie werden kommen!«

 

Und der Himmel verdunkelte sich, als sie kamen. Nachdem Kyon seinen Unmut bezüglich des des Schwarms einigermaßen überwunden hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit den sich bietenden Möglichkeiten zu. Er blickte den Grat hinauf, auf dem er eine Nacht des Vergessens verbracht hatte, suchte hinter sich den Pass nach einer Lösung ab und sah dann nach Norden, wo es ebenfalls keinen Ausweg zu geben schien. Die Draiyn kamen aus dem Süden. Ihr Brummen wurde von den Felsen hin und her geworfen und noch verstärkt. Doch diesmal blieb der Barde ruhig. Gerade wollte er das Zeichen zur Flucht geben und auf den Rücken von Donnerhuf steigen, als dieser mit einer wütenden Bewegung sein gewaltiges Haupt schüttelte. Das Tier sah Kyon in die Augen und gab ein seltsames Bellen von sich, von dem Kyon beinah das Gefühl hatte, es verstehen zu können.

»Leben für Leben«, flüsterte Kyon dankbar und stieg auf den Rücken einer der anderen Lopen. Ein Zeichen seiner Faust gab Ughtred zu verstehen, dass er Regenbogen zum Aufbruch bewegen sollte, doch alle Lopen zögerten. Sie wussten instinktiv, was nun kommen würde und ließen erschrocken die Ohren hängen. Doch dann erhob sich der fahl weiße Donnerhuf auf die Hinterläufe und gab ein bedrohliches und weit durch den Pass schallendes Röhren von sich. Renner, sein Ältester stimmte mit ein und schließlich schrie auch Bienenstich, wenn auch mehr aus Angst und verwirrung, aber eben in diesem Moment war die wilde Jagd eröffnet. Regenbogen zog an und stürmte voraus, dicht gefolgt von Kreuzhorn, der immer wieder laut bellte, um die Führung und damit die Richtung anzuzeigen. Kyon hielt auf die linke Passflanke zu und zog die anderen hinter sich her. Doch nicht alle gingen diesen Weg. Donnerhuf hatte sich nach Südwesten gewandt und rannte mit einem unglaublichen Tempo auf die Kante des Passes zu. Sein Sohn  Renner, Stolperstein, die den Alpha offenbar bis in den Tod liebte und  Fleckenbein waren dicht hinter ihm. Bellend erstürmten sie den Hang, liefen weiter nach Süden auf die Draiyn zu wenn es zu steil wurde, schwenkten aber immer wieder nach Westen, wenn es die Wand zuließ. Lopen waren erstaunlich gute Kletterer und so gelang es der tapfersten unter ihnen, den Grad am oberen Ende des Passes zu erreichen, als die ersten Insektenkrieger auf die Lopen trafen. Er machte einen riesigen Satz und verschwand über der Kante und seine Herde tat es ihm ohne Zweifel nach. Hinterher hüpfte und flatterte der wilde Mob der Draiyn und so verschwand dieses Übel in der Ferne während Kyon und Kreutzhorn so schnell und leise wie möglich nach Norden entkamen.

Der Barde war verwirrt, denn er hatte sich stets als Smavari gesehen und diese sind nicht unbedingt für ihre weichen Herzen bekannt. Aber er war ganz offensichtlich nicht nur der Sohn seines Vaters, sondern auch der seiner Mutter. Sie litt der Liebe willen und nun litt auch sein Herz aus einer Art der Liebe heraus. Dankbar sagte er ein letztes Mal stockend: »Leben … für Leben!«

 

Sie erreichten viele Stunden später das Ende des Passes. Als sich die Landschaft vor ihnen zu weiten begann, verlangsamten sie ihr Tempo und versuchten zu erfassen, was und vor allem wen sie alles verloren hatten. Obwohl sie nicht zum Stehen kamen war der Schock derart schlimm, dass die Lopen taumelten und stolperten und in ein klägliches Jaulen und Bellen verfielen. Rehlein sprang vor Verzweiflung in die Luft und rief heulend nach ihrem Vater und Bienenstich wäre beinahe der einzige gewesen, der zum Stillstand gekommen wäre, aber Tal, die auf seinem Rücken saß, wob die Elemente neu, griff mit ihrem Geist ins Feinstoffliche und in ihn und dann verknüpfte sie ihre Zunge mit seinem Verständnis. Ruhig und verständnisvoll aber auch mit Donnerhufs Stärke, flüsterte sie der Jungen Lope beruhigende Worte zu. Es war schwer, das Tier aufrecht zu halten, aber die erinnerung an seine Pflicht schockierte ihn fast ebenso wie der Verlust und so hob er den Kopf und trabte verbissen weiter.

Auch Ughtred hatte seine Probleme. Regenbogen war erschöpft und wie alle Lopen am Boden zerstört. Kraftlos zog sie weiter, aber ihre Geschwindigkeit verringerte sich mit jedem Schritt. Doch dann trat Kreutzhorn neben sie und drückte sein nach vorn stehenden Geweihholm unter einen der Schleppenträger und hob ihn hoch. Zwar wurden ssi durch die ungleiche Gewichtsverteilung nicht schneller, aber die Entlastung verschaffte Regenbogen eine kleine Erholung.

Derart gebeutelt ging es immer weiter den Pass entlang. Sie versuchten sich in den Hügeln möglichst gedeckt zu halten. Angespannt wahrten sie Stille, vermieten Steinige Wegstrecken und alles, was sie verraten könnte. Sie waren alle sicher, irgendwo hinter ihnen drohten weiterhin die Draiyn, denn ihr Hunger war unersättlich und sie kannten keine Gnade.

 

Die unteren Ausläufer des DranˋOrad zwangen sie bald weiter nach Nordost und Kyon zweifelte erneut an Ughtreds geographischen Kenntnissen, aber der Nygh deutete nur stumm auf die rechte Passkante, die deutlich höher als die linke war. Kyon verstand zwar, dass er ihm damit sagen wollte, sieh Silberwolf, da steigt der Berg an, und dort eben nicht und da wo es flacher wird, ist unser Ziel, aber er selbst hatte echte Probleme sich zu orientieren und ihm fehlte die Zuversicht und das Selbstvertrauen des kleinen Mannes.

 

Tag um Tag und Nacht um Nacht schleppten sie sich weiter gen Norden. Bald hatten sie das Ende des Passes erreicht und mussten sich mehrere Nächte durch die offene Wüste bewegen und die Tage waren vor allem für Tal und Kyon, die sich eng zusammengeschmiegt unter den Resten des Zeltes verbergen mussten fast unerträglich. Sie schliefen kaum, hatten nur  noch wenig Wasser und ohne Ughtred, dem die ganze Situation offenbar überhaupt nichts anhaben konnte, hätten sie es wahrscheinlich nie wieder aus der Wüste von Draiyn Andiled heraus geschafft.

Als schließlich im der Ferne aus dem eintönigen Grau und Braun der Wüste ein schmutziger Olivton wurde und die Luft nach Feuchtigkeit zu schmecken begann, konnte sie es alle kaum fassen. Ughtred deutete in die Ferne und erklärte, dies seien die Marschen von Korezuul, aber den beiden Smavari war dies ganz egal. Die Wüste lag hinter ihnen und nur das zählte. Und kaum wurden die Huftritte der Lopen von weicher Erde abgefedert, traten Tal und Kyon Tränen der Erleichterung in die Augen. Sie wussten, dass die Reise noch lange nicht beendet war, denn das Heim des Nyghs lag in den Bergen und der Aufstieg würde sicher nicht leicht werden, aber hier gab es Schatten und Bäume und hoffentlich keine Draiyn. Kyons Verletzung war schmerzhaft, aber er hielt sich tapfer. Schlechter ging es Odugme, doch Tal hatte beschlossen kein Risiko einzugehen und ihn in eine künstliche Stase versetzt. Sie hatte das selbe mittel zum Einsatz gebracht, welches sie selbst nutze, um in den toten Leib ihres Bruders zu dringen und offenbar wirkte es bei dem Phani wie bei ihr.

Neben dieser Arbeit widmete sie sich vor allem Bienenstich. Es war eindeutig, dass die anderen Lopen in ihm den zukünftigen Alpha sahen, doch er selbst machte eher einen gebrochenen Eindruck. Doch Tal hatte sich der Meinung der Herde angeschlossen und verpasste keine Gelegenheit, Bienenstich zu fördern. Immer wieder nutzte sie ihre psionischen Kräfte und redete auf ihn ein.

Der Weg nach Dranought durch die Marsch dauerte noch weitere zwei Tage und gestaltete sich für die Silberwölfe als eine Art Traumreise. Sie waren zu erschöpft, die Fährnisse dieses Teilabschnittes ihres Weges überhaupt gebührend wahrzunehmen. Längst hatte Ughtred die Führung übernommen. Der Nygh erwies sich als unermüdlich und schien sich für keine Last zu schade. Bei jeder Rast baute er das restliche Zelt für die Gefährten auf, oder befestigte zumindest ein Stück Plane an einem Felsen oder Baum, damit sie etwas mehr Schatten bekamen. Den Lopen maß er den größten Teil seiner Aufmerksamkeit bei. Er fütterte sie, sprach ihnen Mut zu und in jeder freien Sekunde war er bei ihnen und streichelte ihr von den Strapazen und der Trauer stumpf gewordenes Fell. Ab und an verließ er das Lager und sammelte Pilze und Kräuter und fütterte die Tiere damit, um ihr Immunsystem und ihre Moral zu stärken.

Die Marsch war ein seltsames Land. Einerseits gab es hier tatsächlich sumpfige Bereiche, um die Ughtred einen großen Bogen machte, doch die angrenzenden Heidegebiete und kleinen Wäldchen hatten eher etwas zauberhaftes als das sie bedrohlich gewirkt hätten. Es gab sogar Obstbäume, die in dieser Jahreszeit zwar weder in Blüte noch in Frucht standen, aber dennoch einen außerordentlich pittoresken Eindruck hinterließen. An Wasser mangelte es ebenfalls nicht, denn obwohl die kleinen Tümpel oft abgestanden rochen und auch tatsächlich brackig waren, gab es unzählige Bächlein, die in den höheren Lagen des aufsteigenden Landes entsprangen und die Marsch mit Frischwasser versorgten. Am besten aber war für die Reisenden, dass Gänzliche Fehlen von Raubtieren und anderen Gefahren. Gut, es gab hier durchaus gefährliche Tiere wie Giftschlangen und eine Fischart die parasitär unvorsichtige Badegäste von Tümpeln befallen konnte, aber die Draiyn zum Beispiel mieden diesen Ort und große Räuber wie Arwölfe oder Raubkatzen gab es hier nicht. Ughtred hatte schon von Amytoren in der Umgebung gehört, aber im Vergleich zu den Hochlagen. schienen diese üblen Wesen die Marsch ebenfalls zu meiden. Am ehesten hätte man hier wohl auf Räuberbanden stoßen können. Ab und an, kam es vor, dass Quink sich aus der Versklavung seitens der Silberwölfe befreiten – Ughtred konnte es ihnen kaum verübeln – und dann auf der Suche nach einer neuen Heimat bis nach Korezuul kamen. Doch dies kam so selten vor dass hier und jetzt kaum damit zu rechnen war und wenn, warum sollte man umherirrende Quink fürchten? Vielmehr hätte der Nygh ihnen den Weg nach Dranought gezeigt oder sie eingeladen gleich mit ihnen zu ziehen.

Odugme ging es leider nach wie vor sehr schlecht. Seine Wunde verheilte nicht schnell genug und das Gerüttel auf der Schleppe ließ sie immer wieder aufbrechen und bluten. Nur die künstliche Straße hielt ihn am Leben. Unter besseren Bedingungen hätte Tal vielleicht mehr für ihn tun können, aber hier in der Wildnis, war da nichts zu machen. hinzu kam ihre eigene Mattheit. Sie schaffte es gerade noch während der Reisephasen mit Bienenstich zu sprechen und ihn auf Kurs zu halten. Oft beobachtete Ughtred sie, wie sie vornübergebeugt im Sattel einnickte. Er sorgte sich um den Phani, aber er traute sich nicht, sie darauf anzusprechen, derart aufgebraucht sah sie für ihn aus. Das Selbe galt für Kyon, aber er hielt sich eisern. Nach der Sache mit der unheilvollen Wandlung – Ughtred kam es vor wie ein lange vergangener Alptraum – hatte er eine Veränderung durchgemacht. Es schien, als sei er ein wenig erwachsener geworden. Oder war es dieses Ding in ihm, welches ihn stärker kontrollierte? War es hervorgekommen, weil sein Wirt sonst in der Wildnis zugrunde gegangen wäre? Immer wenn sich diese Art von Gedanken Ughtreds Überlegungen aufdrängten, versuchte er das Ganze aus einem optimistischen Blickwinkel zu sehen, aber eine Werwölfin? Wie konnte man eine solche Bestie positiv sehen?

Seit dieser seltsamen Nacht war es nicht wieder geschehen, aber an was würde man es merken? Es hatte auch dort unten in der Wüste keine Vorzeichen gegeben, zumindest keine, die Ughtred bemerkt hätte. Und dann, wenn er es merken würde, was sollte er tun, Kyon erschlagen? Die Wölfin hatte ihnen nichts getan. Nicht einmal die Lopen hatte sie angegriffen. Er konnte nicht einmal sagen, ob dieses Wesen überhaupt auf die Jagd gegangen war. In den alten Erzählungen seines Volkes gab es unzählige Geschichten von Werwölfen, die jede Nacht Schafe rissen und sich am Blute von ehrbaren Landbewohnern labten. Auch die Sache mit den Mädchen schien hier nicht zuzutreffen. Ein junges mädchen ging in den Wald und begegnete dem Mannwolf. Er umgarnte sie und je nach Saga, machte er ihr ein Kind, welches später ein mächtiger Klanführer wurde, oder endete mit in den Bauch genähten Steinen in einem tiefen Brunnenschacht. Eine Werwölfin hingegen, davon hatte er bisher nur in einer einzigen Sage gehört, in seiner eigenen. Die Waldwölfin, die einst sein Vater aus einer Drahtschlinge gerettet hatte und ihm selbst dafür den Haus des Lebens eingegeben hatte, als er selbst zu schwach dafür gewesen war, stand jedoch außerhalb der anderen Erzählungen von Werwölfen, Vampiren und Hexen. Es war, als kenne jeder Erwachsene in Dranought ihr Wesen und akzeptiere ihre Herrschaft über einen Teil des Waldes jenseits der Nyghhütten. Sie war eine Art niedere Göttin, wurde zwar nicht verehrt, aber auch nicht gefürchtet. Man hatte respekt vor ihrem Teil des Waldes und hinterfragte ihre Daseinsberechtigung nicht. Würde sie aus dem Berg kommen und Schafe töten oder Nyghs angreifen, würde dies anders aussehen. Ughtred hoffte inständig, dass dieses Wesen in Kyon nicht hier in Korezuul hervorbrechen würde. Wenn doch, würde es zweifellos zu einem Massaker kommen. Die Nyghs verstanden keinen Spaß wenn sie angegriffen wurden und da spielte das Geschlecht des Wolfsgeistes wirklich keine Rolle. Ein Armbrustbolzen im Fleisch konnte jedem den Tag – oder die Nacht – vermiesen.

 

Am frühen Morgen des einundzwanzigsten Tages nach ihrem Aufbruch in Shishney hob Ughtred den Arm. Sie befanden sich mittlerweile auf einer Straße aus moosbewachsenen Pflastersteinen und waren schon an mehreren alten Ruinen von verlassenen Vorposten vorüber gekommen. In der Nacht hatten sie in der Ferne die Lichter eines kleinen Hofes gesehen, waren aber auf dem Weg geblieben. Jetzt deutete Ughtred auf zwei Steintürme in der Ferne.

»Dies sind die Vortürme Dranoughts. Wir sind da!« rief der Nygh mit unverhohlenem Stolz in der Stimme.

Kyon hatte gemischte Gefühle zu dieser Aussage. Er war natürlich froh, die Wildnis hinter sich lassen zu können, aber er war skeptisch geworden. Alles, was er sich vor seinem Aufbruch in dieses Abenteuer schwer, unschön oder gar gefährlich und schlimm vorgestellt hatte, war schwerer, unschöner, gefährlicher und viel viel schlimmer geworden. Korezuul hatte er sich provinziell vorgestellt. Aber auch North war provinziell gewesen. Das hier, die trutzigen Steintürme, der Matsch, Regen und die harsche Art seines Reisegefährten Ughtred, ließen ihn kaum auf Besserung innerhalb der Nyghstadt hoffen.

Langsam bewegte sich ihr Zug auf die beiden Wachtürme zu. Es gab zwar eine niedrige Steinmauer, aber von einer sonstigen Bebauung war nichts zu sehen. Etwas zurückgesetzte, sicher drei- vierhundert Schritte vom Weg entfernt kräuselte sich der Rauch eines Hofes in die Luft, aber von den Bewohnern oder von den Wachen hier bei den Türmen fehlte jede Spur.

Beinahe hätte er Ughtred nach der Besatzung der Türme gefragt, aber da waren sie schon nahe genug heran, dass er sehen konnte, dass bei dem linken der beiden Schutzgebäude die Seite herausgebrochen war. Im inneren fehlten alle Zwischenwände und die Böden. Das Material lag zum Teil in Trümmern auf dem Boden und hätte einem Schlitten oder Wagen den Weg versperrt. Für die Lopen waren dies zum Glück kein Problem. Ganz offensichtlich hatte man die beiden Türme vor langer Zeit aufgegeben.

Stumm bewegten sie sich durch die Steine und Holzbalken. Es war schwer zu sagen, wie diese Verwüstung entstanden war. Gebrannt hatte es zumindest nicht. Ughtred, der abgestiegen war, weil er helfen wollte, die Schleppe mit dem Phani unbeschadet durch das Hindernis zu bringen, hob einen Stein auf und wog ihn in der Hand. Dann warf er ihn weit über die Türme hin, weg von dem Hof, den man immer noch in der Ferne sehen konnte.

Kyon begab sich auf seiner Lope neben ihn und sagte nun doch: »Verlassen. Warum?«

Es war dem Nygh anzusehen, dass er diese Art der kargen Kommunikation nicht sonderlich mochte; obwohl er ja selbst nicht gerade ein Mann der vielen Worte war.

»Nutzlos geworden.« knurrte er leise.

Kyon übersah die Spitze, nickte und zog an Ughtred vorüber. Dieser schüttelte den Kopf und hob die Schleppe an, damit die Lope ssi über einen Stein ziehen konnte. Die Stase schien nachzulassen, denn Odugme stöhnte leise. Die Zeit drängte.

 

Skergenblut

Hinter den Türmen war die Straße deutlicher zu erkennen. Etwa eintausend Schritte entfernt konnte man die richtige Stadtmauer und die ersten, in sie integrierten Gebäude erkennen. Kyon war kein Experte, aber er sah zumindest, dass die Bauwerke, wie die Türme, in erster Linie aus Stein errichtet worden waren und in ihren Dimensionen, wer hätte es gedacht, eindeutig trutziger und kleiner als die der Smavari waren.

Smavarische Häuser, also echte smavarische Gebäude, nicht solche, die von Quink für Quink und Silberwölfe errichtet worden waren, unterschieden sich von allem, was andere Völker an Behausungen erschaffen hatten. Dies fing schon mit den verwendeten Materialien an. Smavarische Baumeister nutzten häufig organische Materialien oder Stoffe, die in der Natur überhaupt nicht vorkamen oder erst in vielen Millenien erfunden würden. So gab es auf modernen smavarischen Kernwelten wie Mirthas`Eysmi, gigantische Wohnanlagen, Türme und Tempel ganz und gar aus Elfenbein oder Knochen. Hierbei waren normalerweise keinerlei Ansatzpunkte in den Strukturen zu sehen. Wände waren wie aus einem einzigen riesigen Zahn geschnitten und fenster bestanden aus derart dünn geschliffenem Material, dass sie durchsichtig wirkten, oder mittels psionischer Artefakte tatsächlich durchsichtig gehalten wurden. Perlmutt und Edelsteine waren ähnlich beliebt. Auch hier auf der Tiba Fe, genauer in Rivenest, dem Sitz der Herrin von Oriad, gab es einen Nachtturm namens Ursmaˋnoroth, der nahezu komplett aus geschliffenem Onyx bestand. Hinzu kam die Onyxalee, die von seinem Fundament quer durch die Stadt führte.

In Shishney waren die meisten Gebäude dagegen von den Quink aus den hier befindlichen Materialien gebaut worden. Häuser bestanden weitgehend aus dem Gestein der Odoreys. Doch auch hier gab es eine für die Silberwölfe bauliche Besonderheit. Die Sternfestung, ihr Name lautete ebenfalls Shishney, war mit ihrem sternförmigen Grundriss vom Boden bis in die Höhe des Gebirges in den Stein geschnitten worden. 

Kyon überlegte, welche Kräfte nötig gewesen sein mussten, solch ein Wunder zu vollbringen und sah zu der Stadtmauer hinüber, der sie sich näherten. Sie war unübersehbar, stattlich, aber eben nur aus geschichteten Stein. Wen wollte man damit beeindrucken?

Doch je näher er Dranought kam, desto beeindruckter wurde er. Hinter der Stadtmauer war, ähnlich wie in Shishney, eine Steilwand des Gebirges zu sehen. Und ebenfalls ähnlich wie in seiner Geburtsstätte, hatten die Nyghs einen Teil ihrer Festung und Gebäude in den Stein der Berge geschlagen.

Zwei weitere Tortürme passierend bewegte sich die kleine Gruppe auf der jetzt breiten Straße in die eigentliche Stadt hinein. Zwar waren auch hier weder die Mauer, noch die Türme bewachte, aber es dauerte nicht lange, bis die ersten Kinder ihnen folgten und schließlich kamen auch Erwachsene auf die Straße und besahen sich die fremdartigen Besucher. Hierbei spielte es kaum eine Rolle, dass der Zug einen der ihren beinhaltete, denn sie bekamen nur selten Silberwölfe zu Gesicht und große Lopen wie die Zackenhörner und Dromirtha kannten sie ebenfalls nicht. Am merkwürdigsten natürlich musste für sie die Schleppe mit diesem riesigen schwarzen Mann wirken. Odugmes Maske war in den Wirren des Draiynangriffs verloren gegangen und Ughtred hatte ihn in eine der Decken gewickelt, aber sein fremdartiges Gesicht und der Stutzen in seiner Stirn, wo das Gelenk der Maske normalerweise angebracht werden konnte und eine tief schwarze, makellos Haut, machten ihn zu einer Attraktion.

Dennoch stellte niemand Fragen. Höflich bildeten die Bewohner Dranoughts eine Geleitgruppe und gingen in einigem Abstand hinter den Gästen her. All dies geschah ohne Geschrei und Rangeleien. Bis zu einem großen Platz, der im Osten an den Fels grenzte und von wo aus es steinerne Stufen zu den in den Berg geschnittenen Gebäuden führten. Um den Platz herum gab es ebenfalls Steinhäuser, denen zum Teil ihr Nutzen anzusehen war. Da gab es ein offenes Gebäude mit langen Bänken und einer gewaltigen länglichen Feuerstelle in der Mitte. Das Dach wurde von den Seitenwänden und Säulen getragen. Im Inneren saßen Nyghs, tranken und starrten jetzt überrascht auf den Platz. Dies war zweifelsfrei eine Trinkhalle. Ein anderes Gebäude schien eine Art Mühle zu sein, deren riesiges Mühlrad von einem Bach angetrieben wurde, der seitlich den Fels herunterkam und quer durch den Ort verlief. Dann gab es eine Art Kaserne am Platz, aber weiter oben am Ende zweier Treppen standen ebenfalls Soldaten in Schuppenrüstungen und starrten jetzt auf die Ankömmlinge herunter. Hier war es auch, wo die Gruppe offiziell angehalten wurde. Ein kleiner Trupp von Kriegern, der offensichtlich von einer Frau angeführt wurde, verstellte den Lopenreitern den Weg. Die Frau trat vor, stemmte die Fäuste in die schlanken Hüften und bellte einen Gruß. Dann stellte sie sich vor: »Ich bin Athwes, Anführerin der Wache und ich wünsche zu erfahren, wer hier Dranought besucht!«

Sie sprach befehlsgewohnt und mit allem Nachdruck. Ihre Rüstung bestand aus hölzernen Platten mit Messing- und Kupferrahmen und war kunstvoll gearbeitet. An ihrem überbreiten Waffengurt, der eindrucksvoll ihre wohlgeformte Hüfte betonte, hing eine Handaxt und ein schlanker Kriegshammer. Sie sah alles andere als harmlos aus, aber ihr klassisch schönes Gesicht und ihre kunstvoll zu vielen Zöpfen geflochtene Frisur nahmen sogar die Silberwölfe für sie ein.

Ughtred, der die Wächterin nur zu gut kannte, nickte ihr freundlich zu und trat vor. Athwes war dabei gewesen, als man ihn des Diebstahls angeklagt hatte. Er konnte die Schande nur schwer verhehlen. Es fiel ihm schwer, ihr in die Augen zu blicken. Doch dann geschah etwas aus seinem Blickwinkel Unmögliches. Er erklärte sich und beschrieb den Grund ihres Hierseins. Mit deutlichen Worten hob er die Dringlichkeit hervor, die es notwendig machte, ihn und seine Gäste so schnell wie möglich passieren zu lassen, schließlich ging es hier um Leben und Tod!

Athwes jedoch sagte: »Ihr werdet zum Rat gebracht. Dort wird man entscheiden, was fürderhin mit dir und den Wölfen geschieht. Sie sind hier nicht willkommen.«

Ughtred starrte sie zuerst fassungslos, dann voller Zorn an. Als sie damals gegen ihn gestanden hatte, war sie der Meinung des Rates gefolgt. Das war nichts Persönliches gewesen. Aber das hier ging einfach zu weit. War sie taub? Sein Vater würde sterben, wenn er die Hexe nicht auf der Stelle zu ihm brachte, und darüber hinaus hatten sie ja selbst einen schwer Verletzten dabei.

»Verdammt bin ich, wenn ich nicht auf der Stelle zu meinem Vater ginge. Luftschiffe, Silberwölfe, Wüsten und Insektenkrieger habe ich hinter mich gebracht, da willst du mich aufhalten meinen alten Herrn zu retten?«

Athwes sah ihn fest, aber auch beeindruckt an. Dann sagte sie freundlicher: »Lass uns zum Rat gehen. Sie werden die Dringlichkeit deines Hierseins verstehen. Gebt uns eure Waffen und ich verspreche, wir kümmern uns um den Großen da.«

Am liebsten hätte Ughtred Steine nach ihr geworfen, aber die Wächter hätte er nicht einmal überwinden können, wenn er im Vollbesitz seiner Kräfte gewesen wäre – und das war er nicht.

Mit hängenden Schultern und bebend vor Zorn gab er auf. Sie waren alle verrückt und er fühlte ssic verloren. Doch dann schloss er den Mund und gab seine Wurfäxte und sein Handbeil ab. Er erklärte den Wölfen, dass es keinen anderen Weg gab und beschwor sie, ebenfalls die Waffen abzulegen, denn seine Landsleute seien stur und dumm und es währe hier nichts zu machen, außer ihnen nachzugeben.

Zu seinem Erstaunen, schien es den Wölfen weit weniger auszumachen sich ihrer Waffen zu entledigen aber dann erinnerte er sich an die unglaublichen Kräfte der Hexe und an die von grünem Feuer umhüllte Werwölfin und da wunderte er sich nicht mehr. Nachdem alle Waffen sorgfältig eingesammelt waren, zum Teil kümmerten sich die Zuschauer um diese Aufgabe, geleiteten die Wächter ihre Gefangenen die Treppen zur Ratshalle hinauf. Odugme unterdessen blieb unten. Man hatte sich geeinigt ihn direkt zu den Heilen zu bringen und zu diesem Zweck eine richtige Trage herbeizuschaffen. Zumindest in dieser Sache war Ughtred einverstanden mit dem Vorgehen seiner Landsleute. Er wusste, sie würden sich um den Verletzten kümmern. Dasselbe galt für die Lopen. Man führte sie vom Platz weg nach Norden, wo es in der Nähe der hinteren Stadtmauern unzählige Höfe gab. Hier würde man sie gut versorgen und auch ihre Verletzungen versorgen.

 

Von oben sah der Marktplatz von Dranought noch pittoresker aus. Die Vielen Steinhäuser, die sich um den Platz nach Westen ausbreiteten und dann in eine sanfte und grün bewachsene Graslandschaft übergingen hatten etwas friedliches. Dahinter und im Norden, wo die Stadt zwischen zwei Gebirgshängen ebenfalls in einen in das Gebirge überging war der Horizont von einem Meer aus Farben erfüllt. Der Frühling ließ die Bäume knospen und viele Arten hatten schon ihr erstes Grün hervorgebracht. Der Boden indes war noch rötlich verfärbt vom abgeworfenen Laub des letzten Herbstes. Die Argol Fe stand tief rot am Himmel und ihre Schwester Hiyween blendete in ihrem grellen Wüten. Tal schirmte ihre Augen mit dem Handschuh ihres Vaters ab und folgte den anderen in die Ratshalle hinein. Ihre Schritte hallten laut nach, denn die Nyghs redeten nicht und der steinerne Tunnel, der hinein führte warf jedes Geräusch mehrfach zurück.

Im Inneren war es erstaunlich warm. Dabei verbreiterte sich der gewölbte Steintunnel nach wenigen Schritten zu einer beachtlichen Halle, die sich bis tief in den Fels erstreckte. Sie musste wenigstens dreißig Schritte breit und über sechzig tief sein und die Decke befand sich weit über zehn Metern über Tals Kopf. Natürlich waren Smavari Gebäude dieser Ausmaße absolut gewohnt, aber vielleicht nicht unbedingt bei anderen Völkern als bei sich selbst. Die Zitadelle von Shishney wieß erheblich erstaunlichere Maße auf, aber sie war von den Silberwölfen geplant und strukturiert worden. Tal wäre bis zu diesem Tag nicht davon ausgegangen, dass Nyghs zu solcher Baukunst in der Lage waren. Allein die Decke war ein kleines Wunder. Es gab keine Stützsäulen in dem riesigen Raum. Dies bedeutete, dass die an ein Gerippe erinnernden Bögen über ihr mussten das Gewicht des Berges tragen. Sie war keine Expertin in diesen Dingen, aber sie konnte sich gut vorstellen, wie kunstvoll die Erbauer dieser Halle zu Werke gegangen sein mussten. Die Tiba Fe war eine lebende Welt. Immer wieder rumpelte es in ihren Gedärmen und wenn der Boden Bebte, hätte Tal nicht in einem Gebäude wie diesem sein wollen.

Der Hallenboden war mit einem Mosaik aus verschiedenen Steinarten ausgelegt. Die Platten hatten allerdings eine Kantenlänge von fast einem Schritt, was bedeutete, dass sie unglaublich schwer sein mussten. Das Muster, welches sie bildeten, unterschied sich in seinem Stiel von allem, was Tal je gesehen hatte. Folgte man ihm mit den Augen, entstand ein seltsam kantiges und gleichzeitig organisch wirkendes Labyrinth, welches vom Eingang der Halle zu der an ihrem hinteren Ende befindlichen Empore führte. Letztere erhob sich vier Treppenstufen über das Bodenniveau und hatte eine Breite von etwa zehn Schritten und war etwa halb so tief. Hier oben stand ein eindeutig, sehr alter Holztisch mit mehreren ebenfalls alt wirkenden Stühlen und Schemeln, an denen die Ratsmitglieder saßen. Tal schüttelte unmerklich den Kopf. Diese Leute hatten so überhaupt nichts herrschaftliches an sich. Ein smavarischer Fürst hätte nicht im Traum daran gedacht, sich auf solch ein Möbelstück zu setzen und schon gar nicht einen Tisch mit anderen zu teilen. Überhaupt wäre das Konzept eines Rates bei ihrem Volk ganz anders zu verstehen gewesen. Man konnte sich beraten lassen, aber dies hier sah nach Abstimmung aus und das war ja gleich wieder etwas ganz anderes – geradezu Entwürdigendes.

Ein smavarischer Fürst konnte sich die Herrschaft mit einer Fürstin oder einem Geliebten teilen, aber am Ende war auch in solchen Fällen immer eine der beiden Parteien etwas mächtiger als die andere. In Shishney zum Beispiel herrschte seit endlosen Millenien Chayil`si Uywsinchein dan Paranur zusammen mit ihrem Gatten Chayil`im Strogiyr dan Paranur. Von Außen betrachtet, schienen die beiden gleichberechtigt zu entscheiden, aber wirklich jede Frau und jeder Mann vorort wusste genau, dass hier ausschließlich Lady Uywsinchein das Sagen hatte. Natürlich würden die Bewohner Shishneys den Befehlen des Fürsten ohne zu Zögern folgeleisten, doch nicht sie. Sie war eine der mächtigsten Personen Kisadmurs und könnte alles und jeden, der ihre Macht bezweifelte, in einem Augenblick zu einer Eisskulptur gefrieren lassen. Und genau dies würde sie auch ohne zu zögern tun. Smavari waren nicht gerade für den zimperlichen Einsatz ihrer psionischen Kräfte bekannt und ihre Frauen konnten zu wahren Furien werden, wenn man ihre Vorherrschaft missachtete.

Tal schrak aus ihren Überlegungen, als die Wächterin, die sie hierher geführt hatte, ihre Stimme erhob und sie vorstellte. Ughtred hatte nur ihren Kurznamen genannt und so war es kein Wunder, dass sie auch nur mit Tal und Kyon vorgestellt wurden und sie musste den Ärger herunterschlucken, der diese Respektlosigkeit in ihr verursachte. Unter anderen Umständen hätte sie vielleicht sogar gegen diese Unverschämtheit aufbegehrt, aber sie war in einem Land von Wilden, also musste sie auch von ungehobelten Manieren ausgehen.

Als nächstes stellte die Kriegerin die Anwesenden des Rates vor. Tal versuchte die Namen zu verstehen und sich zu merken, aber sie waren zu fremd, um sie alle behalten zu können. Der Erste, der vorgestellt wurde, war Herr Jourghandor, der Dorfältester, ein aus Tals Blickwinkel tatsächlich sehr alt aussehender Nygh. Seine Gattin hieß Bilkeven und erschien der Hexe nicht annähernd so alt. Sie hatte kluge und schöne grüne Augen, was Tal wirklich auffallend gut gefiel. Sie kannte bisher nur Ughtred und auch wenn sie ihn nicht unbedingt hässlich fand, war er aus ihrer Sicht auch nicht attraktiv. Bei dieser kleinen Frau hier sah dies aber ganz anders aus. Dann gab es 
Roryth, die ebenfalls als Jourghandors Gattin vorgestellt worden war; eine Tatsache, die für eine Smavari nicht sonderbar daherkam. Weniger erbaulich war dann Dorbrek, ein stämmiger Krieger, der ganz eindeutig eine Art Führerolle einnahm. Er schien keinen Spaß zu verstehen und sah aus, als ob er am liebsten die Vorstellungsrunde übersprungen und die Fremden mit seiner riesigen Axt massakriert hätte. Hinzu kamen wenigstens acht weitere Nyghs, unter denen sich auch Drey, Dorbreks Gattin befand. Die übrigen Namen konnte sich Tal beim besten Willen nicht merken, zumal wie erwartet, der Krieger mit der Streitaxt, kaum als die Stadtwächterin geendet hatte, das Wort ergriff und die Ausweisung der Wölfe forderte. Am liebsten hätte er den Dieb Ughtred noch inhaftiert und wenn es zum Kampf gegen die anderen beiden gekommen wäre, hätte es ihm ganz eindeutig Freude bereitet, sie mit seiner Axt in kleine Stücke zu zerteilen.

Interessanterweise machte Tal das Wüten dieses, für sie, trotz seiner Stämmigkeit, kleinen Mannes überhaupt nichts aus. Sie musste sogar lächeln, weil sie Wutausbrüche wie seinen nur zu gut kannte. Nur Männer verhielten sich so. Eine Frau hätte gehandelt. Ob dies klüger war, wollte sie gar nicht zur Disposition stellen, aber dieses Bellen und Drohen konnte sie nicht erschüttern. Sie schielte zu Kyon hinüber und hoffte inständig, der Sliyn möge ebenfalls ruhig bleiben, aber er stand nur gekrümmt da und hielt sich die verletzte Seite. Er hatte einfach keine Kraft mehr und Tal spürte, wie sie Mitleid mit ihm bekam. Sie mussten wirklich alle ruhen.

Schließlich hatte der rüde Dorbrek seinen Satz gesagt und der Älteste erhob sich und bat um Ruhe. Er deutete auf Ughtred, dem man ansehen konnte, dass er kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand und erklärte, er möge vortreten. Tal war froh, dass der Alte ihren Nygh wenigstens nicht Dieb nannte. Ughtred bedeutete dies offensichtlich weit weniger als ihr, denn er brachte zornig hervor, dass sein Vater wahrscheinlich in diesem Moment dahinschied und gab dem Rat und seinem Volk die Schuld dafür. Er forderte auf der Stelle aus der Halle entlassen zu werden. Er wäre schließlich immer noch ein ordentlicher Bewohner Dranoughts und hätte das Recht, so viele Hexen wie er wollte, zur Hilfe seines Vaters hierher zu bringen. Interessant, dachte Tal und sah den Alten an, weil sie wissen wollte wie sich dies nun tatsächlich verhielt. War es dem Nygh wirklich erlaubt Smavari in die Stadt zu führen?

Der Alte nickte und überlegte kurz. Dann schlug er vor, sich mit seinen Kollegen zu beraten. Sofort ereiferte sich Dorbrek, dass es dafür gar keinen Grund gäbe. Silberwölfe brächten Unglück und man bräuchte sich ja nur die Wüste Draiyn Andileds anzusehen. Was auch immer sie da angerichtet hätten, stünde ganz sicher auch Korezuul bevor, wenn man sie hier herein ließe. Jemand gab zu bedenken, dass sie ja faktisch schon hier seien, und der Krieger spuckte Gift und Galle und drohte sie genau aus diesem Grund auf der Stelle mit der Axt zu bearbeiten. Unterdessen schrie Ughtred nicht minder laut dazwischen und drohte seinerseits, den Krieger in Stücke zu hacken. Alle ereiferten sich und der Älteste machte einen derart überforderten Eindruck, dass Tal sich fragte, ob er seinen Platz im Rat überhaupt verdiente.

Dann erhob sich plötzlich die schöne Nyghfrau mit den grünen Augen. Sie hatte die ganze Zeit über geschwiegen, aber jetzt hob sie die Arme und nach einem kurzen Moment trat Stille ein. Und da war sie, die starke Frau, die handelte, dachte Tal und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Bilkeven sagte: »Habt ihr nicht gehört, um was es hier geht, ihr Narren? Sind wir so sehr abgestumpft, dass wir nicht einmal mehr dafür Sorge tragen, unsere Kranken zu heilen?«

Dorbrek wollte etwas sagen, aber sie kam ihm zuvor und übertönte ihn: »Dieser Nygh, wurde mittels Krähe vom Unglück seines Vaters unterrichtet, und was tut er da? Er macht sich auf den Weg zu helfen. Was tun wir? Wir sind Steine auf diesem Weg. Genug sage ich. Hier muss Recht geschehen und zwar auf der Stelle!«

Dorbrek begann von Neuem über die Wölfe zu schimpfen und da riss ihr endgültig der Geduldsfaden. Mit lauter Stimme befahl sie dem Krieger, zu den Wachtürmen zu gehen und nachzusehen, wie es überhaupt möglich war, dass diese Silberwölfe hier eindringen konnten.

Dorbrek wollte etwas erwidern, aber da alle anderen Ratsmitglieder ihn nun fragend ansahen, hielt er einen Augenblick inne.

»Ist es nicht deine Aufgabe, die Mauern instand zu halten?« fragte Roryth, Jourghandors zweite Frau ruhig.

Der Krieger legte den Kopf schief und überdachte seine Möglichkeiten. Dann sah er ein letztes Mal in die grünen Augen der Ratsfrau und gab auf. Er knurrte noch, man würde ja sehen, was sie anrichten, diese Wölfe und dann solle man am besten gar nicht zu ihm kommen, aber ja, ja, er wolle sich nun den Türmen widmen. Er könne ja nicht den ganzen Tag hier gegen Wände reden. Solle man eben sehen …

Als er gegangen war, richtete sich Jourghandors an die Gäste seiner Steinhalle: »Also gut, wenn niemand einen besseren Vorschlag hat, frage ich dich, Ughtred, Sohn des Schmiedes Ughnor, willst du als Bürge für diese da stehen?« Er deutete auf die beiden Silberwölfe, und es war ihm anzusehen, dass er sich ihre Namen nicht gemerkt hatte.

Ughtred verzog sein Gesicht zu einer genervten Grimasse und sagte  voller Zorn: »Scheiße ja, ich bürge für was und wen auch immer, wenn ich endlich zu meinem Vater gehen kann.«

Es war dem Ältesten anzusehen, dass er mit einer gemäßigteren Antwort gerechnet hatte und ehe er etwas dazu sagen konnte, erhob erneut seine Frau das Wort.

»So ist es nun beschlossenes Recht. Ughtred bürgt für das Verhalten der Gäste aus Kisadmur und ebenfalls bürgt er für ihren Schutz, so lange sie in Dranought wandeln mögen. Dies gilt von diesem Moment an«, sprach Bilkeven und machte eine herrische Handbewegung.

Der Ratsälteste wollte noch etwas sagen, aber Uchtred machte auf der Ferse kehrt und stapfte davon. Er war mit der Geduld am Ende und musste an die frische Luft. Er eilte die Treppen zum Platz hinunter und wandte sich ohne zu zögern nach rechts. Tal hatte keine Probleme, ihm zu folgen, aber Kyon hatte Schmerzen. Sie beeilten sich, den Nygh nicht aus den Augen zu verlieren. Tal sah sich um und nahm wahr, dass viele der Nyghs auf dem Platz und an den Straßenrändern ihnen am liebsten gefolgt wären, aber die Kriegerin namens Athwes erklärte das neugewonnene Recht der Gäste und bat um höfliche Zurückhaltung. So kam es, dass nur einige Kinder hinter den dreien her liefen.

Ughtred führte seine Silberwölfe aus dem Stadtkern in Richtung Norden, durch den Pass, der hier das eigentliche Dranought von einem weiteren kleinen Vorort trennte. Auf der anderen Seite der steinernen Erhebungen gliederte sich eine hügelige Landschaft mit einer Vielzahl von Häuschen und Höfen an. In der Nähe der Straße standen die Häuser dicht an dicht, aber weiter draußen entstand ein Netz von Seitengassen, an denen die Gebäude von Gärten und Stallungen umgeben waren. Auch hier erregten die Fremden Aufmerksamkeit. Hirten und Landwirte unterbrachen ihre Arbeiten, Leute kamen aus den Häusern und sahen ihnen nach, Gänse kamen angerannt und schnatterten aufgeregt und überall war das Blöken von Schafen zu hören. Natürlich waren es auch hier die Kinder, die sich am aufdringlichsten verhielten, aber dies konnte Tal verschmerzen.

Einmal zupfte ein Junge von hinten an ihrem Mantel und sie drehte sich um und zeigte ihm ihre Reißzähne, aber die Zwillingssonnen standen hinter ihr am Himmel und erinnerten die Hexe schmerzhaft an ihre Macht und so wandte sie sich schnell wieder um und zog ihre Kapuze tiefer ins Gesicht.

Unterdessen deutete Ughtred auf ein Haus am Wegesrand. Es war etwas größer als die anderen und schmiegte sich auf einer Seite an einen gewaltigen Kamin, unter dem sich zweifelsfrei die Esse der Schmiede befand. Sie hatten ihr Ziel erreicht, zumindest vorläufig.

Auch hier standen Nyghs auf der Straße und Ughtred hob grüßend die Hand. Eine Frau kam auf ihn zugerannt und umarmte ihn und hinter ihr kam ihr Mann heran, der den jungen Nygh freundlich mit der Hand auf die Schulter klopfte. Andere Nachbarn kamen ebenfalls näher und wollten Fragen stellen, aber dann sahen sie fast alle gleichzeitig zur Tür der Schmiede auf, weil diese sich geöffnet hatte. Sie machten den Fremden Platz und gaben den Blick auf eine Nygh in einem langen hellen Gewandt frei.

Ughtred fragte grußlos: »Wie geht es ihm?«

Die angesprochene zögerte nicht und sagte: »Du kommst keine Minute zu früh.«

Tränen sammelten sich in Ughtreds augen, als er den Fuß auf die unterste Stufe zur Veranda seines Heims stellte. Es war als müsse er den steilsten Berg des DranˋOrad besteigen, so schwer waren ihm diese vier Stufen. Die Frau reichte ihm den Arm, als benötige er tatsächlich Hilfe, aber Ughtred schob sich wortlos an ihr vorbei und verschwand im Haus.

Tal kniff die Augen zusammen und taxierte die Nygh in dem hellen Mantel. Was war zwischen ihr und Ughtred vorgefallen? War sie am Ende seine Mutter? Aber hatte er nicht etwas darüber erzählt, dass seine Mutter ebenfalls krank sei? Irgendwie auch seltsam, überlegte Tal, angesichts der Tatsache, dass es bei den Nyghs alles andere als üblich war krank zu werden, einen zu treffen, dessen Familie gleich mehrfach von Krankheiten heimgesucht worden war.

Sie sah zu der Frau hoch und stellte Kyon und sich selbst vor. Dann beschrieb sie den Grund ihres Hierseins und Bilke, die sich ebenfalls namentlich vorgestellt hatte, sagte in Smavarisch: »Ihr seid, wie ich selbst, eine Heilerin?«

Tal zuckte mit den Schultern und erwiderte leichthin: »Jede Hexe Kisadmurs versteht sich auf die Heilkunst. Ich bin eine Elishai bin`Lona, eine Hexe des Doppelmondes.«

Bilke fragte: »Du denkst, du kannst eine Vergiftung durch einen Amytoren kurieren?«

Tal nickte wortlos. Dann sagte sie etwas angeberisch: »Und so ziemlich alle anderen auch.«

Ihr Gegenüber hob die Augenbrauen. Ihr war ihre Ungläubigkeit ins Gesicht geschrieben, aber dann schien sie ihre Meinung zu ändern und nickte einfach, als sie sagte: »Dann aber nichts wie hinein mit euch, Frau Hexe. Die Zeit drängt.«

Sie drückte sich rückwärts durch die Tür und hielt sie der Hexe auf. Tal sah Kyon kurz an, doch dieser machte keine Anstalten ihr ins Haus zu folgen. Also ging sie der Nyghheilerin allein hinterher und hörte über sich Ughtred sprechen. Der Raum war erwartungsgemäß niedrig und Tal musste sich ducken und stieß trotzdem immer wieder mit ihren langen Ohren an die Kanten von Schränken oder Deckenbalken. Die Treppe war geradezu winzig und sie kam sie vor wie eine Riesin, als sie einen Großteil ihrer Taschen zurücklassend nach oben kroch. Sie musste sich tatsächlich auf Händen und Knien bewegen und hatte keinen Raum sich umzudrehen. Würde das Haus in diesem Moment in Flammen aufgehen, sie wäre hilflos verloren gewesen. Eingezwängt schob sie leise fluchend ihren Hintern nach oben und hatte das erste Mal in ihrem, für eine Smavari eher kurzen Dasein das Gefühl, abnehmen zu müssen. Und schon fiel ihr der Aufstieg leichter.

Oben angekommen, war es der Geruch, der ihr sagte, dass sie tatsächlich keinen Moment zu früh hier angekommen war. Schon im kleinen Kaminflur, in dem sie sich kaum bewegen konnte, roch es nach Siechtum und Tod. Das Amytorengift hätte jedes andere Wesen längst umgebracht. Nur ein Skerge, mit seiner allumfassenden Immunität Giften und Krankheiten gegenüber, war in der Lage gewesen dem Sog des Todes so lange zu widerstehen. Sie fragte sich, ob er unter Umständen nicht doch auch einfach so hätte genesen können und ein, für Smavari typischer, morbider Forscherdrang, ließ sie darüber nachdenken dem Kranken nur ein Placebo zu verabreichen, um zu sehen was passiert.

Die Tür der kleinen Kammer stand offen. Ughtred kauerte neben dem niedrigen Bett und hielt die Hand seines Vaters. Der Geruch war betäubend stark. Verwesung und Tod hatten sich nicht nur des Schmiedes bemctigt, sondern waren in das Holz der Wände, in die Kissen und Decken und wahrscheinlich sogar in den Stein gedrungen. Tal sog die Luft ein und versuchte zu schmecken, wie es ihr ergangen wäre und ihre Essenz zog sich in den hintersten Winkel ihres Seins zurück – nur weg von ihren Geschmacksknospen und dieser fürchterlichen  Idee von einem schrecklichen Ende.

Sie schob sich auf den Knien in das kleine Zimmer und deutete auf ein winziges Fenster. Ughtred gehorchte und öffnete es, aber die frische Luft hatte nur eine geringe Wirkung. Der Dämon des Siechtums klebte an jeder Faser dieses Ortes.

Bedächtig hob die Hexe die dünne Decke an. Der Schmied lag mit starkem Fieber darnieder und die Temperatur im Zimmer schien der seinen zu entsprechen. Das betroffene Bein war aufgedunsen und hatte sich bis zum Knie tief violett gefärbt. Tal hätte nicht geglaubt, dass der Gestank noch schlimmer werden konnte, aber es war so. Die Heiler des Ortes hatten ihn gewaschen und gut gepflegt, aber er konnte offensichtlich nichts bei sich halten und hatte sich beschmutzt. Sie sah aus den Augenwinkeln Ughtreds Tränen, aber der Wolf in ihr verspürte plötzlich Hunger auf die schwach gewordene Beute. Schnell schob sie die kleine Tasche an ihrem Gürtel nach vorne und wühlte darin. Ein kleines Fläschchen aus Glas, umwickelt mit einer dünnen Papierbanderole, kam zum Vorschein. Sie schüttelte es vorsichtig und besah sich den Inhalt gegen das Licht des Fensters. Die Flüssigkeit in der Flasche schimmerte grau und hinterließ einen irgendwie schmutzigen Eindruck. Tal nahm sich vor, mehr von dem Zeug zu brauen. Man konnte nie wissen und wie gesagt, sie selbst hätte den Zustand des Schmiedes sicher keine zehn Tage überlebt. Dann entkorkte sie die Phiole und sagte: »Er muss trinken. Wasser.«

Ughtred schrak aus seiner angsterfüllten Trauer und nickte dann. Neben dem Bett stand auf einer Holzplatte am Boden eine Karaffe aus Ton. Tal schüttelte genervt den Kopf, denn sie empfand die alltäglichen Gegenstände der Nyghs mehr als nur unansehnlich. Sie war zwar den Tand der Quink gewohnt, aber von den Nyghs hätte sie mehr erwartet. Doch was konnte sie schon tun? Sie waren eben keine Smavari.

Ungeduldig sah sie zu, wie der Jüngere dem Vater Wasser auf die gesprungenen Lippen träufelte. Ughnor, Tal hatte sich an den Namen des Vaters erinnert und schluckte schwer, als wäre das Wasser gemahlener Steinstaub. Dann hustete er und Ughtred sah sie alarmiert an.

Gebieterisch schob sie den jungen Nygh mit dem Hintern beiseite und duckte sich leise fluchend unter die hölzerne Dachschräge. Dann murmelte sie leise Hexenflüche und tropfte dem fiebrigen Schmied das Antidot auf die Lippen. Wie ein hungriger Wattwurm, kam die belegte Zunge des Mannes hervor und leckte über die Tropfen und Tal lächelte böse und gab ihm nur so viel mehr, dass er immer gieriger danach leckte. Dann erhob sie sich und stieß schmerzhaft mit dem Hinterkopf an einen Balken. »Quinkscheiße und Rattengalle«, fluchte sie  und hätte um ein Haar die Flasche mit der Medizin fallen lassen. Erbost als könne er etwas für ihr Missgeschick, wandte sie sich Ughtred zu und blaffte: »Das ist viel schlimmer als erwartet. Er muss noch mehrere Tage in Behandlung bleiben.«

Das war eine Lüge. Sie würde ihm tatsächlich noch einige Tropfen des Antidots geben, aber entweder es wirkte binnen der nächsten zwei, drei Stunden, oder er starb. Aber sie war sich Ughtred nicht sicher. Im Tagebuch war klar definiert, dass nur ein Skerge, also ein Nygh in die unterirdische Kammer von Undorn steigen und den Schatz daraus hervorholen konnte. Wenn der irre Abenteurer recht behielte, brauchten sie den Nygh unbedingt. Abgesehen davon, hatte sich der kleine Mann als überaus nützlich erwiesen. Der Phani wäre zumindest ohne ihn niemals hier angekommen. Wahrscheinlich galt dasselbe auch für Kyon und vielleicht auch für sie selbst.

Sie schluckte und sagte etwas freundlicher: »Jeden Tag drei Tropfen, aber denk daran Nygh, wir haben eine Abmachung, das Leben von diesem da, gegen den Schatz von Undorn.«

Ughtred sah ihr ins Gesicht. Der Nygh hatte etwas Raubtierhaftes. Seine Angst hatte sich tief in seine Augen gegraben, aber da war noch mehr. Stolz, Wut und Unbehagen mischten sich zu einer brodelnden Mischung und er stand kurz davor, diese unguten Gefühle auf sie zu kanalisieren. Er war alles andere als sicher, ob die paar Tropfen des Hexengemisches auch nur irgend eine positive Wirkung auf seinen Vater haben würden. Tal sah ihm an, dass er es ebenso wahrscheinlich einstufte, dass sie dem Kranken soeben den Todesstoß versetzt hatte.

Ihr Lippen zogen sich zu einem wölfischen Grinsen von ihren Lippen als sie sagte: »Er wird leben, Dieb.«

Ughtred wischte sich, mir der von seines Vaters Schweiß feuchten Hand, über das Gesicht und kniff die Augen zusammen. Dann presste er zwischen seinen Lippen die Worte: »Und ich halte meine Abmachungen«, hervor.

 

Kyon saß auf einem Holzbock neben der Veranda der Schmiede und stimmte seine Sirantari. Das Instrument hatte unter der Reise fast ebenso gelitten wie er selbst. Als er den bauchigen Rahmen ausgefaltet hatte, war ihm sofort der abgeplatzte schwarze Lack aufgefallen. Er hatte die Sachlage untersucht und mehrere Stellen entdeckt, an denen das Goldholz der Laute zu sehen war. Zum Glück waren die Saiten heil geblieben. Nach einer Weile hatte er sich mit der Situation jedoch versöhnt. Die Kratzer mit dem hindurchschimmernden Holz hatten etwas Verwegenes, wie er fand, und daheim in Shishney, würde man sicher noch mehr daraus machen können. Heroische Kämpfe gegen Draiyn von der doppelten Größe eines Smavari gingen nun einmal nicht spurlos an der Ausrüstung vorbei. Ein heftiges Ziehen in seiner Seite erinnerte ihn daran, dass besagter Kampf auch ihm einen Kratzer zugefügt hatte. Er schluckte den Schmerz herunter und verlagerte sein Gewicht und als er wieder aufblickte, stand ein kleines Männlein vor ihm. Das Ding hatte riesige Augen und winzige, hässliche Tierohren und aus seiner kaum vorhandenen Stupsnase lief ein Rotzfaden zu den ungläubig verzogenen Lippen herunter.

Er sog erschrocken die Luft ein und als hätte dieser Vorgang sich negativ auf die Realität um ihn herum ausgewirkt, gesellte sich von unter der Veranda ein zweites dieser Dinger zu dem ersten. Dieses trug eine grüne Kappe aus Filz und war nur unwesentlich größer als das erste. Das mussten die hiesigen Maskenmännlein sein und damit war sein Dasein als lebende und reale Person zweifelsfrei beendet.

Schon kamen noch drei weitere die Straße herauf und eins kam aus dem Haus gegenüber. Er drehte sich um, damit keins in seinem Rücken auftauchen konnte, aber natürlich war es längst zu spät. Drei Stück hatten sich seitlich an ihn herangeschlichen und eins von ihnen hatte tatsächlich eine winzige Armbrust auf dem Rücken.

Das wars, dachte er grimmig und ließ die Sirantari sinken, um sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Seine schmale Hand stahl sich zum Griff seines Silberstahldolches an seinem Gürtel, als das aller erste der garstigen Dinger den Rotz hoch zog und etwas in einer außerirdischen Sprache plärrte.

War das Nygh? überlegte er und ein schrecklicher Verdacht keimte in ihm. Konnten das hier etwa die hässlichen Maden der Nyghs sein? Sie waren noch kleiner als die Kinder, die ihnen vom Marktflecken aus gefolgt waren, aber das eine mit der Armbrust und der grünen Wolljacke passte natürlich in die besagte Kategorie.

Warum konnte er nicht in einer Welt der Schönheit leben, wie die Liedermacher und Philosophen sie beschrieben? Wo waren die weißen Hirsche mit den dreizehn Geweihenden über leuchtend blauen Gewässern, wo die Arunen mit ihren üppigen Brüsten und wo waren die Dryaden, die sich um ein leibliches Wohl kümmern wollten?

Er stupste mit der Stiefelspitze den Bauch des kleinen Rotzers und sagte in gebrochenem Nygh: »Ich sprache euch nur flach.«

Da lachten sie alle und der Junge mit der Armbrust trat von der Veranda in sein Blickfeld. Er wiederholte die Worte und korrigierte sie dann höflich und langsam und Kyon, dem es an Übung fehlte, versuchte so gut wie möglich nachzusprechen.

»Ich sprache eure Sprache nicht gut.«

»Spreche«, intonierte der Junge freundlich lächelnd und die anderen Kinder lachten mit Tränen in den schmutzigen Gesichtern.

»Ich sprache eure Spreche nicht gut.«

Jetzt fielen die ersten zu Boden und hielten sich die Bäuche. Eins der Kleinsten kam an sein Knie und wickelte seine pummeligen Arme darum. Es hatte ganz offensichtlich Mitleid mit ihm und er überlegte, wie die erwachsenen Nyghs wohl mit dem Konzept Kindermord umgehen würden.

Doch stattdessen hob er seine Laute auf und zog die letzte Saite fest. Drei Mal schlug er sie vorsichtig an und justierte ihre Spannung. Dann strich er über alle gleichzeitig und schob das Tonbord in eine andere Position, um die Modulierung zu ändern. Dieser eine Ton, dieses Ziehen und Summen der Smavarilaute drang in die Herzen der Kinder und ihre Augen bohrten sich in seine Seele. Er starrte seine Stiefel an und überlegte kur. Das Lied der weißen Gehilfin, die zum ersten Mal einer Kohorte von Speerträgern begegnete? Ungeeignet. Der Hobgoblintanz, den er in der Eindornigen Quink gelernt hatte. Eher nicht. Vielleicht das moraidische Kriegslied, in dem es um den alten Piraten mit nur einem Hoden ging! Sie würden es ohnehin nicht verstehen, und das Lied hatte einen lustigen Schwung und er fand, es würde kindgerecht genug daherkommen. Also drehte er die Laute auf und schlug den ersten Ton an. Er begann das Lied langsam und kniff verwegen die Augen zusammen. Er war ein Pirat, der sich über seinen Kapitän wegen dessen Unzulänglichkeiten lustig zu machen gedachte. Und dann schlug er die Laute an und spielte.

Das Lied erscholl durch die Straße der Schmiede und Türen und Fenstern wurden geöffnet. Der Seilmacher, einer von Ughtreds Nachbarn kam aus seiner Werkstatt ein Haus weiter und rieb sich an seiner Schürze die Hände trocken. Eine, für eine Nygh sehr hübsche Frau wie Kyon fand, kam aus einem Stall auf der anderen seite, trat näher und begann sich gleich zu der Melodie zu hin und her zu wiegen. Die Nyghs schienen sehr aufgeschlossen in Sachen Musik zu sein und binnen weniger Minuten hatte sich die Straße gefüllt.

Kyon war fast ein wenig verlegen. Wenn er bei Seinesgleichen aufspielte, war es ungleich schwerer, die Aufmerksamkeit der Massen auf sich zu ziehen und sie bei der Stange zu halten, war mehr oder weniger unmöglich. Silberwölfe ließen sich durch alles und jeden ablenken und ein halbes Lied war gerade lang genug. Daher erfreute die Art der Nyghs ihn auf eine ungewohnte Weiße. Er stand vorsichtig auf und hängte ein weiteres Stück an den Piraten. Diesmal entschied er sich für ›Die Liebe der Chentai‹ und intonierte es einfach, eine Tonlage heller als es ursprünglich gedacht gewesen war. Er sang leise und drohend und dann lieblich und hell und die einfachen Leute auf der Straße hingen ihm an den Lippen. Obwohl sie ihn nicht verstanden, spürten sie die Dinge, um die es in den Liedern ging. Da war die unsterbliche Liebe, die Verruchtheit des Bösen und die kühlende Gerechtigkeit des Karmas, die alle Übel der Welt neutralisieren konnte, wenn man es nur zuließ. Smavari und Nyghs, konnte das sein?

Er sah auf und heftete seine Augen auf das tanzende Mädchen mit den drallen Brüsten und dem fliegenden weizenfarbenen Haar. Ein Mann mit riesigen Pranken hatte ihre Hände ergriffen und sie drehten sich gemeinsam im Kreis. Kyon stampfte mit dem Stiefelabsatz auf das Holz der Veranda und eins der Kinder hatte einen Topf herbeigebracht und damit begonnen einen groben Takt auf dessen Boden zu schlagen. Da erwachte er. Glück war, nicht von Insektenmännern gefressen, auf einem Berg Lieder für hässliche Kinder aufzuspielen.

 

Tags darauf begann Ughtred endlich den Schlüssel zu schmieden. Im Tagebuch war nicht eindeutig zu erkennen, welcher der abgebildeten Schlüssel der Richtige war und es gab rätselhafte Hinweise darauf. Eine merkwürdige Zahlenkolonne wirkte wie eine Rechnung, anhand derer man hätte herausdeuten können, welcher Schlüssel es war. Aber Ughtred vertrat die Meinung, der alte Silberwolf, der diesen Unsinn geschrieben hatte, war auf keinen Fall klüger als sein Sohn gewesen und Kyon traute der Nygh keine Zahlenrätsel zu. Einer der Schlüssel war dick umkringelt. Den würde er schmieden. Wenn er nicht passen würde, müssten sie eben zurückkommen und es mit einem anderen probieren. Jetzt wo sein Vater gerettet war, hatten sie alle Zeit der Tiba Fe.

Er feuerte die Esse an und dachte: Alle Zeit vielleicht doch nicht. Der Vater, sobald er auf die Beine kam, würde Fragen stellen. Er kannte Ughnor. Der Schmied war nicht auf den Kopf gefallen und er würde wissen wollen, welche Gegenleistung die Wölfe verlangten, denn sie taten nie etwas für andere umsonst.

Mit starken Armen betätigte er den Blasebalg und schob Brennpaste und Holz nach. Dann gab er Feuertee und andere geheime Zutaten in die Esse, die dafür sorgen würden, dass er er nicht warten musste. Nyghessen brannten heiß.

Der Schlüssel sollte aus Kupfer hergestellt werden und hatte laut Aufzeichnung einen Kreuzförmigen Querschnitt. Er überlegte erneut, ob die Zahlen im Tagebuch nicht ein Hinweis auf eine Kombination waren. Andererseits war das Grab alt und er war skeptisch, ob man vor derart langer Zeit entsprechende Schlösser gefertigt hatte. Außerdem war der Schutz des Grabes nicht sein Schloss. Die giftigen Dämpfe waren deutlich wirkungsvoller als jede Zahlenkombination.

Behutsam legte er die Kupferhalbzeuge in die Schmelzpfanne und langte dann nach einer der leichten Zangen, um das Schmelzgut der Hitze zu überantworten. Dann spuckte er hinein, denn auch wenn sein Handeln alles andere als rühmlich war, gab ein Nygh immer etwas von sich selbst in sein Werk.

Unterdessen hatte er den Ton für die Grundform vorbereitet. Eigentlich würde er eine Form aus Eisen herstellen und somit immer wieder denselben Schlüssel gießen können. Aber dafür hatte er natürlich keine Zeit. Es würde so schon zwei bis drei Tage brauchen, um den komplizierten Schlüssel zu schmieden. Die Form hingegen bräuchte mehr als die dreifache Zeit für ihre Entstehung und er wusste ja noch nicht einmal, ob er tatsächlich am richtigen Profil arbeitete.

 

In der dieser Nacht verschwand Kyon. Ughtred hatte die beiden Silberwölfe in seinem Zimmer, im Untergeschoss der Schmiede einquartiert und als Tal in dem engen Zimmerchen erwachte und Kayon nicht neben sich fand, machte sie sich zuerst keine Sorgen. Wahrscheinlich wrang er nur irgendwo draußen seinen Schwanz aus. Er war ihr den ganzen Abend auf ie Nerven gegangen. Die Nyghs seien gute Zuhörer und er habe das Aufspielen so genossen. Bla bla bla, das Aufspielen und die fliegenden Haare der Mädchen – hätte er lieber ihre Saiten gezupft, dachte sie und verdrehte ihren Oberkörper zu einer halbwegs bequemen Position. Aber er kam nicht wieder.

 

Die Wölfin schlich in grünem Feuer aus dem Ort heraus. Alles um sie herum lag in tiefem Schlaf. Die Haut des Mannes hatte sie irgendwo hinter sich am Rande eines Hofes zurückgelassen und achtlos mit den Hinterläufen verscharrt. Jetzt wollte sie frei sein, laufen, dieses endlose neue Land erkunden und töten. Da war etwas, dort draußen, es hing mit der anderen Welt zusammen, die sie durch seine Augen sehen konnte wenn sie schlief. Etwas ebenso mächtiges und auch ebenso böses wie sie lebte in diesen dunklen Wäldern. Sie erhob ihre Schnauze in den kühlen Frühlingswind und nahm die Witterung auf. Es wäre einfach gewesen, ihren Hunger bei den Kindern der Titanen zu stillen. Ihre Höhlen waren nicht gesichert und sie hätte durch einen Kamin lautlos Welpen, Mann und Frau verzehren können. Aber diese Beute war es nicht, nach der ihr gelüstete. Sie war wütend und diese Wut musste heraus. Es war ihr ganz egal wo der Zorn herkam, was er mit ihr zu tun hatte und wo er hingehen mochte. Es spielte keine Rolle, denn er war da und er gab ihr Kraft und Wildheit – so wie es immer schon gewesen war bei ihrer Art.

Die lange dünne Schnauze am Boden suchte sie nach dem Weg, aber sie war noch zu weit entfernt. Hier roch es nur nach den Kleinen und sie wollte sich nicht den Appetit verderben. Also machte sie einen weiten Satz über einen Bach, erklomm eine Anhöhe mit frisch knospenden Bäumen und pinkelte genau in deren Mitte, wo vor vielen Jahreszeiten ein Mann gestorben war. Sie scharrte in der Erde und schnüffelte an ihrem Urin und dann heulte sie ein langes, klagendes Heulen. Einen Augenblick lauschte sie, aber die Antwort blieb aus. Dabei war sie sicher, hier im Revier einer der ihren zu sein.

Hopp hopp ging es weiter den Berg hinauf. Die Stämme der Bäume wurden dünner und gerader und anstelle von Laub sprossen lange dunkle Nadeln an ihren Ästen. Die Wölfin flog mit langen Sprüngen zwischen ihnen dahin und steckte die Nachtluft mit ihrem grünen Feuer in Brand.

Einmal bremste sie ruckhaft und feine Eissplitter flogen vom Boden auf und glitzerten in der hier oben eiskalten Luft. Sie schnüffelte, und ein großer Hase starrte sie zwischen den Felsen und Sträuchern hindurch an. Der Impuls ihn zu jagen, zu schlagen, zu zerfetzen und ein Blut zu trinken war übergroß und sie duckte sich flach zu Boden und wollte schon lossprinten, doch dann war es wieder da, dieser säuerliche Geruch, wie in der Höhle des kranken Mannes.

Sie entließ Herrn Löffel und wandte die bleichen toten Augen zum Gipfel des Berges hinauf. Dann tänzelte sie über den dichter werdenden Schnee. Sie prang über Klippen, kratzte einen Hang hinauf und als es so nicht mehr ging, entließ sie die Kräfte der Welt und schwebte ein Stück weiter hinauf. Dann fand sie einen toten Kadaver. Der Elch muss über achtmal so groß wie sie selbst gewesen sein. Nun lag er zerstückelt und vergiftet im Dreck und nicht einmal die Krähen wollten noch sein verdorbenes Fleisch. Die Wölfin schlug ihre Fänge in das Bauchfell des riesigen Tieres und riss ein Stück davon ab. Es schmeckte wirklich bitter und hatte jedes Leben verloren. Angewidert gab sie ihrem Schlingreflex nach und schluckte es herunter. Dies spornte den Zorn und das Feuer in ihren Eingeweiden noch mehr an und sie spie einen Strahl grün brennender Galle in den Schnee und setzte damit den Kadaver in Brand. Doch das Fell war zu nass und ihr interesse an der Vernichtung richtete sich auf andere Ziele und so versiegten die Flammen, wie sie aus ihr gekommen waren.

Drei Monde bahnten sich ihren Weg über den Himmel und luden die Wölfin zum Tanz. Sie versuchte erneut ihr Lied, aber wieder blieb es unerwidert. Nun gut, dann würde sie den Totentanz eben allein begehen.

Schließlich kam sie zu dem Bruch und schlich mit nervösem Schwanzzucken an der Kante auf und ab. Das Loch im Boden musste viele Millenien alt sein und war entstanden, als der Berg sich mit sich selbst entzweite. Vielleicht hatte auch einer der Titanen seinen Fuß darauf gesetzt und ein Stück war abgebrochen, wer konnte das sagen?

Knurrend sprang die Wölfin mit einem unglaublichen Satz auf die andere Seite, fand diese aber auch nicht besser und setzte wieder zurück. Die Realität verbog ich zwischen ihren Lefzen und ihre Zähne zogen daran wie an den Sehnen eines frisch erlegten Tieres. Dann hörte sie das peitschende Geräusch aus der Tiefe und wusste, was zu tun war. Ohne zu zögern und ganz ohne Drama, ließ sie sich über die Kante in die Tiefe der Erdspalte gleiten. Die Gletscherwände rasten an ihr vorüber als sie fiel und die Dunkelheit versuchte ihre Sinne zu überwinden, aber ihr Feuer, dass sich in ihr Fell zurückgezogen hatte begann wieder aus ihr hervorzubrechen und wütend zu Brüllen. Sie stürzte in die Tiefe und erwartete den ungebremsten Aufprall – und er kam. Der Schlag war stumpf und von solcher Wucht, dass die Realität um sie herum ein Vakuum bildete und über ihr zusammenstürzte. Knochen brachen, Organe wurden zerschmettert und eins ihrer Augen schoss aus ihrem zerborstenen Schädel. Sie sog die Luft in ihre toten Lungen und versuchte etwas zu erkennen, aber ihr Sein rang mit den Konzepten Leben und Tod und versagte ihr den Dienst. Also sog sie das Leben aus den Adern der Welt und presste es in ihre Existenz. Ihre Lefzen hoben sich und als sie die Schultern straffte ruckten ihre gebrochenen Rippen an die rechten Stellen. knurrend liebkoste sie den Schmerz und genoss das Rumpeln in den Ritzen der Realität. Ihre Wunden schlossen sich, Knochen schoben sich zurecht und das allumfassende Totenfeuer schmolz die Ränder zusammen und erschuf ihr Leben neu. So war es schon immer gewesen, vom Anbeginn ihrer Art – von ihrer und der Art der anderen; dort droben, auf der anderen Seite der Wand.

Als das Feuer sie zusammengebacken hatte stand sie auf und streckte sich wohlig. Sie stand in einer Höhle, zu der es nur einen Ausgang gab, und diesen war sie eben heruntergefallen. Das Ding war hier unten und es konnte nicht heraus one an ihr vorbei zu müssen. Gerade wollte sie den ersten Schritt machen, als ein riesiger Tentakel durch die Dunkelheit peitschte und orangefarbene Lichter aufglommen. Sie sprang zur Seite und erhöhte die Geschwindigkeit in einem Ausmaß, dass der Fels um sie herum stöhnte. Die Membran der Anderwelt wurde aufgerissen und ihr Knurren erscholl bis weit auf die andere Seite hinüber. Dann stürmte sie auf den unförmigen riesigen Feind ihres gegners zu. Sie sprang auf den runden Rücken, zerbiss Tentakel, grub ihre Klauen in gläserne Augen und durchtrennte giftige Sehnen und unwirklich durchsichtige Knochen. Das Ding war aus einem ähnlichen Stoff wie sie selbst, aber es konnte ihr nicht das Wasser reichen. Als man es erschuf, hatte man versucht das Böse in einen Leib aus Realität zu bannen, aber was wussten die da draußen schon über das Böse?

In einem lauten Knall zerbarst die Wölfin in unheiligem grünen Feuer und übergoss ihr wehrloses Opfer mit Raserei und fleischgewordener Brutalität. Fleischbrocken klatschten gegen die Wände der Grotte und das Gurgeln des Dings zeugten von seinem Todeskampf. Dann wurde es still. Hier und da zuckten dicke, fleischige Tentakel am Boden, als die Wölfin sich aus dem dampfenden Leib des zerbrochenen Unwesens grub. Ihr Fell war über und über von schleimigem orangen Blut bedeckt und ihre Flammen umzüngelten sie zufrieden und seltsam zaghaft. Der Zorn hatte sich kanalisiert. Sie war zufrieden und schlürfte ein Wenig des stinkenden Blutes. Sie suchte nach dem Herzen des Dings und fand gleich mehrere und zerbiss sie sicherheitshalber. Dann tat sie dasselbe mit dem Geschlecht des Unwesens und am Ende durchsuchte sie noch die Höhle nach Eiern oder Welpen, doch sie fand nichts dergleichen und entschied sich, auf den Rest zu pissen.

Ruhig ging sie zu dem Riss in der Decke zurück und blickte nach oben. Der Blutmond starrte zufrieden zu ihr herunter und tauchte die Szene in sein grauses rotes Licht. Sie begrüßte den alten Freund mit einem schaurigen Geheul und dann entließ sie erneut die Kräfte der Welt und schwebte aus der Dunkelheit ins Licht hinauf. Wie ein Todesengel aus den tiefsten Höllen schwebte sie in die Welt zurück und glitt oben in den Schnee.

Ein letzter Blick hinunter und in sich hinein und dann machte sie sich auf den Rückweg. Sie kannte keine Verantwortung, aber sie empfand dennoch eine seltsame Dringlichkeit in ihrem Handeln. Der Mannwolf hatte Aufgaben und sie mochte Aufgaben. Sie hatte ihre erledigt und jetzt überkam sie wohlige Müdigkeit. Hinab, hinab hüpfte sie, trunken vom giftigen Blut des Unwesens. Als sie die Häuser der Sterblichen erreichte, wurde sie vorsichtig. Die Nacht war weit fortgeschritten und sie wollte unsichtbar bleiben. Da war das Haus, und jemand hatte nach ihr gesucht. Irgendwo im Schatten lauerte der kleine Mann und beobachtete sie. Er war schlau, der kleine Mann und vielleicht würde sie ihn fressen müssen. Aber nicht jetzt.

Sie schwebte einige Zentimeter mit schlaff herabhängenden Gliedern über den Boden. Wo ihr grünes Höllenfeuer die Steine berührte, blieb es kurz kleben, flackerte und erlosch dann. Es schien nichts zu entzünden und war kalt wie fast immer. Sie erreichte die verschlossene Tür der Schmiede und wollte still und leise hindurch schweben, doch das Hindernis gab nicht nach, als sie mit der Nase dagegen stupste. Also hob sie eine Vorderklaue und begann zu kratzen und winselte dabei leise. Da nichts geschah, nahm sie die zweite Pfote zu Hilfe und kratzte heftiger. Ihre Versuche wurden immer zorniger, bis sich die Tür endlich öffnete und ihre Schwester verdutzt auf die mondbeschienene Straße heraus blinzelte.

 

Tal hatte Ughtred geweckt und dieser war auf die Straße hinausgegangen, um nach Kyon zu sehen. Sie hatte eine Weile gewartet, aber dann war sie in die Kammer zurück gegangen. Sollte der Blödmann sich doch mit einer der Nyghweiber vergnügen. Er würde schon sehen, was er sich in ihren Spalten holte und dann bräuchte er gar nicht angekrochen kommen.

Sie war wach gelegen und hatte den roten Widerschein des Mondes beobachtet, der durch die Ritzen der Fensterläden zu ihr drang. Doch dann hatte sie das Kratzen an der Außentür vernommen. Einen Moment dachte sie, Ughtred hätte seinen Schlüssel vergessen, aber dann erinnerte sie sich, dass es hier offenbar überhaupt keine Türschlösser gab. Dennoch stand sie nackt wie sie war auf, ließ die Decke zu Boden gleiten und trat in den kalten Hauptraum hinaus.

Unter dem Türspalt drang grünliches Licht herein und sie riss die Augen auf, als sie das leise Winseln der Wölfin vernahm. Bei allen Geistern, dachte sie und langte nach dem Holzriegel, um ihn vorsichtig aus der Halterung zu schieben.

Die Tür glitt langsam in den Raum und der hagere Leib der Wölfin schwebte hinterdrein. Tal stolperte einen Schritt zurück und stieß etwas von einem der niedrigen Schränkchen und sofort schoss der Höllengeist unter den Tisch und presste alles Licht von sich weg. Eine Zone der undurchdringlichen Finsternis entstand unter dem stabilen Möbelstück und Tal ging in die Knie und streckte beruhigend eine Hand aus. Sie grub in der feinstofflichen Welt nach den Fäden der Realität und entließ ihre Kraft, die Sprache der Tiere zu beherrschen in die kühle Luft des Zimmers. Vorsichtig sprach sie die Wölfin an, schnurrte beruhigende Laute, erhielt aber keine Antwort. Es verging eine Minute der Ewigkeit und schließlich lichtete sich die Finsternis unter dem Tisch doch ein wenig. Tal sah aus dem Augenwinkel die Silhouette des Nyghs im Türspalt und machte ihm ein Zeichen, nicht näher zu kommen. Instinktiv spürte sie die Verworfenheit dieses Geistes und erkannte die damit einhergehende Gefahr. Dann hörte sie ein seltsames Würgen und Keuchen unter dem Tisch und dann ein widerlich schleimiges Platschen.

Plötzlich schlitterte etwas längliches, lange Schleimfäden hinter sich herziehndes über die Holzdielen des Bodens und kam zuckend vor ihr auf. Es bewegte sich, war an einem ende zerfetzt und am anderen stülpte sich gerade ein langer, gefährlich bläulich schimmernder Dorn aus und verharrte dann reglos. Tal dachte zuerst an eine Art Schlange, oder einen Wurm, aber dann verstand sie, dass dieses widerlich stinkende Stück Fleisch, vor Kurzem noch Teil einer viel viel größeren Kreatur gewesen sein musste. Es war ein Tentakel mit einem Giftstachel am Ende. Des Nyghs Fluch, dachte Tal und kniff die Augen zusammen, um in die immer dünnere Finsternis unter dem Tisch zu starren.

Dort erlosch gerade grünes Feuer. Rippen brachen auf und ein Mann erwuchs aus dem Kadaver des Wolfsgeistes. Er stieß mit dem Kopf gegen die Tischplatte, stöhnte und fiel nach vorn. Glitschig von Amytorenblut und mit Resten des dornigen Wolfspelzes bedeckt, schlitterte er, bei halbem Bewusstsein unter dem Tisch hervor, in Tals ausgestreckte Arme.

 

»Sie hat den Amytoren getötet Kyon. Es ist fast, als hätte sie es für uns getan, denn warum hätte sie mir sonst den Gifttentakel vor die Füße werfen sollen?«

Es war früh am Morgen und Tal, Ughtred und Kyon hockten zusammen hinter dem Haus auf einem Baumstumpf und einem alten Schlitten. Kyon schüttelte den Kopf, weil er sich wie immer in dieser Situation überfordert fühlte. Ihm fehlte jede Erinnerung an die Werwölfin und er konnte nur glauben, was die Hexe und der Nygh ihm erzählten.

Ughtred nickte und murmelte: »Diese Wesen tun seltsame Dinge.«

Er rieb sich mit den Fingern über die Stirn und rutschte von dem Schlitten herunter. Dann sagte er: »Wie es aussieht, können wir an dieser Front ohnehin nichts ändern und ihr werdet kaum auf euer kleines Abenteuer verzichten. Ich werde in die Schmiede gehen und meine Arbeit beenden. Heute Abend wird der Schlüssel fertig sein. Wollen hoffen, es ist der richtige.«

 

Und tatsächlich, als sie am Abend am Tisch saßen und das Essen, dass ihnen eine der Nachbarsfrauen gebracht hatte aßen, holte Ughtred verstohlen einen Gegenstand aus der Tasche und legte ihn zwischen die Holzschalen und Töpfe. 

Er glänzte metallisch rot und sah für Tal und Kyon fremdartig aus. Smavarische Schlüssel sahen zumindest optisch ganz und gar anders aus. Dieses Ding hatte einen runden Griff und lief in eine kurze kreuzförmige Stange aus, an deren einem Holm ein winziger Knuppel saß. Er wirkte schwer und grob und Kyon hatte Zweifel, ob er irgendein Schloss öffnen würde. 

Ughtred nickte grimmig, denn er hatte die Gedanken des Silberwolfes gelesen und knurrte: »Wenn euer Vater sich nicht irrte, wird er passen. Ich habe meine Arbeit getan.«

Tal erwiderte: »Kaum genug Herr Dieb.«

Der Angesprochene rieb sich die Stirn und nickte. »Ich werde euch nicht allein mit dem Schatz von Undorn ziehen lassen, soviel ist sicher.«

Er nahm einen Schluck Gerstensaft und fügte hinzu: »Wir bleiben zusammen und am Ende bringe ich den Schatz nach Undorn zurück.«

Tal und Kyon grinsten beide übertrieben Wölfisch und der Nygh schüttelte genervt den Kopf und nahm einen weiteren tiefen Schluck aus seinem Humpen.

»Warum also nicht aufbrechen? Der Tag scheint mir so gut wie jeder andere«, sagte er.

Tal sah Kyon an, als wolle sie fragen: geht das überhaupt, aber der Barde stand ebenfalls auf und wandte sich wortlos der Hintertür der Schmiede zu. Das kleine Abenteuer, dachte er. Draiynspeere und Werwölfe, Lopen und was noch? – er war alles andere als guter Dinge und für ihn sah der Tag auch nicht annähernd so rosig aus, wie er es offenbar für den Nygh tat.

Draußen unterhielten sie sich noch eine Weile. Tal und Kyon setzten sich auf eine Holzbank neben einem Baumstumpf und die Hexe fragte den Barden, wie er sich fühlte, Kyons Verletzung war nicht ausgeheilt, aber er ging davon aus, dass der Nygh die Arbeit in Undorn übernehmen würde und nickte nur. Es würde gehen.

Schließlich kletterte Tal auf den Baumstumpf und hob die Faust gen Himmel. »Auf zu unserem kleinen Abenteuer«, rief sie und der Nygh schüttelte nur den Kopf, als sie herunter sprang und ihren Sturz mit einem durchaus eleganten Purzelbaum abfing und in einer Bewegung wieder aufstand.

 

Tatsächlich war der Morgen schön. Es herrschte noch etwas Nebel vom Vorabend und die Sonnen schlummerten noch am Horizont. Die Luft roch nach Frühling und überall zeigte die Natur ihr Erwachen. Auf dem Weg aus Dranought heraus, kamen sie an vielen Höfen vorüber und als sie die große Trinkhalle erreichten, entschieden sie, doch noch zu frühstücken. Sie setzten sich auf eine der Steinbänke und sahen den Nyghs bei ihren Unterhaltungen zu. Gerade kam Ughtred vom großen Feuer zurück, er war aufgestanden, um von dort Brot und Suppe zu besorgen, als ein anderer Nygh sich am Tisch vorstellig machte. Er verneigte sich und sagte höflich seinen Namen und den Grund seines Auftretens.

»Die Große Göttin mit euch, ich heiße Uthrand und ich bin ein Wollweber und ich habe ein Problem und wenn es anders wäre, würde ich euch nicht belästigen, aber ihr seid Hexe und Hexer und ich weiß nicht mehr weiter ohne Hilfe.«

Hexe und Hexer sahen den kleinen Mann verdutzt an und glichen ab, was sie mit ihren bescheidenen Kenntnissen der Landessprache verstanden zu haben glaubten.

Ughtred, Ughnor, Uthrand, alles so seltsame Namen, dachte Kyon und schüttelte den Kopf. Dann sagte er: »Ich bin Barde, kein Hexer.«

Tal lachte leise und sagte: »Wo drückt denn der Schuh Herr Nygh?«

Der Angesprochene wurde tatsächlich rot und stammelte etwas Unverständliches vor sich hin. Dann übernahm zum Glück Ughtred die Unterhaltung und befragte den Wollweber, was geschehen sei.

»Ite frisst kein Heu«, sagte der Befragte und Ughtred rollte mit den Augen. »Ist das deine Frau, dann wäre es ja kein Wunder oder?«

»Es ist mein liebstes Schaf und es isst nun kein Heu mehr.«

Es war Ughtred anzusehen, dass er mit seiner Geduld rang, aber Tal fragte: »Warum denn? Ist das Tier denn krank? Vielleicht kann ich ja wirklich etwas tun.«

Uthrand räusperte sich und schüttelte den Kopf. »Sicher ist sie nicht krank«, sagte er seltsam verdrossen.

Ughtred hakte nach: »Hat sie denn was ungewöhnliches gegessen?«

Der Gefragte nickte unsicher und sagte: »Vor einigen Tagen waren schon einmal Fremde hier in Dranought. Boten aus der großen Stadt Roan. Sie haben ihr etwas gegeben und  nun isst sie das Heu nicht mehr … also gar nicht. Immer dünner wird sie. Dabei war sie so prachtvoll.«

Er spielte mit seinem Wollpullover, der zweifelsfrei aus Schafswolle bestand und alle starrten das Kleidungsstück an, als beinhalte es die Antworten auf all ihre Fragen.

Dann sagte Tal in die Stille hinein: »Ach was, ich rede mal mit ihr.«

Nun starrten alle sie an, aber Ughtred wusste ja, dass die Hexe mit Tieren sprechen konnte, also nickte er und sagte, man solle aber keine Zeit vergeuden. Hopp hopp, ging es zu Uthrands Hof, wo sofort eine Gruppe von Schafen an das Gatter gelaufen kamen, um zu sehen, wen er mitgebracht hatte.

Kyon hielt sich anstandshalber zurück, er hatte es so gar nicht mit Tieren und beschloss, am Weg zu warten. Ughtred hingegen interessiert sich für die Sache. Er konnte die Beweggründe für die Handlungen der Silberwölfe nach wie vor nicht zuordnen und wunderte sich, dass die Hexe so bereitwillig helfen wollte. Am Ende würde er das Schaf noch von ihr retten müssen.

Tal deutete mit dem Kinn auf die Herde und fragte, welches denn nun das Besagte sei und dass sie doch alle sehr passabel aussähen, doch Uthrand schüttelte nur den Kopf, öffnete das Gatter und trat auf die kleine Wiese hinter seinem Haus.

Tatsächlich stand hier ein einzelnes Schaf und tatsächlich wirkte es ein wenig abgemagert. Sofort wirkte Tal ihre feinstoffliche Magie und griff nach der Gedankenwelt des Tieres. Es fiel ihr leicht, denn es war so, als ob das Schaf froh war, endlich jemanden gefunden zu haben, der es verstand.

»Warum isst du kein Heu, Schaf, es ist gut für dich«. fragte Tal und Ite antwortete nervös: »Das Andereeeeeeeee ist abeeeer beseeeeer für mich.«

Tal seufzte und sagte: »Was ist denn das Andere?«

»Eeeeeeeeees ist gut, leeeeeeeeeeckeeer und fein«, gab das Schaf begeistert zurück.

Da erboste sich die Hexe und rief: »Du Schaf wirst Heu essen, denn Schafe essen Heu! Iss das was du hast, sonst werden sie dich schlachten!«

Ite meckerte ängstlich und versuchte widerwillig einen Holm, den sie vom Boden aufgeklaubt hatte. Angewidert kauend murmelte sie: »Aber das Andereeeeeeee …«

Tal schimpfte noch eine Weile mit Ite dem Schaf und als sie sicher war, ihren Standpunkt und die Folgen weiterer Zuwiderhandlung klar zur Sprache gebracht zu haben, wandte sie sich dem Schäfer zu. Sie ließ die psionischen Bänder los und konzentrierte sich auf ihr Nygh, was gar nicht so einfach war, nach dem ganzen Gemeckere.

»Dein Schaf wird Heu essen Uthrand«, sagte sie überzeugt.

»Ite ist nicht mein«, konterte er und fügte dann lakonisch hinzu: »Sie lebt nur hier bei mir und gibt mir dafür ihre Wolle.«

Im ersten Moment musste Tal sich sehr zusammenreißen, denn sie hatte nicht die Nerven, sich mit der Philosophie der kleinen Leute auseinanderzusetzen, aber Ughtred nickte bestimmt und so wiederholte sie nur ihre Worte: »Das Schaf wir wieder fressen.«

Uthrand nickte freudig, schien aber noch nicht ganz überzeugt. Dennoch kramte er in seinen Taschen und hielt der Silberwölfin zwei Hand voll Goldwürfelchen und Gemmen entgegen. Diese starrte ihn an, war dann aber sofort geistesgegenwärtig genug, die dringend notwendigen Ressourcen an sich zu nehmen. Unter diesen Umständen, würde sie noch viele Schafe vom Hungertod retten. Sie überlegte kurz, was das ›Andere Essen‹ gewesen sein könnte, denn ihr kam ein praktisches Geschäftsmodell in den Sinn, aber dann beließ sie es bei der Freude über die soeben leicht erhaltenen Ressourcen.

 

Sie hatten sich bei Uthrand und Ite verabschiedet und wanderten nun im immer noch frühen Morgen einen kleinen Pfad aus Dranought hinaus. Der Weg führte sie nach Nordost und sie waren alle drei schweigsam. Dabei hatten sie nur leichtes Gepäck, da Ughtred den Weg gut kannte und der meinung war, sie würden noch vor Abend zurückkehren.

Als die Sonnen aufgingen, war der Wald von Undorn erreicht und schirmte sie vor der harten Strahlung ab. Einmal begegneten sie Landwächtern in leichten Rüstungen. Die vier Nyghs waren allerdings ordentlich bewaffnet. Sie trugen Armbrüste, Äxte und Lanzen und machten einen überaus wehrhaften Eindruck. Doch trotz ihres stählernen Auftretens grüßten sie die drei Wanderer freundlich und rieten Ughtred, seinen Silberwölfen doch den alten Grabhügel von Undorn zu zeigen. Die drei blieben betreten stehen und dann reagierte Ughtred und nickte höflich, ja, man wäre auf dem Weg dorthin, im Frühling sei es da ja auch besonders schön.

Arglos zogen die Krieger weiter. Sie waren auf dem Weg nach Hause und Ughtred schien darüber besonders beruhigt, denn man unterhielt keine dauerhafte Wache am Grab, sondern sah nur ab und an nach dem Rechten, und wenn sie jetzt gerade oben gewesen waren, würde zumindest heute niemand mehr stören. Er verstummte jedoch sofort und überdachte seine Worte. Stören, ja, er war es, der nach so vielen Millenien die Ruhe der Toten stören würde. Und für was? Für die Grillen zweier Silberwölfe. Ja, ja, für das Leben seines Vaters, versuchte er sich zu korrigieren. Schafe retteten sie für Gold und Steine. Er trat nach einem kleinen Findling und knurrte in seinen Bart.

 

Nach kaum zwei Stunden der Wanderschaft erreichten sie eine Anhöhe mit besonders schöner Aussicht über das Tal von Dranought. Man konnte von hier die vorderen Schutztürme und den Übergang des Gebirges in die weiten Marschlandschaften im Westen sehen. Richtete man seinen Blick jedoch gen Süden, wurde aus dem Horizont das schmale, grau-beige Band Draiyn Andileds. Bedrohlich bedeckte es alles Sichtbare in dieser Richtung. Die drei blieben stehen und Tal sah, wie Kyon sich an die Seite fasste. Die Speerwunde war noch nicht verheilt und ihm war eindeutig das Unbehagen ins Gesicht geschrieben, wieder in die Wüste hinaus zu müssen.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, hatte er plötzlich den Kristall seines Vaters in der Hand und suchte mit flirrenden Augen nach einer bestimmten Stelle. Er sah kurz wieder zum Horizont hinaus und dann legte sich der Text dünn und durchsichtig über das Landschaftsbild.

Leise las er vor: »… Um nun erneut zum Sandmeer zu gelangen, ist es gut, nach Westen auszuweichen. Viele Tage geht es hier im kühlen Waldesschatten und erst wenn südlich Felsengründe weichen führt der Pfad zur Wüstenei.«

Ughtred knurrte: »Die Ruine ist sicher nicht weit von der Marschgrenze entfernt. Sonst hätte das keiner von euch Silberwölfen schaffen können. «

Einen Moment lang sah Tal ins Licht der Sonnen hinaus, dann beschattete sie ihr Gesicht und sagte: »Er hat recht, Herr Baladenschmied. In der Tiefe der Wüste gibt es nichts für uns.«

Der Nygh löste sich von den düsteren Gedanken und machte Kyon ein Zeichen, er solle das Tagebuch seines tollen Vaters wegstecken und ihm folgen. Tal schon Kyon von hinten den Pfad hinauf, aber weder das eine, noch das andere konnte ihn aufheitern. Die Vorstellung von der Wüste war wirklich zu viel für ihn.

Als sie nach einigen Minuten wieder im Wald angekommen waren, zog eine Wolkenschar über den Himmel und verdunkelte die Umgebung. Ughtred knurrte, denn ihm wäre der Sonnenschein lieber gewesen, aber die beiden Silberwölfen waren mit dem Zwielicht zufrieden.

Schließlich deutete der Nygh voraus auf den schmaler werdenden Pfad und sagte mit ehrfurchtsvoller Stimme: »Undorn, das Grab der Alten. Hier ist es.«

Im ersten Moment konnten weder Tal, noch Kyon etwas erkennen, denn vor ihnen lag immer noch der Wald mit seinen trutzigen Bäumen, deren Äste in alle Richtungen abstanden und so ganz anders aussahen wie die schlanken Nadelbäume Kisadmurs. Doch dann sahen sie den sanften Hügel, auf den der Weg sich zuschlängelte und in der Dunkelheit war bald auch das Tor zu erkennen.

Undorn war nichts weiter als ein großer, nicht sonderlich hoher Grabhügel, auf dem darüber hinaus Dutzende von uralten und entsprechend mächtigen Bäumen wurzelten. Würde man diesen Ort von der Rückseite aus besuchen, wäre die Chance, seine Bedeutung zu erkennen, praktisch ausgeschlossen. Man könnte sich oben niederkauern und sein Frühstück genießen, ohne je zu erfahren, dass unter der Rastdecke die ältesten Könige Korezuuls vermoderten. Nur auf der Dranought zugewandten Seite, befand sich eine flache Stelle, die man als Wand bezeichnen könnte, und genau hier führten vier niedrige Treppenstufen aus Stein zu der durchaus beachtlichen Tür.

Für smavarische Verhältnisse war das Tor von Undorn natürlich eher unauffällig. Das große Tor, welches in die Zitadelle von Shishney führte zum Beispiel, maß über zwölf Meter in der Höhe und war gut fünf Meter breit. Seine zwei Flügel liefen nach oben hin spitz zu und bestanden ganz und gar aus dem Material, aus dem auch die Kiehle von Schwanenfedern waren. Es schimmerte unnatürlich und war nur zum Teil opak. Es gab weder Schlüssel noch Funktion, und seine Scharniere bestanden aus purem Silber. In jedem der beiden Flügel war der Geist eines Smavari gebunden worden. Dies war natürlich freiwillig geschehen. Beide hatten sich exakt aufeinander eingestimmt und waren zu einer liebevollen und immerwährenden Einheit verschmolzen. Ihnen allein oblag es, die Torflügel mittels ihrer psionischen Kräfte zu öffnen oder, wenn sie dies entschieden hatten, geschlossen zu halten und mit einem unüberwindlichen Schild zu stärken. Ihre Entscheidungen konnte nicht einmal die Herrin Shishney erzwingen. Niemand kann dies. Sie öffnen und schließen, wie es ihnen richtig erschien. Natürlich taten sie es den Belangen der Obrigkeit zu Gunsten, doch es konnte tatsächlich vorkommen, dass sie eine Fehlentscheidung treffen und das Tor geschlossen blieb, wenn es eigentlich hätte öffnen sollen. Dann bleibt nichts übrig, als zu warten oder höflich auf sie einzuwirken, ihre Entscheidung zu überdenken. Allerdings spräche man in einem solchen Fall im wahrsten Sinne des Wortes gegen eine Wand, denn die Geister von Smavari, die in Gegenstände eingebunden worden waren, unterhielten sich nicht mehr, sie hörten zu, aber sie redeten nicht.

Undorn war anders. Es war gleich zu erkennen, dass dieses Tor unbeseelt und von mondäner Beschaffenheit war. Es bestand aus Kupfer und wie ein Gitter aus Stahlschienen auf. Die Oberfläche war grün und dunkel angelaufen und überall befanden sich Flechten und Moose. Von außen waren keine Scharniere zu erkennen. Wer auch immer dieses Tor geschaffen hatte, es war seine Absicht gewesen, es stabil zu bauen und dies schien ihm gelungen zu sein.

Ughtred war als erstes die vier Stufen hinaufgegangen und legte seine Hand auf das grünspanige Kuper. Er Strich liebevoll darüber und berührte die eher kleine Erhebung, in der sich das Schlüsselloch befand. Kreuzförmig, wie im Tagebuch beschrieben. Als Junge hatte er nie darauf geachtet. Er war oft hier oben gewesen, hatte hier mit seinen Freunden gespielt oder Pilze gesammelt. Er hatte mitten auf dem Hügel das erste Mal ein Mädchen geküsst. Aber auf die Öffnung für den Schlüssel hatte er tatsächlich nie geachtet.

Der Legende nach, hatten die Alten die Grabhalle mit den Helden der Vorzeit gefüllt. Doch Undorn war nicht sonderlich groß. Vielleicht zwanzig Leiber, nicht mehr lagen hier unter dem feuchten Waldboden. Als alle Plätze belegte gewesen waren, hatte man den Hügel mit giftigen Spore geflutet, die Tür geschlossen und den Schlüssel in eine tiefe Erdspalte irgendwo im DranˋOrad geworfen. Kein Nygh wäre jemals auf die Idee gekommen, darüber nachzudenken, dieses Tor jemals wieder zu öffnen.

Ughtred hatte auch noch nie zuvor von eine Schatz innerhalb des Hügels gehört. Ja, es war durchaus möglich, dass man dem einen oder anderen Helden etwas von seinem Hab und Gut gelassen hatte, aber nur wenn es sich für die Gemeinschaft als unbrauchbar erwiesen hatte. Es war in ihre Kultur üblich, die materiellen Besitztümer von Verstorbenen auf die Gemeinde zu verteilen. Jeder durfte sich ein Stück nehmen, egal wie gut er den Verstorbenen kannte und nur was am Ende übrig blieb, würde man dem Grab überantworten. Wenn es niemand anderes wollte, musste es eine ideellen Wert für den Toten haben den wahrscheinlich nur er selbst kannte.

In der Vorstellung Ughtreds war es sehr merkwürdig, dass damals niemand diesen Kristall hatte haben wollen. Eine Karte der ganzen Tia Fe, die alle Schätze dieser Welt anzuzeigen vermochte, das war ja wohl was. Andererseits war sein Volk in solchen Dingen recht eigen. Die Wissenswahrer gaben viele Dinge dieser Art nicht für die Allgemeinheit frei. Er hatte das am eigenen Leib gespürt. In den Archiven bei der Ratshalle im ewigen Stein lagerten sie tausende von Kristallen, Schriftrollen und Büchern und erlaubten es niemandem, sie zu lesen. In diesem Wissen läge eine große Gefahr. Man müsse sich nur die Wüste ansehen, um zu begreifen, dass übermäßiges Wissen zu Tod und Verderben führte. Er hatte dies nicht akzeptieren können. Mehr durch Zufall hatte er einen geheimen Zugang zu den Hallen des Wissens gefunden und war dort eingedrungen. Er hatte gelesen und sich ab und an eine der Kristalle geborgt, um daheim weiter lesen zu können. Nun nannten sie ihn Dieb.

 

Er sah sich nach den Silberwölfen um und sagte dann barsch: »Das ist es.«

Die beiden sahen sich an und schließlich fragte Tal: »Gibt es hier oben noch andere Tore wie dieses?«

Er rieb sich über die Stirn und holte den Schlüssel aus seinem Wams. Er hatte ihn an einer dicken Schnur um den Hals getragen und diese hatte seinen Nacken wund gerieben. Er hätte eine weiche Schnur nehmen können, aber das hatte er nicht gewollt. Nun nahm er den Schlüssel ab. Er würde ihn die ganze Reise über an diesem kratzenden Ding um den Hals tragen. Es würde ihn daran erinnern, dass er Undorn einen Schwur geleistet hatte. Er würde alles, was er jetzt daraus hervor holte, wieder hierher zurückbringen. Im Laufe der Zeit würde sein Nacken verheilen, aber seine Erinnerung an den Schwur würde frisch bleiben. Er würde den Schlüssel ein zweites Mal benutzen und seine Schuld den Toten gegenüber begleichen.

Zögernd hob er die Hand mit dem schweren Kupferschlüssel und berührte mit dessen Ende das Metall des Rahmens. Er klopfte dreimal damit gegen eine der Streben und lauschte einen Moment, als warte er darauf, tatsächlich von innen eine Antwort zu erhalten. Doch dann überwand er seinen Unmut, steckte den Schlüssel in die kreuzförmige Öffnung und erkannte sofort, dass er passte. Ein letztes Mal dachte er über die Drehrichtung und eine eventuelle Kombination nach, aber dann drehte er den Schlüssel langsam nach rechts.

Er lief, wie er erwartet hatte absolut widerstandslos und leicht. Nach zehn Umdrehungen gab es ein leises Klacken. Etwas in der Tür war direkt unter dem Schlüsselloch nach unten gefallen. Die Tür war entriegelt.

Tal sagte: »Und wenn ich doch in North dringe und mit dir komme Nygh?«

Der Angesprochene drehte sich nicht nach ihr um, murmelte aber mit Nachdruck in der Stimme: »Ja, gute Idee, dann wird dein armer Bruder sich in den Dämpfen auflösen und endlich Ruhe finden.«

Die Hexe schwieg, ab er beide Silberwölfe machten einen Schritt von dem Totentor weg, denn Ughtred hatte es nur einen Spalt weit aufgezogen und schon roch die Luft nach etwas seltsam Spitzem, dass ihre Atemwege kitzelte. Der Nygh schnupperte und nickte. Er kannte den Totenpilz und wusste um seine tödlichen Sporen. In diesem Grab, lebte nichts mehr, nicht einmal ein Wurm.

Er straffte die Schultern und zog das Tor weit genug auf, um sich durch die Öffnung zu zwängen. Er hatte keine Lust, auch nur eine Sekunde zu lange hier oben zu verweilen. Am Ende kämen die Waldhüter doch noch zurück und dann würde diese Unternehmung ein jähes und für alle Beteiligten unerfreuliches Ende nehmen.

Als er eintrat, füllten sich auch seine Lungen mit den Sporen des Todes und er konnte fühlen, wie sein Körper sich gegen die Erreger zu wehren begann. Er verspürte keine Angst, aber er wusste auch, dass die Pilze ihm nichts anhaben konnten. Dennoch stieg die Angst in ihm immer höher, als er in die Grabkammer eindrang. Wenn er einatmete, überkam ihn ein stechender Schmerz und veranlasste ihn dazu, nur noch flach zu atmen. Er sah sich um und seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Dann stellte er fest, dass es gar nicht so dunkel war. Winzige, glimmende Pilzköpfe verwandelten die Grube in ein Zauberland aus Wurzeln und toter Erde. Die Bäume hatten sich durch die Decke ins Erdreich gegraben und hingen nun als feine Fäden von der Decke. Und er hatte Recht behalten. Nichts lebe hier unten. Es gab nicht einmal Käfer oder andere kleine Tiere. Einfach nichts konnte diese Konzentration des Pilzgiftes überleben – nur die steinernen Lungen der Skergen.

Vom Eingang zur ersten Liegestelle waren es ein paar Schritte, doch dann kam er zu einem schlichten Sockel, auf dem zwei Skelette lagen. Es war noch Haut an den Knochen und er erkannte in einer der Leichen einen Mann und in der anderen eine Frau. Eng umschlungen ruhten sie hier für die Ewigkeit. Direkt dahinter und gegenüber gab es weitere Sockel mit Toten. Von tiefer Ehrfurcht erfüllt, ging er weiter und zog den Kopf ein, um einer starken Wurzel auszuweichen. Dahinter gab es noch mehr Sockel und Skelette und dann lag da am Boden ein Schädel. Eine der Wurzeln musste ihn von seinem Ruhebett geschoben haben. Ughtred bückte sich und hob ihn vorsichtig auf. Er fand das dazugehörige Skelett und legte den Schädel behutsam dazu. Dann erblickte er etwas golden Glänzendes zwischen den Knochen.

Mit vorsichtigen Bewegungen griff er danach und zog eine unterarmlange Klinge hervor. Er blinzelte und schlug das Kurzschwert gegen seinen Schenkel, um den Dreck abzuschütteln. War dies mit Absicht geschehen? Er hob das Schwert an. Es war wirklich sehr alt. Seine Klinge, der Griff und die Berge bestanden aus Messing. Niemand würde heute eine Waffe aus diesem Material schmieden. Ein Hieb mit einer Stahlwaffe und das Messing würde zerbersten. Aber Ughtred kannte die alten Sagen. Diese Klinge würde alles Untote fernhalten und sogar in Brand stecken. Die alten Helden hatten sie ihm gegeben. Wenn er Undorn verließ, um in der weiten Welt ein Abenteuer zu bestehen, würde sie ihm helfen, den Kristall zurückzubringen. Er musste keine Sekunde länger darüber nachdenken. Dieses Schwert würde seinen Schwur kräftigen.

Festen Schrittes und das Brennen in seinen Lungen ignorierend ging er bis ans Ende der Grabkammer. Hier gab es einen winzigen Sarg, der höchstens für ein Kind gereicht hätte. Der Sargdeckel bestand aus Stein, war aber im Laufe der Zeit zerbrochen und ins Innere gefallen. Er hob zwei der größeren Platten heraus und griff in den Dreck im Sarg. Hier gab es keine Kinderleiche und es hätte ihn auch gewundert, wenn es so gewesen wäre. Doch dann stießen seine Finger auf etwas anderes hartes und er griff zu. Als er die Hand hob, spürte er schon den neuronalen Sog eines Wissenskristalls und ehe er es sich versah, zeichnete der Stein Linien und Farben an die irdenen Wände von Undorn.

Vor Ughtreds Augen bildeten sich Seen, Wälder, Wüsten und Gebirge. Immer feiner wurden die Landstriche und er forschte, suchte und fand. Als er schließlich den Norden entdeckt hatte, flog er über Korezuul hinweg und dann nach Dranought und in den DranˋOrad bis nach Undorn und er sah die Ruhestätte der alten Helden.

Blinzelnd löste er sich von dem Stein und ließ die Bilder in ihn zurückkehren. Dann wandte er sich zum Gehen. Es war Zeit, das Grab zu verlassen.

 

»Im Tagebuch nannte es Lonkaiyth das Aiynari dan Tiba Fe, die virtuelle Karte der Welt«, sagte Tal.

Sie saßen zu dritt um den kleinen Tisch im Hauptzimmer der Schmiede und sprachen mit gedämpften Stimmen. Dem Schmied über ihnen ging es deutlich besser und sie wollten vermeiden, ihn aufzuwecken.

Kyon nickte und sagte: »Soweit ich das verstehe, zweit uns diese Karte die Wegstrecken, die mein Vater in seinem Tagebuch erwähnt.«

Er griff in die Luft über dem Tisch und zog mit den Fingern einen Punkt auf der Karte größer. Die nördlich Grenze der Wüste wurde immer deutlicher und schließlich war der DranˋOran und ein weiterer Berg westlich davon zu erkennen. Direkt unter dem namenlosen Berg befand sich ein Eintrag namens AngˋRin. Genau hier war laut Tagebuch der nächste Anlaufpunkt der Unternehmung. AngˋRin, eine alte smavarische Ruine. Man hatte versucht, sich hier zu etablieren, doch die Wüste und ihre Bewohner hatten die Wölfe nicht in ihrem Revier geduldet und alle die nicht freiwillig gegangen waren ausgelöscht. Heute ist AngˋRin ein Ort des Todes.

»Da ist es«, sagte Kyon. Mitten in der Wüste.

Tal lachte kokett und erwiderte: »Das ist knapp über der Grenze Kyon. Draiyn Andiled ist riesig, das hier ist noch fast Korezuul.«

Er schüttelte verkniffen den Kopf, aber dann sagte Ughtred: »Sie hat recht Barde. Wenn wir wie im Tagebuch beschrieben nach Westen ziehen und in der Marsch bleiben und erst hier«, er deutete auf eine Stelle am virtuellen Berg, »nach Süden abbiegen, sind es höchstens zwei Tage bis zu der Ruine. Das sollte zu schaffen sein.«

Kyon wandte sich ab und rieb sich die Seite. Die Draiyn waren gefährlich, so viel war sicher. Noch eine Begegnung mit ihnen würden sie vielleicht nicht überleben. Er schüttelte den Kopf.

»Zwei Tage sind machbar. Wir rüsten uns besser aus«, sagte Tal und damit war die Sache für sie erledigt.

 

Am nächsten Tag ging Tal zu einer Alchemistin des Ortes und tauschte alchemistische Zutaten. Danach besuchte sie Bilke, die Heilerin und erhielt weitere Dinge die sie brauchte. Als sie jedoch immer mehr eintauschen wollte, gingen ihr die Ressourcen aus. Doch sie musste nur kurz überlegen, wie sie mit diesem Problem umzugehen hatte. Sie ging kurzerhand zur Schmiede zurück, zwängte sich erneut die Treppe hinauf und kroch neben das Bett des Schmiedes.

Sie besah sich die Wunde und nickte. 

»Sieht gut aus, Herr Schmied«, sagte sie lakonisch.

Ughnor nickte und wollte aufstehen, aber die Hexe drückte ihn zurück ins Bett. Er protestierte und erklärte sich für genesen, aber sie sagte: »Nur ich entscheide, wann diese Wunde verheilt ist.«

Er sah sie an. Dann sagte er: »Du willst etwas von mir. Du wirst mich bezahlen lassen, für meine Genesung.«

Sie nickte und sagte: »Du hast sicher schon begriffen, dass dein Sohn uns eine Gegenleistung versprochen hat. Eine Gegenleistung für deine Heilung.«

Ughnor nickte und machte ein Zeichen, dass sie fortfahren sollte.

Also sagte sie: »Wir werden weit reisen und es ist gefährlich in der Wildnis. Also brauchen wir Ressourcen, um uns entsprechend auszurüsten. So ist das.«

Ughnor nickte. »Also gut, ich habe verstanden und ja, ich will helfen. Sie hinter dich, da im Regal liegt eine Kiste. Nimm sie.«

Tal tat wie ihr geheißen und öffnete die schwere Kiste. Im Inneren befanden sich in einem dunkelroten Öltuch vier kurze Einhandmesser. Sie waren von hervorragender Schmiedekunst und die Materialien hätten kaum besser sein können.

»Ich habe sie nur zum Spaß gemacht, um zu testen, ob ich es kann. Sie sind gut, nicht wahr?« sagte der Schmied.

Langsam nahm Tal drei der Messer aus der Kiste und ließ sie in ihre Tasche gleiten. Das vierte beließ sie darin. Dann stellte sie die Schatulle zurück. Der Schmied sagte, sie solle sie ruhig alle vier nehmen, aber die Hexe beließ es dabei.

Wortlos zog sie sich aus der Kammer zurück. Sie hatte genug. Mehr würde sie nicht brauchen und im Grund würde Ughnors Sohn ja für ihr Hiersein bezahlen. Alles zu nehmen, war nicht ihre Art. Welpe, wer alles nimmt, erzeugt Wüsten – die Worte ihrer Mutter gingen ihr durch den Kopf. Sie wollte den Schmied nicht zur Wüste machen.

 

Am nächsten Abend war der Schmied aus seiner Kammer herunter ins Esszimmer gekommen und saß bei seinem Sohn und dessen Gäste. Er fragte, wohin diese Reise gehen würde, aber Ughtred erklärte ihm, dass dies nichts sei, über das sie reden würden. Es brauchte eine Weile, bis der Schmied dies akzeptierte, doch nach einer Weile sagte er nur: »Bringt mir meinen Sohn zurück.«

Kyon und Tal sahen sich an. Dann sagte die Hexe: »Das werden wir Herr Schmied.«

Kyons Blick wanderte zu einem der Fenster und dann hinaus auf die Straße. Es war dunkel. Hier in der Stadt der Nyghs, bedeutete dies nichts. Aber draußen, in der Wildnis, da lauerten Gefahren, die sie sich jetzt und hier nicht einmal im Entferntesten vorstellen konnten. Wie sollten sie dem Alten gewährleisten, seinen Sohn zu schützen? Im Gegenteil, aus seiner persönlichen Sicht war Ughtred der, auf den er selbst hoffte, wenn es hart auf hart kommen würde.

Als er seinen Blick wieder den anderen zuwandte, stellte er erschrocken fest, dass sie ihn alle anstarrten. Hatte er etwas nicht mitbekommen?

Tal sagte: »Ihr auch Herr Barde, oder?«

Ergeben nickte er, denn er wusste ja, dass er nun auch versprechen sollte, den Nygh zu schützen. Seltsam, bei den Lopen war es ihm so einfach gefallen. Aber das war auch vor Draiyn Andiled und den Speeren der Insektenmänner gewesen. 

 

Es vergingen zwei Tage und der Schied genas zusehends. Seine Nachbarn, Kerzenzieher und Seilmacher und ein Waldläufer, freuten sich und brachten jeden Tag so viele Speisen, dass sich Ughtred um nichts weiter kümmern musste. Auch die Heilerin Bilke war zufrieden mit dem Verlauf und lobte die Heilkünste der Silberwölfe. Über Ughtreds Mutter hingegen sprach sie nicht. Er überlegte, ob er sie besuchen sollte, aber dann dachte er an die Probleme, die ihm nach Dranought gefolgt waren. Das Wolfsding in dem Barden, die düstere Zauberkraft in der Hexe, diese Dinge wollte er von ihr fernhalten. Er war ebenfalls traurig, nicht mit seinem Vater sprechen zu können und verbarg das gefundene Kurzschwert. Sie hatten ihn Dieb genannt, doch auch jetzt noch sah er sich nicht als solchen. Er würde den Schlüssel erneut benutzen, soviel stand fest.

Mehrfach sprach er mit seinem Vater. Ughnor wollte wissen, wohin sein Sohn zu reisen gedachte und was er für die Fremden tun solle. Der ältere spürte instinktiv, dass sein Sohn ihm nur nichts von seinen Aufgaben erzählen wollte, weil er sicher war, dass sie ihm nicht gefallen würden. Es war eine sehr beklemmende Situation, ausweglos und voller Gefahren – wie die Wüste, dachte Ughtred.

Am Abend hatte er gerade den Tisch abgedeckt und sein Vater unterhielt sich mit dem Barden. Dieser hatte den Schmied nach Pfeilen gefragt und Ughnor hatte ohne zu zögern eingewilligt, ihm welche zu bauen. Überhaupt hatte er von sich aus den Silberwölfen weitere Ressourcen zugesprochen. Er wollte die Unternehmung, um was auch immer es dabei gehen mochte, so gut es ging unterstützen.

Tal trat neben Ughtred und flüsterte: »Ihr habt doch hier sicher Bücher, eine Bibliothek oder etwas vergleichbares oder?«

Um ein Haar wären dem Nygh Teller und Schüsseln zu Boden gefallen. Was war dies nun wieder? Reichte es nicht, dass sie ihn zum Grabräuber gemacht hatten? Es waren genau die Hallen des Wissens gewesen, die ihm zum Verhängnis geworden waren. Zuerst hatte er die Wissenswahrer höflich nach Büchern über die Welt befragt. Sie hatten wissen wollen, wozu er sie lesen wollte, und er hatte gesagt, des reinen Vergnügens wegen. Wissensdurst sei häufig eine schlimme Krankheit, hatten sie gesagt.

Dann, an einem Sommertag vor einigen Jahreszeiten, hatte er die Wälder über Dranought durchstreift und als ob die Große Mutter ihn geführt hätte, war er zum alten Ausfallschacht über der Stadt gekommen. Er hatte diesen Ort vorher noch nie besucht, aber er kannte ihn von Erzählungen her. Warum er ausgerechnet hierher gekommen war, konnte er wirklich nicht mehr sagen, aber als er ihn gefunden hatte, war ihm sofort bewusst, dass er hier ein Abenteuer erleben würde.

Die Abdeckung des Schachtes war vor langer Zeit eingestürzt und in die Tiefe gefallen. Ughtred hatte den Schaden begutachtet, war um die niedrige Mauer gelaufen und hatte nach einer Möglichkeit hinunter zu steigen gesucht. Früher hatte es zweifellos eine Treppe gegeben. Die Öffnungen in dem runden Schacht für die Stützbalken waren nicht deutlich zu erkennen. Doch die Balken waren längst mitsamt der Stufen und dem Geländer aus ihren Halterungen gefallen und in die Tiefe gestürzt.

Er war an den Rand der Klippe zur Stadt hin gegangen und hatte hinunter gesehen. Über einhundert Meter, vielleicht sogar einhundertundfünfzig, ging es hinunter. Erst dann kamen die ersten in den Stein geschnittenen Gebäudeteile. Von hier oben aus betrachtet, lag die Ratshalle ein wenig rechts, die Halle des Wissens direkt unter ihm und ein großes Vorratslager links davon. Weiter unten und noch etwas weiter links befand sich eine Kriegerunerkunft, die aber schon lange nicht mehr benutzt worden war. Heute lebten die Wächter der Stadt bei ihren Familien in bequemeren Häusern.

Der Schacht selbst befand sich nur zehn Schritte von der Klippe entfernt, eine gähnende Öffnung im gras- und moosbewachsenen Stein des Berges.

Als er das nächste Mal herkam, hatte er eine lange Strickleiter mitgebracht. Zum ersten Mal war er hinunter gestiegen, was sich als keine einfache Aufgabe erwiesen hatte. Hunderte von Stufen und über dreißig Meter hatte er überwinden müssen und dann war die Strickleiter immer noch zu kurz. Er hatte sie versteckt und war anderen Tags erneut zur Stelle gewesen und dieses Mal hatte er einen seitlichen Einstieg erreicht. Er schätzte die Tiefe des seitlichen Tunnels auf ungefähr fünfzig Meter. Leider hatte der Fluchtgang jedoch ein weiteres Hindernis aufgeboten. Nach einigen Metern, die der Tunnel schräg nach unten in den Fels gegangen war, stoppte eine verschlossene Eisentür Ughtreds Forscherdrang. Doch er war angehender Schmied gewesen und auch für diese Tür, hatte er einen Schlüssel geschmiedet. Endlich hatten ihm die Hallen des Wissens offen gestanden. Von der Türe aus waren es nur einige Treppen hinunter, bis zu den ersten schmalen Hallen, in denen die Wissenswahrer ihre Schätze lagerten. Und wie hatte sein Herz gejauchzt, als er diese Schätze bestaunte.

Anfangs war er nur ab und an in den Schacht geklettert, hatte sich auf eine Steinstufe gesetzt und eine alte Schriftrolle studiert. Er hatte gelernt, wie man verschiedene Pflanzensorten miteinander zusammenwachsen lassen konnte, um besseres Obst zu erhalten. In einem Kristall, hatte er gelesen, wie die Kräfte der Physik kompensierbar waren. Es gab Beschreibungen von Umlenkrollen, die so winzig gebaut werden konnten, dass man damit eine Armbrust spannen konnte. Er hatte über das Land gelesen, dass den größten Teil seiner Welt bedeckt hatte, bevor die Wölfe gekommen waren und es in eine Wüste verwandelt hatten. Er hatte alles gelesen und dies hatte ihn wirklich verändert, hatte ihn zu dem Mann gemacht, der er jetzt war.

Irgendwann in der Kältezeit, wäre er beinahe von der Strickleiter gestürzt. Die Seite hatten sich gelockert und eine der Streben war aus ihnen herausgerutscht und alles war glatt und kalt gewesen. Es war nicht wirklich etwas passiert, denn Ughtred hatte sich auffangen können, aber der Schrecken, über einhundertfünfzig Meter in die Tiefe des Berges zu fallen und wahrscheinlich niemals wiedergefunden zu werden, ließ ihn erschaudern. Da hatte er beschlossen, sich die Bücher und Kristalle, die er sich gerade vorgenommen hatte, auszuleihen. Anfangs waren es nur wenige, doch mit der Zeit wurden es mehr, da er es liebte mit Querverweisen zu arbeiten und immer wieder von einem Kristall zu einer Rolle und dann wieder zu einem der dicken Bücher zu wechseln. Und tatsächlich, brachte er die Dinge, die er aus der Halle des Wissens geliehen hatte auch immer wieder in diese zurück.

Doch eines Tages, es war noch in derselben Jahreszeit, in der er begonnen hatte, Kristalle und Bücher zu leihen, stolperte er auf dem Weg zum Berg und eines der ganz großen Bücher rutschte ihm aus der Umhängetasche. Mehrere Passanten auf der Straße sahen dieses Schauspiel und dann waren plötzlich die Stadtwächter um ihn herum gewesen. Es hatte weder einen echten Grund, noch eine Chance zum Leugnen gegeben. Von da an nannten hatten sie ihn Dieb genannt.

 

Ughtred blickte Tal an. Er hob die Schultern und sagte auf Smavarisch: »Wie wichtig ist es euch?«

Die Hexe sah zur Decke der Schiede hinauf und hob die Schultern. Dann zählte sie aus dem Tagebuch auf: »Draiyn, Untote, Riesen, Drachen und eine Reise ins Ungewisse – wie wichtig kann es da sein, sich vorzubereiten Herr Schmied? Ich denke, wir sollten alles tun, um diese Unternehmung zu einem guten Ende zu führen. Gibt es diesen Zugang noch?«

Der Nygh nickte. Man hatte ihn damals nicht befragt und er hatte nichts gesagt. Es hatte gereicht, ihm den Titel Dieb aufzuerlegen. Er hatte die Bücher zurückgegeben und war seither nicht wieder in den Schacht hinunter gestiegen. Aber sie hatte nicht unrecht. Diesmal würden sie ja auch nichts aus der Halle mitnehmen, dafür würde er in jedem Falle sorgen.

»Es ist nicht ungefährlich und ich war lange nicht dort oben. Es gab eine Strickleiter, aber vielleicht haben die Mäuse das Seil gefressen«, sagte er in der Hoffnung, die Hexe würde sich umstimmen lassen, aber natürlich war dem nicht der Fall. Stattdessen sagte sie nur: »Brechen wir auf. Den Barden lassen wir hier. Wahrscheinlich kann er ohnehin nicht lesen.« Sie lachte ihr böses kleines Lachen und Ughtred schüttelte nur den Kopf. Warum er, fragte er sich zum bestimmt eintausendsten Male.

 

Der Wind pfiff ihnen um die Ohren, als sie am Felsgrat über Dranought standen. Tals Mantel flatterte und sie hatte Mühe, ihre Kapuze an Ort und Stelle zu halten. Vorsichtig stellte sie sich seitlich, um dem Licht der Zwillingssonnen nicht voll ausgesetzt zu sein, und spuckte dann in hohem Bogen zur Stadt hinunter. Sie lachte und wandte sich dann dem Nygh neben ihr zu, der fröstelnd die Arme um sich geschlungen hatte.

»Die Strickleiter ist noch brauchbar, soweit ich das sagen kann«, sagte er barsch und ging zu der niedrigen Umrandung des Schachtes. Dann nahm er die Seile und 

In weißer Voraussicht hatte er eine Sicherungsleine aus einem kurzen Stück Seil und zwei Haken mitgebracht. Er reichte es der Hexe und zeigte ihr, wie sie es durch ihren Gürtel ziehen konnte. Von einer Sprosse zur nächsten eingehakt, wäre sie nun vor einem Absturz gefeit.

Sie nickte artig, zog das Ding durch ihren Gürtel und hob dabei umständlich ihren ohnehin seitlich offenen Rock und gab dabei frei, was es eben unter Hexenröcken zu sehen gab. Ughtred war unterdessen über den Rand geklettert, hatte zurückgeblickt, sah, was es zu sehen gab und griff ins Leere.

Als er die nächste Sprosse erwischte, war der Ruck stark genug, diese aus der Schlaufe zu ziehen und er stürzte ab. Mit einem erschrockenen Schrei rutschte er die Strickleiter hinunter und fiel gut und gerne sechs Meter in die Tiefe. Dann drang sein linker Arm durch eine der Sprossenquadrate. Der erneute Ruck, als Ughtred mit der Achsel auf die Sprosse traf, ließ ihn schmerzhaft aufschreien. Seine Schulter gab ein ungutes Krachen von sich und Tal dachte im ersten Moment, er hätte sie sich gebrochen. Doch dann lauschte sie und hörte nur das Keuchen und leise Fluchen des kleinen Mannes.

Sie beugte sich über den Rand und sah ihn unter sich an der Strickleiter hängen. »Wie geht es dir?« rief sie hinunter und wollte sich schon an den Abstieg machen, um ihm zu helfen.

Der Nygh fluchte erneut und rief nach oben: »Arm ausgekugelt. Schulter, meine ich.«

»Ich komme«, rief die Hexe und hob eins ihrer langen, schlanken Beine über die Brüstung.

»Naaah«, maulte der Nygh. »Muss das erst richten.«

»Wie soll das gehen, da unten zwischen den Seilen?« Tal versuchte etwas zu erkennen, aber Ughtred hatte angefangen sich aus der Strickleiter zu entwirren und sie konnte nicht genau sehen was er tat. Zumindest schien er ein weiteres Stück Seil zu benutzen und seinen Arm zu verbinden. Warum hatte er eigentlich keine Sicherung benutzt. Sie spielte mit den beiden von ihrem Gürtel hängenden Haken und stellte ihm die Frage, erntete aber nur einen weiteren Fluch, der irgendetwas mit den Sekundärgeschlechtsorganen der großen Muttergöttin der Nyghs zu tun hatte.

Im Schacht hatte Ughtred unterdessen ein kurzes Band aus seiner Tasche gezogen und es fest um das Handgelenk des verletzten Armes und einem der Zugseile der Strickleiter gebunden. Dann stieg er so weit hinunter, bis sein Arm über ihm ausgestreckt war. Dies dauerte sehr lange, denn um in diese Position zu gelangen, musste er durch die Hölle gehen. Die Schmerzen brachten ihn mehrmals an den Rand der Besinnungslosigkeit, doch als er es endlich geschafft hatte, lenkte er seine Gedanken erneut auf das, was er unter dem Rock oben gesehen hatte und ließ los. Er stürzte diesmal nur wenige Zentimeter, doch der Ruck genügte seinen Arm zu strecken und die Schulter in die richtige Position zu bringen. Es krachte erneut und er schrie. Dann klammerte er sich an die Streben und atmete tief ein und aus und versuchte wieder Herr seiner Sinne zu werden. Verdammte Hexe, konnte sie keinen Lendenschurz unter ihren Röcken tragen wie jedes normale Weib? Wahrscheinlich hatte sie das vorhin mit Absicht getan. Hexen taten eben, was Hexen taten und es gab ja eindeutig einen Grund, warum man sie fürchtete.

Er drückte die Stirn gegen den Holm der Leiter und presste zwischen seinen Lippen hervor: »Ich steige weiter ab.«

Von oben kam keine Antwort, aber er konnte förmlich die starren Blicke ihrer hellen, wässrig grauen Augen auf seinem Rücken spüren.

 

Der Weg durch den Tunnel erschien Tal wie die Enthüllung eines lange gehüteten Geheimnisses. Es roch nach Abwasser und altem Schmutz und sie musste sich zusammenkrümmen, kratzte aber dennoch mehrmals mit dem Rückgrat über den Stein und tat sich weh. Sie hatte sich extra dünn eingekleidet und auf alles verzichtet, was ihr zusätzliche Probleme hätte bereiten können und trotzdem machte ihr das Nyghgelass mit seiner scharfkantigen Enge Schwierigkeiten.

Vor ihr ging der Nygh und selbst für ihn war dieser Weg alles andere als komfortabel. Schließlich kamen sie an die kleine Pforte, von der er gesprochen hatte. Er zückte den beschriebenen Schlüssel, öffnete den Durchgang und keine fünf Minuten später fand sich Tal in einem sehr schmalen, aber zum bersten mit Büchern, Schriftrollen, Steintafeln und Kristallen gefüllten Raum wieder. Im Grund handelte es sich eher um einen langen Gang, der dem Lauf der Klippe folgend angelegt worden war. Auf der Seite nach Dranougth hin, gab es sehr schmale Lichtöffnungen, die nachträglich mit dicken Glasquaderen verschlossen worden waren. Das Material war so dick, dass man die Außenwelt nur noch erahnen konnte. Alles war verzerrt und unwirklich schief. Die andere Seite des tunnelartigen Raumes war mit Regalen, Nischen und kleinen Tischen vollgestellt. Vom Boden bis zur etwa sechs Meter höher gelegenen Decke, gab es tausende und abertausende von Schriftstücken. Extrem schmale Steintreppchen führten zu den oberen Regalen und am Ende des Tunnels, gab es eine breitere Treppe, die in das nächste Stockwerk nach unten führte. Weitere Türen schien es nicht zu geben.

Tal streckte sich und war froh über die Höhe des Raumes. Es war kühl und dennoch eng, aber eine niedrige Decke wäre bei Weitem schlimmer für sie gewesen. 

Vorsichtig nahm sie ein dickes Buch aus einem der Regale und versuchte den Titel zu lesen, aber sie konnte die Schrift nicht entziffern. Es war Nygh, irgendwie, aber auch nicht.

»Das ist die Schrift der Bewohner von Tiradnai«, sagte Ughtred. »Sie sind wie wir und haben eine ähnliche Schrift. Da steht: Die Wunder der Kleinen Welt. Ich glaube es geht um Insekten.«

Die Hexe nickte und murmelte ein leises »Danke« in den kalten Raum. Tiradnai, sie hatte von diesem Land gehört. Es lag nordöstlich und jenseits der großen Gebirge. Was musste dieses Buch gesehen haben, bis es hier zur ewigen Ruhe gebettet worden war?

Vorsichtig legte sie es zurück und fragte: »Wo sind die Schriften über die Feinstoffliche Welt?«

»Keine Ahnung«, knurrte der Nygh.

»Wie ist die Ordnung der Schriften? Themenbasiert oder Alphabetisch?«

»Gibt keine. Sie bringen die Sachen hierher und vergessen sie dann. Nur Bücher, die regelmäßig gebraucht werden, befinden sich im untersten Stockwerk, aber die fand ich nicht so interessant. Wie man einen Kuchen brät weiß ich selbst.«

Sie wartete einen Moment, um ihm die Möglichkeit zu geben, seinem Scherz eine bessere Pointe zu geben, doch es kam nichts. Sie räusperte sich und Ughtred sah sie mit zusammengekniffenen Äuglein an.

»Keine Sortierung? Im Ernst?« fragte sie und merkte, dass sie im Begriff war, die Geduld zu verlieren.

Ughtred sagte verdrossen: »Die schließen das Zeug weg, Frau Hexe. Es ist ihnen egal wo es am Ende liegt, Hauptsache Leute wie wir beide kommen nicht mehr daran.«

Vorsichtig strich Tal über den Ledereinband eines uralten, eindeutig kisadmurischen Buches. Das Leder stammte von einem Quink. Auf dem Rücken stand, in geprägter Scherbenschrift ein einziges Wort: Gas. Sie schlug es auf und traf zufällig die Seite, auf der beschrieben stand, wie man ein Gas erzeugen konnte, dass nicht nur die Atemwege von Lebewesen auflöste, sondern sich auch auf Leder, Gummi und andere Materialien auswirkte. Sie schlug das Buch zu und nickte. Dann sagte sie: »Deine Leute haben kein gutes Bild von uns.«

Er zuckte mit den Schultern und nahm sich ein kleines Büchlein von einem der Tische, auf dessen Umschlag ein Pilz gezeichnet worden war. Er setzte sich auf den Boden – Sitzgelegenheiten gab es nicht – und begann zu lesen. 

Tal nickte und sah sich weiter um. Sie stellte sich auf eine Treppe und griff zu eine weiter oben gelegenen Kristall und zündete ihn. Flugschiffe umsegelten ihre langen Ohren und fuhren an einer schroffen Felsklippe entlang. Es waren moraidische Wellenbrecher. Der Kristall behandelte die Nautik des fernen Landes.

Ein anderer Kristall beschäftigte sich mit der Pflanzenwelt Oriad und Tal dachte daran, dass sie als Welpe immer davon geträumt hatte, die Hauptstadt Oriads zu sehen. Rivenest, die größte Stadt der ganzen weitern Tiba Fe. Nicht so provinziell wie Shishney oder gar Kovarin, wo ihre Eltern lebten. Ihre Großmutter hatte ihr viel über die Bewohner und Sitten von Rivenest erzählt. Sie war eine gebildete Frau und lebte in Angaworth, der Hauptstadt von Kisadmur.

Sie schloss die Augen und überlegte, wie sie in diesem Chaos fündig werden sollte und merkte, wie sie sich auf ihre stets lauernde Verzweiflung zubewegte. Sie wollte lernen, wollte das Feinstoffliche verstehen und möglichst viele psionische Disziplinen meistern, aber wie? Wie sollte sie sich steigern, wenn Akkatha sie aus dem Zirkel verbannte und die dummen kleinen Leute hier ihre Bücher nicht sortierten. Es war zum Verrücktwerden. Die sprachen sich ab. Sollte der Große Fresser sie alle holen und über der Wüste wieder ausscheißen!

Gerade als der Zorn sie überkam, holte sie tief Luft und konzentrierte sich dann. Sie war nicht in dieses kalte Loch geklettert, um unverrichteter Dinge wieder abzuziehen. Sie war Yt`Talan ven Arudsel und sie war eine Hexe des verdammten Doppelmondes und auf keine Fall würde sie versagen. Schlimm genug, dass ihre Eltern sich dazu entschlossen hatten in einer beschissenen Pilzmiene zu leben und Blümchen zu züchten. Sie würde den Namen Arudsel anders behandeln als ihr Vater. Kriegsheld, kurz vor dem Aufstieg zum Sliyn, verdammt und vergessen – was hatte er sich nur dabei gedacht? Sie nicht! Sie würde aufsteigen und etwas aus ihrem Dasein machen.

Mit aller Gewalt konzentrierte sie sich und versuchte zu hören, was in all den Kristallen und Büchern schlummerte. Sie richtete ihr ganzes Sein auf die okkulten Informationen in diesem Raum und als wäre ein Damm gebrochen, kamen sie aus ihren Verstecken. Hier leuchtete ein Kristall auf, ein geflügeltes Wesen schoss von einer Sonne zu einer anderen; dort detonierte ein Planet und gab gewaltige Schrecken frei, die sein Blut von ihren Schuppen schüttelten und sich aufmachten, die Dunkelheit des Alls zu durchqueren. Dann drehten sich die Augen der Hexe nach innen und eine große Vision übernahm die Kontrolle über ihr Dasein. Sie lachte innerlich und ließ sich fallen. Alles für sie, dachte sie noch und öffnete die Schranken zu ihrer Seele.

Flimmernd betritt eine riesige Gestalt mit einer Kapuze und einem langen Stab den Raum. Sie hat drei güldene Augen voller Weisheit und alles an ihr ist Klugheit und Trauer. Hinter der Gestalt folgen andere Aspekte des Kar oder deren Diener und die Prozession endet in der Mitte des schmalen Zimmers. Die Kapuze hebt den Stab und erleuchtet die Welt um sich und Tal herum. Kahl und leer ist diese Welt, unfertig wie sie selbst.

Tal versucht nach dem Vorgang zu greifen, zu verstehen, aber sie ist nicht hier, denn all dies geschieht endlose Zeitalter vor ihrer Geburt.

Dann betritt eine weitere Figur die Szene. Es ist eine gigantische Frau, eine der Urtitanen, mit langem wallenden Haar und riesigen Brüsten. Sie ist elegant und trägt die ganze Schöpfung in ihrem drallen Leib. Verschmitzt glimmende Augen mustern die Kapuze und die drei Augen verlieren an Macht und Klugheit.

Eines der Wesen hinter dem Stab und der Kapuze reicht einen Kristall in die Mitte der Versammlung und die Frau greift danach und hebt ihn an. Die Kapuze nickt und dann legt die Titanin den Stein in eines der Regale über Tal. 

Schnell vergehen Milliarden von Jahreszeiten und alles geht seinen Weg. Endlich wird Tal geboren, verliert ihren Bruder und wandert nach Korezuul. Nun ist sie hier, erwacht und blinzelt mit einem Wissen, dass die Erzeuger ihrer Spezies in ihr Blut gelegt haben. Sie konzentriert sich und beendet willentlich die Vision, denn sie hat genug erfahren.

Ughtred blickte auf, als die Hexe stöhnte. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sie hob die Hand und blickte auf eins der oberen Regale. Dann stellte sie sich auf den Tisch neben dem der Nygh kauerte und langte nach einem der Steine, die ganz oben unter einer dicken Schicht aus Staub und Steinmehl ruhten.

Als der Kristall zündete, schlug er in Tals Geist ein wie ein Blitz bei einem besonders schrecklichen Gewitter. Sie taumelte, rutschte von dem Tisch und schlug hart auf dem Boden auf, aber Ughtreds Bemühungen, ihr zu helfen, nahm sie schon nicht mehr wahr.

In ihrem Gehirn breitete sich der Tri-Binär-Wurm aus, der seit tausenden von Millenien in dem Kristall auf einen neuen Wirt gewartet hatte und der nun versuchte ihren Geist zu verdrängen und die Herrschaft über ihr materielles Sein zu erlangen. Sie hatte sich überrumpeln lassen und der Virus nutzte ihren Schock, um so viele Areale ihrer Synapsen wie möglich zu okkupieren. Doch als sie das Bewusstsein verloren hatte und sich nicht mehr um die äußere Realität kämpfen musste, schlug sie zurück. Die Nanophagen in ihrem Blut regenerierten schnell wie der Wind befallene Teile ihres Gehirns und gaben ihr einen teil der Kontrolle zurück. Dennoch war sie körperlich angeschlagen, als sich ihr Bewusstsein aus den Tiefen der Gedankenwelt zurück nach Oben kämpfte. Sie schlug die Augen auf und sah in Ughtreds Gesicht. 

»Schnell, wir müssen hier raus«, presste sie hervor und fügte hinzu: »Ich werde kämpfen müssen und weiß nicht, wie lange ich wach sein kann.«

Der Nygh verstand zwar nicht, was sie damit meinte, aber er erkannte, dass der Stein ihr  nicht gut getan hatte. Als sie zu Boden gegangen war, hatte sie ihn losgelassen und er war auf den Steinfließen zerborsten. Einen Moment hatte Ughtred gedacht, damit wäre der Bann des Kristalls gebrochen, aber er hatte sich offenbar geirrt. Konnten solche Kristalle ihr Wissen in das Gehirn eines lebenden Wesens übertragen, ohne dass dieses sie lesen musste? Offenbar war genau dies hier geschehen. Er fragte sich, ob sie zu diesem Zweck hierher gekommen war. Hatte sie von dem Stein gewusst?

Er half ihr auf die Beine und schob sie vor sich her. Sie war so riesig und eckte überall an. Dennoch gelang es ihm, sie zuerst zum Schacht und dann auf die Leiter zu bringen. Der Aufstieg war dann eine ganz andere Sache. Stufe für Stufe hakte er das Sicherungsseil ein und schob sie, eng an ihren Rücken gepresst, dem Licht des Himmels zu. Es schien Stunden zu dauern und der Schacht zog förmlich an ihrer beider Leiber. Es war, als wolle die Dunkelheit unter ihnen das gestohlene Licht nicht hergeben. War er nun wieder ein Dieb? Der Kristall war zerstört. Sollten sie doch froh sein. Schließlich schien dieses Ding wirklich gefährlich gewesen zu sein.

Auch der Weg den Bergpfad hinunter und durch Dranought erwies sich als anstrengend. Eine kurze Zeit schien es der Hexe etwas besser zu gehen und sie lief ohne seine Hilfe, aber kaum hatten sie die Innenstadt hinter sich gelassen und waren auf der Straße nach Norden, fiel sie zurück und schließlich ging es nur noch, indem er sie stützte. Sie faselte von den Alten, von den Aspekten des Kar und von der Titanin. Als sie begann, über tiefe Abgründe und die Feuer der Tiefe zu sprechen, schaltete der Nygh ab und konzentrierte sich nur noch darauf, die Silberwölfin möglichst unauffällig in die Schmiede zu bringen.

Dort angekommen, verfrachtete er sie in das Lager, welches man den beiden Gästen in seinem Zimmer hergerichtet hatte. Sein eigenes Bett, welches viel zu kurz war, stand hochkant an der Wand.

Kaum lag sie still, setzte auch schon das Fieber ein und er lief los, um zuerst den Barden zu unterrichten und dann eine Heilerin herbeizuholen. Als er in der Küche seinem Vater begegnete, bat er diesen der Hexe ein nasses Tuch auf die Stirn zu legen und dann stob er aus dem Haus.

Da er Kyon nirgends finden konnte, ging er direkt zu Bilke. Er wartete einen Moment unter dem riesigen Baumhaus und hoffte seine Mutter zu sehen, aber die Große Göttin entschied anders und so nahm er einen Stein und warf ihn nach oben. 

Hensvyth, einer von Bilkes Ehemännern, erschien auf dem Rundweg um das Haus und rief herunter, was es gäbe und Ughtred berichtete von dem Vorfall in der Schmiede. Hensvyth bestätigte verstanden zu haben und würde seine Frau direkt, wenn sie nach Hause käme, unterrichten. Sie würde sicher in Kürze in der Schmiede erscheinen.

Fast eine Stunde warteten Ughtred, sein Vater und Kyon, der nun ebenfalls eingetroffen war, bei offener Tür in der Wohnküche. Ughtred hatte immer wieder das Tuch angefeuchtet, doch das Fieber schien weiter zu steigen. Der Silberwolfhexe war deutlich der Kampf anzusehen, den sie in ihrem Inneren ausfocht. Ihre Wangen waren eingefallen wie bei einer alten Frau und ihre Haut glänzte seltsam nass und silbrig. Als Bilke endlich gegen den Rahmen klopfte, sprangen alle drei auf und redeten durcheinander, bis die Heilerin entschieden die Hand hob und ich in das Zimmer der Patientin zurückzog. Gegen Ughtreds Protest schloss sie die Tür und blieb mit der Hexe allein.

Die Behandlung dauerte mehr als eine Stunde, doch als ich die Tür endlich wieder öffnete, machte die Heilerin einen zufriedenen Eindruck. Sie erklärte, das Fieber sei gesunken und die Silberwölfin schlafe jetzt ruhig. Sie hätte wohl eine Art Schwächeanfall und Bilke wisse nicht genau, welche Art von Krankheiten dieser Art bei den Silberwölfen normal seien, aber da das Fieber sänke, ginge sie von einer baldigen und vollständigen Genesung aus. Sie wolle morgen wiederkehren und nach dem Rechten sehen. Damit verließ sie die Schmiede.

Die drei Männer unterdessen hockten noch lange an dem niedrigen Esstisch und sahen ab und an in das Zimmer hinüber. Die Tür stand nun wieder offen und Tal war gut zu sehen. Meist schien sie still zu schlafen, doch ab und an zappelte sie wie in Krämpfen und Ughtred ging immer wieder hinein und legte ihr ein frisches Tuch auf die Stirn. Seine Nähe schien die Hexe zu beruhigen und so blieb er irgendwann einfach neben ihr sitzen, bis er selbst eingeschlafen war. Kyon holte sein Bettzeug in die Wohnküche und rollte sich hier zusammen. Er konnte ohnehin nichts tun und hatte seine eigenen Probleme.

 

Drei Tage vergingen so. Erst am frühen Morgen des vierten Tages, Bilke war am Vorabend hier gewesen und hatte der Hexe ein neues Medikament verabreicht, kam Tal erstmals wieder ganz und gar zu Bewusstsein. Sie stand leise auf und lehnte sich mit eingezogenem Kopf an die Wand. Auf der anderen Seite des Zimmers lag Ughtred und hatte sich in einer Decke zusammengerollt. Blinzelnd versuchte Tal sich zu erinnern. Ihr Kopf tat schrecklich weh. Vor ihrem inneren Auge konnte sie nach wie vor den Wurm sehen. Dieses Ding war aus dem Speicherkristall in ihr Gehirn gedrungen und hatte es mit einer derart großen Menge Wissens geflutet, dass dieses sie selbst beinah verdrängt hätte. Doch ihre Disziplin und ihre eigenen geistigen Kräfte hatten das Virus zurückgeschlagen und das Wissen Stück für Stück verdrängt und ausgelöscht. Sie hatte hierbei nicht gezögert. Hätte sie versucht besagtes Wissen zu verarbeiten oder gar zu behalten, hätte es ihren Geist überlagert und ausgelöscht. Also hatte sie um sich geschlagen und alles vernichtet, was neu hinzugekommen war, bis die Masse langsam erträglicher wurde. Dann erst war sie selektiver vorgegangen und hatte nur noch die Dinger verbrannt, mit denen sie wirklich nichts anfangen konnte. Die 108 zukünftigen Namen eines ungeborenen Asan hatten in ihrer Welt keine Bedeutung und auch das Wissen um die verschollenen Riga`Yt war ihr unwichtig. Sie waren weg, basta!

Was blieb, waren Informationen über Kettenschlüsse in der feinstofflichen Welt. Sie bettete diese Muster in denselben Bereichen ihres Geistes ein, in denen schon ihre eigenen lagerten und sorgte behutsam für eine akzeptable Ordnung. Der Wurm selbst, die scheußliche Sicherung, die man vor langer Zeit als Falle in dem Kristall hinterlassen hatte, war noch da. Er kroch in ihrem Hinterkopf auf und ab und wartete auf eine Chance, aber ihre eigenen Kräfte ließen seinen Bewegungsspielraum immer geringer werden, bis er sich in einer stecknadelgroßen Schwärze befand und kein Unheil mehr anrichten konnte. Dabei beließ sie es.

Sie musste sehr dringend Wasser lassen und schlich aus dem Zimmer, doch Ughtred wurde wach und rappelte sich auf. Sie deutete auf ihren Bauch und nach draußen und er rollte mit den Augen und lehnte sich gegen die Wand.

 

Viele Tage vergingen. Kyons Bauchwunde verheilte und Ughtred hatte begonnen, eine neue Maske für den Phani zu schmieden. Er war unten in Dranought gewesen und hatte die in der Stirn des schwarzen Mannes eingelassene Schiene vermessen und dann einen Plan gezeichnet. Die neue Maske würde aus leichterem und dünnerem Stahl bestehen und bekäme nur eine dünne Goldschicht. Außerdem würde Ughtred dafür sorgen, dass Odugme in Zukunft in der Lage wäre, die Maske beim Essen so weit nach oben zu schieben, dass er etwas sehen könnte. Nur den Silberwölfen konnte so etwas einfallen, wie eine Gesichtsmaske, die man nur so weit hochschieben konnte, dass ihr Mundbereich in diesem Zustand die Augen bedeckte.

Außerdem versuchte sich der aufstrebende Schmied an einer schlanken Brustplatte für Odugme. Sie würde zwar nur einen Teil seines riesigen Körpers bedecken und hinten nur von einem Lederkreuz gehalten werden, aber es wäre besser als Nichts. Mehrere Tage schmiedete er an dem guten Stück und am Ende zeigte er es Ughnor und der Vater grinste stolz. Dies war die Arbeit, die er gerne sah. Warum konnte sein Sohn nicht einfach hier bei ihm in der Schmiede arbeiten? Er sprach mehrfach die vor Ughtred und seinen Gästen liegende Reise an, doch die Lippen des Jüngeren blieben verschlossen. Ughtred wollte nicht, dass sein Vater in die ganze Sache hineingezogen würde. Je weniger er wusste, umso besser.

Eines Abends fragte Kyon den Schmied, ob dieser ihm die in der Wüste verloren gegangenen Pfeile ersetzten könne, und natürlich sagte dieser zu. Wieder begab sich Ughtred mit seinem Vater in die Schmiede und wieder arbeiteten sie gemeinsam. Die Pfeile waren von außerordentlicher Güte und der alte Schmied war stolz, als er sie dem Silberwolf überreichte.

 

Es vergingen einige ruhige Tage und Kyons Wunde verheilte. Doch seine Angst vor der Wüste konnte ihm niemand nehmen. Er sehnte sich nach dem Haus und seiner Mutter und selbst die Maskenmännlein fehlten ihm auf eine seltsame Weiße. Wahrscheinlich war es einfach dieses Leben generell, für das er nicht gemacht war. Er war kein Abenteurer wie sein Vater.

Als die anderen immer häufiger vom Aufbruch sprachen, versuchte er, interessiert zu wirken und sich einzubringen, aber es fiel ihm schwer. Zumindest schien den anderen sein Missmut nicht aufzufallen, denn sie gingen ganz und gar in Fragen nach genügend Decken, Wasserbeuteln und Lopenfutter auf. Ughtreds Vater hatte ein neues Zelt besorgt, das deutlich leichter als das erste war und es gab auch neue Wasserbehältnisse, mit weniger Fassungsvermögen und dafür stabilerer Außenhaut. Alles Dinge, die für Frau Arudsel und den Dieb wichtig waren. Er sehnte sich nach Shishney.

Als es dann tatsächlich los ging, sträubte sich alles in Kyon. Seine Nackenhaare stellten sich auf und er versuchte den Gedanken an die unglaubliche Entfernung zwischen sich und die Heimat zu verdrängen, aber es gelang ihm nicht. Nach dem Tagebuch sollte man nun, noch weiter nach Westen reisen, um einen Teil der Wüste zu umgehen, aber er wollte nicht nach Westen. Es war ihm egal, ob es auf dem Weg durch Korezuul Marschen und Wasserläufe geben würde. Was spielte das für eine Rolle? Amytorendreck – er wollte auf dem schnellsten Wege nach Hause.

Die Doppelsonnen waren weit über den Horizont gewandert, denn man hatte sich dafür entschieden spät aufzubrechen, um den ersten Reisetag für die Silberwölfen möglichst einfach zu gestalten. Einige Stunden auf den Rücken der verbliebenen Lopen, hier in Dranought gab es keinen Ersatz, dann eine Rast in der Nacht und weiter würde es bis in den späten Morgen gehen. Kyon saß auf dem Rücken eines der Tiere und betrachtete den vor ihm reitenden Phani. Zwischen sich und dem Riesen ging eine Weitere Lope, auf der man North Sarg verzurrt hatte. Er blinzelte und beobachtete, wie sich die Narbe des Riesen, wo der Draiynspeer ihm auf der Rückseite aus dem Leib gedrungen war, bei jeder Bewegung seines Reittieres von einem länglichen, zu einem runden Flecken verzerrt wurde. Im späten Sonnenlicht glänzte die Haut des gewaltigen Mannes. Ughtred hatte ihm die neue Brustplatte und auch die leichtere und deutlich stabilere Maske gegeben und er hatte beides wortlos an sich genommen. Kyon lächelte einen Moment über diese Überlegung. Natürlich hatte er das Zeug wortlos entgegen genommen. Ihm fehlte ja die Zunge, wie hätte er sich da wortreich bedanken sollen? Doch so schnell ihm dieser aus der Sicht der Smavari durchaus lustige Gedanke gekommen war, so schnell verschwand er auch wieder. Warum eigentlich die Zunge herausschneiden, überlegte er. Natürlich wäre es ihm auch recht, wenn seine Sklaven möglichst wenig sprächen, aber dies konnte man ihnen ja auch befehlen. Es war nicht notwendig sie endgültig stumm zu machen. Außerdem hatten Zungen auch ihre erbaulichen Seiten.

Sein Blick ruhte immer wieder auf dem breiten schwarzen Rücken seines Vormannes und er schüttelte den Kopf. Vor noch kurzer Zeit wäre er nie auf die Idee gekommen, sich über solche Dinge Gedanken zu machen. Die Wildnis verzerrte alles. Er musste hier so schnell wie nur irgend möglich weg.

Gegen Abend, es war spät genug für eine erste Rast, kamen sie an einen winzigen, von krummen Bäumen und Schilf bewachsenen Tümpel. Frösche sangen ihre Lieder – und es waren viele Frösche und viele verschiedene Lieder, die alle gleichzeitig interpretiert werden mussten – sodass Kyons Schwermut von dem Gequake überlagert wurde. Gut so, dachte er und biss lustlos in ein Stück Trockenfleisch.

Da kam Ughtred vom Tümpel zurück. Er hatte nach einem Zulauf gesucht, um Wasser aufzufüllen, doch jetzt stand er einige Schritte von Kyon entfernt und redete mit Tal. Er konnte wegen dem Krach der Amphibien nur die Worte Knochen und Horntier verstehen. Also stand er auf und ging zu ihnen.

»Der Reiter war sicher ein Bote aus Roan, der großen Stadt im Westen«, sagte Ughtred gerade.

»Was ist passiert?« Hakte Kyon nach und der Nygh berichtete, von dem Toten, den er auf der anderen Seite des Froschweihers gefunden hatte. Es gäbe die Knochen eines Horntieres, auf denen die Bewohner Roans zu reiten pflegten und den Reiter selbst. Die Knochen seien verstreut, was bedeutete, dass Raubtiere an ihnen genagt hatten. Es war Ughtred anzusehen, dass er viel lieber nach Roan weitergezogen wäre, sei es den Toten nach Hause zu bringen, oder einfach nur dieses Abenteuer mit den verrückten Silberwölfen hinter sich zu lassen aber Kyon winkte nur ab. Was hatte der Verrückte alleine hier draußen gemacht? Sie waren zu viert und es kam ihm schon unerträglich gefährlich vor.

 

In den Nächsten Tagen verhielten sie sich schweigsam. Ihre Route war bekannt und es gab wenig, über was man sich hätte austauschen können. Wie Geister bewegten sie sich in den Schatten der sterbenden Tage und stellten immer wieder unter Beweis, wie schwierig es war, wenn derart verschiedene Wesen und Charaktere miteinander auskommen mussten. Allein schon die Sonnenempfindlichkeit der Silberwölfe war eine Bürde. Ughtred wäre es weit angenehmer gewesen, zu den hellsten Zeiten der Tage zu reiten. Für Tal und Kyon hingegen wäre es alles andere als angenehm gewesen, sich der Gnade der beiden Tagesschwestern zu unterwerfen. Ihre liebsten Zeiten waren die späten Nachmittage, wenn nur noch Hiyween  ihr weißes Licht verbreitete und die Argol Fe den Horizont in verbranntes Rot und tiefes Violett tauchte und die Morgendämmerungen, wenn das kommende Licht nicht mehr als eine Ahnung darstellte. In der Dunkelheit der Nacht waren sie müde und wankten in ihren Sätteln und sobald es zu hell wurde, sahen sie nichts mehr oder beklagten sich über Sonnenbrand.

Ab und an hockten sie gemeinsam am Lagerfeuer und starrten in die sonderbaren und wirren Aufzeichnungen Lonkaiyths. Sie rätselten, was es mit dem Zahnrad auf sich hatte und wie in aller Welt sie in Shishney den Speer Raguels erringen sollten – wenn es diesen überhaupt gab, woran vor allem Kyon zweifelte, denn er wusste am besten, wie Lieder und Sagen entstanden und was man auf ihren Wahrheitsgehalt geben konnte. Die Andeutungen am Ende des Tagebuches ließen sie weitgehend unkommentiert. Die Vorstellung, über Raugnith in einen der Vulkanberge zu reisen, war schlichtweg absurd.

Ughtred fragte sich immer wieder, warum sie es dann taten. Er hatte verstanden, dass die Hexe ihrer Titel beraubt, versuchte sich zu rehabilitieren. Das konnte er noch verstehen, denn auch er war ja ein Gezeichneter und der Begriff ›Dieb‹ würde wohl sein ganzes Leben an seinem Namen kleben bleiben. Warum der verrückte Sohn des ganz eindeutig noch verrückteren Tagebuchschreibers jedoch den irren Worten seines Vaters folgte, begriff der Nygh nicht. Es wollte ihm nicht in den Kopf, warum ein Kind dem eindeutigen Wahn der Eltern folgen sollte. Er hatte Kyons Mutter gesehen und schnell begriffen, dass der Wahnsinn zweifelsfrei in der Familie – oder gar in der Spezies – lag. Alle Silberwölfe waren verrückt. Sie lebten nicht in den selben Sphären wie normale Lebewesen, also waren sie aus diesen verrückt. Was dies aus ihren Geistern machte, war Ughtred nun eindrucksvoll klar gemacht worden. Wölfe krochen aus ihren Rücken und sie begaben sich auf Abenteuerreisen, die nicht die geringste Aussicht auf Erfolg versprachen.

 

Nach mehreren Tagen durch die Marsch, in denen sie immer wieder ihr Trinkwasser an den Zuflüssen von Seen auffrischen konnten, wurde das Land trockener und im Süden wisch der Gebirgsausläufer aus ihrem Blickfeld. Schweren Herzens entschieden sie, dass es an der Zeit wäre in diese Richtung abzubiegen. An dieser Stelle gab Ughtred dem Tagebuch recht. Wenn man von hier oben aus nach Draiyn Andiled wollte, war dies der richtige Weg. Er hoffte nur, dass die Ruine, von der das Tagebuch sprach, auch tatsächlich da war und sie nicht sinnlos durch den Wüstensand reiten und früher oder später verdursten oder von den Draiyn gefressen würden.

Ang`Rin, er hatte von diesem Ort gelesen. Es war aus der Sicht von Korezuul, eine der nächsten, von den Silberwölfen geschaffenen Strukturen in der Umgebung seines Heimatlandes. Vor über zehn Millenien hatten sie versucht hier am Rande der Wüste einen Brückenkopf zu etablieren, doch die Draiyn waren da anderer Meinung. Sie waren in Scharen gekommen, hatten den Himmel verdüstert und jeden Stein, den die Wölfe errichtet hatten, geschliffen und dem Wüstensand zurückgegeben. Die Eindringlinge waren innerhalb kürzester Zeit ausgelöscht worden. Seither lag die Ruine in den Schatten einer tiefen Senke. Tiefenheim nannten die Nyghs diesen Ort. Der Name war nicht nur der Lage wegen gewählt worden. Auch in der Kultur der Korezuulen war die Vorstellung einer unendlichen und finsteren Tiefe ein Begriff und AngˋRin war ein solcher Ort. Dort konnte nichts Gutes gedeihen. Die Silberwölfe hatten sich zweifelsfrei verteidigt und er wusste nur zu gut, zu was sie fähig waren, wenn man bedrohte.

Trotz der fehlenden Lopen kamen sie ganz gut voran. Selbst Kyon schien sich etwas an das Reiten und den Sand gewöhnt zu haben. Gerade hatte Ughtred ein kleines Rinnsal zwischen zwei Gebirgsfalten entdeckt und diesen Ort als Mittagsrastplatz vorgeschlagen, als Kyon mit ausgestrecktem Arm in die Ferne deutete. Tal schien zu versuchen zu erkennen, auf was der Barde deutete, aber es war Ughtred schon früher aufgegangen, dass die Augen der Hexe nicht sonderlich gut zu sein schienen. Sie zuckte mit den Schultern und er rief zu ihrer hinüber: »Ein Draiynlager, wenigstens vier Feuerstellen und garantiert nicht weniger als drei Dutzend der Käfer.«

Kyon ließ Ohren und Schultern herabsinken und wäre er mit einem Wolfsschwanz ausgestattet gewesen, hätte er ihn zweifellos zwischen die Hinterbacken geklemmt. Seine Verletzung war zwar gut verheilt, aber die Angst vor den Gefahren der Wüste steckte ihm tief in den Knochen.

»Wie dürfen kein Feuer machen und sollten sie auskundschaften«, sagte der Nygh mit fester Stimme und ging zu Tal. »Vielleicht sind sie satt. Angeblich bilden sie so große Gruppen mit Lagerfeuern und Zelten eher nach einer erfolgreichen Jagd. Wenn wir Glück haben, lassen sie uns einfach ziehen.«

»Einfach ziehen?« gab Kayon, der ebenfalls näher gekommen war knirschend von sich und fügte dann in Befehlston hinzu: »Wir umgehen das Lager im Westen.«

Ughtred führte seine Finger an das Hexenzeichen auf seiner Stirn und rieb es, als er sagte: »Das würde uns mehr als fünf Tage kosten und zu weit vom Gebirge wegführen. So viel Wasser können die Lopen nicht tragen. Unmöglich.«

»Du bestimmst ganz sicher nicht, ob ich gefressen werde oder verdurste und das Letzte, was ich höre, soll ganz sicher nicht das Bersten meiner Knochen unter den Mandibeln dieser Scheusale sein«, herrschte Kyon den Nygh an.

Dieser konterte nicht minder aufgebracht: »Der Herr Wolff ist sich also sicher als Mumie in der Wüste verschrumpeln zu wollen, nur um etwas später von den Käfern gefressen zu werden. Das ist ja sehr klug von ihm.«

Tal trat dazwischen und sagte: »Können wir uns das erst einmal ansehen, bevor wir uns die einen Tod entscheiden?«

Sie raffte ihren Mantel zusammen und zog sich zum Schutz gegen die Sonne die Kapuze tief ins Gesicht und stapfte durch den Wüstensand.

Gemeinsam überlegen sie, weiter nahe sie dem Lager kommen könnten, eher die Insektenkrieger die bemerken würden. Sie ließen Odugme mit den Lopen zurück und näherten sich den Rauchsäulen der Feuer. In einer Distanz von etwa zweihundert Schritten, sah Kyon, dass immer wieder Draiynspäher von Boden aufstiegen, einige Zeit in der Luft herum flatterten und dann wieder zu Boden sanken. Die drei waren zwischen Steinen und Senken recht gut getarnt, konnten aber nicht sicher sein, unentdeckt zu bleiben. Sie bewegten sich zurück zu ihrem Lager und schließlich entschied sich Tal zum Einsatz ihrer Hexenkräfte. Mit fester Stimme erklärte sie den anderen, wie sie es anstellte, ihren Geist aus ihrem Leib über den Äther in Norths Hülle zu transferieren. Sie nutzte dafür die psionische Disziplin des Astralwanderns und wollte nun in diesem, für reales Leben unsichtbaren Zustand zu den Draiyn geben und sie ausspionieren. Sie hätte das zwar bisher noch nie probiert, ohne die Hülle, aber sie wolle es versuchen.

Kyon und Ughtred kommen sich nicht vorstellen, wie sich so etwas auswirkte, aber Tal machte auch nicht den Eindruck, als wäre ihre Idee verhandelbar. Also begann sie sich ins Zelt und begann sich auf die Aufgabe vorzubereiten. Sie murmelte einige Worte zu ihren Schutzmonden und griff dann in den Raum des Feinstofflichen. Normalerweise versetzte sie hierzu ihren Körper in Stase, aber sie wollte kein Risiko eingehen und schnell zurückkehren können. Also verzichtete sie auf Alchemie und ruckte ihren Geist aus dem Fasern ihres leiblichen Seins.

Zu ihrem Erstaunen funktionierte es schneller und besser als sonst. Wie von einer unwirklichen Schwere befreit, glitt sie aus ihrem Körper in den Negativraum der Astralwelt. Alles Helle wurde dunkel und alle sie durch das Material des Zeltes glitt, erschienen ihr die Sonnen als gewaltige bedrohliche tief schwarze Löcher am Himmel.

Doch was dies der Himmel? War oben noch oben? Sie fiel, doch die Richtung schien seltsam falsch. Mit hoher Geschwindigkeit glitt sie durch die Wüste auf eine der Lopen zu. Deutlich konnte sie dabei die feine goldene Schnur erkennen, die ihren gleißenden Astralleib mit ihrem feststofflichen, nun merkwürdig falschen Körper verband. Und dann fand sie sich plötzlich in Norths totem Fleisch wieder. Sie war unwillkürlich in ihn gefallen und musste sich nun mit Mühe aus ihm heraus kämpfen. Es kostete sie eine unglaubliche Kraftanstrengung North nicht mehr als unten und zentralen Gravitationspunkt wahrzunehmen. Ihr war, als vergängen Stunden, bis es ihr endlich gelang, den Horizont als Anker anzuvisieren und in Richtung des Draiynlagers zu gleiten, doch als sie den Bogen endlich raus hatte, ging es ganz leicht.

Bald umschwebte sie das Lager und machte große Augen. Es waren über fünfzig der Insektenmänner und sie hatten irgend etwas gigantisches erlegt. Das Ding lag in der Mitte ihrer Feuer und musste wenigstens dreißig Meter lang gewesen sein. Von seiner Seite standen gigantische, segelartige Dinger ab und ragten wenigstens zwanzig Meter vom Boden in die Höhle. Um den Kadaver lagen Dutzende getöteter Draiyn im Wüstensand. Der Kampf gegen das riesige Wesen hatte viele Opfer gekostet, doch dies schien den Überlebenden keinerlei Trauer zu bereiten. Im Gegenteil, sie hatten einige ihrer toten Kameraden zu den Feuern getragen und bereiteten sie zusammen mit Fleischbrocken der Beutel als Mittagsmenü zu. Tal schüttelte ihren astralen Kopf und ließ sich von ihrem Goldfaden zu ihrem Körper zurückziehen. Sie hatte genug gesehen. Dieser Draiyn waren satt oder würden es in Kürze sein. Die Jagd war fürs erste vorüber.

 

Als sie die Augen öffnete starrten Kyon und Ughtred die junge Hexe an. Sie wusste nicht, wie es aussah, wenn sie in ihren Körper zurückkehrte. Bei Yartha yr Strontide, ihrer einstigen besten Freundin im Zirkel der Doppelmondhexen hatte es immer ausgesehen, tauche sie aus einem eisigen Gewässer auf. Es dauerte einige Minuten, bis sie wieder ganz zu Sinnen gekommen war, aber dann berichtete sie, was sie gesehen hatte und das sie es für ungefährlich hielt, sich den Draiyn zu nähern. Kyon war sein Unbehagen anzusehen, aber Tal bekräftigte ihre Annahme und auch Ughtred pflichtete bei, dass satte Draiyn angeblich sogar gastfreundlich sein sollten. 

Schließlich gab der Barde kleinbei und sie entschlossen sich, mit Sack und Pack ihr Glück bei den Wüstenbewohnern zu versuchen. Sie luden ihre Ausrüstung auf die Lopen, erklärten dem Phani, er solle mit dem Zeug möglichst weit hinter ihnen bleiben. Dann ritten sie beherzt los.

 

Zu Kyons Unbehagen dauerte es nicht lange, bis die Insekten die kleine Reisegruppe entdeckten. Zuerst waren es die flatternden Späher und bald rotteten sich auch am Boden Insektenmänner zusammen und zeigten mit ihren Chitinklauen auf sie. Schließlich kamen vier besonders große Draiyn herbei und begannen alle vier gleichzeitig mit ihren langen Armen zu winken. Kyons Magen zog sich schmerzhaft zusammen, denn er erinnerte sich nur zu gut an das Verhalten der ersten Draiyn denen er begegnet war. Sie hatten ebenfalls freundlich gewunken, bevor sie ihre Speere geschleudert hatten und mit klickenden Mandibeln auf ihn und seine Gefährten losgegangen waren. Und dann traf ihn der Schock wie ein Fausthieb. Einer der Vier offensichtlichen Anführer, war der selbe Insektenmann, der die Gruppe im Osten angeführt hatte. Deutlich war das dünne Bein zu erkennen, welches ihn sicher noch eine ganze Zeit lang zu einem Unikat machen würde.

»Der Krüppel! Seht doch, dass ist der Mistkerl, der uns entkommen ist«, zischte er den anderen zu. Ughtred hatte es auch bemerkt, aber was sollten sie tun? Wenn sie sich nun abwandten, lösten sie am Ende das Jagdverhalten der Wüstenbewohner aus.

Diese unterdessen machten keine Anstalten zu ihren Waffen zu greifen. Sie wedelten wie Winkerkrabben der moraidischen Küsten und klickten dabei unverständliche Wörter. Tal und Kyon verstanden Kcric nur sehr mäßig. Im Laufe ihrer Erziehung hatten sie einige Phrasen wie ›trc Naidric trc«, was so viel wie ›keine Nahrung‹ bedeutete, beigebracht bekommen, aber eine Sprache, die man selbst nicht sprach, verstand man auch nicht. Ughtred hingegen hatte mehrere Schriften über Draiyn Andiled und seine Bewohner gelesen und sich mehr als nur die Friss-mich-nicht-Ansprache behalten. Er überlegte schnell und begann nun ebenfalls zu winken. Als er sich den Draiyn näherte sagte er »Andiiiled trc noiz noiz« und hoffte die für seine Zunge praktisch unaussprechlichen Begriffe halbwegs verständlich wiedergegeben zu haben. Es bedeutete in etwa, ›das Land ist groß‹ und stellte eine Art freundliche Ansprache dar. Schnell deutete er auf sich und die beiden Silberwölfe und fügte »Traictek ii« hinzu, was die Bezeichnung für Männer. Er hatte gelesen, dass die Draiyn hier draußen auf der Jagd, sich nur aus einem der beiden männlichen Geschlechtern ihrer Spezies zusammensetzten. Die weiblichen und die Angehörigen des zweiten männlichen Geschlechtes wurden in den Draiynstädten als Sklaven gehalten und dienten einfachen Arbeiten und der Fortpflanzung. Nur die Großen Männer hatten das Sagen und Ughtred hoffte, mit seiner Aussage eine Art Gleichstellung zu erwirken.

Die beiden Silberwölfe sahen sich an. Sie waren erstaunt über die linguistischen Fähigkeiten ihres kleinen Diebes. Es steckte doch mehr in dem Nygh, als sie anfangs gedacht hatten, denn seine Sprachkenntnisse waren eindeutig angekommen. Die Draiyn plapperten erfreut drauf los, als wären sie hier draußen am Rande der großen Wüste einem lange verschollenen Freund begegnet. Interessanterweise galt dies auch für den Häuptling mit dem dünnen Hinterlauf. Entweder erinnerte er sich überhaupt nicht, oder es war es war für ihn eine Lappalie, dass die Fremden seine Jagdgruppe ausgelöscht hatten. In Wahrheit hatten die Draiyn wahrscheinlich einfach nur eine sehr abweichende Vorstellung des Konzeptes Gerechtigkeit. Sieger waren die, welche später noch lebten. Unterlegene hingegen wurden gefressen. Die Vorstellung von Schuld gab es im Dasein der Insektenmänner nicht. Sie kannten keine Vergehen innerhalb ihrer Kultur und unterschieden hier draußen auch nicht zwischen Freund und Feind. Waren sie hungrig, fraßen sie, waren sie satt, teilten sie.

Schließlich deutete der größte der vier Häuptlinge – Ughtred erklärte, dass es laut seiner Bücher, recht häufig zu Zusammenschlüssen von mehreren Stämmen käme – einen seiner Krieger heraus, der die Fremden im Lager herumführen und sie später in eins der riesigen und aus abgeworfenen Draiynflügeln bestehenden Zelten einladen sollte. So schlenderten sie durch den verwüsteten Bereich. Ughtred hatte Sorgen wegen des Phani und der Lopen, aber die Insektenmänner gaben ihnen Wasser und behandelten sie ganz wie Ihresgleichen. Sahen sie die Tiere auch als Große Männer?

Der zugewiesene Führer plapperten und klickte in seiner schwer verständlichen Sprache und deutete immer wieder auf das riesige tote Wesen, um dessen Leichnam auch die Draiyn gruppiert hatten.

Plötzlich stieß Tal hervor: »Bei den erkalteten goldenen Eiern des Mirthas, das ist ein Skritii! Die Bastarde haben einen verdammten Riesenamytoren massakriert und jetzt fressen sie ihn auf, als wäre es ein ganz normales Moorschwein.«

Die riesigen Skritii waren die Geisel der Tiba Fe. Die an riesige Insekten gemahnende Amytoren bevölkerten die Lüfte über den Wüsten und Gebirge des ganzen Planeten. Sie landeten nur, um Beute zu schlagen oder zu fressen. Ein ausgewachsenes Skritii konnte eine Länge von bis zu zwanzig Metern erreichen. Meist trieben sie träge mit ihren sechs Flügeln paddelnd dahin. Erspähten sie jedoch Beute, stülpten sie lange Tentakel aus und griffen an. Mit den spitzen Dornen an ihren einzigen Fangbeinen schlugen sie nach ihrer Beute und verbrannten sie gleichzeitig mit der unnatürlichen schwarzen Glut der peitschenden Tentakel. Wehe der Seele, die im Schlund eines solchen Ungeheures endete. Niemand würde es wagen den Dünen von Draiyn Andiled auf einem Reittier zu durchqueren oder eines der Gebirge der Tiba Fe mit einem langsamen Flugschiff zu überfliegen. Zu gefräßig und grauenhaft waren die Amytoren dieser trostlosen Ländereien. Nur die Draiyn wussten mit diesen Fährnissen umzugehen und hatten gelernt den Skritii aus dem Weg zu gehen oder sie gar selbst zu jagen.

Direkt an den Seiten des Kadavers befanden sich die vier Mannschaftszelte, die den Wüstenkriegern als Unterkünfte dienten. So wie die Silberwölfe Probleme mit den Sonnen hatten, schienen die Draiyn die kalten Wüstennächte zu meiden, denn kaum waren die Tagesgestirne hinter dem Horizont verschwunden, zogen sie sich in ihre Notbehausungen zurück und hinterließen nicht einmal Wachen. Kyon, der dieses Verhalten als Erster bemerkte, flüsterte den anderen seine Entdeckung zu, denn er sah in diesem Wissen einen großen taktischen Vorteil.

Der Führer wies immer wieder auf den Amytoren und auf seine Mandibeln und wollte die Gäste damit zur Nahrungsaufnahme ermuntern. Doch alle drei hatten großen Respekt vor den unguten Elementen, die zweifellos in jedem dieser Wesen schlummerten. Vielleicht mochten die Draiyn immun gegen die Schrecken amytorischer Seuchen sein und vielleicht hätte sogar der Nygh mit seiner geradezu übernatürlichen Resistenz das Amytorenfleisch verkraftet, aber aus den Silberwölfen hätte es garantiert zappelnde Mutationen gemacht. Nein danke, aber es gab genügend tote Insektenmänner und die schmeckten ja bekanntlich wie Huhns.

Tatsächlich war es den Draiyn egal, was mit ihren Toten geschah. Sie mischten bewusst aus dem Amytoren geschnittene Brocken mit Armen und Beinen ihrer gefallenen Kameraden und brieten das Ganze an riesigen Spießen aus den Flügelholmen der Beute. So kann es, dass die vier Reisenden in dem Zelt ihrer ehemaligen Feinde kampierten und deren Tote verzehrten. Selbst Ughtred kostete von dem proteinhaltigen Fleisch, denn Nyghs töteten zwar nicht um sich zu ernähren, aber sie nahmen meist alles dankbar an, was die Große Mutter ihnen schenkte. Auf den Amytorenbraten verzichtete er jedoch.

 

Irgendwann im Verlaufe der Nacht begann Tal dann noch, mit den Draiyn Handel zu treiben. Draiynwachs war eine begehrte alchemistische Zutat für Hexenrezepte und sie wollte die Gelegenheit nutzen. Sie selbst hab ihre Pfeife als Waschmittel, denn die hatte ohnehin vor, sich diese lästige Angewohnheit abgewöhnen und wenn sie es nicht schaffen sollte, würde sie Kyons Rauchzeug okkupieren.

Die Draiyn lernten das Rauchen schnell und es schien sie sehr zu belustigen, wenn einer der ihren den Qualm in seinen Kopf sog und dann schier daran verendete. Sie wollten mehr Pfeifen und schließlich zeigte Ughtred ihnen, wie man etwas durchaus Vergleichbares aus dem Chitin der Toten nachbauen konnte. Sie waren begeistert und beschenkten die neuen Freunde mit Waffen, Gelbwein, Wasser und Proviant.

Doch nichts von alledem konnte Kyon täuschen. Er hockte stumm mit eingezogenem Kopf am Rande des Zelteingangs und beobachtete den Zirkus. Er wusste ganz genau, wie weit die Gastfreundschaft der Draiyn reichte. Sie waren satt, aber wie lange würde dies so bleiben? Niemand konnte sagen, ob sie nicht gleich am Morgen Lust auf zartes Smavarifleisch bekämen und dann wollte er so weit wie möglich von diesem barbarischen Treiben entfernt sein. Er sprach in dieser Nacht noch weniger als sonst, aber als die Dunkelheit ihren Höhepunkt überschritten hatten, weckte er die eingeschlafene Hexe und deutete Ughtred mit einem Nicken zum Zelteingang an, dass er nicht länger vorhatte zu verweilen.

Doch wiederherstellen ließen die Draiyn ihre Gäste ziehen. Niemand kümmere sich um die Vier und ihre Reittiere und als am Horizont ein leichtes Flimmern das Nahen der Sonnen ankündigte, war das Lager der Insektenmänner schon nicht mehr zu sehen.

Der Weg führte nach wie vor am Gebirge entlang und wieder hatten die Abenteuer Glück. Noch vor ihrer ersten Rast fanden sie ein Wasserloch und konnten noch einmal ihre Vorräte auffrischen. Doch die Wüste war die Wüste und wie erwartet, wurden die kommenden Reisetage hart. Der Frühling war mild und bescherte verhältnismäßig erträgliche Wetterverhältnisse und einmal regnete es sogar einige Minuten, doch die endlosen Reitstunden, die Eintönigkeit der Reise und die allgegenwärtige Angst vor einer erneuten Begegnung mit den Draiyn oder noch schlimmeren Bewohnern dieses trostlosen Landes, drücken die Stimmung. Kyon war zwar genesen, doch er kämpfte mit einer Fehlhaltung im Sattel und Tal klagte über wunde Stellen und Gliederschmerzen. Odugme litt an den Mangelerscheinungen der ersten Reise und auch ihm machten die endlosen Tage und Nächte im Sattel zu schaffen. Einzig Ughtred schien das alles nichts auszumachen. Er sprach nicht mehr als die anderen, aber wenn er Schmerzen hatte, war es ihm nicht anzusehen und bei jeder Rast kümmere er sich klaglos um die Lopen und das Zelt für seine Gefährten. Er war stets der Erste, der aufstieg und der Letzte, der sich zur Ruhe legte. Unermüdlich schienen die Strapazen der Reise an ihm abzugleiten. Nur tief in den Nächten, wenn er einsam am Feuer saß und sich mit der Zukunft beschäftigte, war er eindeutig uneins mit der Welt. Doch sobald die Realität der täglichen Aufgaben ihn einholte, hob er den Blick und strahlte eine, seinem Volk ureigene, unerschütterliche Zuversicht aus.

 

Der irre Riese

Eines Tages war in der Ferne eine weite Ruinenlandschaft in einer unübersichtlichen Senke zu erkennen. Das Ziel war endlich erreicht. Welche Gefahren würde die Reisegruppe hier in Ang`Rin erwarten?

Es war früher Abend und aus der Entfernung war kein Leben in der Ruine zu erkennen. Kayon holte den Kristall seines Vaters hervor und zitierte: »Hütet euch Wanderer und gebt acht und betretet diesen Totenacker niemals bei Nacht!«

Ughtred nickte und deutete auf eine Felsformation, die sich als Schutz und guter Lagerplatz anbot. Wie viele Male zuvor hatte der Nygh mit Odugmes Hilfe das Zelt auf, kümmere sich um die Lopen und wartete dann geduldig, bis die Silberwölfe sich soweit ausgeruht hatten, dass sie wieder ansprechbar waren. 

Tal kam zuerst aus dem Zelt. Es war stockdunkel und Ughtred hatte ein wenig gedöst. Nun öffnete er die Augen und sah zu, wie sich die Hexe ankleidete. Einerseits war sie schön und ebenmäßig, aber ihre langen Glieder hatten für ihn auch etwas unwirklich Tierhaftes. Die Frauen seines Volkes waren ganz anders. Sie hatten Muskeln und waren stark, schön und widerstandsfähig. Die Silberwölfin war so anders und er hatte nach wie vor Probleme, ihre Gesinnung einzuordnen.

Sie trat zu ihm und deutete auf den kleinen Topf, der an einem Draiynflügelholm über dem Feuer hing.

»Suppe«, sagte er leise und fügte dann hinzu: »Das meiste hat der Große geschlürft.«

Tal nickte, nahm den Holzlöffel aus dem Topf und nippte an der heißen Brühe. Ughtred fragte sich, wie man sich auf Dauer so ernähren konnte. Silberwölfe vertrugen kein Salz und waren generell empfindlich, was die Zutaten ihrer Nahrung betraf. Bei seiner ersten Suppe hatte er dies nicht richtig einzuschätzen gewusst und hätte Kyon beinahe vergiftet. Tal hatte dem Barden eine Tinktur verabreicht und dieser verzichtete mehrere Tage darauf, mit dem Nygh zu sprechen.

Sie nickte erneut, als wolle sie sagen, gut gekocht, doch er wusste, dass man das Erhitzen von Wasser und Draiynfleisch kaum als Kochkunst bezeichnen konnte.

»Kommt er auch?« wollte er wissen, doch Tal hatte sich abgewandt und wanderte mit den Augen den Horizont entlang.

Diese Frau war ihm ein Rätsel. Er hatte in seiner Zeit in Kisadmur viele Silberwölfe und -Wölfinnen kennengelernt, aber die Doppelmondhexe war ein ganz eigenes Exemplar. Mit ihrer schmuddeligen Kleidung, den auf einer Seite angebrannten Haaren und diesem Drang, zu den Schönen und Reichen der Gesellschaft zu gehören, stand sie im krassen Widerspruch zu ihrer eigenen weichen Ader, wenn es darum ging, anderen zu helfen. Seit Tagen redete sie unermüdlich auf Bienenstich ein. Donnerhufs Sohn musste die anderen Lopen anführen, tat sich aber ganz offensichtlich schwer damit. Und was tat die Hexe? Sie versuchte ihm Mut zuzusprechen. Rational denkende Wesen wie die Silberwölfe, reisten auf Lopen durch die größte Wüste der Tiba Fe und unterhielte sich mit Tieren, weil diese Selbstwertprobleme hatten. Außerdem war sich Ughtred mittlerweile absolut sicher, dass Tal seinen Vater auch ohne Gegenleistung gerettet hätte. Vielleicht wäre sie nicht den ganzen Weg von Shishney nach Dranought wegen dem Kranken gereist, aber wenn ein glücklicher Zufall sie nach Korezuul und vor die Schmiede getrieben hätte, wäre sie eingetreten und hätte geholfen. Sie war mehr Diebin als er es jemals sein könnte, wahr eine grimmige Kriegerin, die ohne zu zögern tötete und sie forschte nach Kräften, die kein lebendes Wesen jemals anrühren sollte, aber er wusste genau, dass sie über all diese Dinge hinaus, ein gutes Herz hatte.

Kyon duckte sich aus dem Zelt heraus und streckte Ughtred seinen nackten Hintern entgegen, als er sich seine Kleidung aus der Unterkunft angelnd umdreht und bückte.

Der Nygh verzog das Gesicht und sah weg. Es gab also noch schlimmere Dinge, als die Tiefenmächte der Hexenkunst, dachte er und goss der Suppe etwas Wasser nach, damit sie für den Barden noch bekömmlicher wurde.

 

»Hier«, sagte die Hexe und verteilte an Kyon und Ughtred je zehn kleine Zuckerwürfel. »Das ist Totensüß. Ich habe es nach einem Rezept aus meinen Lehrbüchern des Zirkelhauses zubereitet. Lonkaiyth hat es als Randnotiz erwähnt und geschrieben, dass die Hexen ihm gram wären und er wohl daher keins hätte auf seine Reise mitnehmen können. Aber wir haben es. Eine meiner Ausbilderinnen war der Meinung, dass es eine wirklich starke Wirkung auf Untote habe.«

Sie behielt selbst ebenfalls einige der Würfel und sah die anderen beiden zufrieden an.

»Wie wirkt es auf die Lebenden?« wollte Kyon wissen.

»Es hat ein wenig gefährliches Gift als Basis und besteht ansonsten aus Ingwer und Zucker. Wahrscheinlich würde es euch langsam und qualvoll töten, Herr Musikus«, lachte sie und sah den Nygh an. »Du kannst es ruhig probieren. So wie es aussieht wirken unsere Gifte ja nicht bei Skergenblut.«

Ughtred zeigte die Zähne und erwiderte: »Besser nicht. Man kann nie wissen und was aus den Beuteln der Silberwölfe kommt ist selten gut.«

Sie lachte leise und wollte noch etwas sagen, aber Kyon wies in Richtung der Senke.

 

Zu dritt lagen sie bäuchlings am Wüstenboden und blickten über den Grad in die Senke hinunter. Kyon deutete mit spitzem Finger auf einen Punkt zwischen den Steinen und etwas, dass einst ein Gebäude gewesen sein könnte. Die Grundrisse der Strukturen waren von hier oben schwer zu deuten, aber Kyon hatte recht. Dort, wo sein Finger hindeutete, bewegte sich etwas in den Schatten.

Einen Moment später deutete der Barde erneut hinunter und wieder zuckte eine Bewegung durch die einstigen Straßen. Dann kniff er die Augen zusammen und reckte den Kopf. Langsam kroch er von der Senke weg und flüsterte, dass Wache gehalten werden musste. Ughtred fragte sich einen Moment, warum er sich dann einfach zurückzog, erkannte dann aber den Befehl in dieser Handlung und sah Tal an. Diese hatte gleich begriffen und flüsterte: »Ich passe auf.«

Der Nygh nickte und kroch hinter Kyon her. Tal unterdessen blickte in die Senke hinab und sah überhaupt nichts. Ihre Augen waren nicht gerade ihre Stärke und wären die beiden Männer ein wenig aufmerksamer ihr gegenüber gewesen, hätten sie kommen sehen, was als nächstes geschah.

Sie stand auf, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen und da erkannte sie schließlich tatsächlich etwas, da unten in der Senke. Eine winzige Gestalt bewegte sich aus der Schwärze einer einstigen Häuserwand und trat zuerst auf einen Platz zwischen einem Trümmerhaufen und weiteren trostlosen Wänden, nur um sich dann aus diesem Chaos zu lösen und einen vorher kaum erkennbaren Pfad in Richtung des Grates zuzubewegen, auf dem Tal stand.

Wind trug Sand in die Luft und machte es noch schwerer, etwas auf die Entfernung zu erkennen, aber die Gestalt kam eindeutig den Weg herauf und etwas weiter unten folgte eine weitere. Als Kyon gerade zu Ughtred sprechen wollte, erscholl laut Tals Stimme: »Sie kommen!«

Von diesem Moment an ging alles schnell. Tal zog ihr Schwert und Ughtred lief auf sie zu. Kyon war fast bei den Lopen und rief dem Phani einen Befehl zu, doch dieser schien nicht zu verstehen. Als die Hexe sich wieder dem Grad zuwandte, war die erste der Gestalten oben angekommen. Sie musste noch über zwanzig Meter von ihr entfernt gewesen sein, doch sie holte mit etwas Blitzendem aus und schleuderte es in einem weiten Bogen in die Luft. Flirrend und kreisend flog die Doppelklinge auf Tal zu, verfehlte sie jedoch. Dann war plötzlich Ughtred neben ihr. Der kleine Mann hatte das Kurzschwert aus Undorn gezogen und stürmte auf den Fremden aus der Senke zu. Und als wolle die Wüste von Draiyn Andiled das Tagebuch von Kyons Vater bestätigen, fletschte der einstige Silberwolf, nun zu einer untoten Fratze seines früheren Selbsts verkommen, gierig seine Zähne. Rot glimmende Augen hefteten sich fiebrig auf den Nygh und eine dunkle Langklinge erhob sich, geführt von krallenbewährten dünnen Knochenfingern. Der lebende Tod, Wolfsfänge und unbändiger Hass auf die Lebenden kam auf Ughtred zu, doch dieser wich keinen Deut zurück. Er sprang auf den untoten Silberwolf zu und schwang dabei seine alte Waffe, doch sein Gegner war unglaublich schnell und parierte seinen Hieb mit der eigenen Klinge. Ughtred focht wie ein Berserker, doch wieder und wieder trafen sich die Waffen und das Messingschwert drohte an dem Silberstahl des Toten zu zerspringen.

Plötzlich machte Ughtred einen Ausfallschritt, doch der Untote konterte mit einem scheußlichen Grinsen seines Mumiengesichts und stach dem Nygh das Langschwert in die Schulter, zog es heraus und drosch sofort erneut auf sein Opfer ein. Ughtreds Rüstung fing den größten Teil der Wucht beider Treffer ab, aber er ging zu Boden und verhedderte sich in den gerissenen Gurten des Harnischs. Ein Pfeil zischte über seinem Kopf vorbei und hätte den Untoten getroffen, doch dieser wischte mit dem Schwert durch die Luft und parierte auch den Pfeil.

Zu allem Überfluss war an der Bruchkante der Helm und das flatternde dünne Haar eines zweiten untoten Wolfes aufgetaucht. Ughtred versuchte von seinem Gegner wegzukriechen, aber dieser stakste ihm hinterher, wich einem zweiten Pfeil aus und ramme dem Nygh die Schwertspitze durch die Wade.

Ughtred stieß einen Schmerzensschrei aus und konnte nur noch sehen, wie das abnorme Wesen die lange Klinge zu einem Todesstoß anhob, doch anstelle zuzuschlagen, ließ der Untote seine Waffe in den Sand fallen und packte die zerfledderte Rüstung des Nyghs. Mit verzerrter Fratze rüttelte und zerrte das Wesen an dem Nygh und schließlich gaben die Gurte nach und der Harnisch flog in die Luft. Doch der Untote war noch nicht mit Ughtred fertig. Wieder bückte er sich nach dem Nygh und grub seine langen, zersplitterten Nägel in sein Fleisch. Er zerriss die Oberbekleidung und wühlte in Ughtreds Sachen, bis endlich ein zusammengeknotetes Tuch zum Vorschein kam.

Eine Sekunde schien die Tiba Fe still zu stehen. Dann ließ der Angreifer aus dem Schattenreich den Nygh in den Sand plumpsen. Er hatte was er wollte. Gierig zerfledderten die langen Spinnenfinger das Tuch und brachten kleine gezuckerte Würfelchen hervor. Totensüß, dachte Ughtred. Das Zeug wirkte. Im gegensatz zu dem Messingschwert. Manche alten Legenden schienen zu stimmen, andere nicht. Doch hatte er den Toten überhaupt mit der Klinge getroffen? Das Monster hatte sich derart schnell bewegt, dass er nicht sicher war, einen Treffer gelandet zu haben.

Er rutschte rückwärts von dem aufrecht über ihm stehenden Wesen weg. Hinter sich hörte er Tal etwas rufen und als er aufblickte, sah er den zweiten Toten. Vierzehn mal vierzehn, ging es ihm durch den Kopf. AngˋRin musste übersät von diesen unheiligen Bewohnern sein.

Und da kam auch schon der zweite auf die Anhöhe gewankt. Er bewegte sich ruckhaft, schien den Nygh kurz ins Visier zu nehmen, huschte dann aber auf den ersten Angreifer zu und packte den Beutel, den dieser sich mit einer seltsam lebendigen Geste vor das Gesicht drückte. Sofort kam es zu einem wilden Gerangel. Die beiden aus der Anderwelt zurückgekehrten Unwesen rauften sich, schlug mit Krallen nacheinander und zogen sich an den strähnigen Haaren.

Dies war der Moment, um die Bühne zu verlassen, dachte sich Ughtred und kam auch schon auf die Knie. Er wandte sich den anderen zu und sah  nicht, wie ein dritter Untoter den Grad erreichte. Doch Kyon war zur Stelle. Er hatte einen der Zuckerwürfel an einem Pfeil befestigt und schoss diesen nun über den Kopf des Nygh hinweg in den Wüstensand dem neuen Untoten vor die Füße. Sofort stürzte sich dieser darauf und war zumindest für eine Weile abgelenkt. Auch Tal hatte von ihren Würfeln geopfert und in die Gegend geworfen, aber sie hatte sich verschätzt und suchte nun nach dem Zeug. Doch was der Sand hatte, gab er nicht wieder her.

Stattdessen machte sie einen Schritt auf die Rangelnden zu, hob die Chentaiklinge ihres Bruders hoch über den Kopf und schlug in einem weiten Bogen zu. Knochen splitterten und ein Schädel flog durch die Luft und aus der Sicht der Hexe war der Gerechtigkeit an dieser Stelle genüge getan. Als sie Ughtred auf sich zuhumpeln sah, beließ sie es dabei und packte den kleinen Schmied an der Schulter.

Kaum eine Minute später sprangen die drei auf ihre Lopen und galoppierten davon. Irgendwo hinter ihnen war das Totensüß aufgebraucht und der erste der toten Silberwölfe hob sein fleckiges, ausgemergeltes Haupt. Er schnupperte in der Luft, als wäre er auf der Suche nach weiteren Leckereien, doch die Beute hatte sich schon zu weit entfernt. Er keuchte etwas, als wolle er einen Befehl aussprechen, doch dann ließ er die Schultern sinken und wandte sich der Ruine zu. AngˋRin gehörte den Toten. Wenn die Eindringlinge wiederkamen, sollten sie neue Leckereien mit sich bringen. Sonst würden sie selbst gefressen werden.

 

Tal kniete neben Ughtred und hob das verletzte Bein an. Der Nygh knirschte mit den Zähnen und sagte: »Das wars dann wohl«.

Die Hexe lachte und schüttete eine stinkende Flüssigkeit über die lange blutende Wunde und Ughtred gelang es nicht, einen Schrei zu unterdrücken. Das Zeug brannte wie Nesselfarn und der Hexe schien das Ganze auch noch Spaß zu machen.

Er fluchte leise, doch dann wurde ihm mulmig im Magen und er hatte Mühe, sich nicht zu übergeben. Als er wieder zu der Hexe hinsah, hatte diese gerade etwas langes Dünnes in die Wunde gleiten lassen, doch er fühlte keinen Schmerz mehr. Das Ding schien sich in seinem Fleisch zu winden und plötzlich erschienen winzige schwarze Nadeln, die sich von innen durch die Wundränder bohrten und sein gemartertes Fleisch zusammenzogen. Schließlich schloss sich die Verletzung wie von Geisterhand und wieder einmal wunderte sich der Nygh über die fremdartigen Hexenkräfte der Silberwölfin. Diese bestrich die Wunde mit einer nach scharfen Kräutern stinkenden Paste und der Nygh machte sich erneut auf Schmerzen gefasst, doch diese blieben aus. Stattdessen überkam sein Bein eine wohlige Wärme und er hatte das Gefühl, die Verletzung war gar nicht so schlimm gewesen, wie sie im ersten Moment ausgesehen hatte.

Kyon erschien in seinem Blickfeld und hob fragend eine Augenbraue.

»Stirbt er?« wollte der Barde wissen.

Tal sah ihre Arbeit an und hob dann ihr schmales Gesicht, als sie antwortete: »Irgendwann, ja. Aber nicht heute und schon gar nicht an dem Kratzer.«

Ughtred sagte nichts. Er ließ sich nach hinten sinken und schloss die Augen. Tote und die Aussicht auf einen Riesen, einen irren Riesen darüber hinaus. Was tat er hier? Er folgte einem Verrückten, der seinerseits auf der Spur eines Verrückten durch die Wüste taumelte und bei sich hatten sie eine noch verrücktere Hexe, die jeden Dämon der Unterwelt anbeten würde, nur um ihre Reputation zurück zu erlangen. Er hatte einst seine Heimat verlassen, als man ihm die seine genommen hatte. Sicher hätte er auch wilde Abenteuer bestehen können, um den Titel Dieb loszuwerden, aber die Dinge, die diese beiden hier taten, überstiegen sein Fassungsvermögen.

 

Als es endlich hell genug geworden war, einen erneuten Versuch in Richtung der Ruine wagen zu können, stand Ughtred auf und belastete sein Bein. Der Verband saß fest und er hatte tatsächlich keinerlei Schmerzen. Was auch immer die Hexe ihm eingeflößt hatte, es wirkte gut.

Er bückte sich nach den Resten seiner Rüstung, die er die ganze Zeit in einer seiner verkrampften Händen gehalten hatte. Müll, dachte er und ließ die Brocken zu Boden gleiten. Vielleicht würde sich später eine Gelegenheit ergeben, den Harnisch zu reparieren, hier und jetzt fehlten ihm einfach die Mittel dazu. Dann betrachtete er das Messingschwert. Es hatte tiefe Scharten, wo die Wolfsklinge seine Angriffe pariert hatte. Immerhin war es nicht gebrochen. Aber eine wirkliche Auswirkung schien es auch nicht gehabt zu haben. Den alten Sagen nach hätte es den Untoten verbrennen oder auf sonst eine Art auslöschen sollen. Doch sowohl das Schwert als auch das Monster schienen anderer Meinung gewesen zu sein.

 

Als Tal sich die Wunde am nächsten Morgen erneut angesehen hatte, war sie barsch zu dem Schluss gekommen, dass der Patient als genesen eingestuft werden konnte. Ughtred hatte Schmerzen, konnte aber  tatsächlich auftreten.

»Und die Fema`don?« fragte Kyon gerade, als der Nygh seine Sachen zusammen suchte.

»Was ist das?« wollte der kleine Mann wissen.

Tal antwortete. Der Name Femaˋdon bedeutete vergangene Wölfe. Es war eine traurige Bezeichnung für die ehemaligen Bewohner von AngˋRin. Ughtred verstand und nickte und dann brummte er: »Na in meinem Fall wird man sich kaum auf meine Klinge und meinen Schwertarm verlassen können. Die haben es mir gezeugt, die vergangenen Wölfe.«

»Jetzt ist Tag. Sie fürchten die Sonnen«, sagte Tal geschäftig und zog ihre Jacke über, denn sie teilte die Meinung der Untoten zu den Tagesgestirnen.

Kyon machte sich ebenfalls fertig und deutete auf Odugme und seinen Draiynknüppel. Es dauerte nur wenige Minuten, bis sie mit den Lopen erneut an dem Ort des Zusammentreffens mit den Bewohnern der Ruine ankamen. Kyon stieg ab und hob etwas auf. Von den Toten gab es keine Spur. Aber sie hatten eins ihrer Schwerter zurückgelassen.

Kyon hob die lange Klinge hoch und deutete schließlich damit auf den Phani. Dies war eine Waffe für einen so großen Mann, die seinen Kräften würdig erschien. Odugme trat näher, ließ seine Keule in den Sand fallen und griff das Heft des Schwertes. Dann machte Kyon wortlos den ersten Schritt in Richtung Senke.

Sie brauchten über eine halbe Stunde, um einen guten Weg in die Ruinenstadt hinunter auszubaldowern. Direkt unter dem Grad gab es mehrere noch als Gebäudestrukturen erkennbare Gesteinsbrocken. Als Kyon sie eine Weile beobachtet hatte, deutete er auf einen ihrer Schatten. Tal kniff die Augen zusammen, erkannte aber natürlich nichts, aber Ughtred nickte und flüsterte die neu gelernten Worte: »Femaˋdon«

Die Untoten mieden das Licht der Sonnen, aber sie schienen nicht alle zu schlafen. In Kyons Schatten hatte sich eindeutig einer der Verdammten bewegt. Vielleicht war er auch nur tiefer ins Dunkel gekrochen, weil er sich mit seiner Tagesunterkunft verschätzt hatte, aber er schien nicht der einzige zu sein. Jetzt, wo Kyon wusste, worauf er zu achten hatte, deutete er noch vier oder fünf Mal in eine der kantigen Ecken oder etwas höheren Ruinenbruchstücke. Dies war der falsche Weg.

Stattdessen entschieden sie sich für einen Umweg nach Osten. Im Tagebuch war ohnehin ständig die Rede von dieser Richtung. Hier gab es eine übersichtlichere Fläche mit weniger Gebäuderesten. Sie rutschten also den Pfad durch den Sand hinunter zum Beginn der Senke und wandten sich sofort wieder von der einstigen Anlage ab. Östlich schienen zwei große freie Felder gewesen zu sein. Hier bewegte sich nicht.

Einige Zeit schlichen sie durch das Licht des frühen Morgens und Ughtred konnte den beiden Silberwölfen genau ansehen, dass sie wie ihre verfluchten Kameraden hier draußen wünschten, es wäre dunkel. Zum Glück war es noch früh in der Jahreszeit und die Argol Fe hatte, wie ihre Schwester, noch lange nicht ihre volle Kraft wiedererlangt. Der Winter hatte die beiden Schwestern geschwächt und es würde noch eine Weile dauern, bis sie ihre volle Kraft wiedererlangt hätten. Dann würden sie den Sand unter ihren Grimmen Gesichtern zum Glühen bringen und kein Abenteurer hätte eine Chance, bei Tage hierher zu kommen.

Plötzlich duckte sich Kyon, der einige Schritte voran gegangen war, und hob eine Faust. Er wusste nicht, warum er dieses Zeichen machte und was es letztendlich bedeutete, aber es kam ihm einfach richtig vor und siehe da, selbst die blinde Tal und ihr hirnloser Riese schienen es verstanden zu haben, denn auch sie gingen in Deckung und warteten ab, was es gab. Ughtred schob sich näher an den Barden heran und dieser hatte seine Hand nach seinem Bogen ausgestreckt. Völlig lautlos glitt das Höllending aus dem Köcher, entfaltete sich und hätte dem Nygh beinahe mit der scharfen, sich spannenden Sehne ein Ohr abgesäbelt. Kyon deutete mit dem Oberholm des einrastenden Bogens in eine Richtung den Pfad hinunter und Ughtred fluchte leise über die Wolfsaugen seines Gefährten. Er kniff die eigenen Augen zusammen und erkannte im flimmernden Grau des Sandes sich bewegende Dreiecke. Was war dies nun wieder für eine Teufelei?

Kyon flüsterte: »Amytoren. Wenigstens sechs, eher mehr. Sie bestehen aus Hautlappen oder Flügeln, aber ich will es gar nicht so genau wissen.«

Ughtred deutete nach Süden, wo der Pfad auf dem sie sich befanden ebenfalls weiterzugehen schien und offenbar sogar direkter zu der großen Senke führte. Das Gelände war offener, man würde sie sehen können. Aber Amytoren waren ein Argument. Also verließen sie den ursprünglichen Weg und rutschten eine Etage tiefer und direkt auf eins der großen Felder zu. Kyon blickte zurück und sah, wie drei der Dreiecke sich überschlugen und den Boden zu schlagen begannen. Es waren Flügel. Sie mussten hier weg. Amytoren die aussahen wie drei aneinander genähte Dreiecke und weder Kopf noch Glieder aufwiesen, waren dennoch Amytoren. Niemand konnte sagen, welche Scheußlichkeiten sie für ihre Opfer bereit hielten, denn eines war so sicher wie der Sonnenaufgang über der Tiba Fe: Amytoren hatten immer mit Scheußlichkeiten aufzuwarten.

Ughtred war vorausgegangen und Kyon erklärte der verdutzten Hexe, was vorgefallen war. Sie versuchte die Dreiecke auch zu sehen, aber Kyon packte sie an der langen Kapuze ihres Mantels und zerrte sie hinter sich her. Sie maulte, weil es hier ja vielleicht um wichtige Zutaten für ihre Hexensüppchen gehen konnte, aber Kyon war nicht zum Spaßen aufgelegt und wollte AngˋRin so schnell wie irgend möglich hinter sich lassen.

Stolpernd und rutschend gelangten sie an den Rand des offenen Feldes und Kyon war dieser Weg fast noch unbehaglicher als die dichtere Ruine. In den Schatten fühlte er sich wohl. Hier war er der Wut der Glutschwestern ohne Schutz ausgesetzt. Aber andererseits waren hinter ihnen die Untoten und über ihnen Dreieckamytoren. Er setzte einen Fuß auf die Lichtung und wunderte sich. Der Boden schien zu vibrieren. Was war dieses nun wieder für eine Teufelei? 

Er sah genauer hin. Da waren Halme, es sah aus wie vertrocknetes Stroh. Das Zeug lag überall im Sand, ja es war fast flächendeckend. Er bückte sich und wollte eins aufheben, doch in diesem Moment ging wieder eine Vibration durch den Boden und der Halm, nach dem er gegriffen hatte, stellte sich auf und richtete sich auf ihn. Es sah aus wie Eisenspäne auf einer magnetischen Oberfläche. Die Vibration wurde stärker und Kyon schrie: »Zurück!«

Im selben Moment lösten sich unzählige der Halme und schossen durch die Luft. Wie fingerlange Nadeln zischten sie von unbekannten Zwischenraumkräften geschleudert umher und machten die Luft zu einem flirrenden Chaos. Kyons Mantel wurde mehrfach durchbohrt und er sah, wie einer der Halme Ughtred an der Schulter ritzte. Auch der Phani hatte einen abbekommen und zog ihn sich aus dem Muskel seines Unterarmes. Sie traten erneut den Rückzug an und das Feld schien sich zu beruhigen.

»Abwehrmaßnahme«, flüsterte Tal.

Kyon schüttelte den Kopf und sagte: »Kommt mir eher wie eine Angriffswaffe vor. Das haben unsere Leute gemacht. Sie haben das Zeug von Flugschiffen über der Wüste abgelassen, um irgend etwas in Schach zu halten.«

Tal nickte und flüsterte dann: »Anderer Weg?«

Kyon deutete mit dem Bogenholm hinter sie. Zwar müssten sie sich wieder in Richtung der eigentlichen Ruine bewegen, aber das Feld war unpassierbar. Wenn die Dinger erst richtig loslegten, würden sie aus jedem lebenden Wesen ein Nadelkissen machen. Außerdem schien es Kyon nicht mehr weit zu der von seinem Vater beschriebenen Senke zu sein. In Richtung Strukturen gab es rechts von ihnen ein großes Ruinenfeld. Hier stand einst eindeutig der im Tagebuch vorkommende Formerturm. Die andere Seite sah zwar übersichtlicher aus, aber Kyon wagte es nicht, am Rand des Nadelfeldes entlang zu gehen. Dann besser den direkten Weg, auch wenn es hier Schatten gab und die Untoten sie sicher schon beobachteten. Krach hatten sie ja zu genüge gemacht. Er ärgerte sich ein wenig, weil er diesen Umstand nicht Tal und dem Phani in die Schuhe schieben konnte.

So leise und so schnell wie möglich führte er die Gruppe auf die Trümmer des Turmes zu. Da war auch noch eine alte Werft zu erkennen. Schiffsrümpfe lagen über einem Platz verstreut. Sie sahen aus wie die Gerippe riesiger Amytoren und Kyon musste an die Draiyn und ihre Beute denken. Doch dann knirschte Glas unter seinem Stiefel und er erschrak erneut. Sofort blieb er stehen und wartete darauf von irgend etwas durchbohrt zu werden, doch der Impakt blieb aus. Er betrachtete den Sand und nickte. Schwarzes Glas hatte sich mit den Steinen und dem Dreck vermengt. Es waren die Scheiben des Formerturmes. Er musste riesige Sonnensegel aus dunklem Glas gehabt haben und diese waren vor langer Zeit zerborsten und hier auf die Straßen herab geregnet.

Ein tiefes Brummen ging von der Ruine aus und als Kyon seinen Kopf hob, sah er einen dünnen Blutfaden aus Tals Nase rinnen.

Schnaufend deutete er auf ihr Gesicht und sie hob fast gleichzeitig die Hand, um ihrerseits auf ihn zu zeigen. Er wischte sich das Blut vom Mund und nickte grimmig. Der Turm, oder irgend etwas unter dem Turm arbeitete noch. Millenium um Millenium griff dieses Ding in die Membran der Anderwelt und mischte die hiesige Biosphäre mit dem keimenden Lebensquell anderer Realitäten. Kein Wunder, dass es hier Untote und Amytoren gab. Sie hatten die Kontrolle über den Turm verloren und seither schuf er Anomalien des Lebens.

Und er wirkte natürlich auf die Silberwölfe. Ihr Dasein war das Chaos der Anderwelt und der Turm griff direkt in ihre Lebenskraft und begann sie erbarmungslos für seine Zwecke zu entfremden. Kyon sah schnell zu Ughtred hinüber, doch der Nygh schien wieder einmal unbehelligt davonzukommen und auch der Phani hatte kein Nasenbluten. Kyons Ohren schmerzten mittlerweile und sein Blick fiel auf den dunklen Flecken auf Tals Rock. Am Saum rann dünnes Blut ihren Knöchel hinab. Sie mussten auf der Stelle von hier verschwinden!

Ughtred deutete auf die Senke und begann ein Seil an einem Metallträger zu befestigen, doch Tal schob sich vor ihn und nahm ihm das Seilende aus der Hand. Sie lächelte ihm seltsam freundlich zu und zeigte ihm ihr blutiges Zahnfleisch. Dann machte sie einen kleinen Sprung und rutschte die Rampe in die Dunkelheit hinunter.

Die Öffnung war riesig. Ein Teil des Tunnelsystems musste mehrere tiefer gelegene Stockwerke unter sich begraben haben. Der so entstandene Raum lag vorher sicher deutlich höher. Niemand hätte sagen können, ob das Ganze nun weit genug zusammengesackt war, um eine stabile Endlage erreicht zu haben. Aber es spielte ohnehin keine Rolle. Zum Glück war die Schräge, die in die Dunkelheit hinab führte nicht allzu steil und Ughtreds Seil half, den Abstieg zu kontrollieren.

Als Kyon den Nygh vor sich in der Dunkelheit verschwinden sah, schob der den sich zusammenfaltenden Bogen in den Köcher zurück und machte dem Phani ein Zeichen den anderen beiden zu folgen. Dieser nahm das schwert an der Handberge und packte das Seil mit der freien Pranke. Ungeschickt rutschte er auf seinen bloßen Füßen die Steinschräge hinab und Kyon zog es beim Gedanken von winzigen Splittern in Fußsohlen das Gemächte zusammen. Er schüttelte den Kopf und rutschte hinterher, dankbar Stiefel aus Quinkleder an den Füßen zu tragen.

 

Schon nach wenigen Schritten herrschte in den unterirdischen Trümmern die absolute Finsternis. Es war so dunkel, dass Ughtred eine Lampe aus seinem Rucksack kramte. Die beiden Silberwölfe schienen noch einigermaßen sehen zu können, aber mit der Lampe ging es natürlich besser.

Die ursprüngliche Tunneldecke war an so vielen Stellen eingebrochen, dass man die Form des Gebäudes kaum noch erahnen konnte. Überall ragten Metallstützen, scharfkantige Gitter und zersplitterte Steine aus der trockenen Erde. Bei jedem Schritt rieselte Sand aus den Rissen und immer wieder ruckten an der Decke Steine nach. Es gab weder Stützen noch stabile Bereiche, und mehrmals erfüllte das berstende Krachen von Steinen den Tunnel.

Nach einer gefühlten Unendlichkeit führte eine ebenfalls gebrochene Steintreppe in einem flachen Winkel noch ein Stockwerk tiefer und dann wurde der Haupttunnel schmaler und Öffnungen deuteten einstige Räumlichkeiten an. Allerdings waren die ersten dieser Bereiche komplett eingebrochen und überall lag Schutt und Schmutz auf dem Boden und machte das Vorankommen schwer. Erst ein Stück weiter schienen die ursprünglichen Formen der Struktur erhalten geblieben sein und überall gab es Türen aus Holz und längst erloschene Beleuchtungsanlagen. Auf dem Boden lagen nun neben den Steinen, die auch hier aus der Decke gebrochen waren, unzählige Skelette und lange nutzlos gewordene Ausrüstungsgegenstände.

Gerade wollte Tal sich unter einem eingesunkenen Türsturz hindurch bücken und dachte darüber nach, was die seltsame Metallkonstruktion in dem dahinter liegenden Raum vorstellte, da sah sie aus dem Augenwinkel wie Kyon hinter sich deutete. Tal versuchte etwas zu erkennen, nahm aber nur die Bewegung im Gang hinter ihnen war. »Femaˋdon«, fluchte sie leise.

Sie griff nach ihrem Schwert, ließ die Hand aber sofort wieder sinken. Die Räume waren einfach viel zu beengt und verwinkelt für eine Klinge dieser Länge. Stattdessen zog sie ihren Langdolch und duckte sich endlich in den Raum hinüber.

Hinter dem Durchgang lag ein weiterer Korridor, der so dunkel war wie die Tiefe des Oriadischen Golfes, und in dieser Schwärze kam plötzlich ebenfalls etwas in Bewegung. Auf der anderen Seite der schmutzigen Kammer gab es zwei weitere Öffnungen und dort in der Dunkelheit lauerten sie.

Kyon deutete auf eine der Türen und machte eine schnelle Bewegung mit seinem Zeigefinger. Weiter, einfach weiter – einen Kampf gegen die Untoten würden sie hier unten nicht überleben. So nahmen sie die Beine in die Hand und rannten los. Die Trümmer waren gefährlich und mehr als einmal schrammte Kyon an einem abgebrochenen Steinrahmen oder einem Teil einer der namenlosen alten Maschinen entlang.

Die Femaˋdon schienen ihnen auf Abstand zu folgen, doch je weiter sie durch die Trümmer in Richtung Osten gelangten, desto weniger schienen sie zu werden. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit in der Finsternis, erstarben alle Laute und als Kyon anhielt und lauschte, konnte er nur noch die Schritte seiner Kameraden hören. Er sah ich um und betrachtete die Umgebung. Ughtred war ebenfalls stehen geblieben und leuchtete in Kyons Richtung.

Dieser berührte mit der Stiefelspitze eine Kiste aus einem fremdartigen Material. Als der Deckel zu Boden glitt, griff Kyon hinein und hob einen silbernen Gegenstand heraus. Es war merkwürdig, denn das Silber kitzelte ihn nicht an den Fingern. Er berührte das Ding mit der Zunge und auch jetzt gab es keine Reaktion. Das war kein Silber. Es sah so aus, aber es war aus einem anderen Metall. Außerdem sah es extrem ungewöhnlich aus. Er hatte es sofort als Waffe erkannt, denn es hatte einen gebogenen Griff und einen Abzug wie eine Handarmbrust und auch einen Lauf für einen Bolzen, aber hier war auch schon das Problem. Der Lauf war ein rundum geschlossenes Rohr und es gab weder Sehne noch Bogen. Er schüttelte den Kopf und wollte die Funktion des Dings erkunden, aber da spürte er ein seltsames Ziehen aus einer anderen Ecke des Raumes.

Es gab hier auf dem Boden verbogene Gitter und an den Wänden zeugten schwere Scharniere von dem einstigen Nutzen der Räume. Es mussten Zellen gewesen sein. Kyon bückte sich in den Schutt einer der Räumlichkeiten und schob eine Platte aus demselben Material wie die Kisten beiseite. Darunter lag, an die Wand gelehnt, ein Skelett. Dieser Tote war tot im realen Sinne des Wortes. Das Ziehen in Kyons Schädel kam von den Knochen. Er bückte sich erneut und griff in den Dreck und die verteilten Knöchelchen einer Hand und als er den Schmutz zwischen den eigenen Fingern aussiebte, blieb ein einzelner dünner Knochen mit einem massiven smavarischen Ring daran zurück. Er schüttelte die Hand aus und ließ achtlos den Knöchel zu Boden fallen. Dann hob er den kalten Stein des Ringes vor sein Zielauge und nickte wissend. Smavarischer Zauberring des Todes; irgendetwas perverses, dachte er und schob den Fund in eine seiner Taschen.

Irgendwo krachte ein Stein zu Boden und Ughtred zappelte mit der Lampe. Kyon nickte ihm zu und stieg aus der ehemaligen Zelle. Dann schnappte er sich den Rest aus der Kiste der seltsamen Waffe. Es handelte sich um einen vergammelten Ledergurt mit einer Art Holster, in den die Waffe eindeutig hineinpassen zu schien. Er stopfte das ganze Zeug in seinen Umhängeschlauch und duckte sich unter dem gebrochenen Türsturz hindurch, um den anderen zu folgen.

 

Mehrere hundert Schritte ging es noch unter der Erde durch die Ruine von AngˋRin und immernoch schienen die Toten hinter den Besuchern ihres Reiches her zu sein. Doch sie kamen nicht näher und als vor Tal endlich ein Licht zu sehen war, rief sie: »Wir haben es geschafft!«

Kyon war ein ganzes Stück hinter ihr, hörte ihren Ruf aber dennoch, aber leider konnte er ihren Euphemismus nicht teilen. Selbst wenn sie an einer weiteren Konfrontation mit den Femaˋdon vorübergegangen waren, das Tagebuch sprach eine ziemlich eindeutige Sprache zur Thematik des eigentlichen Herrn dieses Reiches. Außerdem hatten sie die Bleidecke nicht mit hier herunternehmen können. Das Ding war viel zu schwer und hätte sie behindert. Sollten sie den Riesen also tatsächlich besiegen können, der Schild, das Ziel ihres Vorstoßes in diese Totenwelt, würde irgendwie transportiert werden müssen und niemand konnte sagen, wie die Untoten reagierten, wenn der Riese weg wäre. Egal wie, egal was, er spürte die Angst, in sich aufsteigen. Untote, Riesen, der, also der Chaosschild aus alten Kriegszeiten, eine ebenso göttliche wie verfluchte Waffe – wie zur Anderwelt sollte er das schaffen? Er war ein Barde, ein einfacher kleiner Prinz in einem verschlafenen Reich, dessen Blütezeit längst vorübergegangen war. Er verfluchte seinen Vater und alle Männer des Hauses Yˋshandragor. Was hatten sie, was hatte er sich nur bei alledem gedacht?

Blinzelnd trat er neben Tal und den Nygh ins Licht der Doppelsonnen hinaus. Er hatte eine Art Arena betreten, deren Wände aus Schutt und alten Schiffsteilen zu bestehen schienen. Das Dach war eingebrochen, aber die Trümmer schienen zur Seite geräumt worden zu sein. Der ganze Raum hatte einen ungefähren Durchmesser von wenigstens dreißig Schritt und das Loch in der Decke war nur unwesentlich kleiner. Auf der anderen Seite befanden sich noch mehr Schutt und Trümmerteile aus Stein. Obenauf hatte man eine Art Plattform errichtet und auf dieser wiederum stand ein gewaltiger Tron aus Schrott und Müll. Auf diesem riesigen Stuhl hockte der Riese Sigron. Und keine Beschreibung konnte seiner Schrecklichkeit gerecht werden.

Jetzt wo sie ihn sahen, erkannten Tal und Kyon ihn sofort als das was er war. Er entstammte nicht dem Geschlecht der Riesen in diesem Sinne. Es gab keine Riesen auf der Tiba Fe, zumindest keine großen. Tatsächlich waren die Nyghs den Skergen zugehörig und dies galt auch für alle echten Riesen. Diese Wesen waren Kinder uralter Titanen, doch Sigron, war keiner von ihnen. Bei ihm handelte es sich um einen Drajorn. Er war ein Eltwesen, von anderen Eltwesen zur Riesenform gezüchtet und pervertiert. Die Smavari früherer Tage hatten nicht nur an Tieren geforscht und Amytoren und schlimmere Dinger aus ihnen gemacht, sie hatten auch ihr eigenes Blut für ihre perversen Versuche missbraucht und neben vielen anderen, wahrscheinlich noch unaussprechlicheren Schrecken, züchteten sie auch die Drajorn. Sie machten sie zu grausen Kriegsbestien, mit einem unstillbaren Hunger auf Tod und Verderben und wenn sie die gewaltigen Wesen nicht mehr brauchten, warden sie was auch immer von ihnen übrig war auf den Müll. Kyon hatte einmal gehört, dass es viele Kriege zwischen seinen Leuten und den Draiyn gegeben hatte, bevor das Land zu einer echten Wüste geworden war. In diesen Kriegen hatte man eine Unzahl der Chaosriesen ins Feld geschickt und sie Insektenmänner vertilgen lassen. Doch als der Krieg nicht mehr zu gewinnen war, hatte man die Drajorn auch hier ihrem Schicksal überlassen. Viele von ihnen waren umhergeirrt und zugrunde gegangen. Doch Sigron schien den Schild gefunden zu haben und mit dessen Hilfe hatte er die Millenien in der Wüste überlebt.

Und da war er. Unterhalb der Plattform, als hätte ihn Sigron unachtsam fallen lassen, ragte die Rundung des Chaoschildes aus dem Schutt der Arena. Er sah nicht besonders aus und gab auch weder ein Brummen noch sonst etwas von sich und war von Schmutz bedeckt.

Kyon hob die Hand und sein Bogen schlitterte aus dem Köcher in die Luft und entfaltete sich klackend. Hinzu kam einer der Pfeile, der in einer fließenden Bewegung in Kyons Hand landete. Neben ihm zog Tal das Chentaischwert und ihr Rüstungshandschuh mit dem Shimwas darin begann in rauer Vorfreude zu brummen. Selbst Odugme hob sein Totenschwert auf seine massigen Schultern und grunzte angriffslustig und nur Ughtred rieb sich mit der Hand über die Stirn. Er stierte vor sich auf den Boden und schüttelte den Kopf. Für ihn war ein Kampf alles andere als erbaulich. Das Töten an sich machte ihm keine Freude und er verstand den Zusammenhang zwischen den Silberwölfen, dem Schild und dem riesigen Wesen da hinten auf seinem Thron einfach nicht. Andererseits hatte er auch keine Wahl. Was sollte er tun? Er konnte die anderen kaum in den Tod rennen lassen. Also griff er zu den Griffen seiner beiden Wurfäxte und zog sie ohne Elan aus dem Gürtel. Er wog sie in einer Hand und ließ sie einmal um ihre eigenen Achsen kreisen. Dann nahm er eine in jede Hand, griff fest zu und straffte die Schultern. Als er aufblickte, war der Riese gerade aufgestanden und er spürte, wie ihm die Spucke ausblieb.

Kyon verzog die Lippen zu einer Grimasse und zischte: »Verdammter Quinkdreck, das Ding ist fast zwanzig Schritte groß. Wie sollen wir den nur besiegen?«

Doch Tal knurrte in einer fremdartig verzerrten Stimme: »Wir stutzen in uns zurecht!«

Dann stürmte sie los.

 

Der Riese spuckte in den Sand und knurrte böse. Dann machte er einen Schritt von seiner Plattform in die Arena herunter und spuckte aus. Mit einer steifen Bewegung griff er nach etwas, dass im Schutt zu seinen ruderbootgroßen Füßen gelegen hatte und als er sich diesmal aufrichtete umfasste seine über zwei Lopen große Faust eine Keule, deren Kopf aus den Rammspornen mehrere Schiffe bestand. Das Ding wog zweifelsfrei mehr als eine Tonne und machte ein fauchendes Geräusch, als der Drajorn es es hoch über seinen Kopf hob. Dann donnerte es in den Wüstensand und schickte eine Schockwelle in die Arena hinaus.

Tal sprang über die umherfliegenden Trümmer, sprang über einen großen Stein und erreichte den Riesen. Sie schrammte mit der Klinge über das Knie des Giganten und duckte sich unter seiner Pranke hinweg. Als sie hinter die Gefahrenzone getreten war, stieß sie die Chentaiklinge bis zur Hälfte in die Wade Sigrons.

Gleichzeitig flogen Kyons Pfeile. Einer traf die zerfetzte Kutte des Riesen, explodierte in einem lauten Knall und prallte an der dicken Haut darunter ab. Der Zweite traf in das weiche Fleisch im Augenwinkel und Sigron grunzte genervt. Ughtred rannte neben Odugme her und während Kyon nachlud und Tal erneut mit dem Schwert wirbelte, kam er nahe genug und schleuderte seine Wurfäxte. Leider verursachten auch diese Waffen nur wenig Schaden und er erkannte, dass es nun die Zeit für seine schwerere Handaxt gekommen war. Er wollte das Ding gerade unter seiner Kutte hervorziehen, als der Gigant einen Ausfallschritt machte und ihn unglücklich mit dem Handrücken streifte. Der Nygh wurde durch die Luft geschleudert und pralle einige Meter weiter auf den Wüstensand. Da stieß auch der Phani mit seiner Klinge zu, doch auch dieser Angriff schien den Riesen nur wenig zu beeinträchtigen.

Erneut flogen Pfeile und diesmal trafen zwei davon in eins der Augen des Riesen. Er brüllte und als Tal in die Feinstoffliche Welt griff und dort das Schmerzzentrum des Riesen bearbeitete, taumelt er. Dieser Zustand ielt zwar nur eine Sekunde, aber er hob seine Keule und fuchtelte damit ungezielt durch die Luft. Hätte statdessen Odugme, der direkt in Reichweite snd getroffen, wäre dieser zerfetzt worden. 

Kyon brüllte: »Wir müssen ihn in Bewegung halten. Lenkt ihn weiter ab. DIe Angriffe schwächen ihn.«

Gesagt getan schlug Ughtred mit der Axt zu, doch der Riese trat nach ihm und traf. Der Nygh flog mehrere Schritte durch die Luft und polterte in den Dreck. Als er ausgeschlittert war, raffte er sich auf und spuckte Sand und Blut. Dann kniff er die Augen und die Zähne zusammen und stand auf. Jetzt war er sauer.

Unterdessen war auch Tal erneut gestreift worden und zu Boden gegangen, doch sie war sofort aufgesprungen und trieb dem Riesen die Klinge in die Verse. Noch mehr Pfeile flogen und auch Odugme versuche zuzuschlagen, doch die Bewegungen des Phani hatten nichts Kriegerhaftes. Er mochte geschult darin sein, den Schambereich von Hexen mit feinen Klingen zu enthaaren, doch das Kriegshandwerk mit Langschwertern lag ihm ganz offensichtlich nicht.

Kyon brüllte erneut etwas und schoss weitere Pfeile und auch Tal hackte weiter auf den Dajorn ein und wich dessen Keule aus. Ein Treffer und sie wäre Geschichte, dachte Kyon und verfiel in blinden Aktionismus. Ohne zu denken stürmte er auf einen kleinen Fels zu, ließ seinen Bogen fallen und zog die fremdartige Waffe, die er in den Katakomben gefunden hatte.

Er sprang mit einem Fuß auf den Stein, drückte sich ab, hob die Waffe und schlug auf den kleinen Hahn am Ende des Laufes, während sein Finger instinktiv fünf Mal den Abzug zu sich zog. Das Donnern war unwirklich und ohrenbetäubend. Die Waffe ruckte in Kyons Hand und spuckte Feuer. Doch was auch immer aus ihrem Rachen kam, grub sich in Mund und Augen des Riesen.

Wieder schrie Sigron und wieder hackte Tal auf seine Verse ein und diesmal drang sie durch das Fleisch und spürte den Ruck, als eine der Sehnen nachgab. Der Gigant stolperte und hätte beinahe den Phani zerquetscht, aber Ughtred rammte den großen schwarzen Mann zur Seite. Dann kniete Sigron im Dreck und der Nygh wandte sich dem riesigen Kopf des Irren Riesen zu und holte mit seiner Axt aus. Immer wieder hackte er auf das Ohr des Monsters ein und schrie in die Fontäne des spritzenden Blutes hinein.

Einige Schritte entfernt tat es ihm Tal gleich. Sie stach zuerst in die weiche Seite unter dem Arm des Riesen und wich erneut seiner Pranke aus. Dann sprang sie auf die Schulter und stieß ihre Klinge in den faltigen Hals. Sie machte noch einen Schritt und landete neben dem Kopf des Riesen. Dann rammte sie ihm die Klinge tief ins Ohr und Sigron gab ein schmerzerfülltes Wimmern von sich. Es war, als verließen ihn die Kräfte der Wüste. Der Schild, was auch immer dies bedeuten mochte, schien das Ende einer Ära erkannt zu haben. Er löste sich von dem gigantischen Eltwesen und gab Sigrons Geist frei. Dies schwächte den Gefallenen noch mehr.

Immer und immer wieder stieß sie wie eine Verrückte zu und schrie ihre Hexenflüche heraus, doch das Schwert wurde bei dieser grausen Arbeit nicht von ihr geführt. Es war der Shimwas, dessen Aufgabe das Töten war. Der Stein glühte und gab ein geistloses Schrillen von sich. Da war nichts Gezieltes in dieser Wut, es handelte sich um das reine Wüten der ungezügelten elementaren Kraft des Tötens. Der Stein war ein feuerspuckender Berg und eine Flutwelle, die Felder und Häuser verwüstete. Er brannte in lichterloher Vernichtungskraft. Der Stein hörte auch nicht auf, als das unechte Leben des Riesen längst in den Sand der Arena gesickert war. Immer und immer wieder trieb der Seelenstein Tals Körper an, weiter auf den Sterbenden einzuhacken und Tal verlor schließlich endgültig die Kontrolle. Sie hackte und stieß und Ughtred, der nicht von dem Shimwas beeinflusst wurde, tat es ihr gleich. Diese Sache musste hier enden. Der Riese musste hier enden.

 

Kyon hockte auf dem Stein von dem er abgesprungen war und betrachtete die Waffe in einer Hand. Er hatte den Mechanismus gefunden, mit dem man das trommelförmige Magazin aus ihrem Korpus schwenken konnte und nun untersuchte er die seltsamen Bolzen dain. Sie waren noch warm, als hätten sie in der Waffe gebrannt und fünf von ihnen waren leer. Die Sechste endete in einer sanften Rundung, die nichts von einem Armbrustbolzen hatte. Er zuckte mit den Schultern, entfernte die leeren Bolzen und fummelte neue aus seiner Tasche. Es waren noch wenigstens zehn davon bei dem Gürtel gelegen und jetzt war er heilfroh, dass er sich die Zeit genommen hatte, sie einzustecken.

Er blickte auf, als ein Schatten sich über ihn legte. Tal war über und über vom Blut des Riesen bedeckt. Sie leckte sich über die Lippen und machte eine wegwerfende Bewegung in die Richtung des Massakers. Kyon nickte und sie streckte ihm die Hand entgegen und zog ihn von seinem Stein. Dann gingen sie gemeinsam zu den Überresten des Riesen.

»Was ist das?« fragte sie. 

»Eine Waffe. Ich habe sie zusammen mit einem Ring unten in den Tunneln gefunden. Hat geholfen.«

Er zog den Ring aus einer Tasche und hielt ihn kurz hoch. Die Hexe beäugte das Funkeln kurz, sagte aber nichts.

Ughtred und Odugme standen im Schlamm aus Blut und Sand. Immer mehr der dunklen Flüssigkeit sickerte aus den unzähligen Wunden des gefällten Monsters. Dann tippte Kyon den Phani an der Schulter an und deutete auf den Schild. Odugme ging mit festen Schritten hinter Kyon her und blieb dicht hinter ihm bei dem Schild stehen.

»Hol das Ding aus dem Schutt«, befahl Kyon dem Phani und dieser setzte sich ohne zu zögern in Bewegung. Er brachte einen großen Stein zum Umkippen und zog dann so lange an der Kante des Schildes, bis er ihn frei hatte. Dann drehte er ihn um und Kyon sah ihn sich an. Er maß fast zwei Schritte im Durchmesser, bestand aus einem golden glänzenden Metall und auf seiner riesigen Oberfläche prangte ein uraltes, aus Pfeilen und Linien bestehendes Chaossymbol aus den Zeiten der Aspekte des Kar.

Kyon lauschte in sich, konnte den Schild aber nicht fühlen und deutete daher auf Tal. Odugme schien zu verstehen und trug den Schild zu seiner Herrin, doch plötzlich blieb er mitten in der Bewegung stehen. Kyon wollte schon einen Befehl geben und den Phani zurechtweisen, doch dieser ließ den Schild zu Boden gleiten, blickte kurz in den Staub und nahm dann seine vergoldete Maske aus der Stirnschiene. Dann besah er sich das gute Stück und schließlich führte er es an seinen Mund und biss dann mit aller Macht hinein. Zähne splitterten und als er noch einmal zubiss knackte sein Unterkiefer. Blut spritzte und Odugme stöhnte, aber er wankte nicht und machte Anstalten, noch mehr Schaden anzurichten.

Ughtred konnte es nicht fassen, reagierte aber als Erster. Er stürmte auf den Phani zu und wie im Kampf rammte er ihn um. Odugme strauchelte, fiel und verlor die Maske. Blut spritzte durch die Luft und traf auf seine Brust und Ughtreds Bart.

Dann war Tal neben ihnen und zerrte den Schild einige Schritte in die Arena hinaus. Der Schild blieb in der Sonne liegen und Tal war, als höre sie ein leises Flüstern in ihrem Kopf, doch sie hatte keine Zeit. Schnell wandte sie sich wieder Odugme zu und sah, wie Ughtred dem großen Mann den Schaft seiner Handaxt auf der weniger verletzten Seite zwischen die Backenzähne presste, denn der Bann war längst nicht gebrochen. Der Phani versuchte immer noch, seine Kiefer zusammenzupressen, doch dann ließ er langsam nach. Er zitterte und stieß ein klägliches zungenloses Wimmern aus. Dann schloss er die Augen und erschlaffte.

Kyon trat neben ihn und sagte leise: »Da hatte mein Erzeuger offensichtlich nicht übertrieben. Der Schild hat nicht die beste Wirkung auf die Sterblichen. Er ist nur für die Elt und auch wir sollten uns vorsehen Frau YtˋTalan.«

Die Hexe streckte ihm eine Hand entgegen und er holte eins der medizinischen Versorgungskästchen hervor und gab es ihr. Während sie den gebrochenen Kiefer untersuchte und zwei schnell härtenden Schienen auf der linken Seite einbrachte, sagte sie: »Die Bleidecke. Es war richtig sie zu besorgen.«

»Wir müssen ab jetzt das Tagebuch ernster nehmen, sonst endet das böse«, flüsterte Kyon und sah dann Ughtred in die blassblauen Augen. »Gut gekämpft Dieb«, sagte er und wandte sich dann dem Schuttberg und dem Sitz des nun toten Irren Riesen zu. Ein Chaosschild reichte ihm nicht. Der Ausflug in die Ruine von AngˋRin sollte sich noch ein bisschen mehr lohnen. Sie würden jede Ressource benötigen, wenn sie die Schwarze Perle erringen wollten. Das hier war erst der Anfang. Sie mussten sich verbessern, schnell und effizient.

 

Itsh der Jägermond raste auf seiner schnellen Bahn über den Himmel und warf seine seltsamen, fliegenden Schatten über den beigen Sandboden, während hoch über ihm der düster braune Drawn in seiner langsamen Bahn dahin zog. Tal betrachtete ihr Werk. Sie hatte Odugmes Kiefer mit einem Versatzstück aus sich selbst formendem Gold versehen, doch der Situation und dem Ort geschuldet, war das Ergebnis alles andere als perfekt ausgefallen. Der Kiefer saß schief und musste auf der linken Seite, wo ihn die Schienen hielten, am Gelenk mit einem weiteren Versatzstück fixiert werden. Mehrere große Tropfen des intelligenten Goldes waren dem Phani auf die breite Brust getropft und hatten hier eine lange, nun ebenfalls golden glänzende Narbe hinterlassen. Außerdem fehlten dem Phani alle Vorderzähne und auf der linken Seite hatte er zusätzlich drei Backenzähne verloren. Nun lag er in Tals eigene Decke gewickelt dicht beim Feuer und hatte Fieber.

Sie strich ihm über die geschwollenen Lippen. Mein schönes Statussymbol, nun bist du nicht mehr so schön, dachte sie. Doch dann nahm sie das kochende Wasser vom Dreibein und begann ein entzündungshemmendes Präparat zu mischen. Sie hatte das noch nie sonderlich gut hinbekommen und Akkatha hatte sie mehr als einmal für ihre Nachlässigkeit gerügt, doch Tal hatte sich nie vorstellen können, wozu sie die Fertigkeit das Zeug zu brauen jemals benötigen würde. 

»Nun ja, wenn einmal euer Phani vom Chaosschild angeleitet in seine eigene Maske beißt und sich so den Kiefer zertrümmert, könnte es eventuell von Nutzen sein«, machte sie zynisch die Stimme ihrer Mentorin nach.

»Wird er wieder?« Ughtred hatte ihr die ganze Zeit über assistiert und nicht einmal die Zeit gefunden, seinen geflochtenen Bart von Sigrons Blut zu befreien.

Die Hexe starrte durch den Spalt in den Rachen des Phani und murmelte: »Phani sind zäh. Wie deine Leute Skerge.«

»Und geistig?«

Sie überlegte einen Moment und nickte dann. Zur Bestätigung knurrte sie: »Wo nicht viel ist, kann nicht viel kaputt gehen.

Ughtred beließ es dabei.

 

Sie brauchten den ganzen restlichen Tag und einen Teil der Nacht, um den Schild und den Phani zu bergen. Der Schild war so schwer, dass die beiden Silberwölfe ihn nur über den Wüstensand schleifen konnten. Schließlich befestigten sie ein Seil an den innen gelegenen Griffen und ließen eine der Lopen die Hauptarbeit leisten. Im Lager wickelten sie die Bleidecke um das Artefakt, aber Kyon war unglücklich. Was hatte sich sein Vater bei der Sache mit dem Schild gedacht? Er versuchte es zu verstehen, aber es gelang ihm nicht. Er selbst war nicht einmal ein Krieger und die Hexe bezog ihre Kampfeskraft offensichtlich aus einem Shimwas. Das bedeutete, dass sie im Grunde auch keine Kriegerin war und wenn sie zusammen nicht stark genug waren den Schild anzuheben, wie sollte sie allein mit dem Ding zurandekommen? Hinzu kam das Flüstern. Es mochte stimmen, dass Elt nicht so anfällig für die Chaoskraft des Schildes waren, aber dies war keine Garantie für Immunität. Der Nygh, den sonst nichts umhauen konnte zum Beispiel reagierte prompt auf den Schild. Kaum war er in seine Nähe geraten, begann er auch schon wirres Zeug zu murmeln und verdrehte dabei die Augen. Wie lange würde es dauern, bis er selbst oder Tal ebenfalls der Beeinflussung durch die Chaoskräfte erlagen?

Tal war wie immer viel zuversichtlicher als er. Sie aßen am Lagerfeuer die Reste der Draiyn und überlegten, wie es mit dem Schild weitergehen sollte, als sie einfach sagte, sie würde schon stärker werden. Irgendein Mittelchen, oder ein anderer Shimwas oder sie müsse eben trainieren – irgend eine dieser Optionen würde sicher genügen. Sie war schließlich eine Doppelmondhexe und denen gelang früher oder später jeder Streich. Kyon schluckte seine Antwort herunter, stand auf und ging in die Wüste hinaus. Er hatte Heimweh. Nichts war, wie es sein sollte. Sie hatten einen altersschwachen Riesen getötet, der in Wahrheit ein Elt gewesen war und nun hatten sie eine mächtige Waffe – oder einen Schutz – errungen, der sie aber auszulöschen drohte und zu allem Überfluss befanden sie sich immer noch in einem der gefährlichsten Länder der Welt.

Später im Zelt lag Tal neben ihm und schien zu schlafen. Sie sah schön aus, weil sie ausnahmsweise nicht in dieser ihr eigenen tierhaften Verknotung eingeschlagen zu sein schien. Er überlegte kurz, ob er genügend Kraft hätte, sie zu beglücken, entschied sich aber dagegen und legte sich einfach neben sie. Er war so erschöpft, dass er sofort einschlief und nicht bemerkte, wie die junge Hexe sich neben ihm aufrichtete und etwas vom Boden des Zeltes aufhob. 

Sie beugte sich über ihn und tropfte ihm eine winzige Menge ihrer Staseflüssigkeit auf die schön geschwungene Unterlippe. Es war weniger als nötig und würde hoffentlich nur ein paar Stunden wirken. Sofort wurde sein Atem ruhiger und setzte dann fast ganz aus. Wie üblich verfärbte sich die Haut des Betroffenen leicht grau und wurde wächsern. Vorsichtig kniff sie ihn in die Wade und dann begann sie, Kyons Taschen zu durchsuchen. Es dauerte einige Zeit, aber dann fand sie den Ring. Sie wusste genau um was es sich hier handelte, denn in Hexenkreisen war der Zeithammer der Einäugigen Hexe geradezu legendär.

Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete sie das rötliche Metall und den unscheinbaren flachen Stein. Dies war einer der, zu Recht gefürchteten smavarischen Zeitringe, die mit düstersten Kräften ausgestattet, Raum, Zeit und Realität verändern konnten und wie auch immer das Ding in die Wüste gekommen war, auf keinen Fall würde dieser Einfaltspinsel ihn tragen oder gar benutzen. 

Sorgfältig versteckte sie das Artefakt in ihren eigenen Taschen. Sie wagte es nicht, ihn hier und jetzt anzustecken. Smavarische Zauberringe waren nicht nur mächtig, sondern auch sehr gefährlich, denn sie hatten einen eigenen Willen und versuchten oft, die Kontrolle über ihre Besitzer zu erlangen. Außerdem wusste sie noch nicht genau, wie sie mit Kyon umgehen sollte. Sie konnte ihn nicht gut einschätzen und vielleicht würde er böse werden, wenn er heraus bekam, dass sie ihn vergiftet hatte, um den Ring zu stehlen. Männer konnten da erstaunlich jähzornig reagieren.

 

Am nächsten Morgen kam sie allein aus dem Zelt und ging nackt zu Ughtred. Dieser wachte sofort auf und sah sie an. 

»Er ist erschöpft und kann jetzt noch nicht aufbrechen«, sagte sie und wippte unschuldig von seinem Fuß auf den anderen. 

»Odugme?« fragte der Nygh und versuchte, ihre Blöße zu ignorieren.

»Nein, der Sliyn.«

»Kyon?«

Sie kratzte sich an der linken Brust und blickte zum Himmel hinauf. Dann raunte sie: »Nein, der Sliyn von Sliynwald.«

Ughtred sah sie an und fragte verwirrt: »Wer?«

»Kyon, Kyon kann nicht aufstehen. Er fühlt sich schwach und muss ruhen.«

Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ging ebenfalls ins Zelt zurück. 

Der Nygh schüttelte den Kopf und blickte ihr misstrauisch hinterher. Aber gut, etwas Ruhe würde in jedem Fall auch Odugme gut tun. 

 

Als Kyon erst am nächsten Morgen mit steifen Gliedern aus dem Zelt gekrochen kam fehlten ihm die gut dreißig Stunden der Stase. Tal und Ughtred, die am Feuer sitzend zu ihm aufblickten lächelten beide erfreut. Ughtred fragte nach seinem Befinden und Tal stand auf, um ihm mit etwas Gelbwein die schwarzen Lippen zu säubern. Ughtred beobachtete die Szene, sagte aber nichts. Er verstand das merkwürdige und alles andere als natürlicher Verhältnis zwischen den Silberwölfen nicht, aber dass Tal hier etwas zu vertuschen zu versuchte war unübersehbar.

 

Die Heimreise gestaltete sich alles andere als einfach. Der Schild musste immer wieder von einer Lope zur nächsten weitergereicht werden und Odugmes Verletzung verheilt langsam. Er schien geistig abwesend zu sein und musste am Lopensattel festgebunden werden. Ughtred kümmerte sich um ihn, aber unter diesen Umständen kamen sie nur quälend langsam voran.

Kyon hatte Bedenken den selben Weg in Richtung Marsch zu nehmen, den sie aus dem Norden nach AngˋRin genommen hatten und bat den Nygh daher sich möglichst nahe des Gebirgsausläufer zu halten. Dennoch kamen sie bald auf die Höhe des Draiynlagers und sahen aus der Ferne die Rauchsäulen. Sie besprachen sich kurz, ob sie das Risiko eingehen sollten, ihre Vorräte bei den Insektenmännern aufzufrischen, entschieden sich aber dagegen. In der Dunkelheit der Nach schlichen sie sich davon und hofften Draiyn Andiled so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Doch bei der nächsten Rast nahm Ughtred den beiden Silberwölfen diese Hoffnung. Sie hatten beide vergessen, dass es keinen noch kürzeren Weg als über Irith Adnor geben würde und bis dorthin waren es nach der Marsch in Korezuul wenigstens zwölf Tage. So bewegten sie sich die meiste Zeit schweigend voran. Tief in den jeweils eigenen Gedanken versunken kämpften sie mit ihren inneren Dämonen. Nach zwei Tagen ging ihnen das Wasser zur Neige, doch dann regnete es einige Zeit und Ughtred fing das Regenwasser mit einer Decke auf. An einem anderen Tag fanden sie durch puren Zufall essbare Knollen und einmal gelang es Kyon eine Schlange zu erlegen. Mehr und mehr akklimatisierten sie sich und wurden zu dem, was das Tagebuch Abenteurer zu nennen pflegte.

Als Kyon ein Loch in seinen Hosenboden geritten hatte und Ughtred ihm stumm das Kleidungsstück aus der Hand nahm, um es zu reparieren, blieb der Silberwolf einfach nackt im Wind der untergehenden Sonnen stehen und blickte auf die Endlosigkeit hinaus. Die Sonnenstrahlen stachen nach seiner Haut, doch er war nicht mehr bleich und empfindlich. Er spürte das leichte Bitzen wohl, doch es machte ihm nichts mehr aus.

 

Nach der Marsch, in der sie ihre Vorräte problemlos aufbessern konnten, kam der Pfad nach Süden, der sie erneut in den Pass aus dem Tagebuch führen würde. Viele Tage ritten sie durch Schluchten und suchten verzweifelt nach den selben Wasserstellen, die ihnen auf der Herreise gedient hatten. Doch es war, als hätte sich die Landschaft verändert und geizte mit ihren Gaben.

Kurz vor dem Pass ließ Kyon, der seiner guten Augen wegen stets den Zug anführte, mit einem schroffen Befehl anhalten. Er deutete in die Ferne, aber weder Ughtred, noch Tal konnten etwas erkennen.

»Da hocken zwei Späher auf einem Felsen«, sagte er ruhig und ließ seinen Bogen aus dem Köcher in seine Hand gleiten. Langsam wie ein erwachendes Insekt und völlig geräuschlos entfaltete sich der Bogen und nahm seine kriegerische Form an.

»Vielleicht sind sie satt«, sagte Tal. 

Kyon nickte und gab Befehl weiter zu reiten. Man würde sehen, was kommt.

Als sie in Sichtweite der Draiyn kamen, rief Tal ihnen einen Gruß zu und beide drehten sich verwundert nach der Reisegruppe um. Das ganze hatte etwas groteskes, als wollte man Draiynkrieger nur höflich nach dem Weg fragen. Doch tatsächlich kamen sie von ihrem Ausguck heruntergeflattert und boten den Fremden in der ihnen typischen Gastfreundschaft von ihrem Proviant an. Ehe Kyon verneinen konnte, schaffte einer der beiden aus einem Versteck am Fuße des Felsens ein Netz hervor und brachte daraus mehrere Drayinglieder und einen verrotteten Lopenschädel hervor.

Kyon blickte ernst zu Boden, als er flüsterte: »Ich habe es mir anders überlegt. Bringen wir sie um!«

Er hob geschmeidig seinen Arm und wollte einen Pfeil abschießen, doch Tal kam ihm zuvor. Wie eine Klingentänzerin der Chentai wirbelte sie zu den Insektenmännern herum und hatte plötzlich ihr langes Schwert in Händen. Sie traf den vorderen der Draiyn so unglücklich am Halsansatz, dass sich ein Teil des Kopfes löste und dann krachte die Klinge in den Brustpanzer des zweiten Kriegers und zertrümmerte diesen. Beide gingen zu Boden und zuckten besinnungslos und Tal holte erneut aus und hackte auf sie ein. Wie eine Furie drosch sie auf die knirschenden und splitternden Panzer ein, bis eindeutig kein Leben mehr in den am Boden liegenden war.

Als sie aufblickte, hatte sie klebrig gelbes Insektenblut in den Haaren und an der Wange und Kyon und Ughtred sahen sie an. Vor allem dem Nygh war anzusehen, was er dachte. Wer war der Werwolf, wer die Frau? Kyon schien unschuldig an seiner inneren Mitreisenden zu sein, aber diese Hexe hier, genoss ihre Bluttaten. Er rieb sich über das Zeichen auf seiner Stirn und drängte die Lopen zurück. Es war nicht nötig, dass die Tiere den Schädel zu sehen bekamen.

Kyon bückte sich danach, hob ihn auf und schleuderte ihn über den Felsen. Dann machte er sich daran, von den Draiyn zu retten, was zu retten war. Als sie etwas später Draiynsuppe aßen und Ughtred den Phani mit einem Löffel fütterte sagte Kyon zu Tal: »Der Shimwas ist stark.«

Die Hexe griff nach einem Stück schimmligen Nyghbrotes, warf es dann aber zu den Lopen hinüber.

»Wer ist es?« fragte Kyon nun direkt.

Sie blickte ins Feuer und versuchte, wie immer, wenn sie nervös war, das Nest in ihrem Haar zu lösen.

»Wir sollten das irgendwann einmal abschneiden«, sagte Kyon und deutete mit der Spitze seiner Pfeife, die er gerade hervorgeholt hatte, auf ihre Frisur.

»Ich habe es nicht gewollt«, flüsterte Tal. »Es war ein Unfall. Ich wollte es gut machen.«

Kyon starrte ins Feuer. Dann drückte er ein Stück Quinktaback in den Pfeifenkopf und nahm einen brennenden Halm Gestrüpp aus dem Feuer. Er sah sie nicht an und sagte nichts und als er es endlich geschafft hatte seine Pfeife zu entzünden, blies er den auch in den sternenübersäten Nachthimmel.

»Ich wollte, das es gut wird«, murmelte Tal erneut, aber Kyon schwieg und rauchte.

 

Viele Tage später, sie hatten einen Großteil der Strecke hinter sich gebracht und waren am DranˋOrad entlang nach Nordosten gezogen, stellte sich Kyon im Sattel auf und deutete in die Wüste hinaus. Es war früh am Abend und sie hatten vor den Weg nun in einem Rutsch zu beenden. Lopen und Reiter waren dünn geworden. Das Gebirge hatte sie zwar einigermaßen mit Wasser versorgt, aber es hatte nicht gereicht, sie bei Kräften zu halten. Lippen waren aufgesprungen und die kleinsten Kratzer und Wunden verheilten immer schlechter. Einmal wurde Rehlein von einer Dreibeinigen Wüstenspinne gebissen und Tal hatte ein Antidot brauen müssen, um sie zu retten. Odugmes Wunden verheilten ebenfalls schlecht und Tal selbst hatte eine schlimme Prellung von dem Kampf in der Arena, die ihre Probleme beim Reiten machte.

Doch nun war es endlich vorbei. Irith Adnor lag vor ihnen und sie konnten es einfach nicht fassen, es geschafft zu haben. Sie berieten kurz, ob sie ihre Lager aufschlagen und erst nach einigen Stunden der Ruhe durch den Vortex gehen sollten, doch als sie sich ansahen, wanderten ihre Blicke automatisch auch über die Wüste und da wurde ihnen klar, dass sie hier nichts mehr verloren hatten. Niemand sollte sein Glück überstrapazieren und wer Draiyn Andiled überlebt hatte und eine Chance sah, dieses Land der endlosen Qualen zu verlassen, sollte dies auf keinen Fall hinauszögern.

 

Beklemmend phal leuchtete der Vortex in seinem schrägen Auslass zwischen der heruntergesackten Decke und der eingestürzten Wand am rande des Dünenkamms. Ughtred hatte zwei Lopen neben sich stehen und wartete, bis der Chaosschild vor ihm in der Subraummembran verschwunden war. Kyon hatte darauf bestanden, dass Tal zuerst durch die Anderwelt ging. Er wollte das Durchkommen des Artefaktes sicherstellen und traute nur ihr zu, dies zu vollbringen. Wenn der Schild das Chaos aus dem Dazwischen in die Realität zu tragen vermochte, wie würde er da erst auf der anderen Seite wirken? Doch der Schild blieb ruhig. Es war eher, als dämpfe die Anwesenheit der Membran seine schreckliche Macht.

Es kam dem Nygh wie eine Ewigkeit vor und er erinnerte sich an seine Gefühle, als er vor so vielen Tagen zum ersten Mal in seinem Leben durch einen Vortex gegangen war. Er hatte Angst verspürt, aber die Angst um seinen Vater hatte alle anderen Gefühle überlagert. Diesmal hätte er sich gezielt fürchten können. Tal hatte ihm von den Grauen Wächtern erzählt, die auf der anderen Seite ihr grauenhaftes halbreales Dasein fristeten und in Form riesiger Tentakelknäul nach Beute Ausschau hielten. Sie seien ähnlich wie Amytoren, nur ungleich älter, stumpfsinnigen Halbgöttern ohne Herz und Hirn gleich, einzig und allein auf der Suche nach Seelen realer Lebensformen. Er hatte sie gesehen. Sie hatten ihre Tentakel in den Wänden des organisch schimmernden Tunnels bewegt, zweidimensional, doch real genug für ihn. Seltsamerweise hatte er seine Ängste in der Wüste zurückgelassen. Als Kyon ihm ein Zeichen gab, klopfte er Rehlein mit der Hand auf die Flanke und machte einen Schritt in die Anderwelt.

 

Was für ein Kontrast? Dachte Tal, als sie aus dem Dreck des zusammengebrochenen Gebäudes zwischen die Dornenhecke eines nassen Strauches trat. Bienenstich schnaubte freudig und packte übermütig eine Ranke und biss sie ab. Es roch nach Feuchtigkeit, Schimmel, Farnen, Pilzen und dem würzigen Harz der riesigen schwarzen Bäume. Tal schrie und ihr Schrei hallte durch die Wälder Kisadmurs. Sie war daheim.

Von hier aus waren es höchstens zwei Wegstunden zur Einöde und dann zwei, drei Tage nach Ilanwaiyn. Als sie das erste Mal in dem kleinen Ort angekommen waren, hatte sie ihn als provinzieller als Kovarin, den Ort, in dem sie mit ihren Eltern und Northrian ihre Kindheit verbracht hatte, eingestuft.

Jetzt bedeutete das Heim der Hirsche am Rande der Zivilisation von Kisadmur die Rückkehr aus der Hölle. Sie hatte früher so einige Geschichten über die Wüste gehört. In allen Büchern beschrieben Hexen öde Welten voller Sand, in denen sie nach wertvollen Zutaten für ihre Zauber gesucht hatten. Keine von ihnen hatte Tal vermitteln können wie es dort in wirklichkeit war. Ein Wort hätte mehr ausgesagt als all die Abenteuerbeschreibungen: Sand. Der Sand war schlimmer als Amytoren, Untote und Draiyn. Diese Wesen hatten sie bedroht, doch sie war nicht unbewaffnet gewesen. Der Sand hingegen hatte sie aufgescheuert und quälte sie noch jetzt. Er würde sie wohl für den Rest ihres Lebens quälen. Er war überall und fügte ihr in jeder Situation Schmerzen zu und da war nichts, dass sie hätte tun können.

In der Einöde wurden sie von den Wirtsleuten begrüßt. Die Quink beäugten sie noch neugieriger als beim ersten Mal und trauten sich nicht zu fragen, wo sie all die Zeit gewesen waren. Nordöstlich er Taverne gab es nichts. Selbst die Waldläufer blieben auf der bewohnteren Seite des Waldes.

Tomnuk richtete den dreien Grüße von Ulithan bor Trynordt`orbenith und Grogtkro aus. Der Silberwolf sei genesen und vor vielen Tagen aufgebrochen. Der Wirt bot den Reisenden seine Zimmer an, doch sie nahmen das Angebot nicht in Anspruch. Ihre Erinnerungen an die Einöde waren nicht die Besten und sie wollten die frische Luft des Waldes genießen. So schlugen sie ihr Lager auf dem Platz vor dem Haus auf und schliefen bei den Lopen.

Am nächsten Tag rasteten sie mehr oder weniger aus traditionellen Gründen an dem Baum, an dem nun nur noch die obere Hälfte des toten Hobgoblins hing. Wölfe und Schweine hatten den Rest gefressen und die Knochen im Wald verstreut. Tal besah sich den Totem am Baum und nickte grimmig. Sie hatte auf der Reise Übleres gesehen und dies hier war für sie nun ihre Abenteurerrealität. Das Tagebuch sprach von deutlich schlimmeren Gefahren, aber sie würden vorbereitet sein.

Die Sonnen standen für die Verhältnisse der Silberwölfe hoch am Himmel, doch die Lopen kannten den Weg und freuten sich auf ihr Zuhause. Dennoch lag auch eine stille Last auf der Reisegruppe. Leben für Leben, hatte es gehießen und Donnerhuf und die anderen hatten das ihre für die Überlebenden gegeben. Nun war die Gruppe auf dem Weg in ihr Heim, doch die Toten würden für immer in Draiyn Andiled verweilen.

Wind war aufgekommen und feiner Schneeregen wurde von den Hängen des Gebirges im Osten über die Stadt geweht. Je näher die Reisegruppe Ilanwaiyn kam, umso schwerer schienen allen die Herzen zu werden. Sie erreichten das untere Stadttor und Kyon rief die Quinkwächter an, es zu öffnen. Die Straßen waren weitgehend verlassen und nur eine Handvoll diensteifriger Quink kümmerte sich um morgendliche Geschäfte. An der Wache saß ein Silberwolf und trank heißen Faltersud. Als die kleine Karawane an ihm vorüberzog, stand er auf, um zumindest den Schein zu wahren, für die Sicherheit des Ortes zu stehen.

Kyon nickte dem Krieger huldvoll zu und ließ keine Frage offen, dass diese Reisegruppe trauerte und nicht angesprochen werden musste. Der Mann verstand und nickte freundlich. Ein wenig verwunderte dies Kyon, doch er sagte nichts und wollte gerade mit seinen Leuten weiterziehen, als aus dem Schatten des Wachhauses eine weitere Person trat. Es war ebenfalls eine Kriegerin und sie stellte sich mit dem Namen Smiseylyg Nyni yr Y`Warias vor. Wieder hielten die Reisenden an und hörten, was die Silberwölfin zu sagen hatte.

»Ihr seid die Doppelmondhexe«, begann sie und deutete mit dem Kinn auf Tal, doch bevor die Angesprochene etwas erwidern konnte fuhr die Wächterin fort: »Ich habe ein alchemistisches Problem und brauche eure Hilfe.«

Kyon wollte etwas sagen, aber Tal kam ihm zuvor. Sie interessierte sich für jede Frage zur Thematik Alchemie. Doch die Wachtherrin wandte sich erneut an Kyon. Sie betonte seinen Titel Sliyn und bot an, die Reisegruppe ohne weitere Untersuchungen weiterzuziehen lassen, wenn ihr geholfen würde. Tal war abgelenkt, denn sie musste dringend ihre Notdurft verrichten und da dies hier noch länger dauern würde, tat sie dies in der Wache.

Unterdessen fragte die Wächterin den Sliyn, ob die Hexe ihm Untertan wäre, damit sie einschätzen könne, wie sie über ihn zu erpressen sei. Kyon spielte mit, denn diese Vorgehensweisen waren typisch für sein Volk und er fand die Frau auf eine raue Art sympathisch. Ja, die Hexe tue was er sage und ja, er wäre einverstanden, die Dienste der Hexe gehen den sofortigen Durchlass zu tauschen. 

Als Tal zurückkam, war das Geschäft besiegelt, aber sie selbst hatte das Ganze gar nicht ganz verstanden, denn sie hätte der Stadtwächterin auch so geholfen. Sie fragte nach dem Problem, aber Kyon wollte zuerst die Lopen abladen. Tal könne später zum Tor zurückkehren.

 

Die Lopenleihe lag am östlichen Rand von Ilanwaiyn, was bedeutete, dass man den ganzen Ort durchqueren musste. Als die ersten Quink an den Straßenrändern stehen blieben und einer von ihnen sogar an den Fingern die Zurückkehrenden abzählten, wurden Kyons Augen feucht. Dann erreichten sie das Bogentor, umrundeten die Kaschemme und kamen auf die Straße, die bei Ileandis Aarunaiydt Haus endete. Der Lopenhirte kam gerade die Stufen eines der Stützsäulen seines Heims herunter und hob eine Hand. Er humpelte stärker als noch vor der Abreise der Karawane und er schien gebeugt zu gehen. Als die Lopen ihn sahen, brachen sie aus und stürmten auf ihn zu. Nur Bienenstich haderte. Er gab ein klägliches Stöhnen von sich und schlich dann erst den anderen hinterher.

Trotz der Trauer, war der Empfang herzlich. Smiraiyg war ebenfalls aus dem Haus gekommen und hatte sofort die Hände vor das Gesicht geschlagen, als sie nach Donnerhuf Ausschau hielt und verstand, dass er gefallen war. Bjurk kam zwischen einer Herde anderer Lopen hervor, die unter dem Haus ihren Ruheplatz hatten und auch diese Tiere kamen nun näher, um die Neuigkeiten zu erfahren. Alle stützten die Überlebenden und sprachen ihnen Trost zu, doch Bienenstich drückte sich eng an Tal und die anderen wollten immer wieder von Ughtred gestreichelt werden. Als Bjurk endlich Wasser und frisches Heu anbot, löste sich die Stimmung ein Wenig und Smiraiyg deutete nach oben und versprach Essen und Wärme.

Kyon sah YtˋTalan an und fragte sich, ob es der Hexe genau so wie ihm ging. Er hatte fürs Erste genug Wärme erfahren und genoss die kühle Luft Kisadmurs. Wenn er das Tagebuch richtig deutete, würde sein Vater sie nicht noch einmal in die Wüste schicken und dafür war er zutiefst dankbar.

Er wollte die Treppe hinaufgehen, doch da stand Ileandis plötzlich neben ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. Einen Augenblick durchfuhr Kyon ein Schreck. Er fürchtete eine Sekunde, der Lopenhirte würde ihm einen Vorwurf machen. 

Ileandis sah ihn ruhig an. Dann flüsterte er leise: »Leben für Leben, so ist es Brauch.«

Behutsam nahm er die Hand von Kyons Schulter und fügte hinzu: »Ich werde immer wieder Lopen für euch vermitteln Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor.

»Ich danke euch Ileandis Aarunaiydt und ich wünschte, ich könnte euch bei euren Zielen behilflich sein«, erwiderte Kyon und fühlte, wie sich der Knoten in seinem Magen zu lösen begann.

Der übrige Tag in der Lopenleihe war von Gastfreundschaft und Erleichterung und nach wie vor ein wenig von der traurigen Wehmut um den Verlust der Lopen erfüllt. Am Abend jedoch, wollten die drei ihre weitere Reise buchen. Sie hatten einen langen Weg vor sich und brauchten ein Schiff, dass sie nach Südost mitnahm. 

Kyon und Ughtred hatten Glück. An der Hafenplattform lag ein zwar etwas schäbiger, aber offensichtlich flugtüchtiger Zweimaster und als er die Mannschaft nach dem Kapitän fragte, wurden sie an Bord gelassen und vor diesen geführt.

Die Knarrende, so der Name des Schiffes, wurde von Kapitän Yurst Ildan Murnail befehligt und auf Anfrage lachte dieser und bestätigte, dass er zumindest nach Elaiyney wolle. Er hatte einen durchgehenden Auftrag von der hiesigen Obrigkeit nach dort und wollte gerade aufbrechen. 

Unterdessen war Tal zur Stadtwache zurückgekehrt und Bjurk begleitete sie dabei. Smiseylyg, sie Wächterin verstand die Geste, denn der mächtige Quink war in ganz Ilanwaiyn bekannt. Sie verlor keine Zeit und erklärte, dass sie Probleme mit einem Gift hatte, weiches einfach nicht am Silberstahl ihrer Waffen halten wollte. Tal betrat die kleine Kellerküche unter der Wache und sah sich Smiseylygs Rezeptur an. Sie lächelte die ganze Zeit, weil sie immer wieder versuchte, den schwierigen Namen der Kriegerin im Geiste fehlerfrei vorzubeten und es einfach nicht schaffte. Als die Wächterin sich vorgestellt hatte, war da irgendwo ein W oder V in ihrem Namen versteckt verwesen. Wahrscheinlich ein V anstelle des zweiten Ypsilons. Aber in der Schreibweise gab es in Smiseylyg kein V. 

Tal beförderte ein winziges Bröckchen Draiynwachs aus einer ihrer Taschen zutage und erklärte der Hobbyalchemistin ihren Fehler. Sie hatte Bienenwachs benutzt, doch dieser hatte einfach nicht die richtige Konsistenz, um an Silberstahl hatten zu bleiben. Jeder Hexe wusste diese. Sie schenkte Smiseylyg das Wachs aus Draiyn Andiled und sie trennten sich freundlich. Doch Tal merkte sich die Sache am Tor. Sie war keine Frau die schnell vergaß und obwohl sie den Handel erfüllt hatte, würde sie das Verhalten der Stadtwächterin nicht vergessen. Man sah sich schließlich immer zweimal in der Unendlichkeit.

 

Die Knarrende machte gute Fahrt und das Wetter versprach stabil zu bleiben. Die Reise ging über Orith Verias und am Morgen überflog das Schiff Feynbaiyd und einige Stunden später Verith Kiriyn. Gegen Nachmittag verdunkelte sich der Horizont im Westen und die Mannschaft lockerte die Gravitationsanker, um etwas höher zu steigen und vor dem aufkommenden Unwetter ans Ziel der Reise zu gelangen.

Die Sonnen hatten sich schon zur Ruhe gelegt, als die Knarrende die westliche Landeplattform von Elaiyney ansteuerte und die Werftmannschaft träge reagierte. Trübe Lampen wurden entzündet und die Haltetaue um hohe Messingpoller gewickelt. Der Kapitän rief Befehle und hielt nach dem Hafenmeister Ausschau. Doch dieser war nirgendwo zu finden und so gingen die Passagiere ohne jegliche Kontrolle von Bord.

Nur Ughtred zögerte noch und wartete, bis der Kapitän etwas Zeit fand. Er wollte so schnell wie möglich weiter nach Shishney, denn für ihn war das Ganze hier alles andere als ein Urlaub. Er hatte sich überlegt, den Kapitän nach einer weiteren, direkten Passage zu fragen und war darüber hinaus bereit, die dafür notwendigen Ressourcen aus der eigenen Tasche zu zahlen. Tatsächlich erklärte sich Kapitän Yurst Ildan Murnail sofort bereit, jederzeit Elaiyney zu verlassen und nach Shishney zu fliegen. Er handelte alles in allem achtzehn Ressourcen aus und Ughtred freute sich über das schnelle Geschäft. Dann verließ auch er mit federndem Schritt die Knarrende und folgte seinen Kameraden. 

 

Die Katakomben von Diry

Wie bei ihrem ersten Besuch begaben sich Tal und Kyon in den Hanfbogen und Tal erkundigte sich sogleich nach dem Stadtwächter Thorill Aar`ar, dem sie mit seinem wunden Fuß geholfen hatte. Die Schankfrau wollte gerade etwas erwidern, da öffnete sich in einem karmischen Ereignis genau in diesem Moment die Tür und Thorill betrat die Kaschemme.

Er bückte sich unter dem Türsturz hindurch und blickte auf. Dann erkannte er die späten Gäste und ein Lächeln stahl sich auf seiner sonst eher harten Lippen.

Er war nicht gerade ein schöner Mann, wie Tal fand, aber mit seinem Schmiss auf der Wange, den überlangen weißen Augenbrauen und der harten, leicht gebogenen Nase, hatte er etwas Tragisches und sie mochte das Tragische. Darum winkte sie ihn direkt zu ihrem Tisch und rückte zur Seite, was ihn mehr oder weniger zwang, sich dicht zu ihr zu sitzen.

In Gedanken überschlug sie, wann sie das letzte Mal mit einem Mann geschlafen hatte und blieb ein wenig erschrocken bei der Episode an Bord des Piratenschiffes hängen. Sie nippte an ihrem Faltersud und sah ein wenig verschämt über den Tassenrand zu Kyon hinüber. Dann zuckte sie mit den Schultern und erkundigte sich nach dem Fuß des Stadtwächters. 

Thorill bedankte sich der Nachfrage und wollte schon den Stiefel ausziehen, um der Hexe den Erfolg ihrer Kur vor Augen zu führen, sah aber im Gesicht von Kyon Nygh, dass dies zu viel des Guten wäre.

Kurz darauf kam auch Ughtred durch die Tür der Kaschemme und setzte sich an den Tisch. Er bestellte Gerstensaft, der sonst wahrscheinlich nur von Quink konsumiert wurde, und lehnte sich zurück. Er freute sich darauf, den Silberwölfen von seinem Erfolg mit der Schiffspassage zu erzählen, wollte aber dem Gespräch mit dem Stadtwächter nicht zuvorkommen. Er hatte wohl bemerkt, wie interessiert Tal an dem Mann war und irgendwie erfüllte dies ihn mit einer Art morbiden Faszination. 

Die drei Silberwölfe gerieten ins Plaudern und nach einer Weile beklagte sich der Wächter über die, aus seiner Sicht viel zu lockere Handhabe der städtischen Sicherheit seitens der beiden Fürstenschwestern. Kyon hakte nach und Thorill erzählte von einer Räuberbande, die seit einiger Zeit die Wälder um Elaiyney unsicher machte und zwischenzeitlich sogar vorgelagerte Höfe angriff. Skok, der Anführer der Räuberbande, sei ein geflohener Quinksklave. Er sammelte offenbar immer mehr Gesindel um sich und hätte eine alte Kaverne namens Diry in den Wäldern bezogen. Er selbst, Thorill, hätte schon mehrfach angeboten, sich der Sache anzunehmen, aber die beiden Fürstinnen weigerten sich, ihre militärischen Kräfte dieser Sache zu widmen.

Kyon fragte, ob wenigstens mit einer Belohnung zu rechnen wäre, wenn sich Außenstehende bereit erklärten, die Räuber auszuheben, und der Stadtwächter stellte tatsächlich eine hohe Belohnung in Aussicht, für die er aus der eigenen Tasche bürgte.

Ughtred war entsetzt, denn er bemerkte sofort Kyons Interesse an der Sache und er sah seine Idee mit der Knarrenden in die Binsen gehen. Außerdem war er alles andere als begeistert, erneut einen Abstecher in die Wildnis zu machen, aber Kyon wies auf den Vorteil weiterer Ressourcen hin. Er hatte das Tagebuch mittlerweile mehrfach gelesen und offensichtlich erkannt, wie schwierig sich die zukünftige Unternehmung ohne entsprechende Zahlungsmittel gestalten würde. Jeder Kapitän würde versuchen, sie zu schröpfen, wo es nur ging und, er legte keinerlei Wert auf billige Kaschemmen und von Flöhen verseuchte Unterkünfte.

Der Nygh wollte noch etwas sagen, aber Kyon kam ihm zuvor und verkündete abenteuerlich: »Wir machen das, Herr Stadtwächter. Die Räuber sind Geschichte.«

Ughtred schwieg und sah den Angesprochenen an. Dieser nickte erneut und deutete mit seinem Becher auf den Schild. Das riesige Ding lehnte, in die klobige Decke eingewickelt, an einer der Wände. 

»Was ist mit dem da?« fragte Thorill.

Kyon zuckte mit den Schultern und Tal sagte auch nicht. Der Wächter sah sie an. Nach einer Weile unterbrach er das peinliche Schweigen und sagte: »Ich kann ihn verwahren. Bei meinem Wort, ich bringe ihn an einen sicheren Ort. Wenn ihr Elaiyney verlasst, bekommt ihr ihn zurück, aber hier herumtragen solltet ihr ihn auf keinen Fall.«

Einen Moment überkam Kayon die Antwort, sie könnten das Ding ohnehin kaum anheben, aber dann sah er Tal an und sie nickte nur zustimmen.

Dann verwies Thorill auf eine Lopenleihe am östlichen Stadtrand. Er sagte, man wisse ja, wo man ihn fände, und verabschiedete sich höflich. Er stand auf und ging zu dem Schild. Tal, Kyon und Ughtred sahen ihn interessiert an. Sie waren mehr als gespannt, wie er sich mit dem Schild schlagen würde. 

Der Stadtwächter schob seinen Arm in die Halterung des Schildes und stemmte ihn an seine Seite. Er schnaufte und nickte anerkennend, doch dann trug er ihn zur Tür der Kaschemme.

Uhtred beobachtete Tal, die dem Silberwolf hinterher starrte und dann legte er seine Stirn in seine gefalteten Hände. Schließlich akzeptierte er das ihm zugewiesene Karma. So standen alle drei auf und machten sich daran, ihrer Wege zu gehen. Die Wirtin ließ sie ziehen, denn sie erinnerte sich an die großzügige Entlohnung dieser Gäste bei deren letzten Besuch und erhob darum keine Bezahlung für dieses Mal.

 

Auf dem kleinen Platz neben der Schiffsplattform blieb Kyon stehen und sah grübelnd zur Knarrenden hinauf. Die Segel waren nun alle gebunden und die Gravanker heruntergefahren. Er sah Tal an und sagte schließlich: »Yt`Talan, wenn es euch nichts ausmacht, würde ich gerne noch etwas erledigen. Ich würde später zur Leihe nachkommen.«

»Klar, Herr Katha`Kyon«, konterte die Hexe die gestellte Ansprache und stolzierte auch schon davon. 

Ughtred überlegte kurz, folgte dann aber Tal und sagte: »Osten ist in dieser Richtung Frau Hexe.«

Kyon lachte und ging zur Landeplattform hinauf. Er wollte zwar die Sache mit den Räubern unbedingt erledigen, aber er wollte auch gerne mit der Knarrenden weiter in Richtung Shishney fahren. Er fand den Kapitän des Schiffes sympathisch und hatte darüber hinaus die Idee, nach einem Handelsauftrag für das Schiff zu suchen, um noch mehr Ressourcen für die Unternehmung zu sichern.

Kurzentschlossen fragte er sich zum Hafenmeister durch und ging zu dessen Kontor. Keine zwei Stunden später befand er sich auch schon wieder an Bord des Schiffes und wartete auf den Kapitän, der sich schon in seine Hängematte zurückgezogen hatte. Als er jedoch Kyon sah, lachte er und fragte direkt, ob es losgehen solle. Kyon war verwundert, aber dann erzählte ihm Kapitän Yurst Ildan Murnail von der Abmachung mit dem Nygh seines Gegenübers und nun musste Kyon ebenfalls lachen. 

Als nächstes berichtete Kyon von der Sache mit den Räubern und Yurst zuckte mit den Schultern und erläuterte, dass er mehr oder weniger in Elaiyney zuhause sei und es nur selten eilig hätte, den Ort zu verlassen. Als er von dem Auftrag hörte und Kyon ihm zehn Prozent bot, schlug er ohne zu zögern ein. Er versprach Kyon, sich um die Ladung zu kümmern – es handelte sich um weiches Bernsteinholz, für eine Baumaßnahme in Shishney erwartet wurde – und dann auf die Rückkehr der Passagiere von ihrem Ausflug in den Wald zu warten. Bernsteinholz würde schließlich in zwei, drei Tagen kaum schlecht werden.

Gut gelaunt verließ Kyon die Knarrende und fragte sich zu der Lopenleihe im Osten Elaiyneys durch. 

 

Ughtred schlurfte hinter der Hexe her. Das war ja wieder einmal perfekt gelaufen. Er konnte nur hoffen, dass der Kapitän des Schiffes ihm nicht zürnte, wenn er erfuhr, dass es erst einmal nicht losgehen würde. Außerdem war ihm die Vorstellung, sinnlos nach Räubern zu suchen und diese dann auch noch anzugreifen, mehr als zuwider.

Sie verließen den unmittelbaren Stadtbereich und kamen auf einen gepflasterten Weg, der auf ein offensichtlich großes Anwesen zuführte. Eine Mauer grenzte das Gut von Elaiyney ab, und das hohe zweiflügelige Gitter lag auf dem Boden unter dem Torbogen. Hinter der Mauer gab es eine verwilderte, von hohem Gras bewachsene Koppel, doch von Lopen fehlte jede Spur. Der Weg führte auf ein gewaltiges mehrstöckiges Herrenhaus zu, dessen Giebeldach vom Gewicht der Zeit eingesunken war. An mehreren Stellen wiesen die morschen Schindeln große Löcher auf und machten deutlich, wie es um den generellen Zustand des Gebäudes stand. Die Mauern waren marode und die meisten Fenster zerbrochen und mehrere der vielen hohen Kamine waren eingestürzt und hatten noch mehr Schäden verursacht.

Der Pflastersteinweg führte auf einen kleinen Platz an der Frontseite des Hauses. Hier gab es eine breite, ausgetretene Sandsteintreppe vor einem gewaltigen Tor aus grünem Holz. Letzteres machte trotz seines Alters einen trutzigen Eindruck, doch diese Haltung brachte wenig, da sich einige Schritte daneben ein breiter Riss in der Hausmauer befand. Auf der rechten Seite, am Hauptgebäude entlang, führte der ursprüngliche Weg zu einem direkt an das Haus angrenzendes kleines Nebengebäude. Schon aus der Ferne war es als Schmiede zu erkennen. Rauch stieg aus einem niedrigen, aber sehr breiten Kamin auf und auf der zum Weg gelegenen Seite gab es eine breite Öffnung in der Mauer. Hier standen ein Holzblock mit einem Amboss und mehrere Holzgestelle mit Metallteilen und Werkzeugen. Im offenen Bereich der Schmiede saß eine Silberwölfin auf einem Schemel und beugte sich über eine Werkbank aus armdicken Holz. Sie hatte einen winzigen Hammer in der Hand und starrte auf einen dünnen Metallstab. Plötzlich zischte ihr Auge und brannte in glühendem Rot und dann begann auch das Metall zu glühen und sie biss die Zähne zusammen. Dann begann sie vorsichtig auf den Metallstreifen zu schlagen und formte einen Bogen daraus. Ein Ring entstand.

Als sie Tal und Ughtred bemerkte, schloss sie ihr brennendes Auge und sah auf. Beide waren froh über die Entscheidung der Schmiedin, zuerst das Auge zu schließen und dann auf zu blicken. Tal wollte sich überhaupt nicht vorstellen, welche Kräfte in der Frau wüten mussten, wenn sie mit ihrem Blick Metalle zum Glühen bringen konnte.

Sie stellte sich und den Nygh und dann auch noch ihren Phani, der treu Norths Sarg hinter sich herzog, vor und nannte ihr Begehr.

Die Schmiedin stellte sich als Sivuril Trysh vor und nickte. Dies hier sei tatsächlich die örtliche Lopenleihe und gerade als sie dies sagte tauchte auch schon der Kopf eines jungen Kreuzhorns im Hinterfenster der Schmiede auf. Sivuril lachte über die Neugierde des Tieres und rief nach jemandem namens Fegrith. Es dauerte nicht lange, da erschien ein sehr junger Smavari und die Schmieden stellte ihn als Fegrith dan Waraiyth vor. Er würde die Gäste in das Herrenhaus begleiten, wo sie sich frisch machen und ausruhen könnten. Später würde es etwas zu essen geben. Tal informierte die Schmieden von Kyon, auf den die Reisegruppe warten müssen und Sivuril nickte. Das Essen würde ohnehin noch ein, zwei Stunden brauchen und die Lopen würden schließlich auch nicht weglaufen. Also ließen sich Tal und Ughtred von Fegrith in das große, kalte Haus führen und Odugme schlurfte ihnen hinterher.

Die Zimmer und Flure des verlassenen Hauses waren riesig und kalt und Ughtred fragte, wem das Anwesen gehörte, aber der junge Silberwolf murmelte nur etwas Unverständliches und Ughtred beließ es dabei. Er bekam ein Zimmer mit einem gigantischen Kamin zugewiesen und begann diesen zu bestücken. Da sich Tals Zimmer direkt nebenan befand, hoffte er, mit einem Feuer beide Räume aufwärmen zu können. Als er das Holz knisternd brannte, setzte er sich auf eine der Fensterbänke und blickte auf die Koppel hinaus. Das Glas war schmutzig und er rieb mit dem Arm darüber, um sich eine Stelle zu schaffen, durch die er hindurch sehen konnte. Draußen standen mehrere Zackenhörner und zwei der größeren Lopen, deren Namen er sich nicht merken konnte.

Unterdessen setzte sich Tal auf das riesige Bett in ihrem Zimmer. Der Putz war von den Wänden gefallen, aber es ließ sich noch erahnen, in welchem Prunk die einstigen Herren dieses Hauses gelebt hatten. Sie fröstelte ein wenig, konnte aber an einer der Wände bald das Prasseln Ughtreds Kaminfeuers hören. Eine Weile starrte sie nur an die hohe Decke, aber dann entschied sie sich für ein wenig Körperhygiene. Sie sah Odugme an. Seit der Sache mit dem Schild hatte er keine Maske mehr getragen. Er war entstellt, aber das fand sie nicht so schlimm.

Mit etwas klammen Fingern kramte sie ihr winziges Doppelmesser mit den stark gebogenen Klingen aus ihrer Tasche und legte es neben sich auf das Bett. Sie zog ihren Mantel aus und begann das Obergewand und die Lederriemen aufzuknöpfen. Der Waffengurt machte ihr Schwierigkeiten, aber nach einem Moment des Ärgers zog sie den Bauch ein und drückte ihn ohne die Schnalle zu öffnen über die Taille. Sie hatte eindeutig Gewicht in der Wüste gelassen und das gefiel ihr nicht. Es war nicht gehörig von einem Land, ihr etwas zu nehmen. Länder hatten den Smavari zu geben!

Als sie endlich nackt war, zog sie gegen die Kälte eine ihrer Decken über den Oberkörper und befahl dann: »Odugme, rasiere mich!«

Der große schwarze Mann hatte sich in eine Ecke des Raumes gesetzt und seine Herrin beobachtet. Wenn ihr Nacktsein ihn in irgendeiner Weiße erregte, verriet sein Äußeres nichts davon. Jetzt stand er auf und trat an das Bett heran. Langsam nahm er die Doppelklinge zwischen die Finger und kniete sich zwischen Tals Beine. Dann strich er über ihren Schenkel und näherte sich mit der Klinge ihrer Haut. 

Tal hob den Kopf dann sah sie sein Zittern. Tal hob den Kopf und zischte wie eine wütende Schlange und er hielt still. Die Hand mit der Klinge zitterte wie die eines Greises. Sie schloss die Augen und als sie sie wieder öffnete, schüttelte sie resignierend den Kopf. 

»Lege dich neben mich auf das Bett Phani. Um meine Schönheit, kümmere ich mich wohl besser selbst. Sie nahm ihm das Hexenmesser aus der Pranke und bückte sich zu ihren Beinen. Alles muss man selbst machen, dachte sie und verfluchte dabei ein wenig jähzornig den Stadtwächter Thorill. Der hätte das mit der Rasur auch machen können. Da hätte ihr auch ein bisschen Zittern nichts ausgemacht.

Sie rasierte sich oberflächlich und schnell, bestrich ihre Haut mit etwas Balsam aus ihrem Fundus und rieb sich den Rest unter die Arme. Sie schnüffelte an sich, konnte sich aber nicht überwinden, in der Kälte Wasser zu benutzen. Stattdessen streckte sie sich neben dem riesigen Körper des Phani aus, verdrehte sich, krümmte sich zusammen und kroch dann in einer absolut unmöglichen Position in die Armbeuge des Riesen. So schlief sie ein und Odugme lauschte auf ihr leises Knurren, dass sie stets von sich gab, wenn sie in der Traumwelt weilte. Es dauerte noch eine Weile, dann wechselte auch er hinüber in dieses fremde und dennoch nahe Land des Schlafes. Hier war er frei. Sein Gesicht war schön und er war ein Mann und nichts und niemand gab ihm auf, eine Maske zu tragen. 

 

Es war dunkel und dichter Nebel lag über den gepflasterten Wegen Elaiyneys, als Kyon seine Geschäfte beendet hatte und sich den Weg zu der Lopenleihe beschreiben ließ. Eine alte Quink deutete eine Straße hinunter und winkte dann, er solle nur immer in diese Richtung gehen.

Froh gemuht tat er wie ihm geheißen und nach einer Weile kam er zuerst an einer Stadtmauer, dann an einer mit nur zwei Quink besetzten Wache und schließlich einem großen Hof vorbei. Nach dem Hof gab es nur noch wenige Häuser und es war deutlich, dass er den Hauptteil des Ortes hinter sich gelassen hatte. Links und rechts des Weges befand sich unbebautes Gelände, welches nur von struppigem Gras und kleinen dornigen Büschen bewachsen war. Er sah sich um, konnte aber im immer stärker werdenden Nebel nichts erkennen. Einmal, er war schon eine ganze Strecke von der Stadt entfernt, dachte er, eine Bewegung hinter sich gesehen zu haben, aber dann sah er links von ich das Huschen von Tentakeldachsen und zuckte mit den Schultern. Die Tiere waren harmlos und würden ihn sicher nicht angreifen. 

Vor sich schälte sich die bedrohliche Silhouette eines riesigen Gebäudes aus der Nebelwand. Die Fenster wirkten wie leere Augenhöhlen und die großen Doppelflügel des Haupttores wirkten wie ein griesgrämig nach unten gezogenes Maul eines Titanen. Auf leisen Sohlen näherte er sich dem Gebäude und plötzlich hörte er einen Schrei. Sofort flog der Bogen in seinen ausgestreckten Arm und begann zu rennen.

 

Tal lag flach auf dem Rücken ihres Bettes und sah aus dem Augenwinkel den reglosen Leib ihres Phani neben sich. Er hatte sein goldenes Geschlecht nicht abgenommen. Ohne Maske sah er mit den Halteschienen in seinem Kiefer und dem goldenen Zwischenstück im Knochen seltsam normal für sie aus. Er war nun nicht mehr das unbezahlbare Statussymbol der ersten Tage. Er hatte Kratzer und die minderten seinen Wert. Für sie selbst machte dieser Umstand aber den Umgang mit ihm viel leichter. Es war, als müsse sie nicht mehr vorsichtig sein und darum konnte sie ihren Besitz ohne Ängste genießen.

Das Zimmer war von kaltem Nebel erfüllt und sie fragte sich, ob sie ein Fenster geöffnet hatte und wenn ja, warum sie es getan haben könnte. Dann versuchte sie zu begreifen, warum sich ihre Welt so steif anfühlte und jetzt bemerkte sie endlich, dass sie außerstande war, sich zu bewegen.

Ihre Augen waren offensichtlich nicht betroffen, denn sie konnte ja ihre Aufmerksamkeit von dem Nebel im Zimmer auf den Männerkörper neben sich richten, aber warum gelang es ihr nicht, sich aufzusetzen?

Sie überlegte, ob es vielleicht der Chaosring sein könnte. Hatte sie ihn angesteckt und war unter seine Kontrolle geraten? Im Zirkel hatte sie den Namen des Ringes gelernt. Die Einäugige Hexe hatte ihn Erunsard den Zeithammer getauft.

Vorsichtig sprach sie in Gedanken den Namen des Rings und versuchte zu erkennen, ob sich ihr Geist in einer Traumwelt des Artefaktes befand, aber dann erschrak sie. Da war eine Bewegung über ihr. Sie versuchte etwas zu erkennen, aber ihre schlechten Augen spielten ihr sicher einen Streich. Hockte das eine nackte Frau an der Decke?

 

Ughtred fühlte sich unwohl. Zwar hatte er das Feuer im Kamin in Gang gebracht, aber das Zimmer war viel zu groß, um sich schnell aufzuwärmen. Oder war es einfach nur zu groß für ihn? Er fragte sich, ob es nicht die Welt war, deren Größe er unterschätzt hatte und die ihm nun zusetzte. 

Unruhig ging er zu einem der Fenster, dessen Glas zum Großteil zerbrochen und durch Latten ersetzt worden war. Scherben knirschten unter seinen Fußsohlen. Er zog sich auf das Fensterbrett hinauf und starrte auf das im Nebel liegende Grundstück hinaus. Am Rande seines Blickfeldes konnte er zwei Tentakeldachse sehen, die versuchten, einen alten Holzverschlag zu öffnen. Wahrscheinlich hatte man hier vor langer Zeit Huhns gehalten. Silberwölfe hielten Tiere, um sie zu mästen und dann zu essen, eine Vorstellung, die in Korezuul undenkbar war. Man nahm was die Große Mutter gab, aber man sperrte es nicht ein und quälte es auch nicht.

Plötzlich hörte er ein Geräusch an der Decke und seine Nackenhärchen stellten sich auf. An der Decke, im Stock über ihm oder aus dem Nachbarzimmer – er versuchte zu orten, wo das Geräusch hergekommen war, und richtete sich auf. Dieses Haus hatte etwas Bedrohliches und dies lag nicht nur an seinen Ausmaßen.

Wieder knackte etwas, und dann war da ein Ziehen in der Luft. Er kannte dieses Gefühl. Es kam immer in ihm auf, wenn etwas Unnatürliches vor sich ging. Jedes Mal, wenn die Hexe eine ihrer Zauberkräfte wirkte, zog es ihm in die Hoden und jetzt war es nicht anders. Und dann war da der Schrei.

 

Tal versuchte genauer zu erkennen, was da an der hohen Decke über ihr vor sich ging, aber ihre Sicht wurde vom Nebel getrübt. Warum war da Nebel in ihrem Zimmer?

Jetzt schwebte die Frau – es war eindeutig eine dürre, nackte Frau mit schlauchförmigen Brüsten und knochigen Gliedern – zu ihr herab und Tal war auf eine groteske Weiße froh, denn nun konnte sie zumindest erkennen, was vor sich ging.

Eine Sekunde später jedoch, wünschte sie, nie gesehen zu haben was da von der Decke zu ihr herabschwebte. Es war tatsächlich eine Frau. Einst wird sie eine Smavari gewesen sein, doch nun war sie ein Ding aus der Anderwelt. Ihre blutlosen Gebeine hatten etwas Spinnenhaftes und ihr Gesicht hatte jede Schönheit verloren. Mit starren Augen der Blutgier ließ ich das Wesen zu Tal herab und geiferte Sabber auf ihre nackte Brust. Der Rachen das Dings war weit aufgerissen und zeigte mehrere Reihen messerscharfer Zähne und als es endlich auf Tals Bauch gelandet war, beugte es sich über sie und leckte an ihrem Hals. Tal spürte, wie Blut zu rinnen begann und das Wesen, diese widerliche Bluttrinkerin trank aus ihr. Mit aller macht versuchte sie zu schreien, aber die Blutsaugerin hatte das Selbe mit ihr getan, wie sie selbst es mit Kyon in Draiyn Andiled gemacht hatte. Sie war in einer Art psionischer Stase gefangen und konnte sich nicht rühren. Verzweifelt wehrte sie sich, doch körperliche Impulse hatten keinerlei Wirkung.

Der Nebel wurde immer dichter und Tal merkte, wie er sich in ihren Geist schlich. Sie würde sterben. Das Ding unter der Treppe, hatte schon einmal von ihr gekostet und nun würde es seine Arbeit vollenden. Es würde ihr Blut und schließlich ihre Seele trinken und dann auf ewig mit ihren Alpträumen spielen. Erging es North so in dem Shimwas? Sie schüttelte sich und schrie in sich hinein, wehrte sich mit aller Kraft, aber je mehr sie versuchte hinaus zu dringen, umso mehr erstickte sie der Nebel.

Plötzlich sah sie Akkathas rote Teufelsaugen vor ihrem inneren Ich. »Was … Habe … ich … euch … beigebracht … Tochter … ?«

Die junge Hexe kämpfte mit den Tränen, doch dann kam eine fast unerträgliche Härte über sie. Die Mutterhexe hatte ihr beigebracht, aus allem, selbst aus der schlimmsten verzweiflung, Energie zu ziehen. Aus Angst und Verzweiflung konnten Hass und Wut gezogen werden und derart kanalisiert, waren diese beiden grimmen Schwestern machtvolle Verbündete. Tal konzentrierte sich auf ihre Gefühle und tatsächlich begann sich ihre Angst zu wandeln. Da war etwas urwüchsiges in ihr, etwas, dass in allen Hexen schlummerte und es konnte jederzeit durch die Oberfläche brechen. Wieder schrie sie, und dieses Mal öffnete sich ihr physischer Mund und übertrug einen Teil des Schreis in die Kälte des Zimmers. Gleichzeitig griff Tal in die feinstoffliche Welt, öffnete ihre inneren Augen und sah das Andere. Der Vampir hockte auf ihr und hob verwundert den Kopf. Dann packte Tal die feinstofflichen Stränge des Stasezustandes und ließ ihrer eigenen Kraft freien Raum. Die Aufhebung brach sich Bahn durch ihre Seele und erfüllte ihre ganze innere Welt. Einen kurzen Moment entstand eine Blase, als Kraft und Antikraft aufeinander prallten, doch dann zerbarst dieses Konstrukt und schleuderte die dürre Blutsaugerin aus Tals Lager. Sofort holte Tal tief Luft und schrie erneut und diesmal schrillte all ihr Hass und ihre Wut durch die morschen Gemäuer des Herrenhauses.

 

Kyon rannte durch eine unwirkliche Welt aus flimmernden Lichtern und waberndem Nebel. Er hatte längst den Boden unter den Füßen verloren und erkannte auch nicht mehr die Richtung in die er lief, aber da er den Weg nicht verlassen hatte, glaubte er nach wie vor auf das große Gebäude zu zulaufen. Dann blitzte plötzlich ein weißer Strich vor im auf und er versuchte im letzten Moment seitlich auszuweichen. Wie in Zeitlupe erschien die Fratze einer Frau vor ihm und bleckte ihre Haifischzähne. Als er an ihr vorbei glitt, berührten ihre langen Finger seine Wange und öffneten dabei seine Haut. Blut spritzte in den Nebel und er zog einen Pfeil durch den doppelten Rahmen seines Bogen, doch die dürre Gestalt war längst im dichten Nebel verschwunden. Freudlos langsam ließ er den Pfeil von der Sehne. Er wischte sich über die Wange und starrte auf das Blut auf seiner Handfläche.

 

Als Ughtred mit hoch erhobener Axt in das Zimmer stürmte, war schon alles vorbei. Tal hockte auf ihrem zerwühlten Bett und ihr Hals und ihr weißer Busen waren von ihrem Blut bedeckt. Er suchte nach einem Loch in der Decke oder den Wänden, fand aber nichts. Was auch immer Tal angegriffen hatte, es war weg. Die Episode mit der Treppe fiel ihm ein und er wunderte sich nicht mehr. Die Welt der Silberwölfe war voller Perversionen und Hexereien. 

Vorsichtig ging er zu dem Bett, legte seine Axt auf den Boden und besah sich den Schaden. Tal starrte ihn erbost an und einen Moment hatte er Angst, sie würde ihn angreifen. Stattdessen begann sie zu keifen. Sie beleidigte Elaiyney, dann das Wesen unter der Treppe und schließlich schwor sie ewige heiße Rache an dem blutsaugenden Ding. 

Ughtred war froh. Wer in der Lage war, derart zu fluchen, konnte kaum schwer verletzt sein. Er besah sich die Wunde näher und begann sie mit der Decke zu säubern, aber Tal wischte mit einer wütenden Handbewegung durch die Luft und machte seine Bemühungen zunichte.

Schließlich betrat Kyon das Zimmer. Tal sprang auf und ließ die Decke zu Boden fallen. »Bei Mirthas goldenen Glocken, die scheiß Blutsaugerin ist euch auch begegnet. Ich hoffe sie hat einen eurer Brandpfeile gefressen.«

»Leider nicht«, erwiderte Kyon und besah ihren blutigen Leib.

»Noch alles dran?« fragte er lakonisch, bückte sich nach der Decke und rieb sich damit über die eigene Wange. 

 

Etwas später, Ughtred war in das Nachbarzimmer gegangen, hatte aber beider Türen offen gelassen, saßen Tal und Kyon auf dem Bett und ließen sich von dem Phani reinigen. Er hatte Wasser gefüllt und es zumindest auf Zimmertemperatur gebracht und Tal ertappe sich dabei, wie sie sich nach der Hitze der Wüste sehnte.

Odugme tupfte gerade helles Blut von Kyons Wange und der Barde biss mit hängenden Ohren die Zähne zusammen. 

Sie fragte sich, ob der die vier dünnen Narben stehen lassen würde. Wahrscheinlich nicht. Er war eitel und würde seine Heilungskräfte nutzen, um den kosmetischen Schaden zu beheben. Schade eigentlich, ein kleiner Schmiss würde ihn männlicher wirken lassen. 

»Ich habe euch in der Wüste vergiftet und den Hexenring gestohlen«, sagte sie ruhig und hätte ihn in diesem Augenblick am liebsten geküsst. 

Er sah an ihr vorbei und raunte emotionslos: »Ah wirklich?«

»Das Ding unter der Treppe muss weg. Die Tiba Fe ist nicht groß genug für dieses Monster und mich«, sagte Tal bestimmt und fügte dann hinzu: »Ihr müsst mir helfen sie auszulöschen.«

Kyon nickte stumm. Er griff mir seinem Geist in den Äther und zupfte mit spitzen Nägeln an den Schicksalsfäden, doch alles, was er in Verbindung mit sich fand, war die Wildheit des Wolfes. Er konnte diese Kräfte frei lassen, doch sie unterwarfen sich nie seinem Willen. Eine Kanalisierung, wie Yt`Talan sie zu vollziehen wusste, war ihm nicht möglich. 

»Und ihr müsst mir beibringen, die Fäden zu knüpfen, anstelle nur mit ihnen zu spielen. Wir werden das brauchen – für alles was wir noch vorhaben.«

Sie strich ihm das immer noch vom Nebel nasse Haar aus der Stirn und nickte. »So machen wir das.«

 

Sivuril Trysh, die Schmiedin, nickte betrübt und riet direkt ab. »Dieses Wesen, die Frau unter der Treppe, ist älter als die älteste Smavari auf der Tiba Fe. Sie stammt angeblich von einer weit entfernten Welt und kam mit den ersten Siedlern hierher und schon damals soll sie eine Bluttrinkerin gewesen sein. Niemand kann es mit ihr aufnehmen und selbst die Fürstenschwestern lassen sie gewähren.«

Kyon, Tal und Ughtred, der gerade eben hinzugekommen war, sahen die Schmiedin an.

Einen Moment schwieg sie. Dann fügte sie hinzu: »Es ist, wie es ist. Niemand in Elaiyney und wahrscheinlich auch anderswo, kann etwas gegen sie tun, aber es scheint auch gar nicht wirklich notwendig.«

»Nicht notwendig?« Brauste Tal auf. »Das Miststück hat mich angegriffen. Ich finde es ziemlich notwendig etwas gegen sie zu tun.«

»Aber ihr lebt doch noch.«

Tal funkelte Sivuril böse an. »Das ist ja allerliebst«, zischte sie. »Was müsste sie tun, um es notwendig zu machen, mir den Kopf abbeißen?«

»Sie hat noch nie jemanden getötet. Zumindest keinen von uns. Ein, zwei Mal sind Quink zu Schaden gekommen, aber die waren alt und ich bin sicher, es war unbeabsichtigt«, sagte die Schmiedin.

Es war Tal anzusehen, dass sie innerlich brodelte und Kyon wechselte das Thema.

»Wir würden bald aufbrechen, ihr wisst nicht zufällig jemanden, der sich uns anschließen würde?« fragte er in freundlichem Ton.

Die Angesprochene sah aus, als überlege sie noch, wie sie Tal weiter beruhigen könnte, doch dann schob sie den Gedanken beiseite und antwortete: »Naja, ich selbst könnte mit euch kommen.«

Kyon lächelt, als hätte er gehofft, die Schmiedin rekrutieren zu können. Er sah sie an und sein Blick streifte über das Feuerauge.

Sie nickte und sagte ruhig: »Es war ein Luge, der mir dies antat.«

»Wie könnt ihr es zu eurem Nutzen einsetzen?« fragte Kyon ganz offen.

»Es kann eingesetzt werden, aber es kostet mich viel. Aber wie auch immer, ich bin bereit mit euch zu ziehen, denn das Leben in Elaiyney füllt mich nicht aus und ich habe selbst Bedürfnisse, die nur mit Ressourcen erfüllbar werden. Ich bin dabei.«

Tal sah zum hinteren Bereich des Anwesens, wo sie die Stallungen vermutete. Auf der Weide spielten mehrere Lopen mit dem jungen Smavari, den sie gestern kennengelernt hatten.

Die Schmiedin folgte ihrem Blick und sagte: »Nein, Fegrith wird nicht mit in den Dirywald gehen. Sicher nicht. Er bleibt und sieht nach den Lopen.«

Die Hexe nickte und zuckte mit den Schultern. Dann sagte sie: »Dann ist das so. Wann brechen wir auf?«

 

Keine drei Stunden später wischte sich Kyon die niedrigen Zweige von Nadelbäumen aus dem Gesicht und betastete dann die frische Wunde auf seiner Wange. Tal hatte ein Pflaster aufgebracht und die Haut darunter juckte. Was noch alles? dachte er und versuchte dem Gestrüpp besser auszuweichen. Die Lope unter ihm, er hatte den Namen vergessen und wurde bei dem Gedanken schmerzhaft an Donnerhuf erinnert, stolperte immer wieder, denn der Grund des Dirywaldes war holprig und von Steinen durchsetzt. Kyons Rücken schmerzte und er fragte sich, was er sich dabei gedacht hatte, diesen Auftrag anzunehmen. Einerseits sah er kein Problem darin eine Quinkräuberbande auszuheben, andererseits, hatte er den Weg dorthin mit der Wüste verglichen und übersehen, das man im Hier und Jetzt immer die aktuelle Situation am realsten und alles Vergangene eben als vergangen war nahm. Er fröstelte ein wenig und sah zu dem Nygh vor sich auf. Wie machte das der kleine Mann nur? Der Kerl kraulte seiner Lope den Nacken und betrachtete mit eindeutigem Interesse die Umgebung. Er fror nie, schwitzte nie und wahrscheinlich litt er nicht einmal Hunger oder Durst. 

Seitlich hinter ihm ritt die Schmiedin. Den Phani hatten sie im Anwesen gelassen und Kyon war ganz froh darüber, auch den Sarg nicht sehen zu müssen. Er überlegte, ob er Tal bitten sollte, an dieser Stelle gelegentlich eine endgültige Entscheidung zu treffen. Man könnte Northrian zur Ruhe betten. Oder ging das überhaupt? Würde das Fleisch überhaupt Ruhe finden? Er hatte einmal gehört, dass die Nanophagen, welche totes Fleisch belebten, für immer in ihren Wirten blieben, und nichts diesen Zustand beenden könnte. Aber stimmte das? Feuer änderte alles. Er dachte an das Auge der Schmiedin und seinen Vater. Drachenfeuer, konnte wirklich alles beenden.

 

Die Kühle des Morgens genießend hatte Tal die Augen geschlossen und ließ sich von Regentanz, ihrer Lope, durch den Wald schaukeln. Ab und an strauchelte das mächtige Tier, aber Tal konnte die Fehltritte mittlerweile vorhersehen und glich sie mit geschmeidigen Bewegungen ihrer Hüfte aus. Sie mochte das Reiten mittlerweile. Ihr Verhältnis zu den Lopen war anders als das Kyons. Für sie war das Band zu diesen Tieren weniger aus Ehre, denn aus Zuneigung geknüpft. Sie verstand, warum Smavari und Lopen in Symbiose miteinander lebten. Diese Tiere waren Stolz und hatten einen kämpferischen Charakter. Sie waren wie Wölfe mit Hörnern.

Irgendwo im Gewirr der senkrechten dunklen Striche aus Stämmen und Nadelzweigen schrie ein Vogel und als sie die Augen öffnete, konnte sie kurz neben sich eine Bewegung wahrnehmen. Sie kniff die Augen zusammen, hatte aber den Fokus längst verloren. Seit ihrem Aufbruch in Shishney war ihr erstmals klar geworden, wie schlecht sie im Vergleich zu anderen zu sehen schien. Dennoch, sie hatte etwas gesehen. Da war etwas im Wald, das ihnen folgte.

Ohne Hast lenkte sie Regentanz an der Lope der Schmiedin vorbei und schloss zu Kyon auf. Er musste es ja weit besser wahrgenommen haben als sie.

Auf gleicher Höhe angekommen sah sie den Sliyn an und sagte: »Jemand folgt uns.«

Kyon wandte ihr den Kopf zu und nahm die Hand von seiner Wange. Er blinzelte an ihr vorbei und blickte in den Wald hinaus, als bemerke er erst jetzt, dass er sich in der Wildnis befand.

»Irgendwo da draußen ist ein Löwe. Er ging eine Weile mit uns, aber er ist klug und sucht sich sicher eine leichtere Beute«, sagte er gelassen und in seinem typisch arroganten und allwissenden Ton.

»Ein Löwe? Ich habe noch nie einen gesehen, aber was auch immer ich gesehen habe, es war kein Löwe.«

»Ihr habt etwas gesehen

Er sprach das Wort mit einem deutlich humoristischen Unterton aus, der Tal ärgerte. Sie wusste genau, dass es falsch war, sich von solchen Gefühlen leiten zu lassen, aber sie tat sich immer noch schwer mit ihrem Verhältnis zu Kyon. Er war ein Sliyn, stammte aus dem Hause eines Sliyn und benahm sich wie einer. Sein Mantel war neu und schön, seine Ausrüstung glänzte und in den Kaschemmen zahlte er. Sie hatte nicht einmal eine Frisur.

»Wenn ich sage, ich habe etwas wahrgenommen, dann habe ich das auch«, sagte sie gereizt.

Der Barde hob sich aus dem Sattel und blickte sich um. Er konzentrierte sich und Tal erkannte, dass er sie ernst nahm. 

»Ich sehe nichts und ich spüre auch nichts, aber wir sollten vorsichtig sein. Eure Wahrnehmung blickt in andere Sphären als meine. Wir werden die Augen offen halten.«

Sie überlegte kurz, ob sie noch etwas sagen sollte, beließ es aber dabei und gab ihrer Lope zu verstehen, sich zurückfallen zu lassen.

 

Einen Tag ging die Reise durch den Wald. Immer wieder mussten die Reiter absteigen und zu Fuß gehen. Steinmeere und dichtes Unterholz machten den Weg schwierig und ohne die Karte aus Undorn hätte man die Katakomben von Diry niemals finden können. Immer wieder musste Ughtred sich die Karte von Tal geben lassen. Er wunderte sich ohnehin, dass Kyon den Kristall der Hexe gegeben hatte. Die ganze Zeit hatte er gedacht, der Barde wäre so eine Art Fürst und hätte deshalb das Sagen und er benahm sich auch irgendwie so. Aber dann wieder, überließ er das mächtigste ihrer Artefakte der Hexe. Das Verhältnis der beiden Silberwölfe war ihm ein Buch  mit sieben Siegeln. 

Zur Mitternacht des ersten Reisetages ließ Kyon anhalten und sagte ihm, er solle ein gutes Lager suchen. Zu Befehl, dachte Ughtred, aber dann musste er innerlich lachen, weil er wusste, dass Kyon ihm nicht wirklich Befehle erteilte. Das war auch so etwas Merkwürdiges. Der Silberwolf war eben ein Silberwolf und Ughtred war für ihn wahrscheinlich nicht mehr als eine Lope, aber warum auch? Wenn er in sich selbst hinein horchte, konnte er dieses Gefühl auch wahrnehmen. Die Lopen waren Tiere, aber sie waren auch treu, mutig, schön, intelligent und sie gaben ihr Leben für die ihrer Reiter. Sie taten es, wegen einem tausende von Millenien alten Schwur, den vor langer Zeit ihre Vorfahren mit den ersten Silberwölfen der Tiba Fe geschlossen hatten, und sie hielten sich immer noch daran. Warum sollte man Tiere minder schätzen als Nyghs und Silberwölfe?

Er deutete auf einen umgestürzten Baumriesen und den durch dieses Ereignis frei gewordenen Platz. Der Boden war zwar von Steinen übersät, aber es würde gehen und er hatte auch keine Lust mehr weiter zu reiten.

»Hier ist es so gut wie anderswo«, sagte er in gebrochenem Smavarisch und stieg direkt ab.

Kyon nickte und hob den Arm in seiner Lieblingsgeste. Als er die Hand zur Faust ballte, hielten alle Lopen an, als kannten sie alle diesen militärisch anmutenden Befehl.

Als alle abgestiegen waren, begannen sie sogleich das Lager aufzubauen. Ughtred sammelte etwas Reisig und wollte gerade ein Feuer entzünden, als Sivuril im Vorübergehen ihr Auge aufflammen ließ und den von ihm aufgeschichteten Haufen in Flammen aufgehen ließ. Er blickte zu ihr auf, verzog das Gesicht zu einer Grimasse und begann wenigstens Steine um die Feuerstelle zu legen.

Unterdessen hängte Kyon seine Hängematte zwischen die schwarzen Stämme zweier Bäume. Er hatte das Ding in Elaiyney einem alten Quink abgetauscht, denn er hatte genug vom steinigen harten Boden. Es war ihm ein Rätsel, wie Tal unter solchen Umständen schlafen konnte, aber ihre dünnen Knochen schienen aus Gummi zu sein und seine nun einmal nicht. Er grinste, als er sah, wie die Hexe versuchte ihr Zelt aufzubauen und kläglich versagte. Die Stangen und Häute sahen aber auch wirklich kompliziert aus. Er überlegte, ob er dem Nygh befehlen sollte ihr zu helfen, aber da kam ihm Ughtred auch schon zuvor. Er hasste den Altruismus des kleinen Mannes. Was bildete sich der Kerl nur ein? Was sollte er erreichen? Dachte er am Ende etwa die Smavari würde ihn eines Tages zu sich ins Zelt lassen?

Er stutzte bei diesem Gedanken und überlegte kurz. Aus seiner Sicht war der Nygh so hässlich wie ein Pest verseuchter Hobgoblin. War es möglich? Er selbst hatte einmal vor langer Zeit Sex mit einer jungen Quink gehabt, unter Drogeneinfluss und – zumindest redete er sich das ein – weil er eine Wette verloren hatte. Aber Tal mit dem Nygh – das fand er grotesk. Na ja, grotesk musste nicht schlecht sein, war ja schließlich ihre Sache. 

Er beobachtete die beiden und sah zu, wie Tal sich wie immer vor dem engen Zelt entkleidete und ihre Decke hinein schob. Die Reise hatte sie noch dürrer werden lassen, aber er wusste, dass dieser Eindruck täuschen konnte. Smavarische Frauen konnten ihre Leibesmaße noch stärker beeinflussen als Männer. Eben kommen sie knabenhaft und maskulin daher und im nächsten Moment wölben sich ihre Mieder bis zum Zerplatzen und die Taillen werden schmal wie bei Wutwespen.

Egal, sie war nicht sein Fall und gut. Also stieg er in seine Hängematte und war froh, dieses Thema abgeschlossen zu haben. Sogleich schief er ein und träumte von ihr.

 

Als Ughtred die Reisegruppe weckte, war es noch dunkel, aber die Sonnenschwestern betasteten mit ihren ersten Strahlen die Spitzen der Baumwipfel. Er begann das Lager zu räumen, packte Ausrüstung auf die Lopen und stieß dabei überhaupt nicht aus Versehen gegen Kyons Schlafstätte. Der Barde knurrte wie der Wolf, der er war, und einen Moment bereute Ughtred seinen Spaß. Er versuchte etwas in der Hängematte zu erkennen und war erleichtert, als Kyons verschlafenes Gesicht über dem Rand erschien. Er sah zwar böse aus, aber immerhin war er normal – also was auch immer für einen Silberwolf normal galt.

Laut Karte waren die Katakomben noch etwa eine Tagesreise entfernt. Dies würde bedeuten, sie kämen am Ende ihrer Kräfte dort an. Also beschlossen sie, ein Stück vorher erneut zu rasten und sich auszuruhen. Gesagt, getan, sie brachen auf und kamen auch gut voran. Tal fühlte sich immer noch beobachtet. Das Gefühl verstärkte sich zwar nicht, war aber eindeutig. Sie sagte nichts mehr, aber sie war vorsichtig. Wenn sie sich tatsächlich nur am Rande des Reviers eines Waldlöwen befanden, erschien ihr dies gefährlich genug, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass es sich hier um etwas anderes handelte. Es war etwas Feinstoffliches und sie erwog, in den Astralraum zu blicken, um sichergehen zu können, nicht von etwas aus der Anderwelt verfolgt zu werden. Da ihr Gefühl aber nicht an Dringlichkeit zunahm, verwarf sie die Idee. Psionische Vorgänge kosteten viel Kraft und konnten viele Tage brauchen, bis sie erneut zum Einsatz kommen konnten. Sie wollte sich ihre Kräfte aufsparen. Eine Gruppe von Räubern erschien ihr zwar alles andere als gefährlich – zumindest verglichen mit den Bewohnern der Wüste – aber man konnte nie wissen.

Gegen Mittag erreichten sie eine kleine Lichtung mit einem Bach und entschieden, genau hier zu rasten. Sie waren noch ein ganzes Stück von ihrem Ziel entfernt, aber den Rest der Strecke würden sie zurücklegen können, ohne alle Kräfte aufzubrauchen. Wieder schlug Ughtred das Lager auf und wieder verbrachten sie mehrere Stunden ohne Zwischenfälle im Wald von Diry. Es war fast, als schütze sie eine übergeordnete Kraft und Tal überlegte, ob es dies war. War da etwas in den Wäldern, dass auf sie aufpasste, weil es wollte, dass sie ihr Ziel erreichten? Sie dachte an das, was der Stadtwächter gesagt hatte. Ein Waldläufer oder eine ganze Jagdgruppe sei angegriffen worden. Konnten es die Geister der Toten sein, die hier eine Möglichkeit zur Rache sahen und deswegen ihren Weg sicher gestalteten? Sie lächelte bei diesem Gedanken, denn sie war eine Silberwölfin und Rache war ein starkes Motiv in der Welt der Smavari.

 

Ausgeschlafen bestiegen sie einige Stunden später die Lopen und bereiteten sich auf die letzte Etappe des Weges vor. Sivuril zog ihren langstieligen, sehr schmalen Hammer aus dem Gürtel und prüfte die spitze Seite. In der Dunkelheit glomm der Silberstahl unter dem Blick ihres Drachenauges rötlich.

Ughtred bewegte seine Lope neben sie und fragte: »Schmerzt es?«

»Nur wenn ich dabei lache«, scherzte die Schmiedin, die ihn seit ihrer ersten Begegnung wie ihresgleichen behandelte, was für eine Silberwölfin mehr als außergewöhnlich war. 

Der Nygh sah sie an und schüttelte den Kopf. Er würde diese Wesen nie verstehen. Konnten sie nichts ernst nehmen? Oder nahmen sie alles zu ernst?

»Na lustig wird das nachher sicher nicht werden«, sagte er schließlich. 

»Na dann habe ich ja Glück.«

Nur wenige Stunden darauf kamen sie an eine kleine Anhöhe und eine der Lopen stolperte über einen Steindeckel, der am Boden lag. Sie stiegen ab und untersuchten das Ding und erkannten es als eine Art Tor, welches einen Zugang der Katakomben verschloss. Ohne Werkzeug war das Ding jedoch unmöglich zu bewältigen. So beschlossen sie, die Lopen ein Stückchen abseits lagern zu lassen und sich das Gelände genauer anzusehen. Kyon zog einen seiner speziellen Pfeile aus dem Köcher und sofort sprang ihm der Bogen in die ausgestreckte Hand. Er zog die Sehne durch und schoss den Pfeil in steilem Winkel in die Luft. Dann drehten sich seine Augen nach oben und sein Geist wurde mit dem Pfeil in die Höhe gerissen. Die anderen staunten, als er zusammenzuckte und sagte: »Der Pfeil ist gegen einen Felsen im Nordosten geprallt. Wir sind ein kleines Stück zu weit. Ich habe zwei Quink vor einer Art Höhleneingang und eine weitere Abdeckung wie die vorhin gesehen.«

Tal erwiderte: »Ich werde im Astralraum dort hingehen und die Lage sondieren.«

Er verdrehte die Augen, weil er dann ja den Pfeil umsonst geopfert hatte, aber er sagte nichts. Stattdessen nickte er und deutete in die Richtung, von der er gesprochen hatte.

Tal erinnerte sich an ihren Ausflug in die Anderwelt, als sie in Draiyn Andiled in der gleichen Situation gewesen waren. Diesmal war der Sarg weit entfernt und sie hatte eine bessere Vorstellung von den Richtungen und Kräften. Sie setzte sich auf den Boden, zog die Beine unter sich und schloss die Augen. Kurz darauf drang sie mit dem Geist in den Astralraum, griff nach den entsprechenden Fäden und befreite sich aus ihrem Leib. Es dauerte nur eine Sekunde, da drehte sich auch schon wieder die Richtung der Gravitation, aber dieses Mal wehrte sie sich nicht, sondern nutzte die Kräfte, um sich voran zu bewegen. Es gelang ihr derart gut, dass sie schneller als Kyons Pfeil durch den Wald raste und sich binnen einer Sekunde im Lager der Räuber wiederfand.

Sie erkannte ein fast ausgebranntes Lagerfeuer und die beiden Räuber, von denen Kyon gesprochen hatte. Der Eingang stand offen und sie zog sich hinein und erkannte mehrere am Boden liegende Gestalten. Da waren die massigen Leiber von wenigstens zwei Jukrey zu sehen und ebenfalls zwei Midyar. Hinzu kamen vier oder fünf Quink, von denen gerade einer aufgestanden war. Sie zog sich zurück und untersuchte noch schnell die Umgebung. Sie selbst bemerkte es gar nicht, aber die Geschwindigkeit, in der sich ihr Astralkörper bewegte, machte aus ihrem Ausflug eine Sache von wenigen Minuten.

Die zweite Bodenplatte, die Kyon gesehen hatte, war eher ein Loch, denn der Stein war vor langer Zeit zerbrochen und in die Tiefe gestürzt. Sie glitt nach unten, aber plötzlich spürte sie etwas im Gesicht und erschrak. Wie konnte sie etwas spüren? Sie war im Astralraum. Es war wie ein Spinnennetz. Panisch wichte sie sich mit ihrer feinstofflichen Hand übers Gesicht und da war ein Faden. Es war eine Art Faser, genau so astral wie ihr Leib. Hier ging etwas nicht mit rechten Dingen zu. 

Sofort brach sie ab und ließ sich von ihrem Goldfaden zu ihrer physischen Existenz zurückziehen. Im Rückzug erkannte sie nahe dem Loch eine Gruppe von halbtransparenten Hobgoblins, die offenbar schliefen. Sie fragte sich, warum sie die nicht vorher gesehen hatte, aber in diesem Moment öffnete sie auch schon die Augen und sog schmerzerfüllt die Luft ein. Etwas war in ihrem linken Augen und versuchte es heraus zu reiben. Ughtred hielt ihre Hand fest und griff nach dem Ding, erwischte es aber nicht und erst als sie es selbst erneut versuchte, bekam sie es zu fassen und zog es langsam aus ihrer Augenhöhle. Es wand sich und als es heraus war, wickelte es sich wie eine hauchdünne Schlange um ihren Finger und drohte ihn einzuschneiden; doch Tal hatte flink einen winzigen Beutel für ihre alchemistischen Zutaten hervorgezogen und zwang das Ding nun hinein. Sie lächelte grimmig als sie das Beutelchen zuzog und zischte: »Hab ich dich.«

Die anderen sahen sie mit großen Augen an und dann begann sie mit ihrem Bericht. 

Räuber, Midyar, Hobgoblins und noch waren die meisten von ihnen in einer Höhle. Und was war das für ein Loch und was hatte die astralen Fäden verursacht?

Kyon zog einen Pfeil aus dem Köcher und sagte: »Das ist ein sehr wirksamer Giftpfeil. Ich traue mir zu, mich nahe genug heran zu schleichen, um den Pfeil in den Eingang der Räuberhöhle zu schießen. Das wird sie aufmuntern.«

Die Schmiedin nickte und sagte: »Ich gehe mit Frau YtˋTalan direkt hier entlang zum Lagerfeuer und Ughtred kann am Rand dieses Hügels in Richtung des Lagers gehen.«

Sie deutete in die beiden Richtung und die anderen waren einverstanden. Tal zog ihr Kreuzschwert und der Shimwas in ihrem Kampfhandschuh beginn dumpf zu brummen. Sie fühlte wie er die Kontrolle über ihren Körper übernahm. Es war ein gutes Gefühl. Es war das Einzige, was von ihrem Bruder übrig geblieben war.

Ughtred zog ein Wurfbeil und nahm seine Handaxt in die Linke. Er hasste diese Situation. Was hatte er mit den Räubern zu tun? Aber egal, mitgefangen, mitgehangen. Vorsichtig strich er an dem niedrigen Hang entlang und folgte Tal und Sivuril, die ein Stück vor ihm einen Teil ihres Weges mit ihm gemein hatten. Doch dann rutschte Tal eine Böschung hinunter und die Schmiedin blieb entgegen des ursprünglichen Plans bei dem Nygh. 

Etwa im selben Moment hatte Kyon seine Position für den Bogen erreicht. Er konnte das Ziel nicht sehen, aber er holte die Erinnerung des Sichtpfeiles hervor, legte an und schoss ballistisch ins Ungewisse. Der Pfeil flog über die Baumwipfel und gerade als Tal den ersten Blick auf das Lagerfeuer erhaschte, prallte der Pfeil auf den Boden vor dem Höhleneingang. Ein feiner Dunst stieg auf und die im selben Moment heraus kommenden Räuber begannen erbärmlich zu husten.

Tal machte mehrere Schritte zwischen den Bäumen hindurch, griff mit ihren Astralen Fingern ins Feinstoffliche und entließ eine ihrer schrecklichsten Disziplinen aus dem Äther. Sie wie Tentakel glitten ihre unsichtbaren Finger zwischen der Membran des Subraumes hindurch, erfassten die umstehenden Räuber und bohrten sich in deren Schmerzzentren. Ohne Gnade drückte die Silberwölfin zu und trank den Schmerz von Quink, Midyar und Jukrey. Männer und Frauen schrien und wandten ich am Boden.

Einer, der nicht in der Reichweite des Giftnebels gestanden hatte und ihrem mentalen Angriff offenbar entgangen war, erblickte Tal und stürzte auf sie zu, doch Sivuril, die dicht hinter der Hexe her rannte, fluchte, öffnete ihr Auge und ein gleißender Feuerstrahl zerschnitt Äste, zwei Männer und Felsen. Sie selbst prallte zurück und schrie. Etwas war schief gegangen und sie hatte recht behalten: das Feuer hatte sie etwas gekostet. Tal sah aus dem Augenwinkel, wie der Kopf der Frau in Flamen stand und ein Teil ihres Schädelknochens als Schlacke in die nahestehenden Bäume spritzte. Sie wollte der Schmiedin helfen, aber da kam einer der Räuber zwischen den Bäumen auf sie zu gerannt. Der Kerl schrie und hob einen smavarischen Säbel aus Silberstahl. Sein Unterkiefer war aus purem Gold und Tal war sich sicher, den Anführer der Räuber gefunden zu haben.

Die Bäume standen dicht und sie konnte nur mit einem Rückhandschlag von unten nach oben angreifen und traf ihr Ziel daher nur ungenau. Der Quink schrie, aber seine Lederrüstung hatte das Schwert abgefangen und als er nun selbst zuschlug, machte Tal eine schnelle Seitwärtsbewegung, 

Unterdessen tauchte vor Ughtred einer der riesigen Midyar auf und holte mit seiner Keule aus. Der Nygh warf sein Beil, doch der Echsenkrieger fälschte es in der Luft ab und schlug seinerseits zu. Ughtred gelang es auszuweichen und sah hinter dem Riesen eine Quinkfrau mit einem Bogen. Im ersten Moment schien sie unentschlossen, doch dann hob sie den Bogen und wartete auf ein freies Schussfeld. Der Kampf dauerte quälend lang. Ughtred wich immer wieder aus, doch der Midyar war erstaunlich flink und schaffte es die Angriffe des Nyghs zu parieren. Selbst als Ughtred endlich einen Treffer landete, schien er kaum durch die dicke natürliche Panzerung des Wesens zu dringen. Immer wieder schlug er zu und machte schließlich eine Rolle vorwärts, als die Bogenschützin auf ihn schoss. Schreiend schlug er nach der Verse des Reptilkriegers, traf und zwang seinen Gegner endlich zu Boden. Die Schützin hatte mehrere Pfeile abgeschossen, doch sie verstand eindeutig nichts von diesem Handwerk und als das Glück den Midyar verließ, entschied sie, es ebenso zu machen und floh. 

Kyon sah sich plötzlich von Hobgoblins umringt, doch diese schienen vor etwas zu fliehen. Sie kamen aus der Richtung, in der er die Öffnung im Boden gesehen hatte und er wollte gar nicht wissen, was sie verängstigte. Als einer der Grünen Kerle in seiner Nähe durchs Unterholz hetzte, hob er den Bogen und schoss einen Pfeil nach ihm. Er traf mitten ins Ohr des Flüchtenden, aber anstelle den Kopf zu zerreißen, drang er mitten hindurch und kam auf der anderen Seite wieder heraus. Das Rotauge schrie lauter und rannte wie von Furien gehetzt weiter. Kyon brauchte eine Sekunde, das Gesehene zu verarbeiten, dann musste er lachen und machte sich ebenfalls auf den Rückweg. Er hatte den Überblick über den eigentlichen Kampf verloren und wollte auf keinen Fall dem Bewohner des Loches im Waldboden begegnen. Hobgoblins waren nicht unbedingt die mutigsten Waldbewohner, aber hier hatte sie etwas wirklich in Panik versetzt und er musste überhaupt nicht wissen, um was es sich dabei handelte. Also nahm er ebenfalls die Beine in die Hand und sprang behend über einen umgestürzten Baum und am Rande eines Sees entlang in Richtung der Anderen.

Im selben Moment hatte der Räuberhauptmann seine Lage erkannt. Seine Männer krochen von kosmischem Schrecken erfüllt zwischen Dornenhecken herum und pissten sich ein, oder lagen als verbrannte Leichen zwischen den selben. Er schrie wuterfüllt auf und hob seinen Säbel, aber die Hexe kam ihm zuvor und rammte ihm den Knauf ihres langen Schwertes in den Hals. Dann machte sie eine halbe Drehung mit dem Arm, brachte die Klinge in eine aufrechte Position über seine Schulter und zog sie mit einer ruckartigen Bewegung zu ich zurück. Der Quink merkte nicht was passierte, denn der Stoß hatte ihn hart getroffen und als nun sein Hals durchgeschnitten wurde, entglitt ihm die Realität und seine Seele verließ seinen geschundenen Leib.

Ughtred rannte der Bogenschützin hinterher und sah, wie sich plötzlich Tals Silhouette vor ihr erhob und da blitzte auch schon das Schwert der Hexe auf und zerteilte den Brustkorb der Unglücklichen. 

Dann war der Kampf vorüber. Tal hatte sich ohne große Hoffnung zu Sivuril begeben, doch als sie den blutigen Kopf der Schmiedin anhob, sah sie verwundert, dass sich die schreckliche Wunde schon weitgehend geschlossen hatte. Die Drachenschuppe war eine mehr als seltsame Krankheit. Sie erzeugte Qualen, entstellte, schien aber auch die Regeneration zu beschleunigen und im vorliegenden Fall hatte sie wohl darüber hinaus die Klauen des Todes abgewehrt.

Als Kyon hinzu kam, holte er sofort eine der Medpacks aus der Tasche und Tal machte sich an die Arbeit.

Unterdessen durchsuchte Kyon die Unterkunft von Skoks Bande und packte die wenigen Habe der Räuber in einen schmutzigen Schlafsack. Er hätte mehr erwartet, nachdem man die Taten der Räuber beschrieben hatte. Wo waren die Reichtümer, die Waffen und Schätze, die sie ihren Opfern abgenommen hatten? Nur der güldene Unterkiefer des Hauptmanns selbst schien von Luxus zu zeugen, doch den hatte er ganz sicher nicht hier im Wald erhalten. 

Dann drängte Ughtred zum Aufbruch und Kyon gab ihm Recht. Irgend etwas anderes ging hier im Diry um und sie waren sich beide einig, überhaupt nicht wissen zu wollen, um was genau es sich dabei handelte. 

 

Die Rückreise verlief schweigsam und ohne nennenswerte Ereignisse. Die kleine Reisegruppe war etwas von den Vorkommnissen bei Diry benommen. Sie hatten die Räuber wohl besiegt und nun würde hier draußen wieder Ordnung herrschen, aber was hatte diese Leute zu ihrem Tun getrieben? Sie waren ihren Herren entkommen und hatten sich versteckt – nicht mehr und nicht weniger.

Ughtred hatte Angst um Sivuril Trysh. Sie hielt konnte sich eigenständig im Sattel halten, was erstaunlich genug war, doch er fürchtete bei jedem Fehltritt ihrer Lope, dass sie stürzen könnte. Ihre Verletzung sah mehr als Böse aus und Tal hatte ihre linke Gesichtshälfte mit einem tonartigen Material bestrichen und grob ihre Züge nachgebildet. Er fragte sich, ob sie je wieder wie eine Frau aussehen würde, aber die Regenerationskräfte der Silberwölfe waren ebenso erstaunlich wie ihr ganzes Dasein und er wollte nicht Schwarz sehen.

Fast drei Tage brauchten sie für den Rückweg, denn die Schmiedin konnte auch auf den Geraden nicht schneller reiten, doch dafür ging es ihr bei der Ankunft in der Stadt bedeutend besser. Erst vor einigen Stunden hatte die Hexe den harten Tonverband gelöst und durch normale Binden ersetzt und weitere Medizin verabreicht und Sivuril hatte aufgeatmet und vorsichtig gelächelt.

Leichter Nieselregen lag über dem Land, als die kleine Karawane durch das südliche Tor von Elaiyney einkehrte. Die Wächter, zwei stattliche Quink hielten sie nicht auf und die Schmiedin dirigierte den Tross direkt zum alten Herrenhaus. Dazu mussten sie Elaiyney zwar im Osten wieder verlassen, doch sie hatten darauf Wert gelegt, dass die Wächter ihre Ankunft verkündeten. Sie waren Helden und mussten entsprechende Vorkehrungen treffen, bevor sie ihren Anspruch vor die Fürstenschwestern bringen konnten.

In der Lopenleihe kam ihnen Fegrith mit besorgtem Blick entgegen und half Sivuril aus dem Sattel. Zusammen mit Tal geleitete er sie in die Unterkunft in der kleinen Schmiede, denn sie selbst wohnte nicht in dem großen leeren Haus. 

Gleichzeitig versorgten Ughtred und siehe und staune Kyon die Lopen. Sie nahmen die Sättel und Packgestänge ab und bedankten sich für die Gutmütigkeit der Tiere.

Ughtred sah verstohlen zu, wie Kyon zuerst zögerlich, dann ganz und gar bei der Sache mit der Hand über Feuerodems Flanke rieb und sich leise mit einer alten smavarischen Formel bedankte. Das gewaltige Orey`Orevi nickte freundlich und es war, als bestätige es den jahrtausende alten Schwur zwischen diesen ungleichen Spezies.

 

Früh am nächsten Morgen, das ferne Schnattern von Tentakeldachsen hatte ihn geweckt, ging Kyon hinunter zu der Schmiede und klopfte zögerlich an Sivurils Schlafzimmertür. Er wartete jedoch nicht, sondern trat direkt ein. Die junge Frau lag nackt auf ihrem Lager und hatte den Verband gelockert und Kyon trat hinzu und bot seine Hilfe an. Gemeinsam legten sie neue Gaze auf und versorgten so die schreckliche Wunde.

Sivuril verhielt sich dabei ganz ohne Scheu, denn erstens war sie es gewohnt, mitleidig angesehen zu werden und zweitens wusste sie, noch würde die Drachenschuppe sie nicht holen kommen. Selbst diese schwere Verletzung würde verheilen. 

Kyon musterte den fast androgynen Körper der Schmiedin. An ihrem Hals hatten rötliche Schuppen die Haut ersetzt, doch auch am linken Oberarm und am Rücken waren die Spuren des Lugen weit fortgeschritten.

»Wie lange?« Fragte er direkt, doch sie zuckte nur mit den Schultern und sagte stattdessen: »Wir müssen über nachher reden.«

»Nachher?«

Sie versuchte ein Lächeln, aber die wulstige Narbe, die derzeit ihre Wange beherrschte, ließ es zu einer schmerzverzerrten Grimasse werden und Kyon hob abwehrend eine Hand.

Dennoch sagte sie mit so wenig Mimik wie möglich: »Die Schwestern, wir werden wohl heute noch eine Einladung erhalten und müssen dort unsere Heldentat vorbringen.«

Nun war es Kyon, der sein Gesicht verzog.

Sivuril blickte über seine Schulter und hob grüßend die Hand. Als Kyon sich umdrehte, standen Tal und der Nygh im Türrahmen. Sie traten ungefragt ein und die Hexe begann sogleich die Wunde der Schmiedin zu untersuchen, war aber mit dem Voranschreiten der Regeneration zufrieden.

»Was müssen wir vorbringen?« Fragte sie in den Raum, denn sie hatte den letzten Teil der Unterhaltung mitgehört.

Sivuril zog sich frösteln eine Decke über die Schultern und erklärte das bevorstehende Prozedere. Die beiden Ayn würden die Heldengruppe zu sich ins Turmhaus laden. Dort würde man befragt werden und schließlich eine Forderungen vorbringen.

»Forderungen? Was bedeutet denn Forderungen?« wollte Tal wissen.

Sivuril antwortete: »Nun, in Fällen wie diesem, in denen Helden freiwillig eine Großtat vollbringen, dürfen sie vor ihre Fürsten treten und sich etwas wünschen. So ist es Brauch.«

Kyon rieb sich die Nasenwurzel und schüttelte den Kopf. Die Bräuche zur generellen Thematik Helden gingen ihm gehörig aufs Gemächt. Andererseits wollte er auch keine Chance ungenutzt lassen, die Ressourcen ihrer Unternehmung auf dem höchstmöglichen Stand zu halten. 

»Na, dann machen wir das so«, sagte er und verließ grußlos den kleinen Raum.

 

Erst am späten Nachmittag ließ sich die Obrigkeit Elaiyneys dazu herab, ihre Helden zu begrüßen. Ein Quinkkrieger kam zum Herrenhaus und klopfte an der offenen Schmiede. Da niemand da war, versuchte er es bei der Seitentür des Herrenhauses und hier hörte ihn schließlich Ughtred. 

Er führte den Mann zu Kyon, der gerade seinen Bogen inspizierte. Der Barde hörte sich an, was der Stadtwächter zu sagen hatte und winkte ihn wortlos hinaus.

Ughtred grinste grimmig unter seinem Bart. Das konnte ja heiter werden, wenn der junge Sliyn nun vor die Fürstenschwestern trat. Er konnte sich wenig unter diesen Begriffen vorstellen und hatte keine Ahnung, wer oder was genau die Ayn waren, aber er wusste genau, dass es eine Grenze gab, die einfache Silberwölfe von anderen unterschied. Tal und Kyon und auch Sivuril oder der Junge hinten bei den Stallungen, sie waren einfache Silberwölfe und damit aus seiner Sicht gerade seltsam genug. Ihre Fähigkeiten waren ihm fremd und er konnte sich nicht vorstellen, wie sie im Inneren funktionierten, aber sie waren dem, was er noch als normale Lebewesen bezeichnen würde, am nächsten.

Dann aber waren da die anderen Silberwölfe. Sie waren alt, hatten sich im Laufe der Zeit verändert, Mächte und Disziplinen gelernt und sich immer weiter von der Normalität des Lebens entfernt.

Er hatte unzählige Geschichten von ihnen gehört. Ihr Gott, oder eine Art Avatar eines Gottes, sollte in der Lage sein, wirklich alles, was er mit der Hand berührte oder auch nur willentlich ansah, in pures Gold zu verwandeln. Ughtred war weder ein sonderlich gläubiger, noch ein dummer Mann. Er hatte viel gelesen, viel gelernt und war sich sicher, dass eine Materietransmutation von zum Beispiel Fleisch zu Gold alles andere als ein den Gesetzen der Realität angehöriger Vorgang war.

Aber diese Wesen machten sich ihre eigenen Realitäten. Er sah es ja schon bei Tal. Die Hexe griff regelmäßig in das Normale ein und formte es nach ihrem Willen und er war sich absolut sicher, dass sie in diesen Dingen, wie in den meisten anderen, eine blutige Anfängerin war.

Bei diesen Gedanken fröstelte ihn, denn er wollte sich gar nicht vorstellen, zu was die Fürstinnen dieses Landes oder auch nur die, dieser Stadt vollbringen konnten.

Einige Minuten später standen Kyon, Tal, Ughtred und Sivuril vor der Schmiede im leichten Regen und traten von einem Fuß auf den anderen. Alle überlegten, was es noch zu sagen gäbe, aber dann siegte das schlechte Wetter und sie machten sich wortlos in Richtung des Turmhauses auf.

Dieses erwies sich als unspektakulär. Es hatte nichts mit der Einzigartigkeit der Zitadelle von Shishney gemein und war einfach nur ein langgezogenes Haus, auf das man nachträglich zwei Steintürme gesetzt hatte. Quink hatten es erbaut und es wies keinerlei smavarische Raffinessen auf. Die Mauern des lang gezogenen Hauptgebäudes waren im Fachwerkstil errichtet worden und die Türme selbst, die immerhin wenigstens sieben Stockwerke zu haben schienen, bestanden aus geschichteten Steinen.

Angekommen, ließ man sie erneut warten. Sie hockten dicht an dicht auf einer Bank in einem Vorzimmer und wurden neugierig von den beiden Quinkwächtern beäugt. Man hatte offenbar vergessen ihnen etwas anzubieten, oder es war im Hause der Fürstinnen einfach unüblich, Gäste zu bewirten.

Keiner der vier sagte etwas. Sie saßen nur da und grübelten, was sie sagen sollten, wenn sie vor den Fürstinnen stünden.

Nach über einer Stunde endlich, wurde das breite Innentor zum Festsaal des Turmhauses geöffnet.

Der besagte Saal war ebenso einfach gehalten, wie das Haus von außen erwarten ließ. Es gab einen langen Tisch, der fast den ganzen Raum durchmaß und dem Eingang gegenüber eine etwa drei Stufen höher gelegene Empore. Hier standen zwei Holzstühle mit geschnitzten Lehnen, so weit voneinander entfernt, wie es der Saal zuließ.

Auf dem linken Stuhl saß eine Frau, deren Liebreiz kaum zu übertreffen war. Sie trug einen kurzen Harnisch, der kaum an ihre Hüfte reichte und hohe Stiefel, die ihre langen Beine betonten. Obwohl sie jung aussah, war sie auch üppig und trotz ihrer weiblichen Foren wirkte ihr Gesicht ernst und streng. Ihr dunkles Haar war glatt und vor allem ihre ausgebleichten Augen machten es schwer, ihr tatsächliches Alter einzuschätzen.

Auf dem anderen Stuhl hatte ihre Schwester Platz genommen und die beiden hätten nicht unterschiedlicher sein können. Auch diese Ayn trug einen Harnisch, doch hatte sie darüber einen dunkelgrauen Waldläufermantel gezogen, unter dessen Kapuze blendend weißes Haar hervorquoll. Ihre Lippen waren ein wenig spitzer und die Gesichtszüge nicht ganz so perfekt wie bei ihrer Schwester, doch auch sie war eine Frau von großer Schönheit. 

Ein Quink trat vor die Fürstinnen und stellte die Gäste vor und dann gab die linke der Damen zu verstehen, dass Kyon, der einzige in der Gruppe von Adel, sich nun ebenfalls vorstellen dürfe. Dieser tat wie ihm geheißen.

Einen langen Moment herrschte Ruhe im Saal. Beide Ayn betrachteten die vier ungleichen Gestalten und es war ihnen anzusehen, dass sie der Sache alles andere als positiv gegenüberstanden. Dann brach die linke Ayn das Schweigen.

»Ich, Ayn Siychnifee yr Sornweth, frage diese Sliyn, was steht er hier mit seinen Vasallen vor der Obrigkeit von Elaiyney?« Ihre Stimme war barsch und es war ihr anzumerken, wie ungehalten sie von diesem Besuch war.

Kyon blickte auf und brauchte eine Sekunde, sich zu sammeln, doch dann sagte er mit genügend fester Stimme: »Wir haben der Räuberbande im Dirywald ein Ende gesetzt und sind hier, dies unter Beweis zu stellen.«

Er hob einen der Midyarköpfe aus einem Sack und stellte ihn, klebrig von halb getrocknetem Blut, auf die große Tischplatte. 

Gleichzeitig zog Tal den goldenen Unterkiefer des Räuberhauptmanns hervor und legte ihn daneben.

Die beiden Fürstinnen betrachteten Kurz die dargebotenen Artefakte.

Dann sagte Ayn Siychnifee: »Und was hatte man euch dafür versprochen?«

Kyon antwortete, dass ein Wächter ihnen Ressourcen versprochen hätte und dass er auch froh wäre, Elaiyney und seinen Einwohnern diesen Gefallen getan zu haben, doch Sivuril gab ihm einen Schubs und erst dann fügte er hinzu, dass er ebenfalls die Erfüllung eines Wunsches erwarte, denn so war es smavarischer Brauch in Kisadmur.

Die Fürstin sah ihn fest an und streckte sich dann. Mit eher gelangweilter Stimme erklärte sie, die Wache würde geben, was versprochen wurde und nun solle der Geringste seinen Wunsch vortragen, damit man diese Sache hinter sich bringen könne.

Sie deutete mit einem langen Fingernagel auf Ughtred und sagte: »Du bist ein Nygh. Wahrscheinlich ein Dieb, wie ich vermute und du wirst als erster deinen Wunsch vorbringen.«

Der Angesprochene hörte sich die Worte der Silberwölfin an und blieb innerlich gelassen. Er war es mittlerweile gewohnt, dass diese Leute ihn zu provozieren suchten, doch nichts, was sie sagten, konnte ihn noch überraschen oder verärgern.

Ruhig und mit freundlicher Stimme sagte er: »Ich hörte von den Wunderwerken der silberwölfischen Schmiedekunst, hohe Dame. Und ja, offensichtlich scheine ich ein Dieb zu sein. Daher wünsche ich mir eines eurer vorzüglichen Sichtgläser, mit denen Man Wände und Schlösser zu durchschauen vermag.«

Sein Smavarisch war holprig, aber er hatte die Worte geübt und brachte sie reibungslos hervor.

Die Ayn nickte und sagte: »So soll es geschehen, gebt diesem ein Sphärenglas aus einer der hiesigen Schlüsselschmieden. Er kann gehen.«

Ughtred unterdrückte den Impuls, noch etwas zu sagen oder sich gar zu verneigen, wendete sich ab und ging festen Schrittes auf die Ausgangstür des breiten Saales zu. Die Quinkwächter öffneten den Durchgang und leiteten den Nygh in das Vorzimmer, wo er zu warten hatte.

Als nächstes sprach die Fürstin Tal an. Ihre Schwester sah einen Augenblick auf, sagte jedoch nichts.

»Ihr seid die Doppelmondhexe aus dem Hause Arudsel, die Tochter des Ilaiydan ven Arudsel.«

Es war nicht klar, ob diese Rede eine Frage oder eine Aussage darstellen sollte und als sie den Namen von Tals Vater aussprach, war da ein Schmerz in ihren Augen, den jeder im Saal spüren konnte. Jeder außer Tal selbst.

Unerwartet und ohne ein weiteres Wort erhob sich die Kriegerin. Dann sagte sie etwas Unverständliches und verließ den Saal durch eine hohe Tür auf der Seite ihres Stuhles.

Tal hob die Augenbrauen, denn sie hatte nichts gesagt und verstand nicht recht, was gerade vorgefallen war. Dann sah sie zu der anderen Ayn hinüber, die sie für die ehemalige Geliebte ihres Vaters hielt. Sie verstand nicht, was diese Dinge mit ihr zu tun hatten und sie hatte auch generell Probleme damit, zu erfassen, warum diese längst vergangene Beziehung überhaupt noch eine Rolle spielte.

Die Fürstin in dem Waldläufermantel blickte sie unter ihrer Kapuze hervor an. Dann sagte sie: »Euer Vater war in diesem Hause gut bekannt.«

Tal antwortete: »Ich gehe nicht in meines Vaters Kleidung und ich teile nicht seine Wege.«

Da erhob sich die Ayn und schob ihren Umhang vom Kopf. Ihre Augen funkelten und sie sagte: »Euer Vater und damit sein Haus haben meine Schwester verraten. Nicht nur im Sinne der Liebe, sondern mit Leib und Seele. Er brach einen Schwur, an der Seite meiner Schwester zu Kämpfen und sie zu lieben.«

Verwirrt musste Tal feststellen, dass sie die Schwestern verwechselt hatte. Diese hier war die Zauberin, die den Handschuh geschaffen hatte und die andere war die, mit der ihr Vater eine Beziehung unterhalten hatte. Doch dann überkam Tal auch eine innere Wut. Was sollte das? Ihr Vater hatte eine Entscheidung getroffen und er war frei, wie jeder Smavari über sein Dasein zu entscheiden.

Sie straffte ihre Haltung und sagte: »Mein Vater ist ein Ehrenmann. Er mag eure Schwester verlassen haben, aber es waren die Greuel, die ihn dazu anleiteten, kein Schalk oder andere niedere Gründe.«

Die Weißhaarige senkte den Blick. Dann sagte sie: »Auch ihr müsste eine Belohnung erhalten und euer Wunsch ist es, euch zu stärken.«

Einen kurzen Moment ärgerte es Tal, dass die Fürstin dieses Gespräch um die Tadellosigkeit ihres Vaters einfach so beiseite wischte, aber da war etwas in den Augen der Frau, dass sie beruhigte. Sie sah zu, wie die Ayn eine Hand ausstreckte und ein Quink in teurer Kleidung aus einer Tür nahe ihres Stuhles trat. Er trug ein Kissen, auf dem ein Diadem lag, welches aus dünnen Kronenspitzen, die von einem schmalen Band gehalten wurden, bestand. Es sah sehr alt aus und das Silber, aus dem es zweifelsfrei einst gefertigt wurde, war schwarz angelaufen.

Die Ayn, Schmiedin des Shimwas ihres Vaters und zweifelsfrei eine große Zauberin sagte: »Dies ist Orn ven Soud`laiylee, die Krone der Blauen Schlange von Tragieth. Sie war die Königin des Westens und eine mächtige Zauberin und tötete Dur`Hagmaor, einen der Todesprinzen des gefürchteten Dur`Kranz. Möge ihr Diadem nun euch dienen.« 

An dieser Stelle der Geschichte hatte Tal, wie so oft, offenbar nicht richtig zugehört, doch wenn der stumpfe blaue Stein in der längsten Spitze des Krondiadems glomm unheilig im Lichte des Saales und der Hexe war klar, dass dies ein mehr als besonders Geschenk der Ayn an sie war. Warum sie es jedoch ausgesucht hatte und warum sie eine derart beschenkte, die aus einem Haus stammte, welches das ihre doch nach eigener Aussage geschnitten hatte, blieb ihr verschlossen.

Die Ayn streckte die Hand nach dem Diadem aus und im selben Moment hörte es auf, auf dem Kissen des Quink zu liegen und begann damit, in ihrer Hand zu sein. Dann wandte sie sich an die junge Hexe und wieder griff sie in die feinstoffliche Welt. Das Diadem hörte auf, in ihrer Hand zu liegen und begann stattdessen auf Tals Haupt zu ruhen. 

Vorsichtig berührte Tal das Artefakt und schon nahm der Shimwas darin neuronalen Kontakt zu ihrem Leib auf und sie fühlte, wie seine Energie durch ihre Adern floss. Es war überwältigend und Tal dankte der Fürstin. Sie überlegte einen Augenblick, wie sie noch einmal auf die Situation mit den Schwestern und ihrem Vater kommen könnte, doch dann verkniff sie sich jedes weitere Wort und trat einen Schritt zurück. 

Als wäre nichts geschehen, hatte sich die Zauberin Kyon zugewandt. »Euer Wunsch Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor?«

Kyon sah sie an und sagte gerade heraus: »Meine Rüstung ist schäbig für einen Helden wie mich. Sie drückt und reibt mein zartes Fleisch und mir dünkt, dies müsste nicht so sein. So gebt mir besseres Rüstzeug, Herrin von Elaiyney.«

Die Ayn sah ihn einen Moment lang abschätzend an ehe sie erwiderte: »Ich, Ayn Orphineth yr Sornweth gebiete, dass dieser Sliyn ein Rüstzeug erhalte, welches seinen schönen Leib nicht länger drücken mag.«

Damit war Kyon für sie abgehandelt und sie wandte sich entgegen der ursprünglichen Aussage, nach der Reihenfolge des Standes vorzugehen, der Schmiedin Sivuril Trysh zu.

»Euer Wunsch«, fragte sie mit eindeutig gelangweilter Stimme.

»Herrin, wie schon einmal zuvor, bitte ich um meine Freistellung, Elaiyney verlassen zu können. Ich bitte um eure Unterstützung für meine Reisen.«

Die Zauberin lächelte grimmig und sagte: »Zweimal habt ihr nun diesen Wunsch geäußert und ich entscheide. Kommt ein drittes Mal vor diesen Stuhl und ich werde euch helfen. Nicht früher.«

Sivuril senkte den Blick und es war ihr anzusehen, dass sie keinesfalls glücklich mit der Situation war, doch sie schwieg und trat ebenfalls einen Schritt zurück.

Die Fürstin machte erneut ein gelangweiltes Gesicht, dann wandte sie sich ab und verschwand wie ihre Schwester aus dem Saal.

Der Quink in der wertvollen Robe deutete auf die Tür aus dem Saal und Kyon verzog kurz das Gesicht zu einer genervten Grimasse und ging.

Draußen standen sie vor dem Turmhaus und blickten sich gegenseitig an. Ughtred fragte Sivuril was sie sich gewünscht hatte und sie erklärte es ihm. Die Drachenschuppe, die in ihr wütete, war angeblich nicht ganz und gar unheilbar. Sie kannte zum Beispiel einen Nygh in Dorbag, der Hauptstadt von Korezuul, der behauptete, es gäbe medizinische Ratgeber in den Hallen des Wissens seiner Stadt, in denen es um entsprechende Heilmittel ginge. Ähnlich verhielte es sich mit anderen Orten, doch auf die Anfrage, warum sie dann noch hier in Elaiyney wäre, sagte sie betrübt: »Vor langer Zeit bat ich Ayn Orphineth yr Sornweth darum von ihr in der Kunst des Schmiedehandwerks ausgebildet zu werden und sie ließ mich mit ihr zusammen diesen Shimwas anfertigen.«

Sie deutete auf Tals Kriegshandschuh. Dann fuhr sie fort: »Als Gegenleistung verpfändete ich meine Arbeit an die Ayn und Elaiyney, so lange, bis Orphineth mich frei gibt.«

Sie sah Kyon an. »Ihr habt es gehört. Eine weitere Heldentat fehlt mir zur Erfüllung meiner Pflicht.«

Der Barde sah sie an und überlegte einen Moment. Man hielt sie hier auf, obwohl sie nur ihrer Heilung entgegenstreben wollte. Sein Blick glitt über ihre verwüstete linke und dann über die unversehrte, rechte Gesichtshälfte. 

Schließlich sagte er düster: »Wenn sie euch nicht ziehen lassen, werden wir wiederkommen und euch helfen, diese dritte Sache zu erledigen.«

Sivuril sah ihn an und ihr gesundes Auge leuchtete. Ohne ein weiteres Wort streckte sie sich auf die Zehenspitzen, packte seinen Hals und küsste ihn leidenschaftlich auf den Mund. Ihre Zunge drang stürmisch gegen seine Zähne und als er sie hochhob und sich ihr ergab, setzte er sich mit ihr auf den Armen in Richtung des Herrenhauses in Bewegung.

Ughtred und Tal blickten den beiden hinterher, aber nur einen Augenblick. Dann wandte sich Tal ab und ging wortlos in Richtung der Wache. Allein sah nun der Nygh den beiden Silberwölfen hinterher und setzte sich müde auf die Stufe einer niedrigen Treppe vor einem der Häuser. Silberwölfe, wer konnte sie verstehen?

 

Tal verbrachte mehrere Stunden bei Thorill Aar`ar in dessen Stube in der Wache. Er hatte sich als wenig einfallsreicher Liebhaber erwiesen, aber Tal war zwischenzeitlich Kummer gewöhnt und konnte daher kaum wählerisch sein. An einer der kargen Wände von Thorills Unterkunft lehnte der Schild in seiner Bleidecke und brummte ab und an böse. Mi1 verkniffenem Gesicht fragte sie sich, wie dieses Ding ihnen helfen sollte. Wie sollte es dabei helfen, dass Akkatha sie in den Zirkel zurücknahm?

Sie lag nackt auf dem Bett und spielte mit dem Nest in ihrem Haar. Der Wächter stand am offenen Fenster und blickte in die kalte Morgenluft hinaus. Er schnupperte unter seiner Achselhöhle, zuckte mit den Schultern und rief einen Quinksklaven, der etwas zum Essen bringen sollte. Tal stand auf und begann, sich anzukleiden. Sie unterhielten sich nur kurz. Später würde man den Schild holen. Der Stadtwächter fragte, ob er erneut in sie einkehren solle, doch sie lehnte freundlich ab. Da ging er unverrichteter Dinge.

Kaum war er fort, öffnete sich erneut die Tür und der Quink, den er gerufen hatte, trat ein. Er stellte etwas Undefinierbares auf ein Schränkchen und holte schnell einen Besen, um den Boden zu reinigen. Tal sah ihn einige Sekunden lang an und schickte ihn dann grimmig hinaus.

 

Als Kyon die Augen öffnete, war es schon Tag. Er lag in Sivurils Bett und war sich seiner Gefühle nicht sicher. Die letzten Stunden hatte er erbaulich empfunden, aber da war noch etwas anderes. Die Schmiedin war vom Schicksal gebeugt. Hatte er aus Mitleid mit ihr geschlafen? Ihre Verletzung machte sie hässlich, aber sie war nicht schwach. Dennoch hatte er das Gefühl, sie in der Hand zu haben. 

Antriebslos blieb er liegen. Was mochte der Tag schon bringen? Er würde warten, bis die Fürstinnen ihm seine Belohnung aushändigten.

Nach kaum einer Stunde, die Krähen beschwerten sich längst lauthals über den Tag, öffnete sich die Zimmertür und Sivuril trat ein. Sie trug nur ein Tuch um die Hüften und setzte sich zu ihm aufs Bett.

»Wollt ihr euch nicht stärken?« fragte sie freundlich und kniff ihm dabei in einen Zeh.

Er schüttelte den Kopf und ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Sie hatte auf einen neuen Verband verzichtet und die Kruste über ihrem zugeschwollenen Auge war verschorft und rot. Er versuchte, sich auf den Rest ihres Körpers zu konzentrieren, hatte aber Mühe damit.

Sie fragte ihn, was er vorhätte und er sagte, dass er warten wolle. Warten wäre ein dehnbarer Begriff.

»Ich muss ja auf meine neue Rüstung warten. Die baut sich sicher nicht von alleine«, sagte er nach einer Weile.

»Die baut sich wahrscheinlich überhaupt nicht«, konterte sie.

Er sah sie an und wollte etwas sagen, aber sie kam ihm zuvor: »Die werden euch warten lassen und nichts tun. Wenn ihr nicht nachfragt, bleibt ihr für immer hier. Sicher, es gäbe Schlimmeres, aber Elaiyney und eine verkrüppelte Schmiedin gegen Shishney eintauschen? Wollt ihr das?«

Langsam setzte er sich im Bett auf und zog sich eine der dünnen Decken über den Schoß. So also lief der Tentakeldachs. Er hätte es wissen können. Also gut, würde er das Spiel der Ayn eben mit spielen.

Mit müden Bewegungen stand er auf und suchte nach seinen Sachen. Dann ging er an seiner Gastgeberin vorbei in den offenen Schmiedebereich, wo auch eine Wassertonne stand. Er wusch sich und als es ihm zu sehr fröstelte, trocknete er sich mit schmutzigen Lappen ab und zog sich an. Draußen standen eine Hand voll Lopen im Morgennebel und glotzten zu ihm herüber. Er hob kurz die Hand und murmelte unhörbar: »Leben für Leben.«

 

Kyon wollte gerade gehen, da kam Ughtred aus dem Herrenhaus und winkte ihm zu. Der Nygh sah wie immer ausgeschlafen aus und als er fragte, was Kyon vorhätte, erklärte ihm dieser die Situation. Kurzerhand beschloss Ughtred seinen Kameraden zu begleiten und so zogen sie gemeinsam los.

Vor dem Langhaus waren die Straßen wie leergefegt. Weit und breit war niemand zu sehen und der Dramaturg in Kyons Blut sagte ihm, dass die beiden Damen dieses Szenario extra für ihn ausgearbeitet hatten.

Verärgert klopfte er an den linken der beiden Türflügel und wartete fast eine Minute, bis er im Inneren schlurfende Schritte vernahm und sich schließlich ein handbreiter Schlitz auftat. Der Quink, der zu ihm herausblickte fragte barsch: »Was?«

Es juckte ihm in den Fingern den missratenen Kerl mit einem Pfeil zu entlohnen, aber stattdessen stellte er sich und Ughtred vor, vergaß nicht seinen Titel zu nennen und erklärte den Grund seines Hierseins.

Der Quink schob den schmalen Spalt zu und Kyon konnte ihn davon schlurfen hören. Er sah sich um. Wie machten sie das? Hatten sie den Leuten verboten, ihren Geschäften nachzugehen? Nicht einmal Krähen hockten auf den Giebeln der nächststehenden Häuser. Weiter unten konnte er die Geräusche des täglichen Lebens hören, aber hier oben auf dem Platz vor dem Haus der Fürstinnen und in den nahegelegenen Straßen rührte sich nichts. Die Zeit schien stehen zu bleiben und er trat genervt von einem Fuß auf den anderen und Ughtred setzte sich auf einen Stein an einer Wegbegrenzung. Über zehn Minuten warteten sie so.

Kyon begann schon zu erwägen, ob man ihn vergessen hätte. Gerade hatte er die Faust geballt, um erneut zu klopfen, als sich die Eisenschiebe des Spaltes erneut mit einem Rucken öffnete und der Quink erschien. Dann wurde von innen eine Lederplatte durch die schmale Öffnung geschoben. Es folgten das Gurtsystem, die Jacke und der Brustharnisch, alles aus weichem Material, so dass es ohne weitere Probleme durch den Spalt passte. Zuerst war er wie gelähmt, doch dann nahm er die Rüstung entgegen, denn er wollte sie nicht vom Boden aufheben müssen. Kopfschüttelnd wollte er noch etwas sagen, doch dann nahm er die Rüstung unter den Arm und machte sich auf den Weg.

Ughtred schüttelte den Kopf und ging dann schnellen Schrittes dem Barden hinterher. Er wollte etwas sagen, aber Kyon war verärgert und da ließ man ihn wohl besser in Ruhe.

Als sie bei der Wache vorüber kamen, hockte da die alte Wachherrin vor dem offenen Stall und drehte Pfeile. Sie sah auf und schob ihr Tuch, welches sie sich vor den Mund gebunden hatte, zurecht. 

»Könnt ihr meine alte Rüstung gebrauchen? Ich habe eine neue, denn ich bin ein Held«, sagte Kyon sarkastisch und deutete auf den Harnisch, den er am Leibe trug. 

Das Geschäft war schnell getätigt und die Wachherrin rief nach einem Quink, der einige Ressourcen brachte. Dann zog Kyon seine alte Rüstung aus und begann die neue anzuprobieren. Sie war weicher, aber als er die ersten Stücke anhatte, kam ihm das Ganze alles andere als unschieriger oder beweglicher vor.

Sunchineph, die Wachherrin erklärte ihm, dass die Rüstung innen wattiert sei und dass er seinen Waffenrock nicht benötigte, wenn er sie trug. Er betrachtete die Innenseite und zog seinen schweren Waffenrock aus. Nun passte die neue Rüstung vorzüglich und er konnte ihr Gewicht kaum spüren. Sie war nicht mehr als eine etwas dickere Lederjacke und stand ihm ausgezeichnet.

»Wenn ihr in den Krieg gegen die Gorden zieht, könnt ihr den Waffenrock immer noch darunter tragen«, sagte die Alte belustigt und hockte sich wieder auf ihren Schemel.

Kyon fiel auf, dass sie zwar ständig Pfeile zu bauen schien, aber nirgends ein Bogen oder die fertigen Pfeile zu sehen waren. Auch Pfeilspitzen gab es keine. Er hob kurz die Schultern, tat dann aber so, als prüfe er nur die ungewohnte Rüstung und ging dann grußlos davon.

Als sie an der Anlegestelle für die Flugschiffe vorüber kamen, wanderten Kyons Augen zu der vermaledeiten Treppe neben der Kaschemme hinüber und er langte sich an die Wange. Dann sah er zu den Pollern und Anlegebrücken hinauf und legte den Kopf schief. Was stimmte hier nicht?

Er machte ein paar schnelle Schritte zur Plattform hinauf, nahm drei Stufen auf einmal und rannte schließlich auf die letzte Rampe hinauf. Als er oben angekommen war, blickte er sich hektisch um. Wo bei allen goldenen Schwänzen war die Knarrende?

Ughtred holte auf und blickte sich ebenfalls um. Er wollte gerade fragen, doch der Barde kam ihm zuvor.

»Hey du«, brüllte Kyon nach einem Arbeiter und der Quink wandte sich ihm erschrocken zu.

»Wo ist die Knarrende?«

Der Mann sah ihn ängstlich mit seinen milchig weißen Äuglein an und deutete dann auf eine Lagerhalle auf der anderen Seite der Plattform.

»Sie wird wohl kaum in dem Schuppen, sein du Kreatur, oder hat man sie demontiert?« ereiferte sich Kyon und unterdrückte dabei den Impuls, den Quink zu schlagen.

»Hafenmeisterei«, jammerte dieser und zog den Kopf ein, als wäre er eine aufrecht gehende Schildkröte.

Kyon kniff sich in die Nasenwurzel und schluckte seinen Zorn herunter.

Ughtred sagte: »Kann es sein, dass sie nur einen Rundflug macht?«

Kyon schüttelte den Kopf und sagte leise: »Das Bernsteinholz macht keine Rundflüge. Es ist wertvoll und der Kapitän weiß das genau.«

Ughtred verstand. Man hatte sie geprellt.

 

Die Hafenmeisterei war ein kleines Gebäude über einer flachen Lagerhalle. In den Gassen lungerten überall Quink herum und beobachteten die beiden Fremden. Der Große, ein Silberwolf in gängiger Kleidung, fiel nicht weiter auf, aber der Kleine erregte durchaus Aufsehen. Er war weder ein Kind noch ein Quink und auch kein Hobgoblin oder sonst ein Rotauge aus den Wäldern oder Sümpfen. Die Arbeiter musterten Ughtred neugierig und versuchten ihn einzuordnen.

Als Kyon die Treppe zum Büro hinaufstieg, bereute er im Grunde schon sein Hiersein. Er hatte eine ziemlich genaue Vorstellung, was ihn erwartete. Dennoch öffnete er ohne anzuklopfen die Tür und betrat den niedrigen Raum. 

Hinter einem erstaunlich großen Tisch, dessen Tischplatte aus einem integralen, mehr als zehn Zentimeter dicken Block Bernstein geschnitten war, hockte eine schmale Gestalt und studierte einen Datenkristall. Der Mann stellte sich als Yywirn dan Skurmith, der Hafenmeister vor und fragte, was seine Gäste wollten.

Ughtred musterte die Tischplatte während Kyon nach der Knarrenden fragte und bekam nur mit einem Ohr mit, dass der Hafenmeister Kyons Vermutung bestätigte. Das Schiff hatte vorgestern schon abgelegt und war in Richtung Süden geflogen. Es sei unbekannt, wann es wieder nach Elaiyney käme.

»Aber ich dachte, der Kapitän hätte hier sein Einkommen und auch eine Unterkunft«, hörte Ughtred den Barden fragen. 

»Dies mag sein, aber Kapitän Yurst Ildan Murnail, wie im Übrigen die meisten Luftschiffkapitäne, hat in vielen Häfen ein Einkommen und wenn ich betrachte, wie aufgebracht ihr seid, würde ich die Wahrscheinlichkeit seiner Wiederkehr in der nächsten Zeit eher gering einschätzen.«

Kyon wurde immer zorniger und sagte: »Beschreibt mir dennoch, wo ich das Haus des Kapitäns finde.«

Der Hafenmeister betätigte eine kleine Klingel und erklärte, ein Kleinquink würde unten bereitstehen, den Herrn zu führen.

Die Tischplatte schien tatsächlich aus einem Stück geschnitten zu sein und wieder musste der Nygh erkennen, was für seltsame Wesen die Silberwölfe doch waren. Sie hatten ein seltsames Verhältnis zur Natur und zu den Konzepten Schönheit und Ästhetik. Es gab keinen Baum auf der Tiba Fe, der einen Bernstein hervorbringen konnte, aus dem diese Tischplatte geschnitten werden könnte. Die Nyghs kannten auch keinen Weg, Bernstein derart nahtlos miteinander zu verbinden. Wie auch immer die Silberwölfe es gemacht hatten, es konnte kaum ein einfacher und kostenloser Vorgang gewesen sein. Dennoch befand sich dieser größte geschnittene Bernstein, den er jemals gesehen hatte, in einem schäbigen Büro eines Hafenmeisters und nicht etwa in den Hallen der Fürstinnen. Dort hatte er nichts gesehen, dass auch nur annähernd so wertvoll in seinen Augen gewesen wäre. Aber da lag sicher der Knackpunkt: in seinen Augen. Er schüttelte den Kopf. Silberwölfe konnte man nicht verstehen.

»Hallo? Herr Dieb, wir gehen«, riss ihn Kyon aus seinen Gedanken.

Draußen erwartete sie ein Quinkjunge, der noch keine Unterkieferplatte sein Eigen nannte. Er nuschelte etwas und deutete die Gasse hinunter. Das Anwesen des Herrn Yurst Ildan Murnail lag nicht weit von der Hafenmeisterei entfernt. Das windschiefe Haus war ebenfalls auf einer Lagerhalle erbaut worden und die meisten der Fensterscheiben fehlten oder waren notdürftig mit schimmeligem Leder oder nassem Papier verdeckt worden. Es stand eindeutig leer. Kyon rieb sich die Nasenwurzel und gab auf.

 

Später saßen die Reisegefährten in Sivuril Tryshs kleiner Schmiede und der junge Lopenhirte Fegrith brachte ihnen eine kalte Platte mit smavarischen Speisen. Kyon hatte den anderen von ihrem Verlust erzählt und Tal stopfte sich Fischhappen in den Mund, während sie sagte: »Müssen wir halt ein anderes Schiff nehmen.«

Ughtred kicherte über ihre Ungezwungenheit, aber der Barde konnte über die Sache mit der verlorenen Ladung überhaupt nicht lachen.

»Ich mache das«, sagte die Hexe mit vollem Mund und Kyon rollte mit den Augen. Für ihn hatte das Ganze keine Eile mehr. Im Gegenteil, die Knarrende würde vielleicht eines Tages nach Elaiyney zurückkommen und er verspürte nicht üble Lust, hier auf sie zu warten. 

Tal und er unterhielten sich noch eine Weile über die Wichtigkeit ihrer Weiterreise und die Hexe brachte verschiedene Gründe vor, allen voran, dass sie schließlich nicht gefahrlos in Elaiyney weilte. Dieses Argument ließ Kyon schließlich gelten, zog sich aber zurück und hatte keinerlei Lust, sich selbst um die Weiterreise zu kümmern.

»Wie ein schmollender Welpe«, sagte Tal in die Runde, nachdem er sich auf sein Zimmer zurückgezogen hatte.

Ughtred unterhielt sich mit der Schmiedin. Ihr Auge verheilte erstaunlich gut und sie wollte schon wieder kleinere Arbeiten verrichten. Für den Nygh war sie ganz anders als die übrigen Silberwölfe. Vielleicht lag es an ihrer Berufung. Die Lopenhirtinnen und -hirten schienen generell fleißiger und vor allem altruistischer als ihre Zeitgenossen zu sein. Er fragte sie, ob es möglich wäre, sich um die Zähne des Phani zu kümmern und sie nickte interessiert. Er hatte schon begonnen das Gebiss des Versehrten auszumessen, aber als er den großen schwarzen Mann bat den Mund zu öffnen und nach einer Lehre griff, schüttelte die Schmiedin den Kopf. Sie stand auf und reckte sich und dann glomm ihr verkrustetes Auge auf. Einen Moment hatte Ughtred angst, sie würde Odugme verletzen. Doch seine Besorgnis erwies sich als unbegründet. Nachdem sie die Schäden von allen Seiten betrachtet hatte, bemerkte sie kurz und bescheiden, sie habe ein perfektes Gedächtnis und könne nun die Prothesen aus dem Kopf heraus erstellen. Gemeinsam machten sie sich ans Werk. 

 

Tags darauf schlenderte Yt`Talan über die Plattform des Wurzelhafens, die zu den Anlegestellen der Schiffe führte. Von tiefem Misstrauen erfüllt, ging sie am Hanfbogen vorüber und vermied es auch nur einen einzigen Blick auf die Treppe zu werfen, die hinunter zur Alchemistenstraße führte. Es war früh am Morgen und die Tagesgestirne waren gerade erst aufgegangen. Vielleicht fühlte sie sich deswegen nur minder bedroht, weil sie irgendwie davon ausging, dass die Blutsaugerin nur bei Dunkelheit unter ihrer verfluchten Treppe hervorkam. Zum Glück spielte auch das Wetter mit und ließ den Morgen einigermaßen freundlich daherkommen. 

Auf der Anlegeplattform war nicht viel los, aber Tal fiel sofort ein neues Schiff auf, dass gestern eindeutig noch nicht hier vertäut gelegen hatte. Es sah ganz anders aus als die anderen Flugschiffe und lag mit seinem Rumpf direkt auf den Planken, anstelle einige Schritte darüber zu schweben. Überhaupt machte es den Eindruck, nicht aus Flugholz, sondern vielmehr aus Blech und anderen Materialien zu bestehen, aber seine eindeutig auffälligste Eigenheit war ganz klar seine Farbe. Es war ganz und gar in einem tiefen Fuchsiarot gehalten.

Seine Masten waren einklappbar, was darauf hindeutete, dass es sich um einen Sternenseglern handelte und an den Seiten des schmalen Rumpfes gab es je eine gewaltige Feuerlanze. Tal fragte einen der Werftarbeiter nach dem Namen des Schiffes und dieser nannte es die Gefährliche. Sie mochte den Namen des Schiffes und entschied sich, nach seiner Reiseroute zu fragen, doch der Arbeiter kannte diese nicht und so entschied sich Tal kurzerhand an Bord zu gehen und selbst nachzufragen.

Auch das Deck der Gefährlichen glänzte rot und selbst ihre kleinsten Verbundteile und Taue waren in dieser Farbe gehalten. Tal war gespannt auf den Kapitän, der zweifelsfrei ebenfalls eine schillernde Persönlichkeit sein würde. 

Ein Matrose, natürlich ein Quink in roter Uniform, erklärte sich bereit Tal der Kapitöse vorzustellen. Sie war fast ein wenig enttäuscht, denn es hätte ihr irgendwie besser gefallen, wenn ein Mann sich zu der ungewöhnlichen Färbung des Schiffes gestellt hätte. Als die Kommandantin der Gefährlichen jedoch aus dem flachen Bugaufbau herauf gestiegen kam, war Tal entschädigt. Seltsamer als sie, hätte ein männlicher Kapitän auch nicht sein können.

Der Quink stellte seine Herrin als Kapitöse Rotgold vor. Es handelte sich bei ihr um eine feminin angelegte Droidin. Sie trug nur einen roten Mantel und ihr makelloser glatter Leib bestand ganz und gar aus rot lackiertem Metall. Nur die künstlichen Augen schienen aus von innen beleuchteten blauen Edelsteinen zu sein und musterten den Gast des Schiffes mit einer seltsamen Mischung aus Aufmerksamkeit und der typischen Gleichgültigkeit künstlicher Personen.

Tal nickte, stellte sich vor und fragte dann gerade heraus: »Du bist eine Droidin. Wie kannst du ein Schiff befehligen? Oder ist dein Herr in Elaiyney und ich muss warten, bis er zurückkehrt?«

Rotgold antwortete mit einer angenehm verständlichen Stimme, der dennoch ihr künstlicher Ursprung anzuhören war: »Tatsächlich steht die Gefährliche unter meinem alleinigen Kommando. Ich bin eine Droidin der Klasse Dy`Danaiy. Meine individuelle Freiheit erlangte ich Kraft einer Entscheidung von Chayil`si Merisay yr Urt, der Herrin von Angaworth und ihr Siegel bestätigt diesen Anspruch.«

Sie deutete auf ein Wachssiegel an ihrem Mantel und Tal fragte sich, warum die Herrin von ganz Kisadmur dieser künstlich erschaffenen Frau den Status der Freiheit gab. Sie hatte nie zuvor gehört, dass ein Droide derart eingestuft worden war und als sie Rotgold nach dem Grund für dieses Vorgehen fragte, erklärte diese, dass die Entscheidungen einer Chayilˋsi niemals in Frage gestellt werden durften.

Tal schüttelte abwehrend den Kopf und sagte schnell, es läge ihr fern, etwas am Status der Droidin rütteln zu wollen. Sie hatte nur aus reiner Neugierde gefragt und fand das Thema interessant. Doch jetzt war weit wichtiger, wohin die Gefährliche als nächstes aufbrechen würde und ob sie in der Lage wäre, einige Passagiere aufzunehmen.

Kapitöse Rotgold stellte sich als überaus freundlich, ja sogar fast unterwürfig heraus. Tal nahm an, dass ein Freibrief kaum genügen würde, um die generelle Prägung einer künstlichen Person zu ändern, hielt sich aber zurück und versuchte die Droidin nicht in Verlegenheit zu bringen, nur weil sie selbst eine Smavari war.

Es dauerte nur noch wenige Minuten, da waren die beiden handelseinig und da Rotgold keinerlei Entlohnung für die Überfahrt nach Uraiyd verlangte, fiel Tal ein Stein vom Herzen. Kyon würde hochzufrieden sein, denn der Verlust seiner Handelsreise nagte an ihm und wenn er nun auch noch Ressourcen verloren hätte, wäre ihm dies sicher sauer aufgestoßen. Sie lachte und fragte Kapitöse Rotgold, ob sie sich in Uraiyd auskenne. Man wäre auf der Suche nach einem Alchemisten und tatsächlich verwies die Droidin auf eine Frau namens Aaiynych Nyrndadt yr Con`Gabur, die dieser Berufung folge. Tal konnte ihr Glück kaum fassen. Sie hatte damit nicht nur die Überfahrt klar gemacht, sondern war darüber hinaus auch noch ihren persönlichen Plänen nachgekommen. Sie wollte ihre Zutaten unbedingt aufstocken, denn ihr Hexenbuch kannte viele Vorschläge eine Reise, wie die ihre, angenehmer zu gestalten. Es war an der Zeit, das Wissen der Doppelmondhexen zu nutzen, aber dafür waren nun einmal viele Zutaten vonnöten.

 

Den Mittag dieses Tages verschliefen alle, denn sie waren immer noch erschöpft von ihrem Ausflug nach Diry und selbst Ughtred erledigte nur wenige Aufgaben, die er sich vorgenommen hatte und döste danach eine Zeit lang auf der Weide der Lopen im Licht der Tagesschwestern. 

Am Nachmittag saßen alle beisammen und sahen sich Odugmes Zähne an. Sivuril Trysh hatte ganze Arbeit geleistet und auch Ughtred war stolz auf sein handwerkliches Können. Er freute sich, dem Hünen zumindest ein wenig geholfen zu haben. Das goldene Gebiss konnte natürlich nicht die natürliche Schönheit des Phani zurückbringen, aber er würde wieder feste Nahrung kauen können und seine Kiefer waren nicht mehr annähernd so entstellt wie nach der Verletzung. Odugme selbst blickte wie stets recht gleichgültig drein und Tal fragte sich, ob er unter seiner Haut, seinem Fleisch und seinen Muskeln auch ein Droide war.

Dann erzählte sie von der Gefährlichen und Kapitöse Rotgold. Ughtred stellte interessiert Fragen, denn er hatte noch nie einen Droiden und schon gar keinen weiblichen gesehen, aber Tal viel auf, dass sowohl Kyon, als auch die Schmiedin sich seltsam zurückhielten. Bei ihm vermutete sie, ging es nach wie vor um den Verlust seiner eigenen Idee der Handelsreise, aber warum Sivuril mit einem anhaltenden Schweigen auf Tals Geschichte reagierte verstand sie nicht.

Einen Moment zögerte sie, doch dann überkam sie eine kindliche Wut auf Kyon und fragte ihn daher, was er an ihrer Reisemöglichkeit auszusetzen hatte und als der Angesprochene erneut von der Sinnlosigkeit der ganzen Sache anfing, platzte ihr der Kragen. Sie schimpfte und nannte ihn egoistisch, denn schließlich wollte Ughtred auch sicher zurück nach Korezuul, ganz zu schweigen von ihr selbst, denn sie wollte unbedingt in den Schoß ihres Ordens zurückkehren.

Kyon hörte sich all dies an, winkte ab und wollte schon gehen, als sein Blick auf Sivuril fiel. Die Schmiedin hatte sich von dem Gespräch abgewandt und blickte auf die nun im Dämmerlicht liegenden Weiden hinaus. Anstelle zu gehen, ging er zu ihr hinüber und Tal, die eben noch etwas sagen wollte, schwieg und folgte ihm stattdessen leise. Ihr war durchaus aufgefallen, dass Kyon sich etwas aus Loyalität machte. Er mochte die Schmiedin, weil sie sich für ihn und seine Sache aufgeopfert hatte. Warum konnte er sich nicht selbst ebenso verhalten? Es war fast, als verlange er von anderen genau das, was er selbst nicht zu geben vermochte. Sie schwieg und blieb in angemessener Entfernung stehen, wollte aber auch nicht verhehlen, dass sie zuhörte.

Kyon rückte nahe an Sivuril heran und strich ihr mit der Hand über den Nacken. Mit tonloser Stimme fragte er: »Was ist mit euch Schmiedin?«

Es war ihm anzumerken, dass er die förmliche Redeweise als Schutz für sich selbst nutzte.

Sivuril wandte sich nicht um. Sie brauchte einen Moment, aber dann sagte sie: »Ihr wolltet eine Heldentat tun, um mir zu helfen. Wisst ihr noch? Wenn ihr nun geht, wohin auch immer, werde ich bleiben müssen und zwar wahrscheinlich sehr lange. Die Schwestern werden mich nicht gehen lassen und früher oder später wird mich die Drachenschuppe schlucken.«

Ihre Stimme klang müde, ein wenig traurig, aber gefasst. Es war ihr anzumerken, dass hier die Smavari aus ihr sprach, nicht die Lopenhirtin. Verzweiflung war eine schreckliche Kraft und ihre Krankheit, gab ihr jedes Recht, verzweifelt zu sein.

»Was meint ihr damit?« fragte Kyon.

Müde erklärte sie, dass die Schwestern ihr ja beschieden hatten, die nur dann frei zu geben, wenn sie eine weitere Großtat für sie vollbrachte, doch Großtaten wuchsen ja nicht an den Bäumen. Als Kyon gesagt hatte, er selbst würde eine solche Tat erbringen, hatte Sivuril für eine kurze Zeit Hoffnung geschöpft. Sie wollte reisen, Kisadmurs Heiler aufsuchen, etwas tun gegen die Drachenschuppe. 

Kyon schüttelte den Kopf, weil er selbst sich das Ganze irgendwie anders vorgestellt hatte, aber andererseits, wenn die beiden Krähen in ihrem schäbigen Turmhaus eine weitere Heldentat wollten, würde er ihnen eben eine geben.

Wortlos wandte er sich ab, nahm seinen Bogen auf, der an der Außenwand der Schmiede gelehnt hatte, und stapfte in die aufkommende Dämmerung davon. Tal sah ihm nach und überlegte, ob sie noch etwas zu der Schmiedin sagen sollte, entschied sich aber dagegen. Stattdessen winkte sie Ughtred, der eben im Begriff gewesen war, Kyon zu folgen.

»Lasst ihn das mal alleine machen. Wird ihm gut tun. Vielleicht hilft ihm eine Lektion der Fürstinnen dabei aus seinem Welpenstatium herauszugelangen.«

Der Nygh sah Kyon hinterher, entschied sich aber dafür, auf die Hexe zu hören. Er wollte mit seinem Handeln nicht noch mehr Ärger zwischen die beiden verrückten Silberwölfe bringen. Ein wenig mutlos ging er zu Odugme und untersuchte weiter den Heilungsverlauf der eingebrachten Prothese.

 

Als Kyon beim Turmhaus der Fürstinnen ankam war er ein wenig überrascht. Er hatte sich schon einen Spruch zurechtgelegt, den er ausstoßen wollte, wenn das Tor erneut geschlossen gewesen wäre, aber dieses Mal stand es offen und drei Quinkwächter lungerten im Torhaus herum. Kaum näherte er sich, standen sie auf und gaben mit Verbeugungen zu verstehen, dass sie den Abend überleben wollten. So gab er mit einem letzten Rest an Höflichkeit zu verstehen, dass er zu den Fürstinnen vorgelassen werden wollte, schritt dabei aber in das Torhaus hinein und machte Anstalten ohne eine weitere Einladung das Haus zu betreten. Die Drei tummelten sich ihn zu überholen und schließlich verstellte der Kastellan in seiner Robe seinen Weg. 

Kyon räusperte sich und machte Anstalten, nach seinem Kriegsbogen zu greifen, aber der für einen Quink erstaunlich dünne und große Mann verneigte sich ebenfalls und erklärte, der Gast solle ihm folgen.

In der großen Halle ging Kyon eine Weile auf und ab. Seine Laune war derart schlecht, dass er sich geradezu auf die Konfrontation mit den Schwestern freute. Was sollten sie ihm antun? Sie würden ihn kaum mit Flüchen belegen. Was hätten sie ihm schon zu bieten? Etwa einen Fluch, der bewirkte, dass er die ganze Tiba Fe bereisen musste, im Gefolge seines toten Geliebten und dessen Schwester, die in jeder ihrer Kampfbewegungen bezeugte, dass sie den Geist des Toten gefressen hatte? Einen schlimmeren Fluch konnte er sich im Augenblick nur schwer vorstellen. 

Die Tür zur Linken riss ihn aus seinen Gedanken und Ayn Siychnifee yr Sornweth, die Kriegerin betrat die Halle. Sie trug nun nur noch eine einfache Schleppe, die ihren gertenschlanken Leib kaum verhüllte und ihr Haar war zu einem lockeren Knoten nach oben gesteckt. Vier Silbernadeln hielten es an Ort und Stelle. Wie nahezu alle Smavari war sie schön und ebenmäßig, etwas, dass Kyon am wenigsten an seiner Spezies schätzte. Er liebte mehr das Außergewöhnliche, Abstrakte und Besondere. Doch als sie näher trat, waren es einige hauchdünne Narben auf der linken Wange und ihre notorisch heruntergezogenen Lippen, die ihre Schönheit mit ihm versöhnte.

Sie sah nicht so aus, war aber mindestens achtmal so alt wie er selbst. Sie hatte an Kriegszügen teilgenommen und zweifelsfrei schlimme Dinge getan und unzählige Leben genommen. Er zögerte einen Moment, doch dann war es wieder der Zorn, der ihn leitete, als er sagte: »Es geht um die Schmiedin Sivuril Trysh. Sie steht in eurer Schuld und eure Schwester sagte, sie müsse eine weitere Tat für das Reich vollbringen, ehe ihr sie aus ihrer Schuld entließet.«

Die Ayn sah ihn mit bleichen Augen an, verzog keine Miene und nickte stumm. Ihr Gesicht war weder Frage, noch Antwort.

Kyon hob die Augenbrauen, warf sich in die Brust und sagte: »Nun, ich will diese Tat für euch tun, eine Heldentat für die Ayn von Elaiyney. Gebt die Schmiedin frei.«

Die Kriegsfürstin sah ihm direkt in die Augen. Ein langes Schweigen erfüllte den Raum. Kyon dachte an die Draiyn in der Wüste, an die wandelnden Toten und an den verrückt gewordenen Riesen. Dann plötzlich nickte sein Gegenüber. Ihr Gesicht verriet ein gewisses Erstaunen, als hätte sie nicht damit gerechnet, solche Heldentaten fühlen zu können – zumindest nicht bei einem wie ihm. Hatte sie seine Gedanken gelesen oder gar in sein Herz gesehen? Waren alle Wölfinnen Hexen. Am liebsten hätte er ausgespuckt aber plötzlich öffnete Ayn Siychnifee ihre schönen Lippen und sagte: »Wir nehmen eine eurer Heldentaten für uns in Anspruch. Die Schmiedin Sivuril Trysh ist hiermit frei. Ihr könnt gehen.«

Sie rührte sich nicht. Ihre Haltung stand für ihr Hausrecht. Er würde gehen, nicht sie.

Kyon sah sie an. War es das? Er hatte damit gerechnet, von nun an in ihrer Schuld zu stehen. Was hatte sie davon, eine schon begangene Heldentat zu besitzen? Ging dies überhaupt? Er hatte nicht das Gefühl, eine verloren zu haben. Wie auch, wie bei allen Wesen der Anderwelt sollte man getane Taten verlieren?

Verwirrt bedankte er sich, kam dabei nicht umhin dieser seltsam mächtigen Frau auf die Nippel ihrer Brüste zu starren, die sich durch den nahezu nichts verhüllenden Stoff ihrer Robe drückten und hatte alle Mühe sich von diesen unsichtbaren Ketten zu lösen. Er schüttelte sich wie ein räudiger Wolf und versuchte seinen Kopf zu befreien, und dann stand er wieder in dem Torhaus bei den Quink und atmete die frische Nachtluft.

Ein dünner Nebel war aufgekommen und Kyon versuchte seine Gedanken zu ordnen. Doch dann tat er, was er immer tat, wenn er in die Netze der Mächtigen geraten war: er pfiff leise eins seiner Lieder und versuchte dabei, eine Strophe aus seinen kürzlichen Erlebnissen dazu zu erfinden.

 

Sivuril standen Tränen in ihrem gesunden Auge, als es zwei Tage drauf Abschied nehmen hieß. Die Gefährliche würde am frühen Morgen nach Süden aufbrechen. Ughtred hatte der Schmiedin Lebewohl gesagt, sich bei Fegrith und den Lopen verabschiedet und war dann mit Odugme vorausgegangen. Nun standen Tal, Kyon und Sivuril am eingefallenen Torbogen des großen Anwesens und blickten auf die Weideflächen hinüber.

Die Schmiedin wandte sich Kyon zu, küsste ihn und sagte: »Ich stehe tief in eurer Schuld Sliyn.«

Doch Kyon lächelte nur als er sagte: »Wir sehen uns sicher wieder und haben erneut einen Phani dabei, der repariert werden muss.«

Tal verzog das Gesicht, umarmte Sivuril und deutete beim Umdrehen mit dem Zeigefinger auf Kyon, als wolle sie ihn verfluchen. Dann ging sie ohne ein weiteres Wort dem Nygh hinterher.

 

Die Fahrt mit der Gefährlichen verlief weitgehend ereignislos. Sie hob am frühen Morgen ab und zischte mit ihrem seltsamen Antrieb in Windeseile gen Süden. Eben wurde Ughtred Zeuge, wie die Mannschaft zwei Masten aufrichtete und nun doch noch die ebenfalls roten Segel in den Wind stellte. Er blickte auf die schroffen Gebirgslande Kisadmurs hinunter und sehnte sich nach seiner Heimat. Wie lange war er nun schon hier im Reich der Silberwölfe? Er hatte ganz vergessen, wie es war, ein echter Nygh zu sein. Doch dann zuckte er mit den Schultern und wandte sein vom Wetter gegerbtes Antlitz dem Süden zu. Weit vor sich glaubte er schon den Rauch von Uraiyd zu erkennen und versuchte sich vorzustellen, was es dort nun wieder zu erleben geben würde.

In einem weiten Bogen näherte sich das Schiff der Landestelle und ein Matrose gab mit einer Fackel Leuchtsignale. Auf der Plattform erwiderten Arbeiter den Gruß, doch dann erkannte Ughtred, dass sie dem Schiff anzeigten, wo es hernieder gehen sollte. Stimmt, dachte er, die Gefährliche landete ja. Und da hörte er auch schon das Knarren der Landefüße, die von starken Motoren bewegt, aus ihren Ruhepositionen gefahren wurden. Keine drei Minuten darauf setzte das Schiff auch schon auf und die Mannschaft ließ die im Abendwind knatternden Segel herunter.

Kapitöse Rotgold erschien an Deck und überwachte die Arbeiten. Kein Wort kam aus ihrem bewegungslosen Gesicht. Jedes ihrer Mannschaftsmitglieder schien bis auf den kleinsten Punkt zu wissen, was von ihm erwartet wurde. Jeder verrichtete seine Aufgaben mit einer fast unnatürlicher Präzision. Ughtred fragte sich, ob die Quink irgendwie verändert worden waren, denn so etwas würde er den Silberwölfen zutrauen, schließlich war ihre ganze Spezies eine Kreation der Langohren. Aber es schien viel eher, als lenkte die künstliche Frau ihre Leute durch Ruhe und Kontinuität als mittels psionischer Hexenkräfte oder Schlimmerem.

Schließlich war die Gefährliche vertäut und eine metallene Planke (oder eher Treppe) verband sie mit der Plattform, auf der sie ruhte. Nachdem die Arbeiter ihre Aufgaben erledigt hatten, unterhielten sie sich mit den Matrosen und halfen ihnen, das Schiff zu entladen. Als Kyon an Deck kam, er hatte den ganzen Flug verschlafen, wanderte sein Blick über die Warenladung und verfinsterte sich. Tal trat neben ihn, rückte ihr Kleid zurecht und brachte ihre Brüste in eine bequeme Position.

»Da sind wir«, sagte sie mit einem Lächeln und gab ihm einen Klaps auf die Schulter.

Er brummte nur und schlurfte zur Treppe. Bei Kapitöse Rotgold blieben die beiden stehen. Kyon fragte nach einer empfohlenen Unterkunft und dann wollte er wissen: »Seid ihr eigentlich eine richtige Frau?«

Tal und die Droidin sahen ihn an, doch ehe die Hexe ihn rügen konnte, sagte Rotgold: »Wenn ihr dies auf das Geschlechtliche bezieht, muss ich verneinen. Ich wurde ausschließlich für logistische Aufgaben erschaffen. Mein Leib kann keinerlei dem Weiblichen zugeordnete Funktionen erfüllen.«

Tal sah Kyon böse an, doch dieser hob die Hände und rief: »Was? Wäre sicher ein außergewöhnliches und interessantes Erlebnis geworden sich mit einer wie ihr zu paaren.«

Tal schüttelte den Kopf und murmelte im Gehen: »Mit einer künstlichen Frau würde der Herr Sliyn sich in den Decken wälzen, aber nicht mit einer einfachen Hexe.«

Doch Kyon hatte sie gehört und konterte: »Wenn die Hexe wenigstens eine Frisur hätte oder ein bisschen mehr auf ihre Garderobe achtete, würde sie sicher mehr Herrenblicke auf sich ziehen.«

»Was habt ihr nur immer mit meinen Haaren?« giftete sie ihn an und verfing sich mit einem ihrer Ringe direkt in dem Nest auf ihrer rechten Kopfseite. Sie fluchte leise und sah noch einmal zu Rotgold hinüber, doch die Droidin hatte sich längst ihrem Schiff zugewandt.

 

Kyon hatte nach einer Kaschemme gefragt, war aber auf das Irtas Rawaiy, das Haus der Ruhe verwiesen worden. Erfreut hatte er seine Schritte direkt in die angegebene Richtung gelenkt. Ein ›Haus‹ hätte er hier nun wirklich nicht erwartet. Und tatsächlich, das Irtas Rawaiy versprach für einen kleinen Ort wie Uraiyd nicht zu viel. Es war nicht groß und klemmte zwischen einer Reihe von Unterkünften und windschiefen Lagern, aber selbst seine Fassade zeugte von etwas Eleganz und den Schönheiten smavarischer Sitten.

Da es keinen Türsteher gab – was Kyon schon wieder betrübte, denn dies bedeutete zwangsläufig, dass jeder eintreten konnte – gingen Tal, Ughtred und der Barde hinein. Den Phani ließen sie mit Norths Sarg draußen vor der Tür, doch Ughtred, der sich an diese Unsitte einfach nicht gewöhnen konnte, versprach sogleich, dem schwarzen Mann etwas zu Essen herauszubringen. 

Der Besitzer des Hauses war ein schmaler Mann namens Umarias Marn yr Swaraiythis. Er begrüßte Kyon als Sliyn und seine Gefährten als dessen Vasallen. Tal machte ein verächtliches Gesicht und vergaß nicht, klarzustellen, dass sie eine Hexe des Doppelmondes war und einem Sliyn in nichts nachstünde, doch dies war dem Hauswirt egal. Er wies Kyon eine große Kammer und zwei Helfer und eine Helferin zu. Für Tal gab es ebenfalls ein Zimmer, doch auf die Nachfrage, ob man ihr auch Helfer schicken sollte, lehnte sie ab. Ughtred verblieb im Schankraum und kümmerte sich wie versprochen um das Essen für den Phani.

Tal wollte in jedem Fall den Ort erkunden und sich um die Auffrischung ihrer alchemistischen Zutaten kümmern. Sie sah Kyon an und fragte: »Kommt ihr mit? Ich gehe in die Stadt und suche nach Material für die Reise.«

»Naaaahhh«<, antwortete der Barde müde und deutete mit dem Daumen auf die Tür, die vom Schankraum in die Unterkünfte führte. »Aber wenn ihr mit der Ausrüstung kein Glück haben solltet, findet ihr ja vielleicht wenigstens jemanden, der sich mit Haaren auskennt«, fügte er ohne große Aufmerksamkeit hinzu.

Wortlos stand sie auf und raffte ihren Lendenschurz, um über seine Knie steigen zu können. Sie gab ihm einen Stoß mit dem Ellbogen, aber er reagierte nicht darauf. Im selben Moment erschienen eine junge Frau und ein schöner schlanker Mann und neigten ihre Köpfe. Es waren die Helfer, die Kyon bestellt hatte. Er wandte sich direkt ab, erhob sich, Tal von sich schiebend und ging wortlos zu den beiden hinüber.

Sie blickte auf die Dielen des Schankhauses herab und dachte darüber nach, ihre Doppelklinge nach Kyon zu werfen. Oder am besten gleich das Schwert ziehen? Der Raum war nicht hoch genug für die lange Klinge, also entschied sie, sich den Idioten einfach ziehen zu lassen. Als sie das Haus verließ, kam sie zwangsläufig an Ughtred und Odugme vorüber.

»Sagt Herr Nygh, findet ihr auch, dass meine Frisur schäbig wirkt?«

Ughtred sah zu ihr auf und ein kleines Grinsen stahl sich auf seine Lippen. Er lachte selten und auch ein Lächeln fand sich nicht oft zwischen seinem Barthaar.

Höflich antwortete er in gebrochenem Smavarisch: »Nun, ich bin mir sicher, eine Frisur würde euch zweifellos stehen.«

Sie starrte ihn an und ließ seine Worte ankommen. Dann wandte sie sich ab und stolzierte wortlos in die nun von Öllampen erhellten Gassen Uraiyds davon.

 

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie im Gewirr der kleinen Sträßchen den Platz fand, den man ihr empfohlen hatte. Trotz der beschaulichen Größe des Ortes, waren seine Gassen verwinkelt und man konnte sich leicht verlaufen. Es war mittlerweile stockdunkel und es kam Tal so vor, als gäbe es immer weniger Laternen, je näher sie sich dem Alchemistenplatz näherte. Als sie schließlich in die bisher düsterste Straße begab, fehlte tatsächlich jegliches Licht und sie hatte Mühe überhaupt etwas zu erkennen. Wo waren die Monde, wenn man sie brauchte? 

Der Platz war nicht sehr groß und seine Pflastersteine ebenso uneben wie die Dächer der Häuser. Überall fehlte das Fensterglas und Ziegeln lagen auf dem Boden herum und machten das Gehen gefährlich. Einmal hätte sie sich tatsächlich beinahe an einer der vielen Scherben geschnitten. 

Nichts regte sich. Sie versuchte zu erkennen, welches der windschiefen Häuser bewohnt war, konnte aber nur eine alte Quink sehen, die auf einer der Treppen kauerte. Die Alte sah aus wie eine Schildkröte und nestelte mit ihren alterskrummen Fingern an den Schalen irgendwelcher Früchte herum. Sie hatte eine Schale neben sich stehen und schien das Zeug zu schälen. Tal fragte sie, warum sie im Dunkeln arbeitete und die alte konterte mit einem trockenen Lachen, dass ihre Welt für immer dunkel geworden sei. Da erkannte Tal, dass sie Blind war und wollte schon gehen, aber schließlich fragte sie doch noch nach dem Alchemisten.

Zitternd deutete die Quink zwischen zwei Häuser. Das eine hatte noch alle Fenster und die Tür war geschlossen. Beim anderen hingegen fehlte das meiste Glas und die Tür stand ein Stück auf. Es sah aus, wie der schief klaffende Rachen eines Totenschädels und da wusste Tal, welches der Häuser ihr Ziel sein würde. War sie eine Ayn wie Kyon ein Sliyn? Natürlich nicht. Er bekam Helfer in einem Haus der Ruhe. Sie würde dafür ein Abenteuer erleben. Sie war eine Doppelmondhexe, die brauchten keine weiteren Titel oder Helfer. Sie halfen sich selbst. Andererseits hatte sie sich in letzter Zeit viel zu oft selbst geholfen. Kyons Worte kamen ihr in den Sinn. Ohne es zu wollen, fuhr sie sich mit den Fingern durch ihr wirres Haar. Vielleicht sollte sie doch tätig werden.

Ohne sich zu verabschieden, verließ sie die alte Schildkröte und ging auf das Haus mit der offenen Tür zu. Der Platz hatte in der Mitte einen alten Brunnen, von dem aus ein tiefer Riss durch den Boden verlief. Beinahe wäre sie gestolpert, denn es war wirklich sehr dunkel. Besagten Riss umgehend erreichte sie das Haus und erkannte allein schon an dem beißenden Geruch, der hier herrschte, dass sie an Ort und Stelle war. Mit spitzen Fingern drückte sie die Tür etwas weiter auf und lugte in die Dunkelheit des Eingangsbereiches. Leider konnte sie kaum etwas erkennen, also zückte sie ihr Feuerzeug und entzündete es. Im Schein der züngelnden Flamme musterte sie den Verkaufsraum des Alchemistenladens. Oder hätte sie sagen sollen, des ehemaligen Ladens? Der einstige Tresen war eine Müllhalde. Überall am Boden lagen Scherben verstreut und kleine Knochen zeugten vom Befall durch Nagetiere und anderes Ungeziefer. In den Regalen standen noch einige Fläschchen und Tiegel mit vergammelten Zutaten und sie wollte schon gehen, als sie im Nebenraum ein leises Scharren vernahm.

»Hallo?« flüsterte sie so leise, dass es möglichst niemand hören würde, aber dann überkam sie die Neugierde. Sie drückte sich an dem Verkaufstisch vorbei, stieg über einen umgefallenen Stuhl und musste eine kleine Truhe verschieben, um zu dem Durchgang in das angrenzende Zimmer zu gelangen. Sie schnüffelte und versuchte zu erkennen, nach was genau es hier roch. Rattenscheiße, ganz klar, und Weihrauch, Myrrhe und irgendein anderes Kraut, dass ein wenig wie Urin roch. Aber da war noch etwas, etwas Vergammeltes, Totes in der Luft. 

Der Nebenraum war vollgestopft mit Kisten und Regalen und auch hier gab es in der Mitte des Zimmers einen großen Tisch mit allerlei Unrat auf seiner Tischplatte. Der Boden war sogar noch unpassierbarer. Dutzende von Flaschen in Körben und offenen Kisten standen überall herum und Tal kam nicht umhin, sich über den Reichtum an Zutaten zu wundern, der hier verstreut lag. Waren all diese Dinge vergessen worden?

Doch dann sah sie ihn. Am Tischende, tief an der Lehne herunter gerutscht, lag mehr, als er saß, der Körper eines offenbar toten Smavari. Er trug nur eine offene dünne Robe und seine Rippen standen hervor und machten umso deutlicher, dass sich sein Brustkorb nicht bewegte. Im Schein ihres Feuerzeuges betrachtete sie das eingefallene Gesicht des Toten. Er war mehr mumifiziert als verwest und wies Zeichen von Einbalsamierungsvorgängen auf. Interessant, dachte die Hexe und berührte mit einem Fingernagel die Wange des Toten.

Doch wie sehr erschrak sie, als die dünnen Lieder des Mannes zu flattern begannen und sein Brustkorb sich in einer schrecklich künstlichen und unnatürlichen Bewegung ausdehnte, um Luft in die verdorrten Lungen zu ziehen. Sie stolperte zurück, stieß einen kleinen Beistelltisch mit einer Vase um und konnte sich gerade noch am großen Tisch festhalten, um nicht selbst zu stürzen.

Der Tote blickte sie mit unverhohlener Neugier an. Sein schmales Gesicht glomm unwirklich in der Dunkelheit und Tal bemerkte, dass sie ihr Feuerzeug fallen gelassen hatte. Schnell bückte sie sich, hob es auf und entzündete eine Stehlampe auf dem Tisch. Als der Raum hierdurch etwas heller geworden war, musterten sich die beiden ungleichen Gestalten. Tal dachte an die Untoten in der Wüste von Draiyn Andiled und erschauderte. Würde dieser hier gleich aufspringen und versuchen ihr die Kehle aus dem Leib zu reisen? Aber nichts dergleichen geschah. Der dürre Mann hockte auf seinem Stuhl und schien mühe zu haben, sich an seinem unechten Leben festzuhalten. Er hatte begonnen zu atmen, aber es war klar zu erkennen, wie schwer ihm dieser Vorgang fiel. Es schien auch, als täte er es nur zur Beruhigung seines Gastes. Untote brauchten nicht zu atmen. Sie waren tot. Natürliche Vorgänge spielten für sie keine Rolle mehr.

Tal entschied sich dafür, sich ordnungsgemäß vorzustellen. Schließlich war sie in dieses Haus eingedrungen und es war egal, ob sein Bewohner nun tot oder lebendig war, er war nach wie vor der Hausherr.

»Mein Name ist YtˋTalan ven Arudsel, ich bin eine Doppelmondhexe aus Shishney und suche nach dem Alchemisten von Uraiyd«, sagte sie mit etwas dünner Stimme.

Der Tote richtete sich mit einigen Schwierigkeiten auf und holte besonders tief Luft. Er wollte sprechen, aber Tal machte sich auf einen Angriff gefasst.

Doch dann sagte er hohl: »Mein Name ist Bethaeyk Myrthias dan Hargahul und ich bin ein Alchemist. Dies ist mein Laden. Wie kann ich euch helfen?«

Es dauerte einen Moment, bis Tal sich in der Lage fand, normal – wenn man das so sagen konnte – mit dem Toten zu sprechen, doch sie nahm sich zusammen und versuchte professionell mit der Situation umzugehen. Werwölfe, Riesen, Untote, sie kannte all diese Dinge aus frühester Kindheit und hatte gelernt damit zu leben. Also brachte sie ihre Einkaufsliste zum Vorschein und gemeinsam begannen sie im heillosen Durcheinander des kleinen Geschäftes nach den benötigten Dingen zu suchen. Erst als sie bei den Reinen Dämpfen von Hyn angelangte, stutzte Hargahul. Er erklärte, die Zutaten für diese Alchemie gäbe es, wie der Name schon sage, nur in Hyn selbst.

Tal sah ihn an. Sie kannte den Ort nicht, aber dann holte sie die Kristallkarte hervor. Kyon hatte sie ihr überlassen, nachdem sein Interesse an der Unternehmung so offensichtlich geschwunden war. Sie ärgerte sich bei dem Gedanken, doch dann deutete der Alchemist auf einen Punkt im Westen Kisadmurs und dann auf Uraiyd.

»Da ist es, und da, nicht weit von Uraiyd, lebt der Schrat im Walde. Er kann euch helfen, er besitzt das Wissen, wie man Hyn betreten kann.«

Im flackernden Licht der Lampe stellte Tal immer mehr Fragen und je mehr der Untote erzählte, umso profunder empfand sie seine Aussagen. Er beschrieb ihr verschiedene alchemistische Rezepte, von denen sie zwar gehört hatte, die aber nicht in den Aufzeichnungen der Hexen zu finden gewesen waren, die sie bisher gelesen hatte. Stunde um Stunde verbrachte sie in dem nach Moder und Tod riechenden Haus und am Ende hatte sie einen Entschluss gefasst. Wenn sie diese schwere Reise bestehen wollte, wenn sie die Perle von Angband tatsächlich finden wollte, würde sie soviel Hilfe benötigen, wie irgend möglich. Hyn war ein Quell mächtiger Alchemie. Somit führte für sie kein Weg daran vorbei. Mit einer Sache hatte Kyon recht. Sie mussten sich nicht beeilen. Die Perle würde ihnen sicher nicht weglaufen.

Als sie sich endlich verabschiedete, hatte es draußen zu regnen angefangen. Sie schob ihre Kapuze über den Kopf und zögerte. Schließlich wandte sie sich noch einmal um und sagte: »Herr Alchemist, ihr kennt nicht zufällig jemanden, der sich mit er Kunst der Haarpflege auskennt?«

Die toten Augen des Angesprochenen glommen im Dämmerlicht seines Zimmers. Tal hörte ihn keuchen, als hätte er seine Lunge längst wieder in den Ruhezustand versetzt und mühe sich nun, sie erneut zu aktivieren.

»Ich dachte schon, ihr würdet danach fragen«, kam es aus der Dunkelheit. 

Tal rollte mit den Augen. Was hatten nur alle mit ihren Haaren? Beinahe wäre sie einfach gegangen, aber der Tote kam ihr zuvor.

»Tatsächlich wohnt hier am Platz eine Kollegin meinerseits. Sie ist nicht nur ebenfalls in unseren Künsten bewandert, sondern sollte euch auch bei eurem schlimmen Problem behilflich sein können.«

»Wo?« schnarrte Tal ungehalten. ›Schlimmes Problem oder was?‹

»Es ist von meiner Türe das fünfte Haus auf der linken Seite. Es duftet immer nach frischen Blumen. So schön.«

Diesmal ging sie.

Tatsächlich waren es nur wenige Schritte bis zu der beschriebenen Adresse und wirklich, das Haus hatte einen winzigen Vorgarten und es roch nach Blumen. Sie klopfte an den alten Türrahmen und wartete im Regen. 

Als sich die Tür öffnete, stand eine Frau darin, die Tal nur wenig älter als sich selbst geschätzt hätte. Allerdings war es ja bekanntlich nahezu unmöglich, eine Smavari anhand ihres Aussehens auf ihr Alter festzulegen, aber im vorliegenden Fall war sie sich sicher, nicht vor einer uralten Hexe zu stehen.

Sie wollte sich vorstellen, aber die Alchemistin lotste sie zuerst in das Haus. Sie war schließlich nass genug.

Drinnen kam ihr die Hausherrin erneut zuvor. Sie stellte sich als Aaiynych Nyrndadt yr Con`Gabur vor und freute sich, als sie erfuhr, dass ihr Nachbar sie empfohlen hatte. Kurzerhand lud sie ihren Gast ein, es sich in einem der Quinkledersessel gemütlich zu machen und zu erzählen, was eine Doppelmondhexe in der Provinz zu tun hatte. So unterhielten sich die beiden Frauen eine ganze Weile, tranken Faltersud und fachsimpelten über die optimale Zubereitung alchemistischer Produkte. Als Tal endlich auf ihr ›Problem‹ zu sprechen kam – es war ihr peinlich und am liebsten hätte sie vermieden darüber zu sprechen – lächelte Aaiynych Nyrndadt und sagte warm: »Natürlich kann man da was machen. Es wird zwar einiges an Haar kosten, aber ihr werdet, wenn ich mit euch fertig bin, eine Frisur haben.«

»Klingt bedrohlich«, sagte Tal und nahm einen großen Schluck Faltersud.

»Ach was, unter meiner Schere ist noch niemand gestorben«, konterte die Alchemistin und stand auf, um ihr Werkzeug zu holen.

Es vergingen über drei Stunden und Aaiynych Nyrndadt fluchte wenigstens achtmal so sehr, dass Tal nun wirklich Angst bekam und im geheimen Gegenflüche murmelte, aber als der erste Hahnenschrei erscholl und die Tagesgestirne ankündigte, trat Aaiynych Nyrndadt einen Schritt zurück und sagte mit gespieltem Stolz: »Ta taaaaaaa!«

Tal stand aus dem Sessel auf und ging zu dem Wandspiegel, der dem Raum wahrscheinlich als Unraumtür diente. Sie betrachtete sich und strich über die ausrasierte Haut unter dem Haarschnitt. Kurz, aber symmetrisch und irgendwie fesch sah sie aus. Etwas jungenhaft, aber nicht schlimm und die Haare würden wachsen. Sie konzentrierte sich und gab all ihre Gedanken in die Haarwurzeln und fühlte sie sprießen. Sie fühlte sich gut.

Mit einem spöttischen Grinsen auf dem Gesicht wandte sie sich ihrer neuen Freundin zu und fiel ihr um den Hals.

 

Es war schon heller Tag, als Tal uns Irtas Rawaiy zurückkehrte und dort ihren Phani und Ughtred vorfand. Der Nygh hatte Odugme in das Haus geholt und ihn mit Nahrung versorgt. Jetzt war er gerade dabei, eine wunde Stelle in seinem Unterkiefer zu untersuchen und versuchte mit einer seiner feinen Feilen eine minimal überstehende Stelle an der Prothese zu glätten. 

Tal trat hinzu und setzte sich an den Tisch. Sie sah eine Weile stumm zu, dann öffnete sie ihren Gürtelbeutel und beförderte eine Paste zutage. Sie schob den winzigen Tiegel zu Ughtred und dieser öffnete ihn und nahm etwas des Inhaltes auf seinen Finger, um es auf dem Zahnfleisch des schwarzen Mannes zu verteilen. 

»Meine Ressourcen schwinden«, sagte die Hexe. Sie wollte diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Wenn sie erst einmal den Nygh überzeugt hätte, im Wald nach dem Schrat zu suchen, würde es leichter werden, mit dem störrischen Barden zu reden.

Ughtred sah mit fragendem Blick auf. Dann sage er: »Ihr habt euer Haar machen lassen.«

Sie lächelte, fasste aber unwillkürlich an die Stelle, an der sich noch vor kurzer Zeit das ›Nest‹ befunden hatte.

Sie erzählte Ughtred von dem Schrat und der alchemistischen Möglichkeiten, die ein Abstecher in den Wald bieten würde. Die Reise nach Hyn selbst würde natürlich sehr lange dauern, aber sie würde sich ohne Zweifel lohnen. Ughtred hörte sich alles an. Die Möglichkeit, alchemistische Ausrüstung aufzustocken, erschien ihm durchaus sinnvoll. Außerdem konnte er sich die eigentliche Fahrt nach wie vor nur schwer vorstellen. Er hatte zwar das Tagebuch von Kyons Vater überflogen, aber wirklich verstanden hatte er es nicht. Zahnräder, Gräber, Feueressen, all dies erschien ihm unermesslich groß und er konnte sich einfach nicht vorstellen, all diese Abenteuer zu bestehen. Da war die Idee, einen Alchemisten im nahegelegenen Wald zu finden, ein eher harmloser Vorgang.

 

Etwas später saßen sie an einem kleinen Tisch im Haus der Ruhe und aßen geröstete Feuerzwiebeln und Riesenkriecher in Sauerteighüllen. Ughtred verzichtete auf die Insekten, langte aber um so gieriger bei den Zwiebeln zu. Er mochte scharfes Essen und bekam in Kisadmur nicht oft Dinge, die ihm wirklich schmeckten. Er musste grinsen, denn die Silberwölfe konnten die Feuerzwiebeln nur essen, wenn sie eine Sahnesoße dazu genossen. Scharfe Gewürze hatten eine ähnlich heftige Wirkung wie Alkohol auf ihren Metabolismus und dennoch konnten sie nicht davon lassen. Sie waren so seltsam.

»Ihr habt eure Haare machen lassen«, sagte Kyon gerade und Tal antwortete gelassen: »Es wurde mir empfohlen.«

Ughtred musste lachen und hob seinen Gerstensafthumpen.

Wie erwartet hatte Kyon nur wenig Interesse an dem Ausflug in den Wald, aber andererseits war ihm das Vorankommen in der eigentlichen Sache ebenfalls nicht zeitlich relevant. Er zuckte mit den Schultern und sah den Nygh an.

»Wenn es ihm nichts ausmacht. Schließlich wird er ja alt und faltig und hat nicht ewig Zeit«, sagte er und lächelte böse.

Ughtred grunzte und nickte in seinen Krug. Er kannte ja mittlerweile den kruden Humor der Silberwölfe.

Nachdem dies geklärt war, winkte Tal einer der Helferinnen und fragte nach einer Lopenleihe in Uraiyd. Die Helferin musste nicht überlegen, sondern deutete auf einen der anderen Tische. Tal sah hinüber. Ein Mann mit düsterem Gesicht saß neben einer seltsam jung und dennoch alt aussehenden, sehr bleichen Frau. Sie aßen gemeinsam aus einer großen flachen Schüssel und schienen ein Paar zu sein. 

»Die beiden sind Lopenhirten«, sagte die Helferin und schenkte Kyon dabei Gelbwein nach.

Tal stand auf und ging wortlos zu dem Tisch hinüber. Dort angekommen, stellte sie sich vor und wartete, bis die beiden es ihr gleich taten.

»Dies ist Zoraiyet bor Zoraitreynith und mein Name ist Snyirath D`Fenur. Wenn ihr Lopenhirten sucht, seid ihr bei uns richtig.«

Die hellhaarige, bleiche Frau sah Tal nur kurz an, doch dann flirrte ihre Aufmerksamkeit durch den Raum. Ihre Augen blinzelten und ihr Geist war wie eine Motte, die ständig von Licht angezogen, hin und her flatterte. Tal legte den Kopf schief und versuchte, sie geistig zu erfassen, aber da war nur Wirrheit und Chaos in dem schönen Gesicht. Sie war ein Welpe oder zumindest verrückt. Irgendwie war sie Tal sofort sympathisch.

Kurzerhand lud Tal die beiden an ihren Tisch ein. Helfer kamen und begannen, das Geschirr zu organisieren. Schließlich saßen alle beisammen und konnten mit den Verhandlungen beginnen.

Der Lopenhirte Snyirath nickte Kyon freundlich zu und sagte: »Ich rieche Lopen an euch. Hinzu kommt euer Rang. Ich werde bei unseren Lopen für euch sprechen.«

»Wir können selbst mit Lopen sprechen«, sagte Kyon hochmütig.

Der Hirte nickte und nahm einen Schluck Gelbwein.

»Wichtiger wäre für uns ein Führer.« Kyon sah den Mann an und wartete auf eine Antwort. Wenn er durch seine schroffe Art ungehalten war, zeigte er es nicht.

Schließlich sagte er: »Ich bin Lopenhierte und Jäger Herr Sliyn. Wenn ihr es wünscht, führe ich euch durch den Wald.«

Es war Brauch, dass ein Smavari dem anderen half, gerade wenn der eine einen Titel trug und der andere nicht. Es war aber ebenfalls Brauch, dass Smavari sich eigen verhielten und Bräuche brachen, wenn sie ihnen zuwider waren.

Kyon nickte huldvoll und deutete mit dem Kinn auf die Begleiterin des Hirten.

»Und sie? Sie ist nicht bei klarem Verstand, oder? Fickt ihr sie?« fragte er und sah Snyirath herausfordernd in die Augen.

»Ich passe auf sie auf«, sagte der Angesprochene ohne einen Anflug von Ärger in der Stimme.

Zoraiyet wandte Kyon ihr ebenmäßiges und unnatürlich bleiches Gesicht zu. Dann streckte sie die Zunge heraus und schnappte sich eine der Zwiebeln von seinem Teller. Ehe jemand reagieren konnte, stopfte sie sich das Gemüse in den Mund und kaute darauf herum. Saft troff über ihr Kinn und ihre weißen Brüste und sie lachte wie ein Welpe. Dann kam die Wirkung der Gewürze über sie und schon spuckte sie das zerkaute Gemüse über den Tisch und griff nach der Sahnesoße, um in großen Schlucken davon zu trinken.

Tal lachte und half ihr, doch Kyon fand die Sache weniger lustig.

»Sie wird uns nur aufhalten und alle Rotaugen des Waldes auf uns ziehen«, sagte er zu dem Hirten und schüttelte missmutig den Kopf.

»Ich reise nicht ohne Sie«, sagte Snyirath und es war ihm anzusehen, dass er an diesem Punkt nicht verhandlungsbereit war. 

Ughtred sah Kyon an, dass er die Sache am liebsten abblasen würde und sagte: »Das wird schon klappen und Lopen mögen es, wenn ihre eigenen Hirten mit von der Partie sind oder?«

Kyon rollte mit den Augen und sah zu der Verrückten hin. Tal versuchte gerade ihr langes Haar von der Soße zu befreien und sie schnupperte dabei an den frisch geschnittenen Haaren der Hexe.

Vor Resignation seufzend zuckte der Barde mit den Schultern. Also gut, dann eben mit der Irren, sagten seine Augen und der Hirte hob seinen Gelbwein an den Mund und sah ihn über den Rand des Kruges an. Eine Abmachung war getroffen worden. Ughtred nickte. So machten sie es, die Silberwölfe.

 

Die Huhns des Birked

Der Pakt mit den Lopen von Uraiyd war schnell geschlossen. Zuerst wollte Wildauge, der Alpha der Zackenhörner, nicht auf Kyons Anfrage eingehen, aber Wedelohr, seine Gefährtin, wurde mit Tal handelseinig. Einerseits witterten die Tiere den Hauch der Gefahr, der die Abenteurer und ihre Unternehmung umwehte, aber sie waren wilde Lopen von Kisadmur und zu was wären ihre Hörner gut, wenn nicht zu Abenteuerreisen durch die Wildnis?

So kam es, dass die kleine Reisegruppe erneut zum Aufbruch blies und zwar an einem kalten Morgen, denn die Lopen wollten den Abstieg aus dem Ausläufer der Odoreys, auf dem Uraiyd erbaut worden war, möglichst bei Tageslicht bewältigen. Zuerst erschien dies den Silberwölfen mehr als unangenehm, aber der Wald im Süden der Berge war düster und hielt die schädlichen Kräfte der Geschwistersonnen auf Distanz. Nasse Spinnweben zogen sich quer über den Trampelpfad und die Luft war nass und kalt. Aus den Schatten zwischen den Bäumen waren Vogelstimmen zu hören und ab und an erscholl das heisere Röhren einer wilden Lope von den Felsen herab.

Der erste Reisetag verlief ereignislos – wenn man vom starken Regen absah, der mit der Dunkelheit hereinbrach. Kyon wollte zuerst in seiner Hängematte schlafen, denn die verdrehte Haltung der Hexe und der dafür verantwortliche mit Wurzeln durchzogene Waldboden, machten ihm zu schaffen. Als sich jedoch die Himmelsschleusen öffneten und die Welt um ihn herum binnen weniger Minuten noch mehr durchnässten als es der klamme Tag schon getan hatte, entschied er sich doch zu Tal ins Zelt zu begeben. In der Dunkelheit musterte er die junge Wölfin. Wenn sie sich nicht bemühte, sah sie knochig aus. Ihre Haare waren nun zu einer Frisur geschnitten, aber adrett hätte er sie dennoch nicht genannt. Er fühlte sich an North erinnert, dessen Leichnam draußen in seinem modrigen Holzsarg ruhte. Adrett war er auch nicht gewesen. Damals hatte Kyon eher auf die provinzielle Schönheit des Landwolfes reagiert. Der feine Akzent, dieses ungespielte Unwissen, wenn es um die Sitten der Städte ging – diese Dinge hatten den Sliyn für Northrian eingenommen. Aber Tal war irgendwie ganz anders. Sie verhielt sich nicht provinziell, sondern eher, grob. Er wusste nicht wie er sie anders wahrnehmen sollte. Einer der Richter von Shishney ließ sich täglich auf einem übergroßen Hammer als Stuhl von einem riesigen Kampfdroiden zum Marktplatz tragen. Ungewöhnliches Verhalten gab es auch in den Städten zu genüge. Aber den toten Bruder in einem Sarg mit auf eine Reise zu nehmen erschien Kyon selbst für eine Smavari exzentrisch. Außerdem trug sie mit absoluter Sicherheit die Seele Norths in dem Shimwas ihres Vaters. Er wusste nicht genau, ob sie den Vorgang kannte, den Shimwas zu leeren, aber er war sich absolut sicher, dass sie es gar nicht erst in Erwägung zog. Ihre Ganze Art hatte etwas gnadenloses und wenn er so darüber nachdachte, hatte er sogar ein wenig Angst vor ihren Launen. Sie war zweifelsfrei mächtig und wie alle Mächtigen Smavari hatten die Würmer der Anderwelt ihr Gehirn in einen löchrigen Lopenkäse verwandelt.

Durch den schmalen Spalt des Zeltausgangs konnte er die beiden Lopenhirten sehen. Sie hatten ihre Lager unter einem stämmigen Baum aufgeschlagen. Dicht beieinander hatten sie sich in ihre Felle und Decken gerollt und schliefen schon. Der Nygh hatte die Wache, aber zumindest der Jäger schien sehr diszipliniert zu sein. Wenn er dies doch nur über sich selbst behaupten könnte. Er war wach wenn er schlafen sollte und wenn es zur Wache ging, überkam ihn die Müdigkeit. Dieses ganze Abenteurerleben war so anders als … ja als was? Als sein eigentliches Leben? War er tatsächlich nur ein Barde, der mit leichtgängigen Liedchen um die Aufmerksamkeit von ressourcenstarken Höflingen buhlte? Der Gedanke ärgerte ihn und er schob Tal in eine andere Position, um mehr Platz für sich selbst zu haben.

Als er schließlich einige Stunden später von Ughtred zur Wache geweckt wurde, lag die Hexe quer über ihm.

 

Zwei weitere Tage vergingen im Wald und die Reisegruppe und die Lopen gewöhnten sich aneinander. Am dritten Tag, kurz vor der nachmittäglichen Pause, kam der Tross plötzlich ins Stocken. Wedelohr hob den Kopf und gab ein warnendes Wimmern von sich und Snyirath D`Fenur machte ein Zeichen, dass allen bedeutete, still zu sein. Sofort war Kyon von seiner Lope herunter und hob die Hand. Sein Kriegsbogen entfaltete sich mit einem Klacken und alle sahen ihn böse an.

Dann erfüllte lautes Knurren und ein heiseres Bellen den Wald.

Snyirath flüsterte: »Arwölfe. Wir sind in ihrem Revier.«

Tat und Ughtred sahen beide gleichzeitig Kyon an. Doch dieser zögerte nicht und hob in seiner mittlerweile typischen Geste die Faust. Der Jäger sah ihn fragend an aber Ughtred flüsterte schnell: »Es bedeutet, anhalten, der Führer muss denken!«

Kyon lauschte in den Wind. Argol Fe und Hiyween standen im Westen über den Baumwipfeln, aber sie waren nur noch matt leuchtende Bälle, die kaum noch Schatten warfen. Das Unterholz war dicht, aber im Süden konnte man immer wieder in die unteren Lagen Kisadmurs blicken. Unten in dem weiten, schönen Tal wandten sich Flüsse zwischen einsamen Hügeln und den endlosen Marschen des Plagensumpfes. Als die Tagesschwestern zögernd sanken, stieg ein dünner Nebel aus den Sümpfen auf.

»Sie sind ganz nah«, sagte Snyirath, aber Kyon machte eine zornige Handbewegung, die ihm zum Schweigen brach. Langsam, wie eine Waldkatze kroch Zoraiyet neben ihn und rieb ihren Kopf an seinem Oberschenkel.

Er sog noch einmal die Luft ein, dann war der erste Wolf zwischen den Bäumen zu sehen. Das Tier maß wenigstens zwei Meter vom Boden zu seinem Rücken und seine gebogenen Stoßzähne waren länger als Kyons Arme. Der Arwolf senkte den Kopf, schnupperte am Boden und schrammte dann mit einem der Stoßzähne an der Rinde eines Baumes entlang. Er war etwa dreißig Schritte von der Gruppe entfernt und die Lopen wurden von Sekunde zu Sekunde nervöser. Arwölfe jagten in Rudeln von wenigstens fünf Individuen und tatsächlich trat ein Stück weiter ein Weibchen zwischen Bäumen und einem abgebrochenen Felsen hervor. Sie war kleiner als der Rüde, sah aber fast noch gefährlicher aus, denn sie war schlank und kräftig und ihr Blick sprach von Hunger und Gier.

Doch gerade als Kyon eine Entscheidung gefällt hatte, spürte er die Erschütterung von etwas wirklich Großem im Waldboden und hinter dem weiblichen Arwolf betrat das größte Raubtier die Szene, dass Kyon je zu Gesicht bekommen hatte. Allein der Kopf des Monsters war größer als der Brustkorb seiner Gefährtin. Seine Stoßzähne waren beinlang und hatten den Durchmesser von Kyons Oberschenkeln. Das gigantische Alphatier, denn dies musste er sein, der Herr des Waldes, hob seinen gewaltigen, zottigen Kopf und gab ein Knurren von sich, dass allen die Mägen zusammenzog. Es war eine Aussage: dieser Teil des Waldes gehört mir allein!

Kyon nickte zustimmend, dann öffnete er seinen Geist, griff in die Membran und zog seinen sphärischen Begleiter in die Realität. Als dünne Nebelschwaden materialisierte sich ein grauer, durchsichtiger Wolf neben dem Smavari und gemeinsam gingen sie auf die Arwölfe zu. Fliehe nie, kommuniziere, sprich ihre Sprache. Kyon wünschte sich, er wäre in der Lage die Sprache der Arwölfe wirklich zu sprechen, so wie Tal, aber er war einer von ihnen, das musste genügen.

Als er sich den Tieren näherte, kamen zwei weitere von ihnen in Sicht und es war klar, dass eine kämpferische Auseinandersetzung Kyons Ende bedeuten würde. Diesen Wesen hatte er nichts Physisches entgegenzusetzen.

Der Alpha senkte den Kopf und zog die Lefzen hoch. Er zeigte sein unglaubliches Gebiss. Dampf stieg aus seinem Rachen in die kalte Abendluft auf. Seine Augen sagten: meine Regeln oder der Tod!

Kyon senkte den Blick und sein psionischer Begleiter umgab ihn mit der Aura der Waldwölfe. Bitte, König des Waldes, erhöre meine Bitte. Wir erheben keinen Anspruch auf dein Reich. Lass uns ziehen, nimm dein Mahl aus deinem Land. Lass uns ziehen.

Als dies sagte Kyon nicht wirklich. Er sprach keine smavarischen Worte aus und vollführte auch keine Handbewegungen. Es war seine Haltung, sein ganzes Verhalten und seine ihm eigene Art. Doch er sagte noch viel mehr. Er sagte auch: ich bin der Mannzahn, Smavari, Beherrscher dieser Welt, in der euer Wald nur ein geringer Teil ist und ich bin Zerstörer, Mörder und Vernichter – seht Draiyn Andiled, war dieses Land nicht eins ein Wald wie der eure? Seht es euch an, dies geschieht mit jenen, die sich gegen die Silberwölfe stellen.

Der große Arwolf schüttelte seinen Kopf und zerstob dabei mit seinen Stoßzähnen einen dünnen Baum. Rinde, Staub und Dreck erfüllten die Luft und einen Augenblick dachte Kyon, es wäre vorbei. Die Aktion wäre die optimale Ablenkung für einen alles vernichtenden Angriff gewesen und Kyon schloss mit seinem Leben ab. Doch dann hob der Riese den Schädel und knurrte abfällig. Zerstörer oder nicht, dein Fleisch ist dünn und deine Muskeln schwach, ich bin hier dein Alpha.

Kyon nickte freundlich und senkte seinen Blick noch tiefer. Er und sein Psiwolf gaben ihre Nacken preis und als er vorsichtig wieder aufsah, zogen sich die Arwölfe langsam in die Wälder zurück. Sie würden nicht weit sein, würden ihr Revier beschützen, aber sie machten eine Ausnahme. Die Silberwölfe und ihr seltsames Rudel durften passieren – jetzt, gleich.

 

Am selben Abend lagerte die Reisegruppe an einer Steilklippe mit einem unglaublichen Blick auf das weit entfernte Flachland. Als Drawns kränkliches Licht den Süden überflutete, war sogar die Kante der Wüste zu erahnen. Ughtred hatte die Stelle als Lagerplatz vorgeschlagen und Snyirath hatte zugestimmt. Sie hatten zwar den Einflussbereich der Arwölfe noch nicht hinter sich gelassen, aber hier gab es weit und breit weder deren Losung, noch die, größerer Beutetiere. Nachdem der Nygh das Zelt für seine Silberwölfe aufgebaut hatte, kümmerte er sich mit Odugme um die Lopen. Der Phani war zwar noch nicht ganz genesen, aber er schien gute Fortschritte zu machen und konnte sogar schon ein wenig kauen. Die Prothese war stabil und schien nur noch erträglich zu schmerzen.

Kyon hatte das Zelt und dann den Nachthimmel betrachtet. Es schien trocken zu bleiben und er entschied sich für die Hängematte. Die beiden Lopenhirten suchten sich eine Sandkuhle am Waldrand als Lagerstelle aus und Snyirath bereitete ein Lagerfeuer vor. Etwas später saßen alle nahe bei den prasselnden Scheiten und unterhielten sich leise. Ab und an war in der Ferne das Heulen der Arwölfe zu hören und dann verstummten die Unterhaltungen eine Weile und es wurde still.

Irgendwann trat Zoraiyet neben Kyon und kauerte sich nieder. Sie hatte sich als erstaunlich nützlich erwiesen. Trotz ihres kindlichen Verhaltens schien sie sich bestens in der Natur auszukennen. Sie fand Pilze und Beeren, wo andere sie übersahen, und mehr als einmal fing sie mit bloßen Händen Vögel und streckte damit ihren Proviant.

Ughtred beobachtete durch das langsam niederbrennende Feuer die beiden Silberwölfe und war gespannt was passieren würde. Kyon hatte bisher kein Interesse an der Frau gezeigt. Ughtred hatte ihn als wählerisch aber durchaus aktiv kennengelernt. Hinzu kam die Egalität, die er dem Geschlecht oder gar der Spezies seiner Sexualpartner zuteil werden ließ. Er selbst fand Zoraiyet sehr schön. Ihre grazile Ebenmäßigkeit und die geradezu transparent helle Haut machten sie zu einem Lichtwesen, einer echten Smavari. Und dann war da noch ihre Abgewandtheit von der Welt. Sie sprach nur sehr selten und dann in einzelnen Worten wie man es sonst nur von Kleinkindern gewohnt war. Bei ihr hatte dieses Verhalten etwas seltsam Erhabenes. Nichts schien ihr etwas anhaben zu können. Sie lebte in einer anderen Dimension, in ihrer eigenen Welt. Obwohl Ughtred die Silberwölfinnen schön fand, fühlte er sich eher nicht zu ihnen hingezogen. Zu sehr war diesen Wesen ihre Arroganz und die Egalität allem gegenüber, dass nicht von ihrer eigenen Art war anzumerken. Zoraiyet war zwar nicht arrogant, aber dafür schien ihr alles um sie herum noch egaler zu sein, als es schon bei normalen Silberwölfen der Fall war.

Er sah stumm zu, wie Kyon sich eine Pfeife anzündete und Zoraiyet sich plötzlich auf etwas zu konzentrieren schien. Würde sie Kraft ihrer Gedanken die Pfeife zum Glimmen bringen? Diese Wesen steckten voller Überraschungen, dachte Ughtred und sah gebannt zu. Doch plötzlich veränderte sich Kyons Gesichtsausdruck und Zoraiyet schien sich zusehends zu entspannen. Dann richtete der Barde seinen Blick auf den Boden. Zoraiyet stand auf, schüttelte sich und stolzierte davon. Sie hatte direkt neben Kyon ihre Notdurft verrichtet.

Ughtred wusste nicht, was er davon halten sollte. Er musste lachen, unterdrückte aber den Impuls und gab, vor die Szene nicht mitbekommen zu haben. Demonstrativ blickte er über die Klippe hinaus und tat so, als bewundere er den Nachthimmel.

Tal hingegen, die offenbar auch zugesehen hatte, lachte und stand auf. Sie sagte nichts und ging kopfschüttelnd zu ihrem Zelt, in dem sie ja alleine nächtigen würde.

Als Ughtred seine Aufmerksamkeit wieder Kyon zuwandte, saß der Barde immer noch an derselben Stelle. Es schien dem Nygh, als könne nichts diesem sturen Mann die Ruhe rauben.

 

Zwei Reisetage später erreichten die Abenteurer eine Hügellandschaft in einer Niederung. Es war hier noch deutlich feuchter als weiter oben in den Gebirgsausläufern und wirklich alles schien von Moos überwachsen zu sein. Es war schon dunkel, als Kyon auf einen der Hügel deutete und leise sagte: »Da scheint Rauch aufzusteigen«.

Wie immer hob er die Faust und brachte damit die Lopen, die diese Geste mittlerweile kannten, zum Stehen.

Tal stieg von Wedelohr und trat neben Kyon und Ughtred, die nebeneinander geritten waren.

»Ich sehe mir das mal an. Wo ist der Rauch?« sagte sie und kniff die Augen zusammen.

Kyon konnte sich ein Grinsen nicht verwehren und wollte sicher eine Bemerkung über die schlechten Augen der Hexe zum Besten geben, aber Ughtred kam ihm zuvor und deutete zwischen den schwarzen Nadelgehölzen hindurch.

»Da drüben Frau Hexe«, flüsterte er und stieg nun ebenfalls ab.

Und auch die anderen ließen sich leise von ihren Lopen gleiten und gaben den Tieren zu verstehen, keinen Mucks von sich zu geben.

Tal hatte sich schon auf den Weg gemacht, und Kyon entfaltete langsam und für seine Verhältnisse erstaunlich leise seinen Bogen.

Aus der Distanz beobachteten sie, wie die Hexe sich um einen der niedrigen, von Gras und Moosen bewachsenen Hügel herum bewegte und dann auf eine Stelle neben sich deutete. Sie zeichnete mit den Händen ein Viereck in die Luft und deutete damit an, dass es hier ein Fenster gäbe. Unter den Hügeln schien sich eine Behausung zu befinden. Als sie sich jedoch umdrehte, stockte Kyon der Atem. Sofort hatte er einen Pfeil in der Hand und zielte auf einen der Bäume und jetzt sah es auch Ughtred. Der Baum war gar kein Baum. Er war ein knorriges Wesen von fast drei Metern Größe, dass nur wie ein Baum wirkte und sich jetzt eher zu einer Art Troll auseinanderfaltete.

Ughtred hätte beinahe geschrien, aber Tal hatte das Wesen nun auch entdeckt, doch anstatt ihr riesiges Schwert von der Schulter zu reisen, hob sie beschwichtigend die Hände und verbeugte sich vor dem Waldbewohner. Es musste der Schrat Birked sein.

Ughtred trat näher, aber Kyon gab den anderen mit einer Geste zu verstehen, dass sie mit den Lopen zurückbleiben sollten. Erst dann ging er geduckt der Hexe und dem Nygh hinterher.

Als er die beiden eingeholt hatte, sah er gerade noch, wie das große, aber sehr dürre Wesen sich müde auf den Rand des Hügels niedergelassen hatte. Seine Haut schien aus der Borke eines Baumes zu bestehen und seine Haare standen steil zum Nachthimmel hinaus und waren mit den Nadeln der Bäume durchwirkt. Die Augen des Schrates sahen bleich und tot aus. Trotzdem machte er im Grunde keinen gefährlichen Eindruck. Er sah vielmehr traurig oder zumindest verdrossen aus.

Langsam näherte sich Kyon den dreien und hörte gerade noch, wie der Schrat in gedehntem Smavarisch sagte: »Huuuuhns, die Huuuuuuhns. Niiiicht sicheeeer ooob alle daaaaaaa.«

Tal wiederholte: »Ihr wisst nicht ob all eure Huhns da sind?«

Ughtred sah Kyon an und deutete in den Wald. Nur wenige Schritte von dem größten der Hügel, an dessen Flanke der Schrat nun saß, befand sich eine Art Pferch und oben auf den behauenen Holzbrettern hockte ein Huhn mit braunem Gefieder. Kyon kniff die Augen zusammen und gewahrte weiter draußen zwischen dem schwarzen Gehölz noch mehr Huhns. Einige Schritte neben dem Pferch, durch Moos und Kletterpflanzen getarnt, gab es noch einen Pferch und dahinter einen weiteren. Er versuchte die Pferche und die Tiere zu zählen, aber im Dunkeln fiel es ihm schwer.

Unterdessen sagte Tal: »Wenn wir euch helfen eure Huhns zu zählen Herr Schrat, helft ihr dann auch uns bei unserer Reise?«

Der Schrat sah sie mit toten Augen an und kaute auf seiner holzigen Lippe, bis sie faserig aufsprang. Dann nickte er und sagte: »Iiiiihr zählen, iiiiich machee Gescheeeeeeenk.«

Tal sah Ughtred und Kyon an und deutete in den Wald. 

»Wir müssen sie einfangen, sonst bekommen wir niemals raus, wie viele es sind!« sagte sie und legte ihr Schwert und ihren Mantel ab. Dann lief sie in die Dunkelheit hinaus und versuchte eins der Federtiere zu fangen.

Kyon verzog das Gesicht und ließ den Bogen sinken. Fast wäre ihm der Kampf lieber gewesen. Doch dann legte er seine Waffe neben das Scherbenesserschwert und stapfte der Hexe hinterher.

Ughtred schüttelte den Kopf. Dann ging er zu den Lopen zurück, erklärte den beiden Hirten was sich zugetragen hatte und begab sich zu einem der Packtiere. Er suchte sich Proviant aus, den er am besten zerbröseln konnte. Erst als er genug davon in seine Umhängetasche gepackt hatte, ging er zum Schrat und seinen Gefährten zurück. Irgendwo in der Dunkelheit hörte er Tal fluchen. Wieder schüttelte er den Kopf und begab sich zu einem der Pferche. Er öffnete das Gatter aus Riedzweigen, streute eine Hand voll von dem Proviant auf den Boden und machte leise: »Puuut put put put put, puuuuuuut put put …«

 

Es stellte sich bald heraus, dass die Huhns sich gegenseitig nicht leiden konnten. Kaum hatte Tal eins der Tiere in einen Pferch gehoben und Kyon setzte ein anderes hinzu, gerieten die Tiere in streit, hacken aufeinander ein und flogen schreiend aus der oberen Öffnung der Umzäunung. Dann aber schienen andere auch ganz gut miteinander klar zu komme. Ughtred hatte mit seiner Lockmethode mehrere braune Vögel in einen der Pferche befördert und beruhigen können. Erst als er ein Graues hinzu gab, kam es zu lautem Gezeter und alle Huhns entflohen dem Pferch. Es war also offenbar tatsächlich eine Frage der Gefiederfarbe. Braune Huhns mochten keine grauen, aber mit den schwarzen schienen sie zu harmonieren. 

Ughtred teilte seine Erkenntnis mit den beiden Silberwölfen und sah Kyon an, was dieser am liebsten mit den Vögeln gemacht hätte, ganz egal welcher Farbe ihr Gefieder war.

Schließlich aber hatten sie den Bogen heraus. Sie begannen die Tiere zu sortieren und bekamen so einen Überblick über ihre Anzahl. Sie packten Huhns in Pferche, korrigierten sich und zählten und als die Tagesschwestern schon den westlichen Rand der Baumwipfel berührten sagte Tal fragend: »Ich komme genau auf einhundertvierundvierzig.«

Kyon nickte genervt, da er offenbar auf dasselbe Ergebnis gekommen war und auch Ughtred schien einverstanden zu sein. Sie lauschten. Nach dem Gegackere und dem hin und her Gerenne, war im Wald Ruhe eingekehrt. Die Huhns saßen ganz und gar zufrieden in ihren Pferchen und nur ab und an gab eines von ihnen ein leises Gackern von sich.

Ughtred zuckte mit den Schultern und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Sagen wir es ihm«, schnaufte er.

Tal nickte und ging zu dem riesigen Schrat, der wie versteinert auf einem alten Baumstamm hockte.

Sie wedelte mit der Hand vor den toten augen des Waldwesens und sagte: »Es sind 144 Huhns Herr Schrat und ihr braucht euch wohl nicht zu sorgen.«

Birked blickte auf und etwas wie Leben trat in seinen uralten Blick. »144 Huuuuhhns sind eeeees«, gab er keuchend von sich. »Iiiihhhr haaaabt guuuuut gezääääähhlt. Daaafüüühhhhr wiiiill Biiirkeeeed geeeeeben.«

»Wir wollen das Holz von Hyn Herr Schrat. Habt ihr welches?«

Der alte Waldbewohner bedauerte verneinen zu müssen, erklärte aber, er verfüge über ein Mittel, welches Lebewesen wie den Silberwölfen gestattete den Sumpf von Hyn zu betreten und auch ohne Folgeschäden wieder zu verlassen. 

»Eeeeees iiist daaaas Waaaassser deeeer Reiiiiiiiinheiiiiiit«, fügte er in seiner langsamen und gedehnten Sprache hinzu.

Tal kannte dieses Mittel nicht, nickte jedoch, denn sie wollte die Zutaten aus Hyn unbedingt und war bereit, eine Reise dorthin zu machen. Mit dem Toten Holz von Hyn würde sie ein mächtiges Rezept umsetzen können. Sie würde ein Gebräu daraus erstellen, welches sie alle stärker, schneller und sogar klüger machen könnte. Wenn die restliche Unternehmung ein Erfolg werden sollte, waren Hilfsmittel dieser Art einfach unerlässlich.

Sie verbrachten fast die ganze Nacht bei dem Wohnhügel des Schrates und ruhten sich aus. Am frühen Morgen, nahmen sie einen großen Kürbis von dem Schrat in Empfang. Er versicherte, dass man mit diesem Trank die giftigen Dämpfe von Hyn kaum spüren würde.

Sie verabschiedeten sich von Birked und führten die Lopen einige Schritte in den Wald. Dann hielten sie an, denn für die beiden Lopenhirten endete hier der Weg. Sie hatten zugesagt, die Reisenden bis zu der Unterkunft des Schrates zu führen und diese Aufgabe war erfüllt.

Vor allem Zoraiyet war es anzusehen, wie gerne sie weiter mitgegangen wäre. Um diesen Wunsch klar zu kommunizieren, hob sie ihren Rock und zeigte Kyon und Ughtred ihr Geschlecht. 

Der Nygh sah ein wenig benommen in die Dunkelheit der Bäume hinaus, aber Kyon, der wenig oder kein Mitleid mit der Frau hatte, verabschiedete sich einfach höflich und nahm keine weitere Notiz von der Sache. Snyirath D`Fenur nickte dem Sliyn zufrieden zu und tröstete sein Mündel, denn Zoraiyet hatte angefangen zu weinen. Auch Tal tröstete die große schlanke Frau und schließlich erklärte der Hirte, er und Zoraiyet würden nur zwei der Lopen für die Rückreise nach Uraiyd benötigen und die anderen in der Obhut des Sliyn belassen. Sie würden die Reisenden sicher an jedes Ziel in Kisadmur bringen.

Als Zoraiyet und Snyirath zwischen den geraden, schwarzen Stämmen der Bäume verschwanden, sah Tal zu Ughtred hinunter. Beide waren traurig und die Hexe musste sogar ihre Tränen unterdrücken. Doch schon hörten sie Kyon sagen: »Weiter, wir haben nicht den ganzen Frühling Zeit. Ich will zurück nach Shishney.«

Ughtred rieb sich über die Stirn und ging zu den Lopen. Nur Tal blieb noch einen Moment stehen und sah den Lopenhirten hinterher, doch sie waren schon in der Dunkelheit verschwunden.

 

Arunen des Moorath

Die Reise durch den Wald gestaltete sich als weit weniger beschwerlich als die nach Koresuul. Es war zwar nach wie vor recht kalt und vor allem in den Nächten kam es immer wieder zu Nieselregen oder gar stärkeren Regenfällen, aber nichts von alledem war mit den Martern der Wüste zu vergleichen. Selbst wenn die Sonnen an ihren jeweils höchsten Stellen standen, drang ihr sengendes Licht nur selten bis zum Waldboden und die Silberwölfe konnten sich problemlos mit ihren Kapuzen vor ihnen schützen. Trotzdem behielt die kleine Reisegruppe ihre gewohnte Zeiteinteilung ein. Gegen Mitternacht rasteten sie und schliefen mehrere Stunden, während immer einer von ihnen Wache hielt. Dann brachen sie auf und marschierten bis Mittags. Dazwischen legten sie nur kurze Pausen ein, doch zur Mitte eines jeden Tages bauten sie erneut ihr Lager auf und schliefen eine Weile. Ihre Nahrungsvorräte waren auf die Lopen verteilt und da die Tiere sich hier im Wald praktisch komplett autark ernähren konnten, war genug Platz für das Essen der Zweibeiner. Dazwischen reicherte Kyon ihr Essen mit der Jagd nach Kleinwild an und Ughtred und Tal fanden immer wieder essbare Pilze, Kräuter und Beeren.

Sie unterhielten sich wenig und wenn, dann besprachen sie die Inhalte des Tagebuches. Persönliches trat eher in den Hintergrund. Kyon bat Tal ihn im Umgang mit den feinstofflichen Disziplinen zu schulen und so saßen sie häufig in kurzen Pausen beisammen und meditierten über die Zwischenwelt. Meistens versorgte Ughtred in diesen Zeiten die Lopen oder versuche Odugme im Schwertkampf zu trainieren. Leider war die riesige smavarische Waffe des Phani bei weitem zu groß für den Nygh und so war es auch hier eher Tal, die als Lehrerin und Sparringspartnerin gefragt antreten musste.

 

Vier Tage und Nächte vergingen, da hob Kyon, der an der Spitze des Trupps ritt, die Hand und ballte sie zur Faust. Fast gleichzeitig rieb sich Ughtred die Stirn, bemerkte die instinktive Reaktion und ärgerte sich darüber.

Vor ihnen breitete sich ein dichtes Schilfmeer aus. Der Boden war schon vor einem Tag immer feuchter geworden und Ughtred hatte Bedenken angemeldet, ob man die sumpfigen Lande nicht lieber südlich umgehen solle. Jetzt nickte er und rutschte von seiner Lope, um die Bodenverhältnisse besser einschätzen zu können.

»Denke, vor uns liegt ein See«, sagte er mit rauer Stimme und deutete auf das Schilf. »So viel Schilf gibt es nicht ohne eine entsprechende Wasserfläche.«

Kyon lenkte seine Lope ein Stück nach Links und sagte: »Vielleicht möchte der Herr Dieb sich seinen See anschauen. Zumindest die Lopen könnten Wasser brauchen.«

»Und ihr ein Bad«, knurrte der Nygh unhörbar. Er begriff nicht, wie ein Volk sich selbst als das edelste und elitärste der ganzen Welt betrachten konnte und es dann fertig brachte, jegliche Hygiene vermissen zu lassen. Er hatte die Silberwölfe beobachtet. Wenn sie sich wuschen, dann träufelten sie einige Tropfen Wasser hinter die Ohren und rieben sich das Gesicht mit den feuchten Händen ab. Fertig, sauber, nach Rosen duftender Silberwolf. Er schüttelte den Kopf, beim Gedanken an das Zelt, welches er jede Nacht aufbaute und das zwischenzeitlich alles andere als nach Rosen duftete.

Er stapfte über den nassen Grund in Richtung des Schilfwaldes und versuchte möglichst keine Geräusche zu machen, aber natürlich verursachten seine Beinlinge auf dem nassen, morastigen Boden schmatzende Laute.

Am Wasser angekommen, versuchte er, die Größe des Sees einzuschätzen. Auf der Kritallkarte war der See ein kleiner blauer Fleck, aber es war schon nach dem Maßstab ersichtlich gewesen, dass dieses Gewässer gigantisch sein musste. Und wirklich, es lag ein leichter Nebel über dem grünen Wasser und es war ganz und gar unmöglich, ein gegenüberliegendes Ufer oder auch nur die Küstenlinie zu seiner Rechten auszumachen. Sie mussten sich zum Glück ziemlich südlich des Sees befinden, denn hier, wo er stand, zog sich das Ufer nach Südwesten und bot mehrere Einstiege zum Wasser, die auch die Lopen nutzen konnten. 

Er stand noch eine Weile da, dann erleichterte er sich und ging zu den anderen zurück. Wie fast immer, seit er mit den Silberwölfen unterwegs war, hatte er ein ungutes Gefühl, immer dann, wenn sich ein Landschaftsmerkmal änderte oder ein neuer Reiseabschnitt begann. Aber wer hätte es ihm verdenken können? Allein was dem armen Odugme widerfahren war, konnte man als Katastrophe bezeichnen und Ughtred war immer wieder erstaunt, dass er bisher immer mit Kratzern davongekommen war.

Bei den anderen berichtete er, wie er die Lage des Sees einschätzte und dass er zuerst einmal die Lopen zu tränken gedachte. Die Reiseroute sah er im Südwesten. Um den See im Norden zu umrunden wurden sie viele viele Tage brauchen.

Kyon war einverstanden und Tal hatte nicht richtig zugehört. So bewegten sie sich ein Stück am Schilfwald entlang, bis sie eine offene Stelle fanden, an der sie die Lopen ans Wasser lassen konnten. Die Tiere tranken und Ughtred regte an, Rast zu machen und die Gelegenheit zu nutzen, sich ausgiebig zu waschen. Letzteres machte er dann auch und Odugme tat es ihm gleich. Die Silberwölfe hingegen beließen es bei ihrer üblichen Katzenwäsche.

Einige Zeit später, Ughtred und Kyon und der Phani schliefen und Tal hielt Wache, blitzte plötzlich etwas im See auf. Tal erhob sich leise und machte ein paar Schritte in Richtung des Ufers, aber sie konnte nicht sagen, was dieses Licht an der Wasseroberfläche verursachte. Sie überlegte einen Moment und wollte sich keine Blöße geben. Kyon hatte sie mehr als einmal ihrer schlechten Augen wegen aufgezogen und sie musste zugeben, dass seine Spitzen sie mehr ärgerten, als sie es zulassen sollte. Trotzdem ging sie zu den Schlafenden zurück und stieß den Barden mit der Fußspitze an.

»Was?«

»Im Wasser blitzt etwas.« Tal streckte sich und besah sich Kyon. Es hatte geregnet und dann zumindest kam er zu ihr ins Zelt. Er war nackt und schön. Warum schlief er nicht mit ihr? Sie wusste, dass er in North verliebt gewesen war. Er mochte Männer. Aber sie wusste auch, dass er, seit sie ihn kannte, auch in verschiedenen Situationen Frauen gehabt hatte. Ihre Frisur hatte sie aufgebessert und ansonsten war sie ja wohl auch ganz passabel. Sie war weder in ihn verliebt, noch hatte sie seine Zuwendung sonderlich nötig, aber sie hätte dennoch gerne gewusst, warum bei allen Asan er sein Ding in eine Droidin gesteckt hätte, es aber nicht bei ihr tat. 

»Was blitzt«, holte seine Stimme sie aus ihren Gedanken. Ach richtig, da war ja wieder einmal etwas Seltsames.

Sie erzählte ihm, was sie gesehen hatte und sah seinem Gesicht an, dass er gleich wieder etwas über ihre schlechten Augen sagen würde.

»Geht es nicht etwas genauer?«

Sie grunzte und wandte sich ab. Ughtred war von allein aufgewacht und zog sich gerade seinen Wams über. Der Nygh war wenigstens ein vernünftiges Wesen und hatte nicht den Geist eines störrischen Zackenhorns.

Sie ging zu ihm und erzählte ihm ebenfalls – freundlich – von dem Blitzen im See und dann ging sie mit wiegenden Schritten zum Ufer zurück.

Es dauerte nur eine Minute, bis auch Ughtred zum See kam. Er rieb sich die Stirn und beschattete dann seine Augen, um besser sehen zu können.

»Da sind Leute im Wasser«, sagte Kyon hinter ihnen und ließ das vertraute Klacken seines Bogen hören.

Er kniff die Augen zusammen und fügte hinzu: »Es sind vier, ein Mädchen und drei Männer.«

»Wie wollt ihr das erkennen?« fragte Tal schnippig und er antwortete indem er ihre Stimme nachahmte: »Weil eine der Gestalten Titten hat werte Hexe.«

Tal hatte nicht einmal sehen können, dass da überhaupt Personen waren. Sie hatte ihre Aussage gar nicht auf das angenommene Geschlecht bezogen. Ein wenig beschämt blickte sie an sich herunter und murrte: »Und was machen sie?«

Kyon wollte etwas erwidern, aber Ughtred kam ihm zuvor: »Das Mädchen winkt uns zu. Sicher eine Falle.«

»Garantiert«, sagte Kyon und ließ einen Pfeil auf der Bogensehne erscheinen.

Tal konnte immer noch nichts erkennen. Sie räusperte sich und sagte dann: »Vielleicht sind sie auch freundlich.«

Sie diskutierten noch einen Moment, entschieden sich dann aber dafür einfach weiter zu ziehen. Wer die Leute im See auch immer waren, sie würden sicher alleine klar kommen und es war nicht notwendig, weitere Gefahren einzugehen.

So holten sie die trinkenden Lopen zusammen und bauten ihr Lager ab.

 

Einige Stunden Später, die Umgebung wurde zunehmend dunkler, kamen sie erneut an das Ufer des riesigen Sees. Ughtred studierte ihre Karte. Der Moorath, so der Name des Gewässers, weitete sich zweifellos noch viele Tagesreisen nach Westen aus. Er versuchte in etwa festzulegen, wo am Südufer sie sich gerade befanden, aber das war schwer zu sagen. Der winzige blaue Fleck auf der Kristallkarte hatte nichts mit der gigantischen Realität zu tun. 

Plötzlich hörte er schon wieder das Klacken von Kyons Kriegsbogen und seine Hand glitt unwillkürlich zu einem seiner Wurfbeile im Gürtel.

Er suchte in den Schatten nach Tals Silhouette und sah sie vom Ufer in Richtung Lopen laufen. Sie hatte nichts an und wollte sicher ihre Notdurft verrichten, als Kyon seine Waffe gezogen hatte. Beim Lager bückte sie sich und hob das riesige Schwert ihres Bruders von dessen Sarg.

Das sah nicht gut aus.

»Sie haben Speere«, hörte er die Hexe zischen.

Er zog seine beiden Wurfäxte und machte sich kampfbereit. »Hobgoblins?« fragte er.

Kyon schüttelte den Kopf. Dann rief er: »Es sind die vier von vorhin.«

Gemeinsam gingen sie ans Ufer des Sees. Die vier Gestalten waren weit draußen im Wasser. Selbst wenn sie einen Speer aus dem Wasser heraus schleudern könnten, wäre es ein Leichtes gewesen, diesem auszuweichen. Doch die Seebewohner machten keine Anstalten ihre Waffen zu werfen. Stattdessen schienen sie zu beraten und kamen dabei langsam näher. Als sie in Waffenreichweite waren, hob Kyon den Bogen, aber die Frau unter ihnen hob beschwichtigend die Hand und sagte etwas in einer fremdartig anmutenden, schnarrenden Sprache. Tal horchte auf. 

»Das ist Baves, ich kann sie verstehen. Es sind Arunen. Sie sagt, dass sie Hilfe brauchen.«

Tals Mentorin im Hexenzirkel hatte ihr von den Arunen erzählt und ihr die Grundlage ihrer Sprache beigebracht. Baves war dem SMavarischen verwandt. Tal hatte nie verstanden, warum Akkatha ihr aufgetragen hatte diese tote Sprache zu erlernen. Jetzt kam es ihr fast so vor, als ob die Hexenkönigin vorhergesehen hatte, das ihre Schülerin eines Tages auf Arunen träfe.

Die Arunen waren Eltwesen wie die Smavari und gehörten wie sie zu den ältesten Wesen des Universums. Zumindest lernten dies so die Hexen des Doppelmondes. Sie waren halb SMavari, halb Fisch, etwas muskulöser und auf jeden Fall deutlich wilder und urtümlicher als die Silberwölfe. Ihre Zähne waren gleichmäßig und zackig spitz und im Gegensatz zu den Smavari hatten sie nach unten ausgerichtete lange Ohren. 

Die Frau, die offenbar die Anführerin der vier Arunen war, stellte sich als Bleik, die Tochter der Anführerin ihres Stammes, vor. Die anderen drei hießen Arnun, Hanuve und Maran.

Für Tal hatte Bleik etwas seltsames an sich. Arunen hatten grünlich blaue Haut und waren tierhaft und kamen schließlich mit Fischschwänzen daher und aus ihrer Sicht waren sie zwar durchaus anmutig, aber nicht unbedingt anregend. Aber als sie Kyons und Ughtreds Blicke sah, wurde ihr klar, dass die beiden Männer ganz eindeutig anders über das Fischmädchen dachten.

War ja klar, dachte sie, riss sich aber zusammen und fragte Bleik, bei was genau ihr Stamm Hilfe benötigte. Das Mädchen antwortete stockend und versuchte so deutlich wie möglich zu sprechen. Arunen konnten sich an Land nur schleppend fortbewegen und Probleme in dieser Umgebung waren für sie offenbar nur bedingt lösbar. Seit einiger Zeit schien es eine Stelle im See zu geben, an der es zu schlimmen Verunreinigungen kam und diese schienen das Wasser und seine Bewohner zu vergiften. Die Quelle dieses Übels befand sich aber offenbar an Land.

Tal übersetzte so gut es ging und erklärte Kyon und Ughtred, wie schwierig es den Arunen fällt, an Land zu agieren. Sie ging auch nicht mehr davon aus, dass die Wasserbewohner eine Gefahr für ihre Unternehmung darstellten. Man könne sich die Stelle, um die es ging, ja einfach einmal ansehen, denn der Ort läge ohnehin auf ihrem Weg.

Kyon schüttelte genervt den Kopf und es war ihm anzusehen, dass er am liebsten einfach weitergeritten wäre. Dann aber glitt sein Blick zurück zu der schönen Arune und verweilte einen Moment auf ihren wohlgeformten Brüsten. Er nickte unverhohlen und sagte: »Gut gut, sehen wir uns die Sache an.«

Tal erklärte den Arunen, dass man sich dazu entschlossen hätte, ihnen zu helfen, worauf Bleik in die mit Schwimmhäuten versehenen Hände klatschte und nach Nordosten deutete. Dort befände sich das Lager ihres Stammes und man könne sich dort an einer unbewachsenen Stelle am Ufer treffen, die mitgebrachten Tiere essen und das weitere Vorgehen planen.

Tal stockte einen Moment. Dann lächelte sie müde. Zum Glück brauchte sie nicht lange, den Arunen das Missverständnis zu erklären und so die Lopen zu retten. Ansonsten blieb es dabei: man würde weiter ziehen und sich beim Lager des Stammes treffen.

Das Lager gestaltete sich als größer als erwartet. Auf Holzstangen aufgezogene Tücher deren Zusammensetzung nicht erkennbar war, bildeten mehrere Baldachine unter denen Frauen mit Kindern Spielten. Wenigstens dreißig junge Frauen und Männer waren mit Speeren und seltsam gebogenen Dolchen aus einem chitinartigen Material bewaffnet. Sie machten zwar im Augenblick keinen gefährlichen Eindruck, wirkten aber entschlossen und durchaus in der Lage ihren Stamm zu beschützen. Es war offensichtlich, dass die Frauen hier mehr zu sagen hatten als die Männer, was aber offenbar nicht an der Harmonie der Gruppe zu nagen schien. Im Gegenteil, die männlichen Arunen schienen sich durchaus in Anerkennung zu suhlen, taten dabei aber ohne zu zögern, was die Frauen ihnen auftrugen. Sie waren noch deutlicher als bei den Smavari oder Nyghs stärker als ihre Frauen, aber ihre körperliche Stärke schien sie in keiner Weis über die Klugheit ihrer Frauen zu erheben.

Bleik sah ihrer Mutter Etivel, der Stammesführerin, wirklich ähnlich, aber der älteren Kriegerin fehlte die jugendliche Grazie ihrer Tochter. Sie war schön wie die Natur des Waldsees und strahlte eine geradezu übernatürliche Stärke aus. Freundlich lud sie die Gäste unter ihren Sonnenschutz ein. Zwei der jungen Männer und einer der älteren brachten Schalen aus harten Blättern mit Beeren und rohen Fischbrocken herbei. Dann kamen weitere Frauen und Männer hinzu und brachten ebenfalls Nahrung mit. Alle griffen zu, tauschten und aßen schließlich gemeinsam. Ihre spitzen Fischzähne gruben sich in das rohe Fleisch und zeichneten sie als gefährliche Fresser aus.

Tal ließ die Arunen keine Sekunde aus den Augen. Sie hatte schlimme Geschichten über diese Wesen gehört. Ihre Sprache zu verstehen würde nichts helfen wenn sie ihr das Fleisch von den Knochen nagten. Männer fressende Seebestien, die nichts als Knochen und umherirrende Seelen übrig ließen.

Kyon fragte nach dem Problem, der verseuchten Stelle im See, aber die Matriarchin schüttelte ihr langes Farnhaar und erklärte, zuerst wolle man ausruhen und die Arunen müssten ihre Gäste eine Weile beobachten, um zu entscheiden, ob man sie nicht doch noch verspeisen sollte.

Humor hatten sie also auch noch, dachte Tal und stand auf, um sich die Beine zu vertreten. Die lange Reise hatte sie rastlos werden lassen. Früher wäre ihr der Weg von ihrer Kammer zur alchemistischen Küche zu viel gewesen und sie erinnerte sich, einmal zu ihrer Meisterin gesagt zu haben, sie hätte am liebsten direkt neben ihrem Bett eine Kühlgrube und ein Klosett. Jetzt schaffte sie es kaum noch mehr als zehn Minuten still sitzen. Reisen war Bewegung und sie hatte mittlerweile gelernt, dass sich der Stillstand wie eine halbseitige Version des Siechtums anfühlte. Ihr Blick wanderte zu den Lopen und dem Sarg, in dem ihr Bruder ruhte. Sie seufzte.

Etwas weiter spielte Ughtred am Ufer mit einer Gruppe von Kindern. Als versuche er, sie zu fangen, ließ der die kleinen glitschigen Wesen durch seine starken Arme gleiten, packte ab und an eins von ihnen und warf es in hohem Bogen in den See zurück. Sie quiekten und lachten lauthals und bissen ihn unter Wasser in die Waden, dass es sogar Blutete. Er konnte gut mit Kindern umgehen. Tal wunderte sich, warum er hier war. Er hätte in Koresuul mit eigenen Kindern spielen können. 

Als sie zu Kyon hinüber sah, entstand ein Kloß in ihrem Hals. Er saß auf einem Baumstamm, der ins Wasser ragte und ein schöner junger Mann massierte ihm die nackten Füße. Kyon lächelte den Arunen an und obwohl die beiden sich offenbar nicht unterhalten konnten, schienen sie sich dennoch auf eine andere, einfachere Art zu verstehen. Sie wandte sich ab und ging langsam zu Odugme hinüber. Er saß am Ufer und blickte regungslos auf den See hinaus. Als sie bei ihm ankam sah er auf und erwartete ihre Befehle, doch sie sagte nichts, zog sich aus und setzte sich neben ihn. Dann rutschte sie vor ihn und ließ sich ihre Haare waschen. Die Hände des Riesen waren sanft und geschult in solchen Dingen und Odugme schien sie gerne zu verwöhnen. Doch er war ein Sklave und Tal wusste durchaus, dass er gar nicht anders konnte als ihr zu dienen. Sie wollte aber nicht bedient werden. Sie wollte etwas anderes.

 

Die Sonnen war untergegangen und Ughtred hatte Holz gesammelt und ein kleines Feuerchen entfacht. Langsam kamen die Arunen wieder zusammen. Etivel trug nun eine Art Krone aus Tang, Knochen und Fischhaut. Sie beschrieb die Situation. Seit zwei Jahreszeiten floss ein Stück weiter westlich etwas Giftiges in den Moorath. Pflanzen und Tiere wurden krank und gingen schließlich ein. Die Arunen hatten das Ufer untersucht und waren sogar ein Stück an Land gerobbt. Das giftige Wasser kam mit einem kleinen Bach aus der Dunkelheit des Waldes. Es hatte eine Schneise des Todes hinterlassen. Überall hatten sich die Bäume und das Unterholz rötlich gefärbt, die Luft roch nach Galle und etwas unbekannt Scharfem und überall lagen tote Tiere am Boden. Doch die Seebewohner waren nicht weit genug gekommen, um die Quelle des Übels zu finden. Sie konnten sich nicht weit von ihrem nassen Zuhause entfernen. Diejenigen, die an der Expedition teilgenommen hatten, waren krank geworden und es hatte eine ganze Weile gedauert, entsprechende Antidote zu finden, um sie zu heilen.

Kyon fragte, was die Anführerin vermutete, doch diese konnte oder wollte keine Mutmaßungen anstellen. Was auch immer dort hinten in der Finsternis des Waldes lauerte, es war gefährlich und tötete das Land und den See.

Er nahm einen Schluck des Beerensafts, welches die Arunen ausschenkten und gab zu verstehen, dass er und seine Mitreisenden beim Aufgang der Tagesschwestern aufbrechen würden, um im Wald nach dem Rechten zu sehen. Die Lopen würden sie hier am Ufer lassen. Er gehe davon aus, dass die Vierbeiner nicht von den Arunen gegessen würden.

Die Moorathi überlegten einen Moment, legten die schönen Köpfe schief, hoben fragend die Ohren und machten Schnuten. Dann lachten sie alle und versprachen artig zu sein und die Tiere wie ihre Lieblingsfische zu beschützen.

Kyon war alles andere als Glücklich über den Humor der Seebewohner, aber er wusste, dass man ihnen zumindest in der aktuellen Situation vertrauen konnte. Schließlich wollten sie etwas von ihren landbewohnenden Gästen und waren nicht dumm.

 

Die Sträucher am Rande des Waldes knospten und noch erhellten die Strahlen der Sonnen den Waldboden. Ein bitterer Ostwind wehte durch das Gesträuch und pfiff den Wanderern um die Ohren. Das Wetter hatte sich ein wenig verschlechtert, aber das spielte keine Rolle. Sie waren schließlich nicht zum Spaß hierher aufgebrochen.

Kurze Zeit später färbte sich der Boden rötlich und viele der Sträucher waren verdorrt und wiesen matschig nass herunterhängende Blätter auf. Ughtred deutete auf eine Stelle am Boden. Eine Kröte lag auf dem Rücken und ihr aufgedunsener Bauch wimmelte von Maden. Die Augen waren rote Klumpen, die weit aus dem Schädel hervortraten. Tal kauerte sich neben das Tier und berührte es mit einem Stöckchen.

»Ich weiß nicht was für ein Gift die Kröte getötet hat, aber es ist nichts aus meinem Repertoire.«

Sie nahm einen Klumpen der schleimigen Blätter auf und roch daran, ließ ihn aber sofort wieder fallen.

»Bei allen Asan, das Zeug ist wirklich extrem«, zischte sie.

Ughtred roch auch an den verdorrten Blättern und berührte sie dann mit der Zunge. Als Tal dies sah, wollte sie ihn warnen, aber dann erinnerte sie sich, dass der Nygh ja immun gegen die meisten Umweltgifte war. Aber musste er das Zeug ablecken?

Ughtred sah zu ihr herüber und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Er wusste natürlich auch nicht, um was es sich hier handelte, aber auf ihn schien es sich nicht auszuwirken.

Kyon ließ seinen Bogen aus dem Köcher springen. Er war vorsichtiger geworden und wollte sicher gehen, nicht in eine Falle zu tappen. Aus seiner Sicht konnte für diese Sache hier nur ein Amytor oder zumindest etwas Vergleichbares verantwortlich sein. In jedem Fall würde er nicht zögern, seine übelsten Pfeile zu nutzen, denn er hatte kein Interesse daran, wie die tote Kröte zu enden.

Zu viert schlichen sie durch den Wald. Nach nur wenigen Schritten hörte sie das leise Plätschern des Baches, von dem die Fischleute gesprochen hatten. Der Boden machte eine immer verdorbeneren Eindruck, je näher sie dem Gewässer kamen. Die Pflanzen waren zu rötlichem Matsch geworden und selbst die dem Bach zugewandten Baumseiten hatten sich rot gefärbt und ihre Rinde verloren. Überall lagen tote Amphibien, Schlangen und Vögel am Boden. Auf die Insekten schien sich das Gift nicht annähernd so verheerend auszuwirken. Sie taumelten um die Kadaver der anderen Tiere und labten sich an deren Aas. Kaum waren die vier aus dem Unterholz in den lichteren Bereich des Baches getreten, erhoben sich Wolken von geflügelten Wesen und umschwirrten die Störenfriede. 

Kyon deutete den Bach hinauf, der in einer Rechtsbiegung im Wald verschwand. Wie eine riesige rote Wunde zog sich das vergiftete Areal nach Südosten. Je weiter sie gingen, desto toter wirkte das Areal. Selbst Insekten schien es hier nicht mehr zu geben. Überall lagen umgestürzte verfaulte Bäume im Unterholz. Die Luft stank nach Moder, Gift und Galle.

Plötzlich war ein lautes und seltsam klagendes Geräusch aus der Richtung aus der der Bach kam zu hören. Es schmerzte in den Ohren und hatte etwas geisterhaft Unwirkliches. Das Stöhnen wiederholte sich noch einige Male, verstummte dann aber. So leise wie möglich bewegten sich die vier Reisenden den Bach hinauf und duckten sich, als sie an die Biegung gelangten. Kyon machte sein Faustzeichen. Der deutete auf Tal und dann auf die linke Seite des Bachlaufes. Ughtred und Odugme schickte er vor sich auf der rechten Seite weiter. Er selbst ging den beiden geduckt hinterher und legte vorsorglich einen Pfeil ein, während er einen zweiten in der Hand behielt.

Als er aufsah, stockte ihm der Atem. Vor ihm weitete sich der vergiftete Wald zu einer Art roten Lichtung aus Matsch und verdorbenem Holz. In der Mitte dieses Chaos aber kauerte ein mit struppigem Fell bedeckter Fleischberg. Das über sieben Meter durchmessende Wesen war fast kugelrund und hatte einen flachen Kopf, welcher in einen kurzen Rüssel und zwei knöcherne Stoßzähne auslief. Entzündete Augen blickten trüb auf die Besucher. Es stank erbärmlich und sein Ausfluss war eindeutig die Quelle der Vergiftung des Landes.

Kyon wollte einen Befehl ausstoßen, doch da hatte Tal schon das riesige geschwungene Schwert ihres Bruders über den Kopf gehoben und stürmte mit einem Hexenfluch auf den Amytoren zu. Ughtred, der eine Sekunde länger gezögert hatte, erwachte aus seiner Starre und stürmte nun ebenfalls los und Kyon schluckte seine Befehle herunter und hob stattdessen den Kriegsbogen und entließ fast ohne zu zielen einen seiner Pfeile. Das Ding war so gewaltig, er konnte praktisch nicht vorbeischießen.

Der Pfeil grub sich knapp unterhalb eines der Sehorgane in das stinkende Fell des krankhaften Wesens, doch sein zweites Geschoss bohrte sich mitten ins Auge und explodierte dort in einem Feuerregen. Er hatte nicht mehr viele Feuer- oder Explosionsgeschosse aber er wollte diesen Amytoren so schnell wie möglich vernichten und kein Risiko eingehen.

Leider schien der Verlust des Auges der Bestie weniger auszumachen, als er gehofft hatte. Tal schlug wie eine Berserkerin auf das Wesen ein, und es schien, als wolle sie eins der langen Vorderbeine mit grober Gewalt abhacken, aber als auf der anderen Seite Ughtred mit der Axt und der Phani mit seinem Langschwert zuschlugen, machte der Amytor eine ruckhafte Bewegung und traf die Hexe unglücklich mit einem seiner Stoßzähne. Sie wurde vom Boden gehoben und flog in den Matsch. Doch sie war zäher, als sie aussah und rollte sich ab. Über und über mit dem schleimigen Blut des Monsters besudelt, richtete sie sich auf, hob erneut ihre kreuzförmige Waffe und stürmte erneut in den Kampf. 

Pfeil um Pfeil schoss Kyon auf das Gesicht ihres Gegners und Ughtred hackte immer wieder nach der mittlerweile blind umhertappenden Pfote. Neben ihm stach Odugme sein Schwert in die Flanke der Bestie und drehte die Klinge, um eine möglichst große Öffnung zu schaffen. 

Der Kampf dauerte lang und verlangte Kyon, Tal, Ughtred und Odugme alles ab. Zwei Mal wurde der Nygh hart von einer der gigantischen Pfoten des schleimigen Amytoren getroffen und durch die Luft geschleudert und auch der Phani ging nicht ohne Verletzungen aus, aber Kyons Pfeile, die beißenden Smavariklingen und Ughtreds scharfe Axt fraßen, stachen und hackten immer wieder in das wässrige, wunde Fleisch, bis das riesige Ding endlich stöhnend in sich zusammensackte. Stinkende Gase und eine schier unglaubliche Menge verseuchten Blutes entwichen aus dem struppigen Körper, bis das grauenerregende Gesicht schließlich zu Boden sank und im Schleim seiner eigenen Ausflüsse blubbernd den Geist aufgab. 

Ughtred hackte ein letztes Mal erschöpft auf die Flanke des Toten Wesens ein und Tal zog das Kreuzschwert aus dem Kadaver um es hoch über den Kopf zu schwingen, aber Kyon brüllte über ihr Wüten hinweg: »Tot … Es ist tot!«

Da kehrte Ruhe an diesem scheußlichen Ort ein. Eine seltsame, nach Unrat und Tod stinkende Stille senkte sich über die Kuhle mit dem toten Amytoren. Leise entstand ein Sog und plötzlich riss die Realität dicht neben Kyon und entzündete die Luft in magentafarbenem Licht. Teile des toten Wesens wurden von diesem Subraum riss angezogen und etwas traf Kyon und schleuderte ihn gegen einen der Morschen Bäume. Ughtred schrie und Tal rannte los, aber das Subraumchaos um den Amytoren machte ein Vorankommen praktisch unmöglich. Die junge Hexe ließ ihr Schwert fallen und stemmte sich gegen den Strom der elementaren Kräfte, schaffte es aber nicht, Kyon zu erreichen. Ein Ast hatte ihn getroffen und an der Seite durchbohrt. Er wand sich im Schmerz und dann lag er plötzlich still als um ihn herum das Wüten der Anderwelt große Teile ihres Dieners in sich aufsog.

Und dann, ganz plötzlich, war wieder das Wispern des Windes in den Schilfrohren zu hören. Es war vorbei. Der durch den Tod des Amytoren verursachte Riss zur Anderwelt hatte sich wie eine alte Wunde geschossen und nur den Schleim und Gestank des Kadavers zurückgelassen. Das eigentliche Schrecken, sein Geist, war fort.

Tal stürzte zu Kyon und auch Ughtred kämpfte sich durch den Dreck zu dem Barden. Dieser lag auf der Seite und keuchte. Die Wunde an seiner Seite sah böse aus und Tal wagte nicht den schmutzigen Ast herauszuziehen. Sie suchte ihre Tasche und fand sie am Rande des Monsterkraters im Schmutz. Schnell beförderte sie eine Salbe hervor und Ughtred zog das Leder von Kyons Rüstung nach oben. Der Silberwolf stöhnte vor schmerzen und rollte mit den Augen.

»Warum ich? War ich nicht weit genug weg? Warum?« fluchte er und funkelte den Nygh vorwurfsvoll an. 

Als Tal ihre Salbe aufgetragen hatte, breitete sich wohltuende Wärme in seinem Körper aus und als die Schmerzen wichen, entfernte Tal auch den Splitter aus seinem Fleisch.

Ughtred half ihm vorsichtig auf und stützte ihn, aber Kyon war gereizt und wandte sich ab.

»Was bei allen Höllen war das denn jetzt?« fragte er die Luft um sich herum, aber Tal sah zu den Überresten des Monsters hinüber bei denen Odugme stehengeblieben war und ab und an mit der Spitze seines Schwertes testete, ob der Amytor auch wirklich tot war.

Sie sagte: »Es war wie alle Amytoren irgendwie eine Art Mutation, aber ich schätze es handelte sich um etwas, dass wir Hexen Shurid`Aiydach nennen. Es ist selten … zum Glück.«

»Allerdings!« sagte Ughtred und versuchte seine Axt an dem Baum abzuwischen, gegen den der Barde geprallt war. Dann trat er zu Tal und sagte erstaunlich ruhig: »Lasst uns diesen scheußlichen Ort verlassen. Die Natur wird ihn heilen. Hier können eure Kräfte nichts mehr bewirken Frau Hexe.«

Auf ihrem Rückweg zum See sprachen sie kein Wort. Hin und wieder waren die kehligen Schreie von Wasservögeln, die instinktiv zu wissen schienen, dass der Wald nun wieder ihnen gehörte aus der Ferne zu hören. Sie kamen gut voran und Ughtred bot Kyon an ihn zu stützen, aber der sture Silberwolf lehnte natürlich ab. So begnügte der Nygh sich damit, die Tragetaschen des Bogenschützen zu übernehmen, was dieser unkommentiert zuließ.

 

Die Freude der Arunen war kaum zu beschreiben. Sie hörten sich die Geschichte um das Grauen im Wald einmal an, dann sprangen sie wie junge Wölfe am Strand herum, zappelten, glitten ins Wasser und vollführten die verrücktesten Kapriolen. Selbst die gesetzte Anführerin des kleinen Volkes zeigte sich als wilde Wassertänzerin und schrie ihre Freude in animalischer Unkontrolliertheit heraus. Es dauerte eine ganze Weile bis die Arunen sich beruhigten und wieder um ihre Retter kümmern konnten.

Dennoch waren sie wenig besorgt um Kyons Verletzung. Maran, der älteste der drei Männer aus der kleinen Gruppe um Bleik, war Heiler und untersuchte Kyon mit einer Art magischen Kristall, mit dessen Hilfe er offenbar durch Haut und Knochen in den Körper des Verletzten sehen konnte. Er drückte etwas in die Wunde und dann versuchte er eine Rippe anzuheben. Freundlich schüttelte er den Kopf und gab damit zum Ausdruck, dass die Wund heilen würde. Dennoch kümmerte sich Tal um Kyon, wusch die Wunde mehrfach aus und verabreichte ihm Hexenmedizin, um eine Entzündung oder Vergiftung auszuschließen.

Es vergingen nur wenige Stunden, da ging es dem Barden besser und er erhob sich von seinem Lager. Es war dunkel, aber die Seebewohner feierten noch am Strand. Sie hatten große Lagerfeuer errichtet, deren Spiegelungen die schwarze Seeoberfläche erhellten.

Kyon machte einige Schritte von Tals Zelt weg. Er hatte nun seit längerem nicht im Zelt übernachtet, wollte sie aber auch nicht wecken. Er sehnte sich nach Shishney, seinem Bett und den Annehmlichkeiten seiner Heimat.

Ughtred, der noch bei den Lopen gewesen war, sah mit an, wie Kyons Silhouette sich aus den Schatten ihres Lagers löste und langsam den Schilfwald hinter sich ließ. Wenige Stunden später kroch Tal aus dem kleinen Zelt und suchte nach dem Barden. Der Nygh saß am Feuer und beobachtete sie schweigsam. Als sie Kyon nicht fand, kam sie ans Feuer und blieb über Ughtred stehen. Sie hatte sich nur eine der Decken um die Schultern gelegt und er sah ihr an, dass ihr fröstelte. Ihre nackten Beine waren schmutzig und am liebsten hätte er etwas gesagt, aber dann sah er zu ihren Haaren auf und lächelte matt.

»Er ist wieder einmal gegangen«, sagte er ruhig und schob einen Ast ins Feuer. Das feuchte Holz knackte laut und Funken stiegen in den kalten Frühlingshimmel auf. Tal wandte sich in Richtung des Waldes und trat dann ein Stück vom Feuer weg. Sie bückte sich und Ughtred stand auf und kam zu ihr. Er deutete auf einen kleinen Schmutzhügel und ging hin. Als er sich bückte schüttelte er den Kopf und griff in den Sand. Er wandte sich wieder der Hexe zu und zeigte ihr ein paar Knöchelchen. Dann deutete er auf den Boden und sie versuchte zu erkennen was er ihr sagen wollte.

Als sie mit den schmalen Schultern zuckte, sagte er: »Er hat sich wieder verwandelt. Da sind kleine Wolfsspuren, die vom Lager über den Sand zum Waldrand führen. Sie ist aus ihm heraus, eindeutig. Da vorne hören die Spuren auf. Sie schwebt wieder.«

»Was werden die Arunen sagen?«

Der Nygh hob die Schultern und rieb sich über das Zeichen auf seiner Stirn. Dann brummte er leise: »Sie wissen genau, was ihr seid, Frau Hexe. Sie wissen welcher Art ihr angehört und ich denke, wir wollen gar nicht genau wissen, welcher Art sie angehören.«

Tal nickte und sagte: »Brechen wir möglichst bald auf. Ich dachte, wir müssen warten, bis er gesund ist, aber jetzt hat ja sie wieder die Führung übernommen. Sie zu suchen ist utopisch. Wir bleiben auf unserer verabredeten Route. Hoffentlich findet er uns.«

Die Verabschiedung von den Seebewohnern verlief kurz und schmerzlos. Bleik und ihre Mutter Etivel fragten nach dem Barden, beließen es aber dabei, als Tal ihnen erklärte, er wäre nicht der Typ für lange Verabschiedungen und darum schon früher aufgebrochen. Für die Arunen zählte Odugme zu ihren Gästen, also war es nicht verwunderlich, als die Anführerin ihrer Tochter bedeutete, den Helfern je einen rohen Zauberstein zu überreichen. Tal nahm die Steine mit Freuden an. Es handelte sich dabei um verschiedene Elementarsteine, die man in Shimwas oder andere Energieträger umwandeln konnte. Sie waren sehr wertvoll. Entweder würde man sie eintauschen, oder etwas noch Wertvolleres aus ihnen erschaffen. Ohne Absprache mit Ughtred verwahrte sie die Geschenke in einer ihrer Satteltaschen und verabschiedete sich nun ihrerseits von der Anführerin und ihren Leuten. Einige der Krieger hatten an Land die Wolfsspuren entdeckt und begannen, das Ufer abzusuchen. Sie hatte kein Interesse an Befragungen oder gar einem Umschwung der Laune am See.

Die Arunen hatten versprochen, die Reisegruppe mit Flößen über den See zu bringen und ihnen damit wenigstens zwei Reisetage zu ersparen.

Die Überfahrt dauerte lange, aber die Flöße waren riesig und der See hatte nur wenig Seegang. Tal und Ughtred konnten sich ausruhen und Etivel leistete ihnen mit Bleik und einigen ihrer nächsten Stammesmitgliedern Gesellschaft. Sie fragten kein einziges weiteres Mal nach Kyon. Stattdessen versuchten sie so gut es ging, Smalltalk zu betreiben oder sich einfach gegenseitig in Ruhe zu lassen. Das Wetter war schön und nur kurz wurde der Himmel von bleigrauen Wolken verdunkelt, ohne aber Regen hervorzubringen.

Als das Zielufer in Sicht war, sprangen die Arunen ins Wasser und halfen dem Stamm die Flöße zu schieben. Dann landeten sie an und die Lopen sprangen an Land. Jetzt hieß es endgültig, Lebewohl zu sagen. Tal war hin und her gerissen, wie sie nun zu den Seebewohnern stehen sollte. Sie hatten sich an die Abmachungen gehalten, hatten sie sogar belohnt, aber unter anderen Umständen, hätten sie nicht nur die Lopen, sondern auch sie selbst und ihre Gefährten gefressen. Da gab sie sich keinen Illusionen hin. Andererseits war sie eine Smavari und sie war sich sicher, in Shishney würde man für ein Kleid aus Aurunenhaut zweifelsfrei viele Ressourcen aufbieten. So waren die Bewohner dieser Welt. Fressen und gefressen werden – aber war es nicht überall so? Im Kult der Scherbenesser war es nicht unüblich, die eigenen Kinder zu opfern, um Macht und Ansehen zu erlangen. Das Volk der Smavari hatte die Quink erschaffen, um sie als Sklaven ihre Arbeit erledigen zu lassen. Darüber hinaus jedoch wurden an ihnen Experimente durchgeführt und alles von ihnen verwertet, was im täglichen Gebrauch von Nutzen sein konnte. Sie selbst war mehr als einmal dabei gewesen, als ihre Ausbilderinnen ihres Zirkels Quinksklaven zu Forschungszwecken gedemütigt und schwer verletzt hatten. Seltsam, dass sie gerade jetzt darüber nachdachte.

Ihr Blick wanderte zu Ughtred. Der Nygh war anders als die Quink. Nyghs waren stolz und stark. Quink wurden zum Dienen geschaffen. Sie wusste nicht einmal wie die Nyghs entstanden waren. Als Kind dachte sie, alle anderen Wesen wären von ihrem Volk erschaffen worden, bis sie erfuhr, dass die meisten Wesen ganz anders entstanden waren. Den Nyghs sagte man nach, von den Urtitanen abzustammen. Sie sahen gar nicht so aus. Haut und Fleisch anstelle von Stein und Feuer – Nyghs unterschieden sich zwar optisch sehr von den Smavari, aber sie ähnelten ihnen mehr als Gigantischen Wesenheiten aus Vulkanasche und Granitmuskeln.

Andererseits war sich Tal sehr sicher, dass die Nugai, die Schöpfer der Smavari, die Nyghs tatsächlich nicht erschaffen hatten. Dafür waren die kleinen Leute einfach zu bodenständig und altruistisch. Das passte einfach nicht zu ihren eigenen Urmüttern und -vätern.

Sie, Ughtred und Odugme standen am Ufer und winkten den Seebewohnern. Die Flöße entfernten sich langsam. Vom östlichen Horizont her verwandelten die Tagesschwestern die spiegelnde See in glühendes Feuer. Obwohl sie eine ganze Zeit lang auf ihrem Floß geschlafen hatte fühlte sie sich müde und auch wenn sie sich immer wieder einredete, dass Kyon sie schon finden würde, hatte sie Angst sich zu irren. Was wenn er irgendwo da draußen im Wald zu sich kam, verletzt und ohne jegliche Ausrüstung. Ihr Blick wanderte zu der Lope auf die Odugme gerade den Beutel mit Kyons Bogen lud. Er hatte nicht einmal Kleidung. Sie konnte nur hoffen, dass die Wölfin das begriff. Er würde keine drei Tage allein im Wald überleben. Sie selbst würde dies wahrscheinlich nicht. Sie sah zu Ughtred hinüber. Er untersuchte gerade den Huf einer der Lopen und schnitt einen eingeklemmten Stein heraus. Was würden sie ohne ihn machen? Abenteuer bestehen, wie einfach das klang, aber die Wildnis war mehr als ein Abenteuer. Jeder Schritt konnte hier das Ende bedeuten – zumindest für die Smavari. Der Nygh hingegen war derart robust, er wurde von einer Schlange gebissen und die Wunde wurde nicht einmal dick, er aß giftige Beeren und rülpste nicht einmal, er wurde bei absoluter Kälte nass, schlief im Freien und seine Nase färbte sich nicht einmal rot und wenn man ihn dazu brachte eine Wüste zu durchqueren tat er dies mit nacktem Oberkörper und eine Haut verbrannte nicht dabei. Vielleicht war er unter seinem Bart und dem unförmigen Rüstungsmantel, den er mit sich herum schleppte, doch aus Granit und Feuer.

 

Totes Holz von Hyn

Sie lagerten nur wenige Stunden vom Moorath entfernt auf einem kleinen Hügel. Der Boden war sandig, aber trocken und Ughtred briet Wurzeln und Pilze in einer kleinen schwarzen Eisenpfanne. Tal untersuchte Odugmes Implantate und gab ihm weitere Medizin, welche die Heilung zu einem Abschluss bringen sollte. Das Wetter war immer noch gut, aber sie hatten beschlossen, den Lopen und sich selbst noch eine Ruhepause zu gönnen. Insgeheim wussten sie aber beide, dass sie in Wahrheit hier warteten. Sie warteten und gaben Kyon die Möglichkeit aufzuholen, wenn er noch im Süden des Sees war. Im Grunde war diese Hoffnung mehr oder weniger utopisch, denn wenn er tatsächlich dort zu sich gekommen war, würde er es niemals schaffen aufzuholen. Im besten Fall würde er zu den Arunen zurückkehren und sie um Hilfe bitten. Aber morgen wollte sie mit den Lopen aufbrechen und kein Fußgänger konnte es mit ihrem schnellen Lauf aufnehmen.

 

Am Morgen zogen mehrere Gruppen von großen Vögeln über das Land und erfüllten die Luft mit ihren metallenen Schreien. Ughtred schälte sich aus seinen Decken und blickte in den Himmel. Er hob die Hand an seine Stirn, um die Augen zu überschatten, aber dann bemerkte er, dass es noch gar nicht so hell war und so vollendete er die Bewegung zu einem Winken. Die Vögel winkten mit ihren Flügeln zurück und flogen weiter in Richtung Nordost. Grüßt mir Korezuul, sagte er in Gedanken und wandte sich dann Odugme zu. Der Riese hatte es sich angewöhnt, mit Ughtred aufzustehen und zu tun, was es eben zu tun gab. Er sammelte Reisig für ein schnelles Feuer und begann schon damit, die Lopen zusammen zu rufen. Ughtred blickt kurz durch den offenen Zelteingang. Die Hexe lag nackt und verdreht in dem winzigen Raum. Sie hatte ihre Felle und Decken zu einem Knoten verwirrt und den eigenen Körper darum herum gewunden. Wie eine Schlange, dachte der Nygh. Eine Schlange mit Hüften und Brüsten. Er ging zum Feuer zurück und setzte Brühe auf.

Eine Stunde später waren sie unterwegs. Die Lopen hatten eine klare Vorstellung von der Richtung, aber auch Tal kannte sich mit diesen Dingen gut aus. Es hatte zu ihrer Ausbildung gehört, zu erlernen, wie man anhand der Sonnen, der Sterne und Zeichen innerhalb der lebendigen Natur die Himmelsrichtungen so exakt bestimmte, dass man stets sein Ziel fand. Der Nygh schien dies auch zu können, aber nicht ganz so gut wie sie.

Sie sprachen nicht. Ughtred ritt auf einer der großen Gabellopen vor, während Tal auf Wedelohr bei den anderen blieb und sich wenig um die Umgebung kümmerte. Sie war sich ihrer Sache schließlich sicher.

Odugme hatte sich ans Reiten gewöhnt und machte nun eine weit bessere Figur als noch vor Tagen. Aufrecht stand er mehr in den Eisen, als dass er wie sie im Sattel kauerte. Dennoch ging er mit dem Rhythmus des Tieres und schien weder die Lope noch seinen eigenen Rücken mit seiner Art des Reitens zu belasten.

Obwohl das Wetter sich zusehends verschlechterte und ein eisiger Wind vom Norden über die tundrahafte Landschaft fegte, kamen sie gut voran. Die Lopen stemmten sich gegen den Regen und nur Tal fluchte immer wieder, wenn eine kräftige Böe ihr Wasser ins Gesicht klatschte. Da sie ohne Kyon nicht auf die Jagd gingen, mussten sie sich vom mitgebrachten Proviant ernähren, aber da dieser verhältnismäßig hochwertig war, machte es ihnen nichts aus. Außerdem sammelte Ughtred bei jeder Pause frische Kräuter und Pilze und reicherte damit ihr Essen an. Auch für Tal war dies sehr hilfreich, denn sie stockte damit ihr Sammelsurium an alchemistischen Zutaten auf. Schließlich war dies der Hauptzweck des Abstechers in die Wildnis Kisadmurs. 

»Er wird uns finden«, sagte Ughtred über das prasselnde Feuer während einer Rast.

»Vielleicht war es ein Fehler, hier herauszukommen«, antwortete die Hexe und nahm einen Schluck von Ughtreds Brühe. Mit verzogenem Gesicht schluckte sie es herunter. Es schmeckte salzig und obwohl sie wusste, dass der Nygh ihnen zu Gunsten kein Salz im Essen verwendete, ärgerte sie sich über ihn. Bestimmt waren es ihre Tränen, die für den salzigen Geschmack verantwortlich waren. Sie weinte nicht, zumindest nicht äußerlich. Konnten Tränen in ihrem Inneren die Brühe versalzen?

 

Zwei Tage reisten sie nach Westen durch den Wald und über dichtes Heidekraut und nasse Moosflächen. Je weiter sie kamen, umso nasser schien sich der Grund zu gestalten. Schließlich erreichten sie den eigentlichen Waldrand und verließen die schwarzen Gründe der kisadmurischen Wälder. Hier wurde das Land immer flacher, aber selbst auf Hügeln war im Westen noch keine Spur der großen Wüste zu erkennen.

Eines Tages stieg das Land langsam an und sie blickten auf die Kristallkarte. Hier war Hügelland eingezeichnet. Sie waren in jedem Fall auf dem richtigen Weg. Ughtred ritt wie fast immer in letzte Zeit voran und hob, Kyon imitierend die Hand zur Faust, um eine Rast anzuberaunen. Doch dann stieg er von seiner Lope und ging ein paar Schritte weiter. Was war das?

Vor ihm hatte sich etwas bewegt. Er ging in die Richtung und zog mit einer Hand seine beiden Wurfbeile aus dem Gürtel. Hinter sich hörte er das kalte Blöken der Lopen und Tal, die eine Frage stellte, aber ihre Worte wurden vom Wind davongetragen. Er ging auf die Bewegung zu. 

Eine Handvoll Obstbäumchen verdeckte ihm die Sicht. Als er etwa fünfzig Schritte von den anderen entfernt zwischen den kleinen vereinzelten Bäumen ankam, sah er sie. Mit gesträubtem Fell und flammenden grünen Augen stierte sie ihm entgegen. Es war früh am Morgen und die Wölfin schien durchsichtig und zerbrechlich wie dünnes grünes Glas. Als er sich vorsichtig näherte und eine Hand ausstreckte, zeigte sie ihre Zähne, krümmte sich aber sofort knurrend zusammen. Was hatte sie?

Plötzlich machte sie einen Buckel, zog den Magen ein und hustete brennenden Schleim hervor und im selben Moment begann das Chaos seinen Lauf zu nehmen. Ihre Flanke brach auf und aus ihrem unnatürlich weit aufgerissenen und brechenden Rachen streckte sich eine schmale weiße Hand. Der dürre Leib brach auf, kehrte sich von innen nach außen und brachte Stück für Stück den Mann hervor. 

Ughtreds Stirn brannte und er griff sich an das Mahl. Seine Zähne schrammten schmerzhaft übereinander und er musste den Impuls zu Schreien unterdrücken. In seinen Eingeweiden wand sich dasselbe Chaos wie vor ihm im sandigen Grund. Doch die Strahlen der Tagesschwestern strichen vom Westen her über die Szene und machten klar, dass es immer eine noch schrecklichere Macht im Universum gab. Dann war es vorbei.

Weit entfernt schrie ein Tier und holte Ughtred aus seiner Erstarrung. Er machte einen Schritt nach vorn und dann noch einen und schließlich befreite er sich aus dem Grauen und sank neben Kyon zu Boden. Er strich ihm die dunklen, schleimig nassen Haare aus der Stirn und hob eins der Lieder, um ich seine Augen anzusehen. Sie waren gelb und wirkten raubtierhafter denn je.

Dann erhob sich der Nygh und packte den nackten Barden am Arm, um ihn auf seinen Rücken zu ziehen. Tief durchatmend stapfte er mit dem Freund auf dem Rücken in Richtung der anderen. Genau das war es. Die Wölfin hatte sie nicht finden müssen, sie war immer bei ihnen gewesen und ja, dieser sture dürre Monstermann war sein Freund.

 

Tal reinigte Kyon so gut es ging mit Wasser und Ughtred wartete nur darauf, dass sie noch begann, ihn sauber zu lecken. Kopfschüttelnd lud er die Lopen ab und hielt Odugme dazu an, ihm zu helfen. Sie würden hier rasten und Kyon zu Kräften kommen lassen.

Etwas später war er auch schon zu sich gekommen und erinnerte sich, wie bei den anderen Malen, als die grüne Dornenwölfin die Kontrolle über ihr gemeinsames Dasein übernommen hatte, an nichts. Ughtred holte ein Fingerknöchelchen hervor und zeigte es ihm, aber Tal schüttelte den Kopf und so nahm er es einfach wieder weg. 

Kyon stellte keine Fragen. Er wusste wohl, dass etwas nicht stimmte, aber er erinnerte sich wirklich nicht. Um so schlimmer war seine Verwirrung über den Fortgang der Reise. Schließlich hatte er keine Ahnung, wie er hierher gekommen war. Die beiden Anderen versuchten ihn so behutsam wie möglich auf Stand zu setzen, merkten aber, dass ihn das Ganze nur nervte und er war nicht der Mann, sich mit eigenen Problemen auseinanderzusetzen. Also ließen sie ihn in Ruhe und gaben ihm seine Sachen zurück, die sie in den Packsätteln verstaut hatten.

Als am nächsten Morgen ein Vogelschwarm über das Lager rauschte, war er es, der die anderen weckte und zum Aufbruch trieb. Angekleidet und stolz, deutete er nach Westen und rief: »Wir haben nicht den ganzen Frühling Zeit. Brechen wir endlich auf!«

 

Mehrere Tage und Nächte verstrichen und die Hügellandschaft verschaffte ihnen schließlich endlich einen Blick auf die Ebene dahinter und den gelblichen Horizont. Niemand musste sagen, um was es sich bei diesem schmutzigen geraden Strich in der Ferne handelte. Zu gut erinnerten sie sich an Draiyn Andiled und die Strapazen, die dieses tote Land ihnen auferlegt hatte. Das Flachland dazwischen war schwer zu deuten. Es sah grüner als die Hügel aus, die sie gerade durchquerten, hatte aber einen seltsam kränklich rötlichen Schimmer, der sie alle beunruhigte und an den struppigen Amytoren im Arunenwald erinnerte.

»Wann müssen wir das Birkeds Wasser trinken?« wollte Kyon wissen und Tal schüttelte den Kopf und sagte: »Denke, das werden wir merken. Hier in jedem Fall noch nicht. Fraglich ist, ob der Nygh überhaupt etwas davon braucht. Wir werden es sehen.«

Der Nygh räusperte sich und schüttelte den Kopf. Er vertraute auf seine natürliche Widerstandskraft. 

Sie ritten noch über einen Tag aus den Hügeln in das angrenzende Moor hinunter, aber je tiefer sie kamen, umso deutlicher wurde, dass sie Hyn erreicht hatten. Tals und Kyons Kehlen kratzten und schließlich konnten sie nur noch mit einem Tuch vor den Mündern atmen. Ughtred schlug vor, die Tücher mit Urin zu benetzen, um ihre Durchlässigkeit zu vermindern, aber die beiden Silberwölfe lehnten ab. Da sie ihn offensichtlich falsch verstanden hatten, erklärte er, dass sie natürlich ihr eigenes Wasser nutzen sollten und nicht seins, aber sie lehnten dennoch ab.

Es war noch früh genug und so entschieden sie, keine Rast zu  machen und gleich nach dem gesuchten Totholz zu suchen. Kyon fragte, woran man das Zeug erkennen solle und Tal sagte, sie würde es erkennen.

»Hilfreich wie immer«, murmelte der Barde genervt in seinen Mundschutz.

Der Boden wurde immer karger und schließlich war der Unterschied Hyns zum Rest der kisadmurischen Plagensümpfe deutlich zu erkennen. Die Pfützen waren mit gelblichem Schleim gefüllt und die wenigen Flechten und verkümmerten Büsche hatten eine kränklich rote Farbe. Tal fand einen toten Raubvogel mit ausgefallenem Gefieder und verätztem Bauchfleisch. 

Da entschieden sie, die Lopen ein Stück zurück bis an den Rand der Hügel zu schicken und Odugme sollte auf sie aufpassen. Es hatte keinen Sinn die Tiere und den Phani zu gefährden, denn weder die einen, noch der andere würde das gesuchte Holz erkennen.

Zu dritt stapften sie durch den schleimigen Sumpf und versuchten nicht zu atmen. Ughtred verspürte das Kratzen im Hals auch, aber er schluckte es herunter und sein Zustand schien stabil. Ganz anders verhielt es sich mit den Silberwölfen. Zuerst waren es die Ränder ihrer mandelförmigen Augen, die sich rot färbten und entzündet juckten. Dann nahm ihre Haut einen kränklichen Farbton an und bekam rötliche Pusteln. Tal hielt an und winkte Kyon zu sich. Sie beförderte die Kürbisflasche mit dem Wasser des Schrats hervor und sagte: »Trinkt!«

Kyon nahm einen tiefen Schluck und gab Tal die Flasche zurück, worauf auch sie trank. Dann hielt die Hexe das Zeug dem Nygh entgegen, aber dieser füllte sich nur ein wenig davon in seinen eigenen Trinkbeutel. Er wollte sicher gehen und einen Rest davon übrig haben, falls Tal oder Kyon ihn brauchten. Auf die Vernunft der Silberwölfe konnte er sich nicht verlassen, also versuchte er, für sie mitzudenken. 

Das Wundermittel des Schrates wirkte fast unmittelbar. Kaum war es Tal und Kyon, die Kehlen heruntergeronnen, fühlten sie sich etwas besser und konnten wieder atmen. 

Hyn hatte etwas ganz und gar unwirkliches. Längst war die Wüste am Horizont beißenden Nebeln gewichen und es war schwer sich in dem trostlosen Nass ohne jeglichen Lebens zurechtzufinden. Immer wieder prüfte Tal die kränklichen dünnen Bäumchen, doch keiner von ihnen wies die gesuchten alchemistischen Merkmale auf. Der Boden wurde immer nasser, aber es schien sich nicht um normale Tümpel oder die Nässe eines typischen Sumpfes zu handeln. Vielmehr waren die Senken von einem gelben Schleim gefüllt, an dessen Rändern rötliche Bläschen aufstiegen und die Luft mit Gift erfüllten. Diese Luft machte den Silberwölfen die Haare stumpf und jeder von ihnen wusste, ohne das Mittel des Schrates wären sie längst tot. Nur Ughtred schienen die Dämpfe unbelastet zu lassen. Er schmeckte zwar die säuerliche Luft und hustete das eine um das andere Mal, aber weder veränderte sich seine Hautfarbe, noch seine Haltung.

Die Idee war gewesen, schnell die Landesgrenze zu überschreiten, ein wenig Holz aufzunehmen und das Weite zu suchen, doch bei jedem morschen Brocken, den Kyon aufhob und der Hexe zeigte, schüttelte diese den Kopf. Sie kannte das Tote Holz von Hin aus den Hexenbüchern. Es war schwarz und weit weniger vermodert. Es musste von bestimmten Bäumen stammen und diese hatten sie eindeutig noch nicht gefunden. Kyon hatte die Hoffnung geäußert, möglichst viel des Zauberholzes zu bergen, denn er sah immer noch die Notwendigkeit, die Reisekasse zu füllen, aber langsam schwand ihm die Hoffnung. Wie lange stolperten sie nun schon durch diese Gifthölle und viel wichtiger, wie lange würde die Wirkung des Trankes anhalten?

Als mehr als eine Stunde vergangen war, streckte er sich und wollte gerade etwas zu Tal sagen, als er eine Bewegung am Rande seiner Wahrnehmungsgrenze bemerkte. Erstarrt konzentrierte er sich und erkannte, dass sie seit längerem nicht mehr allein waren. Was auch immer hier lauerte, was hier überleben konnte, war ganz sicher nichts Freundliches.

Er deutete in die Richtung und da war es wieder. Eine rasche Bewegung von einem schleimigen Tümpel zum anderen. Es waren viele und sie würden bald kommen.

Schnell ließ er den Bogen in seine Hand gleiten und machte einen Schritt zu Tal hinüber, die gerade zum gefühlt tausendsten Mal ein Stück morschen Holzes untersuchte und es wieder fallen ließ. Ihr langer Rock war über und über mit gelbem Schleim besudelt.

»Irgend etwas belauert uns«, sagte er schroff und deutete mit dem spitzen Kinn in die Richtung, in der er die letzte Bewegung wahrgenommen hatte.

Sie kniff die Augen zusammen, erkannte aber im Nebel nichts. Doch sie hatte gelernt, Kyon zu vertrauen. Wenn seine Augen etwas sahen, dann war es da, auch wenn sie es nicht sehen konnte. Vorsichtig nahm sie das schwere Schwert von ihrem Rücken und löste das Trageband ihrer großen Tasche. Ughtred hatte die beiden beobachtet und auch er legte sofort seine Tasche ab. Er starrte durch die wabernden Dämpfe, konnte aber ebenfalls nichts erkennen.

Plötzlich zog Kyon die silberne Anderweltwaffe, die er in der Gruft unter Ang`Rin gefunden hatte, aus ihrem Holster an seiner Hüfte, spannte einen winzigen Hahn an ihrem Griff und hielt sie hoch über den Kopf. Als er den Abzug drückte, erscholl ein ohrenbetäubender Knall über den Giftsumpf und alle Bewegung erstarb.

»Das wird uns noch ein wenig Zeit verschaffen«, sagte Kyon und schob die Waffe zurück ins Holster.

Die beiden anderen hoben ihre Sachen auf. Doch die Stimmung war denkbar schlechter geworden. Kyon hatte recht. Wie lange würde sich etwas erschrecken lassen, dass in diesem Land des Grauens hauste?

Dennoch verschaffte ihnen der Knall fast eine Stunde Ruhe. Gerade als Kyon hoffte, die Bewohner Hyns doch ganz und gar vertrieben zu haben, sah er erneut etwas aus der Brühe kriechen und diesmal ging alles sehr schnell.

Keine zwanzig Schritte vor ihm erhoben sich zwei buckelige Leiber und stießen ein fürchterliches Quieken aus. Die Wesen sahen wie die Parodien toter Riesenratten aus und genau das waren sie auch.

»Urithi`don, untote Ratten«, rief er und deutete links vor sich, aber schon erschienen etwas weiter und auf ihrer rechten Flanke fünf weitere der schrecklichen Wesen. Mehrere von ihnen waren fast so groß wie der Nygh und schienen trotz ihres unnatürlichen Zustandes kräftig genug zu sein, um einen Arm abzubeißen. Kyon konzentrierte sich und blickte in das feinstoffliche Gewirke vor seinem Geist und griff ohne weiteres Zögern hinein. Er sah rechts vor sich Tal, die offenbar ebenfalls in die Membran griff, aber dann fand er die Fäden, spürte das Fell und die Zähne und rief die Wölfin zu sich. Fast träge schälte sich der Schemen aus der Anderwelt und materialisierte sich als großer grauer Geisterwolf. Das Wesen wurde fester, blieb aber durchsichtig und dann stürmte es auf die ihm am nächsten befindliche Ratte los. 

Zwei der Bestien hatten binnen von Sekunden Ughtred erreicht. Ihr struppiges Fell von ihrem eigenen Blut besudelt und wurde von schwärenden Wunden unterbrochen. Dennoch schienen sie agil zu sein und stürzten sich gierig auf den Nygh. Mit Schrecken musste Kyon mit ansehen, wie Ughtred immer wieder mit dem Kurzschwert aus Undorn auf eins der Monster einhackte während das zweite sich in seine Rüstung verbiss. Der Geisterwolf griff eine weitere Urithiˋdon hinter den Beiden an und Kyon zog einen seiner wertvollsten Pfeile, zielte und schoss auf eins der scheußlichen Wesen. Pfeifend traf der Pfeil sein Ziel, doch anstelle sich in das modrige Fleisch zu bohren, riss er eine feine violette Spur in den Äther und erzeugte einen Vortexriss in der Realität. Das getroffene Monster wurde kurzer Hand auf die andere Seite gerissen und verschwand auf nimmer Wiedersehen. Ohne zu zögern befahl Kyon einen weiteren Pfeil auf die Sehne und schoss. Diesmal erzeugte der Pfeil einen grellen Lichtbogen, der zuerst eine der Ratten traf und dann auf eine zweite übersprang. Beide Wesen brannten und krümmten sich zusammen.

Unterdessen stürmte Tal voran und sprang über einen kleinen Bach aus gelbem Schleim. Sie hob die Hand und streckte ihr Schwert wie eine Antenne weit nach oben und rief eine Beschwörungsformel und erzeugte damit einen breiten, kaum sichtbaren, aber praktisch von Seiten der Ratten vor ihr, undurchdringbaren psionischen Schild. In vollem Lauf prallten zwei der Wesen dagegen.

Die Hexe schrie: »Lauft, ihr Narren« und stürmte weiter voran. Als sie ihren eigenen Schild durchdrang, schlug sie nach einer der am Boden liegenden Wesen, doch dieses rollte sich zur Seite und sprang sie sofort an. 

Ughtred kämpfte verzweifelt gegen die zweite Ratte. Seine Äxte glitten am nassen Fell ab, aber die langen, scharfen Zähne drangen auch nicht durch das feste Leder seines Rüstzeugs; zumindest nicht bis zu seiner Haut. Die Rüstung selbst jedoch, würde nicht ewig halten. Schon baumelte eine der Lederplatten an ihrer Aufhängung und behinderte ihn mehr, als sie ihn schützte. Fluchend drosch er auf die Ratte ein, erwischte sie aber wieder nicht. Er schlug und trat, aber das Ding war einfach viel zu flink und biss ihn immer wieder.

Irgendwo riss Kyons Geisterwolf den Geist einer Ratte aus ihrem fauligen Leib. Ein seltsam hohes Fiepen erfüllte die Luft, als der Körper zum Stehen kam und sich nicht mehr rührte, während deutlich zu sehen war, wie der psionische Wolf den Geist zerfetzte. Kyon griff erneut durch die Membran, konzentrierte sich und rief so laut er konnte den Namen eines weiteren Wolfes. Er hatte noch nie zuvor zwei Wesen beschworen und fürchtete, nicht genügend Kraft aufzubringen, aber er irrte sich. Hohl knurrend antwortete ihm die Geisterkreatur von der anderen Seite und drängte wild und ungestüm herüber.

Kyon deutete wortlos durch Tals Schild auf einen Pulk aus vier weiteren Monstern und der Wolf rannte los.

Immer noch kämpfte Ughtred verzweifelt gegen seinen Gegner und war kurz davor zu unterliegen. Aber auch Tal hatte Probleme die Ratten mit dem Schwert zu treffen. Sie waren einfach zu schnell. Eine falsche Bewegung und sie verlor ihre Klinge. In weitem Bogen flog das Kreuzschwert durch die Luft und hinterließ die Hexe unbewaffnet. Tal zögerte nicht, griff in ihre Tasche und beförderte eines der letzten Stückchen des Totensüß hervor. Ungezielt warf sie es zwischen die Bestien und sah mit an, wie eine der größeren Ratten sich auf eine kleinere stürzte. Kyon war ein ganzes Stück entfernt, sah aber das Ergebnis und griff ebenfalls in seine Tasche. Er warf seinen Brocken im hohen Bogen über den psionischen Schild, der ihn vor Angriffen aus Tals Richtung schützte und ließ dann sofort einen weiteren Pfeil auf seine Sehne gleiten. Mit einer geschickten Drehung zielte er auf die Ratte vor Ughtred, verfehlte sie aber. Das wars, Herr Dieb, dachte er und wandte sich zur Flucht. 

Irgendwo schrie Tal. Um sie herum waren vier der Monster und balgten sich um das Totensüß. Kyon schob seinen Körper nun ebenfalls durch den Schild und versuchte Tal beizustehen. Der große neue Geisterwolf hatte einen Geist aus einer der Ratten gerissen und schleuderte ihn hoch in die Luft, sprang hinterher und packte ihn erneut im Nacken. Der Leib des Monsters brach zusammen. Aber es waren hier auf Tals Seite immer noch drei oder vier der Monster. Kyon verschoss noch einen Pfeil und versuchte sich zu orientieren. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Ughtred zu Boden gerissen wurde, aber dann erschien neben ihm plötzlich die Wölfin und riss ihren Rachen auf. Eine Sekunde schien es, als würde das psionische Wesen nun ebenfalls den gebeutelten Nygh attackieren, aber dann stürzte es sich auf die Ratte, die sich in sein Bein verbissen hatte. Binnen eines Augenblicks riss sie am feststofflichen Hals der untoten Kreatur, aber dann zerrte die Wölfin den Geist des Monsters hervor und zerriss ihn mit einem wilden Schütteln des eigenen Kopfes in zwei schemenhafte Teile. Einen Moment später erstarb der Körper der Ratte und gab Ughtred frei. Doch die Wölfin kannte keine Gnade. Ohne zu zögern stürmte sie auf den Pulk der übrigen Monster los, wo ihr riesiger Gefährte wütete.

Ughtred rappelte sich auf und versuchte die anderen zu finden und musste mit ansehen, wie keine zwanzig Schritte vor ihm Kyon von der größten der Ratten angesprungen und wie er selbst zuvor zu Boden gerissen wurde. Das schreckliche Ding hatte ihn unglücklich am Hals erwischt und mit den riesigen Zähnen eine klaffende Wunde zugefügt. Jetzt sprang es seinem Opfer auf die Seite und vergrub erneut die Zähne in seinem Hals. Tal trat neben ihm nach einer weiteren Ratte und dann war der Geisterwolf zur Stelle. Er riss seinen Rachen auf und schien den Geist des Monsters auf Kyon geradezu einzuatmen. In einem Sog aus Wildheit und Gewalt zappelte das Wesen und dann packte der Wolf richtig zu. In einem hohen Bogen sprang er über Kyon und entfernte so den Rattengeist von seinem Herrn. Und nun erreichte auch die Wölfin die kämpfende Gruppe. Sie stürzte sich auf die beiden Gegner bei Tal und riss eine der Ratten zu Boden. Zu zweit wüteten die Wolfsgeister unter den Urithi`don und obsiegten.

Tal stürzte zu Kyon und rutschte mit einem Schenkel unter seinen Oberkörper, um ihn so gut es ging aus dem Schlamm zu heben. Die Wunde an seinem Hals blutete stark und er war nicht mehr bei Bewusstsein und Tal wusste, er würde sterben, wenn sie nicht sofort handelte. Sie riss ihre Tasche aus dem Dreck neben sich und beförderte einen der Tiegel hervor. Schnell drückte sie eine ganze Handvoll einer ihrer Heilpasten auf Kyons Hals und betete, so die Blutung zu stoppen. Hinter ihr wüteten die Wölfe, aber sie hörte das schrille Pfeifen der Monsterratten kaum noch. Sie war nur noch Heilung und Wunde, Schmutz, Blut, Tod und Leben. All ihr Sein wandte sie auf diese Dinge an und dann traf sie eine Entscheidung. Sie würde Kyon hier nicht retten können – unmöglich. Also holte sie ihre Stasetropfen aus der Gürteltasche und verabreichte Kyon einen Tropfen. Sofort erstarb sein Todeskampf, seine Haut wurde wächsern und sein Brustkorb hörte auf, sich gegen den Tod zu wehren. Eine Sekunde dachte Tal, sie hätte ihn verloren, aber dann legte sie ihr Ohr auf seinen Mond und spürte das weit, weit entfernte Leben.

Als Ughtred auf sie zustolperte erstarben hinter ihr die Schreie der Ratten und sie musste sich nicht umdrehen, um die Geisterwölfe zu spüren, die neugierig an sie herangetreten waren, um nach ihrem Herrn zu sehen. Sie würden warten, keine weiteren Urithi`don in seiner Nähe dulden.

»Ist das Totes Holz von Hyn?« Ughtred stolperte auf Tal und Kyon zu und hob einen schwarzen Brocken neben ihr aus dem Schleim. Die Hexe lächelte verzweifelt und nickte dann.

 

Der Weg aus dem Giftsumpf erforderte Opfer. Ughtred hatte zwar einen Beutel mit dem Holz gefüllt, musste aber dafür einen Teil der Ausrüstung zurücklassen. Er entschied sich, den Kriegsbogen des Barden umzuhängen und lud sich dann Kyon auf die Schultern. Trotz seiner Größe wog der Silberwolf kaum etwas und Ughtred konnte ihn leicht tragen. Dennoch machte ihm der Weg zu schaffen. Die schleimigen Pfützen ließen ihn immer wieder einsinken und er verlor zuweilen die Orientierung, denn es war immer noch neblig und das ganze Land schien sich gegen ihn verschworen zu haben. Nach einer Weile ließ er Teile seiner Rüstung fahren, die nur noch an losen Schnüren an ihm hingen.

Kyons Geisterwölfe trotteten noch eine ganze Weile neben ihm her und schnüffelten zuweilen an ihrem Herrn. Doch irgendwann bemerkte Ughtred, dass sich ihre ohnehin durchlässigen Gestalten immer mehr auflösten und schließlich als dünner Nebel in die Anderwelt zurückkehrten. Er meinte noch ein leises Knurren und Heulen gehört zu haben, doch dann waren sie verschwunden.

Tal trug den schweren Sack mit dem Holz und hatte die Führung übernommen. Immer wieder hob sie eine Hand, konzentrierte sich auf ihr Bauchgefühl und versuchte die Richtung zu bestimmen, und trotz ihrer eher schlechten Augen, schien sie sich in dieser Sache nie zu irren. Dennoch dauerte es Stunden, bis sie den Rand der Giftwelt erreichten. Tal rief nach den Lopen als der Nebel sich lichtete, aber sie waren sicher noch ein ganzes Stück von deren Lager entfernt, denn so gut Tal den Rückweg auch gefunden haben mochte, sie traten eindeutig an einem anderen Ort aus Hyn heraus, als an dem sie es betreten hatten.

Ughtred ging einen kleinen Hügel hinauf und als er den ersten einigermaßen trockenen Boden unter den Füßen spürte, ließ er Kyon von seinen Schultern. Er hatte ihn Stunde um Stunde getragen und kein einziges Mal abgelegt. Jetzt schmerzten seine Schultern und sein Rücken war taub. Aber anstelle sich hinzusezten, wandte er sich um und machte Anstalten, nach Hyn zurückzukehren.

Tal sah ihn an und verstand zuerst nicht, was er vorhatte. Als er aber wortlos in den Nebel treten wollte, bekam sie es mit der Angst zu tun. Hatte dieses Land seinen Geist vernebelt und rief ihn nun in den Tod?

»Ughtred, was hast du vor?« rief sie und rechnete gar nicht recht mit einer Antwort. Sie wollte schon aufstehen und ihn niederringen, um seine Seele vor den Geistern des Totenreichs zu retten.

Aber der Nygh wandte sich ihr müde zu und sagte verdrossen: »Ich hole euer Schwert, Frau Hexe. Ihr braucht es doch.«

Tal lächelte matt und hieb sich die Hand vor die Stirn. Dieser gute Nygh. Er war verrückt, aber er war auch gut.

Sie winkte ihn zu sich und er kam zögernd näher.

»Herr Nygh, ihr werdet das Schwer schön bei den Geistern lassen, hört ihr? Es mag wertvoll sein und gut geschmiedet, aber es ist ganz gewiss nicht euer Leben wert. Und hört ihr was ich sage? Euer Leben!« Sie betonte diese beiden Worte und fügte dann hinzu: »Ihr seid ein wahrer Freund und ein Held und von nun an, werde ich euch mit ihr ansprechen, denn man muss sich dies verdienen und wenn ihr es nicht verdient habt, dann wüsste ich nicht wer sonst.«

Ughtred starrte sie mit leerem Blick an. Dann ließ er sich zu Boden sinken und schloss die Augen.

 

Leider war es damit noch nicht zu Ende. Gerade als Tal durchatmen wollte, hustete sie Blut. Ihr Gaumen war offen und die Haut an ihren Händen warf winzige Bläschen. Sie untersuchte sich genauer und musste sich eingestehen, dass die Bisse der Ratten sich schlimmer auszuwirken schienen, als sie zuerst gedacht hatte. Sie diagnostizierte eine hoffentlich milde Form einer Nekrosekrankheit und nahm vorsorglich Medizin zur Immunisierung zu sich. Aber damit war es zweifellos nicht getan, denn sie fühlte sich weiterhin elend. Hinzu kam, dass Kyon ähnliche Symptome zeigte. 

Als die Wirkung der Stase aufhörte und Kyon zu sich zu kommen drohte, versorgte Tal seine Wunden, gab ihm weitere Arzneien und ließ ihn erneut ins Vergessen fallen. Gegen die Nekrose konnte sie im Augenblick wenig unternehmen.

Sie waren weiter gezogen und hatten ihn mit Hilfe seiner eigenen Hängematte auf den Lopen transportiert. Es ging ihm schlecht und Tal hatte immer noch Angst ihn zu verlieren. Sie redeten nicht viel und versuchten einfach Hyn und seine Schrecken hinter sich zu lassen. Erst vier Tagesreisen später wagte es Tal den Verletzten einen längeren Zeitraum ohne Stase zu untersuchen. Sie nähte seine Wunden und säuberte sie erneut und schließlich gelang es ihr, ihn soweit zu stabilisieren, dass sie sich sicher war, dass er sich außer Gefahr befand. Er kam kurz zu sich, erkannte sie auch, hatte aber derart schlimme Schmerzen, dass sie ihn kurzerhand wieder in Stase sinken ließ. Erst weitere drei Tage später sollte er endlich bei Besinnung bleiben.

Das Wetter hatte sich kaum verändert und sie zogen seit Tagen durch einen dichten, sumpfigen Wald. Von ihren Erlebnissen vorsichtig geworden, suchten sie ihre Wege und Lagerplätze mit äußerster Vorsicht aus. Eines Tages, Kyon war bei sich und schaffte es immerhin selbst zu reiten, ließ Ughtred die Lopen anhalten. Ein dünner blauer Rauch stieg vor ihnen in den Himmel auf und er beschloss, sich die Sache zuerst alleine anzusehen. Doch dann schlug Tal vor, sich das Land astral anzusehen. Die Nekrose schwächte sie zwar, aber im Astralraum würden ihre körperlichen Leiden keine Rolle spielen. Gesagt, getan huschte Tals Astralleib durch den Wald, während ihr Körper im Schneidersitz inmitten der Lopen saß. Ughtred sah nervös in Richtung des Rauchs und wartete auf die Rückkehr der Hexe.

Tal schoss durch Bäume und Unterholz und fuhr unbemerkt durch das Lager, in dessen Mitte der Rauch von einem erstaunlich großen Feuer aufstieg. Sie fühlte sich frei. 

Wenigstens dreißig Hobgoblins machten hier ihre Faxen und taten unaussprechliche Dinge. Die astrale Hexe nahm nur wenig Notiz von den Wesen, raste über das Land und suchte nach einer Schutzhütte, die laut Karte zwischen ihnen und Baiyl sein sollte. Sie erinnerte sich an einen weiteren großen See, Waldränder, die Schutzhütte und schließlich Baiyl. Doch dann nahm sie die Eisschlange unter sich war und erkannte, dass sie Baiyl schon erreicht hatte. Sie ließ sich zu ihrem Körper zurückziehen, sah tatsächlich die Strukturen der kleinen Stadt, fand die Schutzhütte aber nicht. Dann zog ihr Körper sie in die Realität zurück und sie erwachte.

»Hobgoblins«, sagte sie und dies, keine Sekunde zu früh. Ughtred deutete in den Wald vor ihnen und tatsächlich hüpften im Unterholz lustig Speere auf und ab. Fast in derselben Sekunde flogen kleine Pfeile durch die Luft, verfehlten aber ihre Ziele. Niemand musste etwas sagen und innerhalb kürzester Zeit war die Flucht angetreten. Eine Auseinandersetzung mit einem hungrigen Stamm wilder Hobgoblins war das Letzte, was sie im Augenblick brauchen konnten.

Zum Glück sahen dies die Lopen ebenso und schafften es, einen perfekt geordneten Rückzug zu organisieren. Binnen einer Minute waren sie sternförmig im Wald verschwunden und trafen sich einige tausend Schritte nordöstlich wieder. Kyon hatte Probleme sich festzuhalten und seine Wunde riss auf und blutete heftig und Tal hatte alle Mühe, nach der Wiedervereinigung die Blutung zu stoppen. Ughtred fluchte leise und winkte zwei Nachzügler unter den Lopen herbei. Er drängte zum Weiterziehen und so versorgte Tal die aufgebrochene Wunde Kyons nur oberflächlich. Sie gab dem Nygh recht. Hobgoblins waren gute Fährtensucher und unglaublich ausdauernd. Es war besser, so viel Distanz wie möglich zu ihnen aufzubauen. Damit hielten sie erst wieder an, als der Morgen graute und sie weit von dem Lager und wahrscheinlich auch von der besagten Schutzhütte entfernt waren. 

Das Land stieg langsam an und Tal war sich sicher, auf dem richtigen Weg zu sein. Wieder kümmerte sie sich um Kyons Wunden und dieser hätte es vorgezogen, wieder in Stase versetzt zu werden, aber sie lehnte ab. Sie musste mit ihren Mitteln haushalten. Wer konnte sagen, was noch alles passieren würde? Wenn sie eins gelernt hatte, dann, dass Abenteuerreisen unberechenbar waren.

Doch sie hatten Glück. Schon zwei Tage später, Kyon ging es deutlich besser, roch Ughtred ein weiteres Lagerfeuer und als er sich vorsichtig anschlich, entdeckte er einen Jäger.

Fayran dan Yariydt, so der Name des Mannes, war mit seiner Hobgobla Zoppet und zwei Lopen hier draußen im Wald auf der Jagd. Etwas später, sie waren schon auf dem Weg nach Baiyl, erzählte der Silberwolf Kyon, neben den er seine Lope gelenkt hatte, dass es immer wieder Probleme mit Fremden in der Stadt gäbe. Kyon hörte gar nicht richtig zu. Erst als der Jäger von der hiesigen Ayn sprach und er deren Galan erwähnte, der es regelmäßig zu mehr als peinlichen Eifersuchtsdramen kommen ließ, horchte er auf. Er war zwar auf dem Weg der Genesung, aber eine Auseinandersetzung mit einem smavarischen Krieger, konnte er sich nicht leisten. Auf diese Art von Ärger konnte er verzichten. Schweigend ritt er neben dem Jäger her und versank in Gedanken.

 

Wenige Stunden später wurde aus dem Wildpfad, dem sie gefolgt waren eine Art schmale Straße durch das Unterholz führte und in der Ferne stieg Rauch als dünnes, helles Blau aus dem Herzen des Waldes auf. Kurz darauf erreichten sie eine Palisadenmauer und das Sträßchen führte zwischen zwei hölzernen Wehrtürmen hindurch. Baiyl sah sowohl von außen als auch von innen trostlos genug aus. Hier im Südwesten gab es nur einfache Lager, mehrere Quinkhäuser und einen Brunnen. Der Schutzwall zum Wald hin konnte nur als erbärmlich bezeichnet werden. Erst als sie ein ganzes Stück in die Stadt eingedrungen waren erschien eine Gruppe von fünf Kriegern. Sie trugen einfache Lederrüstungen mit metallenen Schulterplatten und waren mit Hellebarden, Speeren und gebogenen Kurzschwertern bewaffnet. Da sie keinen smavarischen Anführer zu haben schienen, senkten sie die Köpfe vor den Neuankömmlingen. Der Jäger wischte sie wie lästige Fliegen beiseite und wies den Trupp an sich, in Richtung eines kleinen Platzes zu bewegen. Hier gab es eine verhältnismäßig große, aber dafür wirklich schäbige Kaschemme, deren Namen Totenberg lautete. Anhängig dazu gab es Lopenställe und mehrere Quink, die herbeikamen, um die Tiere zu entladen.

Fayran deutete in Richtung eines höheren Gebäudes. Es handelte sich um eine Art Mühle mit einem anhängigen Stall, einem Wachhaus und einer Art Schmiede. Der höchste Teil des Anwesens war ein Wehrturm, auf dessen Zinnen eine sehr hohe, schlanke und mit Lederplanen verhüllte Konstruktion befestigt war. Kyon tippte auf eine riesige Feuerlanze.

Der Jäger betitelte das Haus als die Edelhand, das einzige bessere Etablissement für smavarische Edelleute vor Ort. Allerdings riet er Kyon, sich als Sliyn in jedem Fall der Ayn von Baiyl vorzustellen. Es war ihr wichtig, Fremden ihre eigene Unterkunft zur Verfügung zu stellen. 

Das Anwesen der Fürstin lag etwas zurückgesetzt auf der gleichen Höhe der Edelhand, aber ein Stück von der Eisschlange entfernt, die hier die Mühle antrieb. Als Kyon begriff, dass es sich bei dem Fluss um die Ejviyslath handelte, machte sein Herz einen kleinen Hüpfer. Er kannte die Eisschlange ein ganzes Leben lang, denn sie versorgte Shishney mit Trinkwasser. Er hatte vorher nie darüber nachgedacht, wohin sie sich nach der Turmstadt schlängelte. Sie jetzt hier draußen in der Wildnis vorzufinden, erfreute ihn in der Tiefe seiner Seele.

Als die Lopen verabschiedet waren und man sich entschieden hatte, der Fürstin aufzuwarten, verließen der Jäger und seine Hobgobla die Gäste. Betreten wandten diese sich in Richtung des Herrenhauses.

Dort angekommen, wunderten sie sich ein wenig über den Zustand des Hauses. Es war wie die Quinkhäuser am Ortsrand gebaut, wies allerdings höhere Decken auf. Die Fassade war schlecht und recht mit Lopendung und Guano weiß getüncht und wies mehrere Risse auf. Es gab schmale Fenster, die immerhin verglast und unversehrt waren. Im oberen der beiden Stockwerke schimmerte grünliches Licht und auf der Rückseite schien es eine Art Terrasse mit einer dunklen Überdachung zu geben. Das eigentliche Dach hing in seinem Zentrum stark durch und bestand aus schweren schwarzen Ziegeln. Zwei windschiefe Schornsteine gaben ihm etwas Hexenhaftes. Hellgrauer Rauch stieg teerig von ihnen auf.

Tal machte einen Schritt zu der kleinen Treppe, die zu einer oben abgerundeten Tür führte. Sie klopfte mit der Faust an der sie den Shimwas trug gegen das dunkle Holz.

Es dauerte fast fünf Minuten, bis sich die Tür einen Spalt öffnete. Ein alter Quink in dicker Leinenkluft und einer Lederschürze rieb sich die Hände an einem schmutzigen Tuch trocken. Als er die Besucher als Silberwölfe erkannte, stellte er sich als Elok, den Hof- und Stallmeister vor. Er fragte, ob Lopen zu versorgen seien, aber es gab nur den Phani, also deutete er auf den kleinen Stall. Tal missfiel wie immer, dass Odugme nicht ins Haus gebeten wurde und kniff die Augen zusammen. Aber sie war zu müde, um etwas zu unternehmen und wollte einfach nur in die Wärme des Hauses. 

Der Quink führte sie in eine kleine Küche, in der eine weitere Quink etwas kochte. Das Innere des Hauses wirkte recht sauber und war zu aller Vergnügen warm. Die beiden Kamine hatten nicht zu viel versprochen.

Der Quink versuchte höflich in Erfahrung zu bringen, in welchem Verhältnis die Gäste zueinander standen und hatte Probleme den Nygh einzustufen. Nachdem er verstanden hatte, dass es sich bei dem Barden immerhin um einen Sliyn handelte und die Silberwölfin an seiner Seite eine hochrangige Hexe zu sein schien – Tal ließ in geflissentlich in diesem Glauben – entschied sich der Hofmeister, alle drei vor seine Herrin zu führen. Sie würde schon wissen, wie sie mit ihnen umzugehen hatte. 

Also führte er die drei eine schmale Holztreppe ins obere Stockwerk, wo sich ein kleiner Salon befand. In dem dunkel eingerichteten Zimmer gab es nur eine hohe Liege, einen sehr niedrigen Tisch und zwei sehr schmale und filigran wirkende Holzstühle mit extrem hohen Lehnen. Auf der Liege räkelte sich die Ayn von Baiyl. Der Hofmeister stellte die Fremden bei ihren Namen vor – er hatte Probleme Ughtred auszusprechen – und verbeugte sich dann. Erst als die Frau auf der Liege ein Handzeichen machte, stellte der Quink auch sie vor.

»Ayn Yrdelaiy yr Northwyll begrüßt euch in ihrem Haus«, sagte er mit näselnder Stimme. Dann ging er zu einem der schmalen hohen Fenster und zog den dunklen Vorhangstoff ein wenig zur Seite, um etwas Licht in den Raum zu lassen, aber die Ayn schüttelte den Kopf und er ließ den Stoff zurückschwingen.

Sie war etwas älter als Tal und Kyon, schlank und mit Sorgfalt schön gestaltet. Ihr Gesicht wies schwarze Tätowierungen auf. Zwei schwarze Zacken verliefen von ihren Augen die Wangen hinab und vier zeigten von den schmalen Brauen nach oben. Ihre Augen waren so hellblau, dass sich ihre Pupillen kaum vom Weiß abhoben. Ihr blau-schwarzes Haar war zu einer voluminösen Frisur aufgetürmt und ihre Haut schimmerte bleich im spärlichen Licht des Raumes. Alles an ihr war entweder sehr hell oder tief schwarz.

Kyon machte eine leichte Verbeugung und Tal einen unvollendeten Knicks. Seltsam, wie familiär diese Situation zu sein schien. Die Fürstin von Baiyl war für sie unberechenbar. In Uraiyd und in anderen Orten, waren die Fürstinnen und Fürsten bekannt für ihre Stärken oder ließen ihre Gäste spüren, warum sie über eine Region herrschten. Diese Frau war nicht so leicht zu durchschauen. Sie wirkte ein wenig gewöhnlich und ihre Tätowierungen ließen sie einerseits geheimnisvoll, aber auch weniger edel wirken. Sie machte eher den Eindruck einer Lebefrau, als den einer gefährlichen Kriegerin oder Zauberin.

Kyon stellte sich und seine Gefährten erneut vor und die Fürstin deutete auf die beiden Stühle. Ughtred blieb stehen.

Sie sprach ihn direkt an und fragte, welcher Spezies er angehörte und fühlte sich bestätigt, als er sich als Nygh und Skergen bezeichnete. Sie fragte wie er in den Dienst der beiden Silberwölfe geraten war und als er ihr erklärte, dass er ihr Gefährte und nicht ihr Sklave war, nahm sie dies ohne weitere Kommentare hin, schickte ihn aber hinunter in die Küche, damit er sich dort stärken konnte. Ihre Vehemenz ließ weder bei ihm, noch bei Tal und Kyon einen Widerspruch zu, also nickte er freundlich und ging.

Zwei Quinkmädchen, die über die Maßen schön daherkamen, betraten nackt den Raum und servierten frischen Faltersud. Als Ayn Yrdelaiy Tals und Kyon Blicke wahrnahm, sagte sie nicht ohne Stolz in der Stimme: »Eigene Zucht, es hat über acht generationen gedauert sie so schlank und grazil hinzubekommen. Viel Ausschuß.«

Kyon nippte an seinem Sud und nickte anerkennend, doch Tal teilte seine Meinung nicht. Ihr missfiel die Haltung ihrer Leute anderen Wesen gegenüber. Doch dann ärgerte sie sich wieder über sich selbst, denn sie erkannte den Einfluss ihrer Eltern auf ihre Moral und dies missfiel ihr fast noch mehr. Sie sah das verkniffene Gesicht ihrer Großmutter vor ihrem inneren Auge, die abfällig den Kopf schüttelte und ihre Pfeife auf dem Rücken ihres Leibquink ausklopfte.

Die Unterhaltung dauerte mehrere Stunden. Yrde, die Ayn gestattete diese Ansprache, wollte alles über die Reise der Abenteurer erfahren und fand die Geschichte überaus interessant. Am meisten aber lag ihre Aufmerksamkeit bei Kyon selbst. Es war klar erkennbar, dass sie sich in der Provinz langweilte und froh über jede Ablenkung war. Großzügig bot sie ihr eigenes Bett an und bestand darauf, ihre beiden Gäste zu tätowieren. Sie wäre in diesem Bereich der Kunst recht bewandert und es hätte noch niemand bereut, der ihre Nadeln zu spüren bekommen hätte. Kyon freute sich offensichtlich über das Angebot und sagte ohne zu zögern zu, aber  Tal, die sich über die Freizügigkeit ihres Gefährten ärgerte, lehnte dankend ab.

Der Ayn war anzusehen, dass sie Tals schroffe Art ein wenig ärgerte, aber sie blieb höflich und machte einen Scherz. Man könne sich ja vielleicht doch noch einigen, es bliebe ja noch Zeit. Doch Tal blieb hartnäckig und so unterhielt sich die Fürstin für den Rest des Gespräches nur noch mit dem Barden.

Erst gegen Ende der Unterhaltung bemerkte Yrde die Nekrose, die Tal und Kyon befallen hatte. Sie fragte danach und an dieser Stelle war es schließlich Tal, die sich wieder zu Wort meldete. Sie erklärte, wie es zu der Infektion gekommen war und fragte, ob die Ayn wohl über entsprechende Heilmittel verfügte. Diese lachte vergnügt und fragte gerissen, ob Tal nicht in diesem Fall eine kleine Ausnahme machen würde und, so ein Heilmittel geboten wäre, nicht doch ein kleines Tattoo zulassen würde. Tal rieb sich die Stirn und musste an Ughtred denken und gab auf. Also bot Yrde an, zusammen mit Tal ihren eigenen alchemistischen Keller aufzusuchen, um ein Heilmittel zu erarbeiten. Gesagt, getan, ließ sie Kyon ein Zimmer im Obergeschoss zuweisen und begab sich mit Tal in den besagten Keller. Zur Sicherheit zitierte Yrde noch ihren besten Arzt herbei. Der Quink sollte zumindest Kyon untersuchen und sicherstellen, dass die Krankheit seine Verletzungen an der Heilung hinderte.

Die junge Hexe staunte nicht schlecht über die Reserven der Fürstin. Der Gewölbekeller war grob aus dem Boden gehoben und wurde von kantigen, unverputzten Ziegelsteinen in Form gehalten. Die Decke bestand aus fünf Bögen, aus denen mehrere Steine gebrochen waren. Auf ebenfalls fünf langen Tischen standen unzählige Phiolen und andere Behältnisse mit alchemistischen Zutaten und Kochutensilien. Hinzu kamen Regale, Schränke und Truhen rings an den Wänden entlang, die mehr Material zu beinhalten schienen, als die kleineren Vorratskammern des Zirkelhauses der Doppelmondhexen von Shishney.

»Was ist das nur mit euch und eurem Gefährten? Findet ihr mich so abstoßend oder habt ihr Angst, ich könnte ihm etwas nehmen, dass er nicht binnen weniger Stunden eigenständig nachzuproduzieren vermag? Er hat doch nicht etwa Probleme untenrum?« fragte Yrde nach einer Weile unverblümt.

Tal nahm eine Phiole von einem der Tische und betitelte ihren Inhalt als Schattenhonig. Sie sah Yrde direkt an, erwiderte aber nichts weiter.

Die Fürstin nickte und deutete auf eine Schatulle auf einem der Tische. Die Zutaten für einen hoch wirksamen Heiltrank gegen nekrotische Krankheiten. Die nächsten Stunden vergingen für Tal wie im Flug und obwohl sie die Ayn nicht wirklich mochte – sie verabscheute ihre Direktheit Kyon und ihr gegenüber – freute sie sich, etwas von ihr zu lernen.

 

Ughtred kümmerte sich um Odugme und dann entschied er, auf eigene Faust Baiyl zu erkunden. Immerhin war ihre Ausrüstung durch den Besuch des Giftsumpfes stark in Mittleidenschaft gezogen worden und es war Zeit, sich um dieses Problem zu kümmern. Also wartete er, bis die Unterredung seiner Silberwölfe mit der Fürstin beendet war und ließ sich dann von den Quink des Hauses zu Kyon führen. Tals defekte Rüstungsteile befanden sich in den Satteltaschen und Kyon händigte ihm seine aus. Danach verließ er das Aynhaus und ging mit einem Großteil der Lederteile über den Schultern auf den Platz hinaus. Es war später Nachmittag, aber er brauchte etwas zu tun, also fragte er nach einem Lederarbeiter oder einem Schmied. Man wies ihm den Weg zum Arbeiterviertel der Stadt. Hier gab es mehrere offene Werkstätten, die sich um einen kleinen Innenhof gruppierten. Ein gutes Dutzend Quink arbeitete an verschiedenen Projekten. Unter anderem gab es hier eine Alchemistenküche, einen Lederarbeiter, eine kleine Schmiede und eine Tischlerwerkstatt. Der Lederarbeiter besah sich die Rüstungsteile und hörte sich an, was der Fremde sich vorstellte. Danach fragte er höflich nach Ughtreds Art und seiner Herkunft und wer für die Reparaturen und die neuen Stiefel für Tal aufkommen würde. Ughtred beteuerte, dass er die benötigten Ressourcen hätte, aber der Quink verstand nicht, was er damit sagen wollte. In den Augen der Sklaven, gab es keine Vasallen, die über eigene Ressourcen verfügten. Ughtred versuchte es erneut, gab dann aber auf und sagte, der fremde Sliyn gäbe die Reparaturen in Auftrag. Damit gab sich der Mann zufrieden und zog Ughtreds Lederschurz auf einen Amboss um die Schäden zu begutachten. 

Nach einer Weile kam der Heiler, den Ughtred kurz im Aynhaus gesehen hatte und stellte sich dem Nygh als Noluc und seine junge Gehilfin Kiluk vor. Das Quinkmädchen errötete und ging schnell Essen und Trinken herbeischaffen, um ihre Unsicherheit zu überspielen. Der Nygh schien ihr zu gefallen und Ughtred viel zum ersten Mal auf, dass er offenbar eine Wirkung auf weibliche Quink zu haben schien. Er lächelte verlegen,, unterhielt sich mit dem alten Arzt und nahm eine der Hefekugeln, die das Mädchen ihm anbot.

Der Alte lachte, aber dann verzog er seinen Messingunterkiefer zur Seite und machte ein betretenes Gesicht. Die Situation hatte ihn offensichtlich zuerst erheitert, dann aber an etwas weniger Erfreuliches erinnert.

 

Es vergingen Tage der Ruhe und sowohl Tal als auch Kyon ging es zusehends besser. Sie verbrachten die Zeit mit Müßiggang, aber allen tat diese Pause gut. Schließlich besiegte auch Yrdes Medizin die Nekrosekrankheit der beiden Silberwölfe und von da an verbrachte Kyon noch mehr Zeit mit der Fürstin. Tal ließ tatsächlich zu, dass die Herrin von Baiyl ihr einen winzigen Mond unter die Haut stach und Kyon entschied sich für einen Drachen, der sich quer über seinen Rücken ziehen sollte. Sein Vater war ein Opfer dieser Bestien geworden und dieses Sinnbild sollte ihn selbst vor diesem Schicksal bewahren. Alles schien gut zu sein und die vergangenen Abenteuer begannen langsam zu Liedern zu werden, da geschah eines Nachts etwas seltsames.

Kyon hatte das Schlafzimmer der Ayin verlassen, um sich zu erleichtern und da er müde war, wollte er in dieser Nacht alleine in seiner ihm zugewiesenen Kammer schlafen. Es konnten noch nicht viele Stunden vergangen sein, denn als er von einem seltsamen Druck in der Magengegend erwachte, war er nicht schlaftrunken, sondern sofort hellwach.

Im bleichen Licht des Totenmondes erkannte er den Grund seines Erwachens. Ein fahles, schmales Gesicht stand über ihm und glotzte ihn mit bösen Augen an. Er musste sofort an die Blutdrinkerin von Elaiyney denken, aber dies hier war ein Mann. Der Kerl kauerte über ihm und hatte ihm ein Knie in die Seite gebohrt.

Kyon lächelte genervt, hatte aber seinen Humor nicht verloren und versuchte daher einfach zur Seite zu rücken, um dem Fremden Platz in seinem Bett zu machen. Dies war zweifelsfrei der eifersüchtige Galan der Fürstin und es hätte schlimmer kommen können. Er hätte schließlich hässlich sein können.

Doch anstelle die Einladung anzunehmen, drückte der Mann fester mit dem Knie zu und zischte: »Ihr also. Ihr werdet eure Unverschämtheiten bereuen, Stutzer.« Und mit diesen Worten begann er seinen linken, weißen Handschuh auszuziehen.

Kyon sagte, dass es üblich wäre, sich vorzustellen und so spuckte ihm der andere seinen Namen ins Gesicht.

»Ich bin Sliyn Yousyras dan Veorgeneth und ich werde euch lehren mich zu foppen.«

Nun stellte auch Kyon sich vor, aber gerade als er geendet hatte, landete der Handschuh klatschend in seinem Gesicht. Daraufhin erhob sich der andere und Kyon atmete tief durch. 

»Wir werden uns duellieren, heute Nacht!«

Kyon sagte träge: »Heute Nacht kann ich nicht, keine Zeit.«

Sliyn Yousyras verzog angewidert das schmale Gesicht. Es war eindeutig, dass der Mann nicht ganz bei Trost war, aber Kyon hatte kein Interesse daran, herauszufinden, wie er den Titel erlangt hatte. Die meisten smavarischen Fürstinnen und Fürsten erwarben sich ihre Titel durch Taten oder ganz einfach, weil sie mächtig genug waren, dass es niemanden gab, der ihnen diese Idee abspenstig machen könnte. Er selbst hatte seinen Titel von seinen Eltern geerbt. Sie waren Ayn und Sliyn und damit war es üblich, dass ihr einziger Sohn automatisch ebenfalls den Titel Sliyn trug. In Shishney hatte ihm das Tür und Tor geöffnet. Ein Großteil der Gesellschaft wusste zwar, dass ihm nichts innewohnte, dass den Titel auf einer Machtebene gerechtfertigt hätte, aber eben nur ein Teil und für die anderen spielte es eine große Rolle, wenn sie einen Fürste zu besuch hatten und dieser ihnen sogar noch Lieder aufspielte.

Hier draußen in der Provinz kannte Kyon niemanden und konnte daher nur schwerlich einschätzen, wer mächtig war und wer nicht. Die Ayn zum Beispiel hatte bisher ebenfalls nicht damit geprahlt, über welche Kräfte sie verfügte, aber das Gebaren anderer Smavari ihr gegenüber zeigte ganz klar, dass jedermann hier in Baiyl sie fürchtete. Darüber hinaus schien sie beliebt zu sein. Alles, was er jedoch über ihren Galan gehört hatte, war, dass er sich immer wieder einmal lächerlich zu machen pflegte. Ein Duell wegen der Gunst einer Frau, wo gab es denn so etwas? Man schlug sich nicht wegen der Gunst eines anderen. Gunst war etwas wunderbar Teilbares. Kyon war gut darin, Gunst zu teilen. Das ganze Konzept der Eifersucht erschien ihm mehr als lächerlich und die meisten anderen Smavari sahen diese ebenso. Es gab praktisch überhaupt keine festen Bindungen, die andere Neigungen verboten hätten. Was wollte der Irre von ihm und vor allem, wie irre genau war er? Kyon verspürte nicht die geringste Lust, sich von einem eifersüchtigen und darum wahnsinnigen Irren massakrieren zu lassen.

»Also gut, ein Duell, aber dann habe ich die  Wahl der Waffen mein Herr«, sagte er in der Hoffnung, die Sache auf einen Bogenwettstreit hinauslaufen lassen zu können. Doch der Sliyn meckerte nur: »Natürlich nicht! Wir werden uns mit Fäusten schlagen, so ist es hier Brauch.«

Mit Fäusten schlagen, wiederholte Kyon das Gehörte und versuchte die Worte zu verstehen. Niemand im Reiche des Mirthas schlug sich mit Fäusten; also zumindest niemand, der über eine adäquate Ohrlänge verfügte. Sklaven konnte man boxen lassen. Das konnte ganz erbaulich sein. Blutspritzer, die ins Publikum sprühten und so … Aber Smavari schlugen sich doch nicht mit Fäusten.

Er sah dem Mann in die Augen. Zwei schmale, dunkle, zweifelsfrei tätowierte Streifen teilten sein Gesicht in drei Bereiche. Die Augen schienen zu lodern und bezeugten die Ernsthaftigkeit im Verlangen des Mannes. Kyon seufzte tief und schließlich sah er ein, an diesem Punkt nichts ändern zu können. Also gab er sich geschlagen und nickte ergeben. »Wir schlagen uns mit Fäusten. Natürlich, denn so ist es hier Brauch«, murrte er müde.

Sliyn Yousyras dan Veorgeneth erhob sich endgültig von dem Lager und verzog das Gesicht zu einer Fratze der Geringschätzigkeit. »Schlagt einen Termin vor!«

Kyon antwortete: »Weiß noch nicht, ich bin mit einer schrecklichen Krankheit geschlagen und benötige dringend Bettruhe.« Die letzten beiden Worte presste er genervt zwischen den Lippen hervor.

Sofort trat Yousyras einen Schritt zurück. Fast sah er ein wenig bekümmert aus. Doch dann sagte er: »Wie zu erwarten war, seid ihr ein Schwächling. Ich erwarte euch in spätestens drei Nächten auf meinem Kampfplatz an der Eisschlange. Lasst mich nicht warten. Ihr wollte nicht meinen wahren Zorn erwecken.«

Kyon schüttelte den Kopf und winkte den nächtlichen Besuch hinaus. Er war fast verwundert, als die Geste zu wirken schien, denn der Galan der Fürstin wandte sich ab und ging.

Gleich am nächsten Morgen passte Kyon den alten Quink ab und befragte ihn zu der Sache, doch dieser konnte oder wollte nicht viel dazu sagen. Ja, der Herr Sliyn habe sich schon oft mit Fremden Herren geschlagen und ja, mit den Fäusten. Der Herr Sliyn solle sich nicht sorgen, da der andere Herr Sliyn noch nie einen Faustkampf gewonnen hätte.

Kyon fragte erstaunt: »Noch nie gewonnen?«

Der Quink schüttelte den Kopf.

»Warum macht ers dann?«

Schulterzucken.

Kyon war erstaunt und fragte nach dem Aufenthaltsort des Sliyn. Haus Edelhand, kam die knappe Antwort. Aber der Herr empfänge nur des Nachts Besuch. Überhaupt bekäme man ihn nur und ausschließlich in Abwesenheit der Tagesgeschwister zu Gesicht.

Kurz vor der Mittagsruhe klopfte Kyon an die weiße Tür des Hauses Edelhand und musste geschlagene zehn Minuten warten, bis ihm geöffnet wurde. 

Der Besitzer, ein älterer Smavari namens Aanuel dan Nestraiyth, bat Kyon in sein Etablissement und führte ihn in eine niedrige Küche. Er lächelte und schenkte verbrannt riechenden Faltersud ein. Kyon sah sich um. Die Küche machte einen sauberen Eindruck, aber vom Personal fehlte jede Spur. Der Hausherr hatte die Falter eigenhändig gemahlen. Auf dem Tisch stand ein großer Steinmörser und überall lagen die Flügel von Motten verstreut. So war dies eben in der Provinz. Kyon sehnte sich nach Shishney. Doch dann erinnerte er sich an den maroden Zustand seines Hauses. Marode, alles dort war marode, der Geist seiner Mutter, die Abwesenheit seines Vaters, die Dienerschaft, einfach alles – wie er selbst. Würde er dort seine Falter auch selbst mörsern müssen?

»Er hat euch also zum Duell gefordert. Das war zu erwarten«, sagte Aanuel und nahm einen großen Schluck des schwarzen Getränks.

Kyon nickte und schließlich fragte er vorsichtig: »Stimmt es, dass er noch nie einen Kampf gewonnen hat?«

Der Hausherr nickte und erklärte, der Herr Yousyras dan Veorgeneth sei alles andere als kräftig, bestehe aber stets auf ein Duell der Fäuste. Er habe feste Regeln und dazu gehörte wohl auch, dass er niemals seine psionischen Kräfte zum Einsatz bringe. Diese Regel galt allerdings auch für seine Kontrahenten. Nur, wer kam denn hier in Baiyl vorbei? Abenteurer, Leute, die es geschafft hatten, die Wildnis zu besiegen. War es da ein Wunder, dass diese stark und kampferprobt waren?

»Warum dann das Ganze?« fragte Kyon mit ungespieltem Interesse.

Der andere sah ihn mit skeptischem Blick an, als wolle er sagen, dass er die Sache auch nicht wirklich verstand, aber dann sagte er leise: »Er lässt sich schlagen, geht zu Boden und die Ayn päppelt ihn wieder auf. Er bleibt dann viele Nächte lang bei ihr und man sieht und hört von den Beiden nichts. Denke, wird ihnen schon irgend etwas geben, das Ganze.« Er zuckte mit den Schultern.

Kyon rieb sich das Kinn. Dann sah er auf und fragte: »Muss ich selbst antreten oder kann ich einen Stellvertreter ernennen?«

»Kommt oft vor, das mit dem Stellvertreter. Gerade auch wenn es sich bei den Herausgeforderten um Frauen handelt. Er schlägt sich sehr ungern mit Frauen und wenn, lässt er sich absichtlich besiegen. Er ist ein Edelmann.«

Kyon nickte und rollte dann mit den Augen. Dann sagte er: »Na dann werde ich mal mein Glück versuchen.«

Aanuel nickte ebenfalls und sagte: »Denkt daran, oberste Regel ist: keine übernatürlichen Kräfte. Setzt ihr welche ein, tut er dies auch und ich kann euch nur sagen, Kollateralschaden. Es gibt einen Grund, warum keine Smavari die Kämpfe besuchen. Er wohnt hier unter meinem Dach und ich kann jede Nacht ihre Schreie hören. Ihr wollt nicht, dass er euch die Seele aus dem Leib saugt und was auch immer mit ihr anstellt.«

Der Barde verzog sein Gesicht. War klar, dass der Kerl irgendeine Art von Monster unter der Haut tragen musste. Es war immer so; selbst bei ihm selbst.

Er stand auf,klopfte mit der Faust auf die Tischplatte und verließ den Raum. Die schmale Treppe, die in einem engen Bogen nach oben führte, nahm er mit zwei Schritten und oben angekommen, beugte er sich unter einem Türbogen hindurch in einen winzigen Vorraum. Dann klopfte er gegen die einzige, tief schwarze Tür.

»Herein«, kam es sofort von innen und er öffnete die Tür.

Der Raum war dunkel, dicke Vorhänge sperrten jegliches Licht aus und nur ein seltsames gelblich glimmendes Ei auf einem ansonsten leeren Regal ließ Kyon die Umrisse der Möbel erkennen. Es gab allerdings auch nur einen sehr schmalen Sekretär, ein Bett und einen schwarzen Stuhl, auf dem kerzengerade der Sliyn hockte. Er trug ein Gewand aus schwarzer Fischhaut. Mit einem Nicken bedeutete er seinem Gast, sich auf der Bettkante niederzulassen.

»Da seid ihr also. Hat euch euer Mut doch nicht zur Gänze verlassen, Stutzer«, eröffnete der Herausforderer und lächelte abschätzig.

Kyon räusperte sich und sagte: »Ich bin hier, um euch den Termin zu bestätigen. In von nun an zwei Nächten an besagtem Platz an der Eisschlange. Ich selbst werde im Übrigen nicht anwesend sein, da ich mich entschieden habe euch einen Champion zu schicken.«

Yousyras dan Veorgeneth warf sich in die Brust und sagte voller Empörung: »Natürlich werdet ihr anwesend sein! Es stand zu befürchten, dass ihr es nicht wagen würdet euch selbst mit mir zu messen, doch auf eure zugegebenermaßen schöne Erscheinung will ich auf keinen Fall verzichten. Ihr seid rüde und unverschämt genug. Ich werde euch zermalmen. Geht nun.«

Mit verzogenen Lippen stand Kyon auf und rieb sich genervt die Haare aus dem Gesicht. Er nickte seinem Herausforderer kurz zu, wandte sich ab und wäre beinahe mit der Stirn am Türsturz des niedrigen Zimmers kollidiert. 

 

»Ihr habt was getan?« Tal sah Kyon mit großen Augen an. Er hatte ihr erklärt, dass sie in Norths Leib weit bessere Chancen gegen den Verrückten Sliyn von Baiyl hätte als er. Wie oft hatte er nun sie, den Nygh und den sinnlosen Phani mit seinem Bogen gerettet, da war es doch nur fair, wenn sie sich nun um diesen Faustkampf kümmerte. Ein Faustkampf war aber auch wirklich unter seiner Würde.

Die Hexe kniff die Augen zusammen. Unter seiner Würde und vor allem weit von seinen Fähigkeiten entfernt. Er mochte einen ganz netten Hintern haben, aber er war so schmal wie sie und es war verwunderlich, dass er den Kriegsbogen, mit dem er gerade geprahlt hatte, überhaupt spannen konnte.

Sie dachte einen Moment nach. Der tote Leib ihres Bruders war stark und mehr oder weniger unverwundbar, denn er war schließlich tot. Es war nur ein Körper. Sie würde dem Kerl die Zähne blutig schlagen und gut. Warum nicht? Am Ende wäre dieses Duell erfreulicher als der ganze restliche Aufenthalt in diesem beschissenen Loch.

Schulterzuckend sagte sie: »Wann und wo?«

Kyon erklärte ihr die Bedingungen und beschrieb den Ort. Sie fragten den Hofmeister der Ayn, ob er ihnen den Platz zeigen konnte und dieser gab ihnen eins der schönen Quinkmädchen zur Seite. Sie würde sie hinführen, aber man hätte den Kampfplatz ohnehin nicht verfehlen können; gut und gern einhundert Quink machten sich in der Nacht dorthin auf.

Als es schließlich soweit war, schleppte Odugme den Sarg zum Ufer der Eisschlange. Der Weg war matschig und von hunderten von Quinkfüßen ausgetreten. Es war kalt und alle hatten sich heiße Brühe und Hocker mitgebracht. Lange Fackeln waren aufgestellt worden und zauberten flackernde Feuer auf den träge dahindümpelnden Fluss. Es war gerade hell genug, um die aufgeregten Gesichter der Quink am Rand des Platzes erkennen zu kennen.

Kyon sah sich um. Kein anderer Smavari hatte sein Haus verlassen. Nicht einmal die Ayn war hier. Er erinnerte sich an die Worte des Wirtes. Kollateralschaden, ging es ihm durch den Kopf, er könne die Stimmen der Betroffenen in den Mauern seines Hauses hören. Er zuckte mit den Schultern. Sie würden sich an die Regeln halten. Dann wartete er, bis Odugme den Sarg geöffnet hatte und Norths kalten Leib heraushob. Ein wenig schauderte ihn bei dem Anblick des Geliebten, doch dann wanderte sein Blick zu den Monden, die Böse am Horizont standen und tat diese sentimentalen Gedanken ab. Er setzte sich auf den Sarg. Es musste ja nicht sein, dass er sich die Kleidung hier im Matsch der Böschung verschmutzte.

Ughtred, der neben ihm stand, deutete mit der Hand auf die andere Seite des Platzes. Tal besprach sich gerade mit Yousyras, der erneut die Regeln mit ihr durchging. Keine feinstofflichen Kräfte. Sie nickte und deutete auf den Untoten, den Odugme wie eine Puppe unter den Schultern gepackt hatte und nun vor sich hob. Der Sliyn nickte und sagte etwas, aber Kyon und Ughtred konnten ihn nicht verstehen. Die Quink hatten es sich so gut es ging bequem gemacht und schlossen nun ihre Wetten ab. Vergessen war die späte Stunde und die Kälte des Frühlings. Sie schwatzten und deuteten mit ihren Fingerdornen auf den einen oder anderen Gegner und lachten und schmatzten laut.

Die Hexe stakste durch den Schlamm und blieb vor Ughtred stehen. Sie sah kurz zu Kyon herunter, sagte aber nichts. Dann holte sie die kleine schwarze Flasche aus ihrem Umhängebeutel. Ughtred nickte. Es waren die Stasetropfen, die sie einnahm, wenn sie ihren Körper verließ, um in den Toten zu fahren. Es war das gleiche Zeug, dass auch Kyon das Leben gerettet hatte.

»Ihr passt auf mich auf oder?«

Ughtred nickte erneut. »Natürlich, Frau Hexe. Immer«, sagte er in beruhigendem Ton. 

Dann setzte sie sich neben Kyon auf die Holzkiste und nahm einen Tropfen der Flüssigkeit. Die Zeit reichte gerade, um das Fläschchen wegzupacken und schon färbten sich ihre Augen violett und ihre Haut wurde wächsern. Als ihre Lippen schwarz wurden, sackte sie zusammen, aber Ughtred fing ihren schmalen Körpern auf und hielt sie fest. Es war ihm anzusehen, dass er sich niemals an solche Dinge gewöhnen würde, aber es war auch eindeutig, dass er sich um die junge Hexe sorgte.

Tal indes streifte ihren Körper ab, tastete sich durch den Äther und fand das weiße Brennen von Northrians totem Leib. Sie schlüpfte hinein und rüttelte sich darin zurecht. Es war, als zöge sie ein viel zu großes Kleid an und müsse nun ihren körperlichen Attributen den bestmöglichen Platz darin suchen. Doch schließlich fand sie die Augen und des Bruders und von diesem Moment an nahm sie dessen Platz in dem untoten Körper ganz und gar ein.

Sie streckte sich und die lange nicht genutzten Gelenke krachten und sie versuchte instinktiv zu atmen, aber die toten Lungen waren zerstört und hatten ihre natürliche Funktion längst verloren. Vorsichtig versuchte sie ein paar Schritte und dies gelang erstaunlich gut. Es dauerte nur wenige Minuten und der Körper fühlte sich mehr oder weniger natürlich für sie an. Eigentlich erschrecken, dachte sie und stakste quer über den matschigen Platz zum Herausforderer hinüber.

Dieser starrte den wandelnden Toten mit einer Mischung aus Interesse und Abscheu an. Allerdings schien er sich keineswegs zu fürchten. Er trug ein schwarzes Hausgewandt und der Tote auf ihn zukam öffnete er dieses und ließ es zu Boden gleiten. Darunter hatte er nur eine Art gewickelten Lendenschurz an, der seine helle Haut betonte. Er sah auch wie ein riesiger, dürrer Welpe in Windeln. Tal ließ North ein Lächeln versuchen, aber wenn es ihr gelungen sein sollte, zeigte Yousyras keine Reaktion. Stattdessen hob er die knochigen Fäuste in eine Position, die ihm kämpferisch vorzukommen schien und fletschte seine Zähne.

»Los, drauf los, wehrt euch!« zischte er und kassierte Tals ersten Schlag. Sie traf ihn mit gestreckter Faust knapp oberhalb der Lippen, brach ihm die Nase und den Wangenknochen und holte zum nächsten Schlag aus. Als Yousyras nach hinten taumelte und in den Matsch fiel, bremste sie sich und trat einen Schritt näher, um zu sehen, was passiert war. Leider waren ihre Augen in Norths Leib auch nicht besser als sonst und so konnte sie nur ahnen, dass der Kampf vorüber war.

Anders die Zuschauer, die jubelten und umhersprangen, dass der Schmutz nur so über das Schlachtfeld spritzte. Der Kampf war vorüber.

Tal drehte North zu Kyon und Ughtred um und die beiden hoben gleichzeitig ihre Schultern und ließen sie wieder sinken. Da sich mehrere Quink um den im Schlamm liegenden Silberwolf kümmerten, ging Tal zum Sarg zurück und versuchte mit ihren Gefährten zu sprechen, doch Norths Kehle gab nur Krächtslaute hervor. Schließlich stand Kyon vom Sarg auf und Ughtred hob Tals Körper herunter. Sie ließen den Untoten in die Kiste steigen, sich ablegen und verschlossen sie dann sorgfältig. Tal verließ den Leib und kehrte in die Schwärze ihres eigenen, in Stase befindlichen Körper zurück.

»Verrückt«, murmelte Ughtred, aber Kyon war schon in Richtung des Herrenhauses davongeschlurft.

 

»Wie bekommen wir Kyon nur dazu nach Shishney zurückzukehren?« Tal saß mit Ughtred und Odugme am Frühstückstisch im Hause der Ayn. Zwei Tage waren nach dem Duell vergangen. Man hatte sich um den Sliyn gekümmert und so wie es aussah, würde er es überleben. Es gab auch keinerlei Grund, sich vor seiner Rache zu fürchten, denn offenbar hatte er seine Niederlage hingenommen. Die Fürstin hatte sich um ihn gekümmert und ihm Bettruhe verordnet. Leider bedeutete dies offenbar auch, dass sie viel Zeit hatte, sich mit Kyon zu vergnügen. Tal wollte gar nicht so genau wissen, zu welchen Ausschweifungen es in diesem Zusammenhang kam.

Ughtred nahm einen Schluck Gerstensaft und sagte: »Er scheint ja wirklich keinen Grund zu haben Baiyl zu verlassen.«

»Keinen Grund? Und was bitte ist mit uns beiden? Ich will in meinen Zirkel heimkehren und ich will dieses Provinzloch vergessen und überhaupt habe ich die Nase vom Plagensumpf voll. Ihr werdet ja wohl auch irgendwann nach Hause zurückkehren wollen – oder zumindest in die Zivilisation.«

Ughtred sprach die smavarischen Worte mit einem starken Akzent aus, hatte aber deutlich an den Vokabeln gearbeitet. Tal fiel auf, dass er sich zwischenzeitlich deutlich gewählter auszudrücken vermochte.

»Shishney gefällt mir auch besser als Baiyl, auch wenn ich nur wenig von der Turmstadt zu sehen bekommen habe, bevor man mich in den Kerker steckte«, sagte er und rollte mit den Augen.

»Ich will mich auch endlich an dem elenden Kerkermeister rächen«, fügte Tal hinzu.

Ughtred nickte, obwohl er selbst dem Mann im Grunde nichts vorwarf. Er hätte ja nicht den blöden Kran manipulieren müssen.

 

Kyons Drache auf seinem Rücken spie Feuer und wuchs zu einer ehrfurchtgebietenden Bestie an. Ansonsten geschah nichts in den nächsten Tagen und Nächten. Doch dann, es muss drei oder vier Nächte nach dem legendären Duell gewesen sein, Unterhielt sich Ughtred mit einigen Quink in der Arbeiterstraße und diese erzählten ihm von einem Hobgoblinangriff auf mehrere Jäger in den nordwestlichen Hügeln. Er wunderte sich und fragte nach, ob so etwas häufiger vorkam. Die Rotaugen waren natürlich nie zu unterschätzen, aber dass sie smavarische Jäger angriffen, war durchaus beachtenswert. Alle Antworten, die er erhielt, wurden hinter vorgehaltener Hand getuschelt. Ein düsterer Nekromant würde die Rotaugen anstacheln. Wenigstens drei Häuptlinge ständen unter dieser dunklen Kontrolle und das Ende der Welt stünde kurz bevor.

Ughtred erzählte Tal von der Sache und hob hervor, dass es ihm seltsamerweise fast so vorkam, als wäre den hiesigen Quink solch eine Situation alles andere als fremd. Tal wiederum fragte die Ayn bei einem eher selten gewordenen Treffen und versuchte es auch Kyon zu erzählen, aber er wollte davon nichts wissen. Umso mehr ärgerte sich die junge Hexe. Die Fürstin nickte nur und sagte, sie hätte die Wachen schon verstärkt und ihre Krieger hätten auch schon zwei Hobgoblinspione gefangen genommen und ordnungsgemäß gefoltert und dann an die Palisaden gehängt. Man solle sich nicht über den Gestank wundern.

Tatsächlich schien im Wald etwas vorzugehen, denn tags darauf Ritten vier smavarische Ritter auf Zackenhörnern in den Wald und kamen erstaunlich schnell mit Pfeilen gespickt zurück. Zum Glück war niemand ernstlich verletzt worden.

Als Tal dies hörte, erkannte sie den einzigen gangbaren Weg für sich und ihre Gefährten. Sie musste handeln.

Am Abend setzte sie sich zu Ughtred in die Küche und nahm sich ein Stück seines Blaubeerkuchens. Der Nygh verzog das Gesicht, nickte dann aber höflich. Sie trug ein dünnes Kleid, dass die Ayn ihr gegeben hatte und sah mit ihrer neuen Frisur irgendwie süß aus. 

»Wir schläfern ihn ein und entführen ihn nach Shishney!«

Ughtred sah sie an und war nicht einmal verwundert, dass er sofort wusste, was sie mit ihren Worten sagen wollte. Vor seiner Reise mit den Silberwölfen hätte er solch eine Idee noch absolut absurd gefunden. Jetzt, da ihm diese hübsche Hexe voller Überzeugung in die Augen blickte und keine Widerrede erwartete, erschien ihm die Idee als etwas absolut Normales im Laufe einer Silberwolfunternehmung.

»Ja«, sagte er ruhig, rieb sich mit der einen Hand über die Stirn und schnappte ihr mit der anderen den Rest des Kuchens weg.

Sie machte einen Schmollmund, sah sich um, denn die Wände hatten Ohren und sagte dann leiser: »Ich kümmere mich um den Barden, ihr um die Passage. Passt das?«

Der Nygh nickte verschwörerisch. Er war ja ein Dieb, da war eine Verschwörung das Geringste, was er noch auf die Beine stellen konnte.

Gesagt getan, schlenderte Ughtred am nächsten Morgen zu den Anlegestellen in der Nähe des Lusthauses Edelhand. Hier lagen drei Flussschiffe vertäut und er wunderte sich fast, die Dinger im Wasser liegen und nicht darüber schweben zu sehen. In Elaiyney hatte er erfahren, warum dies so war. Amytoren fürchteten fließendes Wasser und Flugholz war teuer. Zwei gute Gründe sich für normale Schiffe zu begeistern.

Er fragte einen der Arbeiter, welches der Schiffe wohl am ehesten nach Norden fahren würde. Die Seekröte, ein breiter Kahn mit einem Mast und einer Ruderreihe schien das Schiff der Wahl. Er wunderte sich über den Namen, aber dann verstand er: die Seekröte war ein Quinkschiff unter einem Quinkkapitän und da war es kein Wunder, dass sie auch einen Quinknamen trug. Kapitän Jukuc war ein vierschrötiger Mann, der mit den Sklaven in der Stadt wenig gemein hatte. Seine Schultern waren breit, seine Haut für einen Quink erstaunlich dunkel und seine Fäuste sahen aus, als könne er mit ihren problemlos Schädel zerquetschen. Er war nicht viel größer als andere Quink, aber seine Erscheinung war dennoch beeindruckend. Außerdem trug er einen breiten, gebogenen Säbel an seinem Gürtel. Die Quink in Baiyl trugen nur Waffen, wenn sie der Garde angehörten oder Soldaten waren. Sklaven war es zwar nicht verboten, aber sie brauchten auch keine und beließen es daher meist dabei.

Ja, die Seekröte würde in Kürze in Richtung Shishney auslaufen und bei der momentanen Lage lieber früher als später. Ughtred war zufrieden, verabschiedete sich und berichtete Tal. Jetzt mussten sie nur noch ihren Barden vergiften.

Am selben Abend unterhielt sich Kyon mit Yrde über die Unruhen in Baiyl. Zwischenzeitlich hatte eine Gruppe von Hobgoblins die Nordstadt angegriffen und man hatte die schwere Feuerlanze auf dem Wehrturm der Mühle von ihrer Verschalung befreit. Leider war es bei einem Testschuss zu einer Verpuffung und schweren Verletzungen bei den Kanonieren gekommen. Die Fürstin hatte Befehl gegeben, weitere Soldaten auszuheben und zu bewaffnen. Man ging von einem Großangriff in den nächsten Tagen aus. Zweifelsfrei wäre da draußen ein Schurke unterwegs, der die Stämme der Rotaugen zu vereinen drohte, um möglichst viel Schaden an den smavarischen Strukturen zu verursachen. Gerüchten zufolge, könne es sich gar um einen düsteren Nekromanten handeln …

Die Fürstin reichte ihm ein kleines Fläschchen, dass mit einer weißen Flüssigkeit gefüllt war und forderte ihn auf, zwei Tröpfchen davon zu trinken, aber er war hungrig und bat um eine kurze Pause. Er entschied sich für einen Mitternachtssnack. Später würde er diese Idee zweifelsfrei bereuen, denn er kam just am selben Abend in die Küche hinunter, an dem Tal und Ughtred sich entschieden hatten, keine Sekunde länger zu warten. Da er sich setzte, war sein Schicksal besiegelt. Freundlich lächelnd schenkte Tal ihm einen Becher mit Stasetropfen versetzten Gelbweines ein. Er trank und erstarrte.

 

Draußen war das Donnern der Feuerlanze zu hören und irgendwo in der Ferne wurde gekämpft. Ughtred deutete in Richtung der Anlegestelle. Es war dunkel und im Osten kam langsam Nebel auf, in dem sich die flackernden Fackeln der Quink gespenstig spiegelten. Odugme trug den größten Teil der Ausrüstung auf dem Rücken und zog den Sarg an den Ketten hinter sich her. Ughtred trug Kyon über den Schultern, wobei wie gewohnt die langen Beine über den Boden schliffen. Die restliche Ausrüstung, unter anderem den Kriegsbogen des Barden, musste Tal tragen und dies war alles andere als einfach für sie. Plötzlich blieb sie stehen.

»Herr Nygh«, sagte sie.

Ughtred hielt ebenfalls an und sah sie an.

Dann sagte sie mit schief gelegtem Kopf: »Chaosschild?«

Der Nygh ließ Kyon ab und rieb sich über die Stirn.

Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis sie ihr Hab und Gut zum Ufer gebracht hatten, wieder zurückgegangen waren, um den Schild zu holen und endlich beginnen konnten, die Seekröte zu beladen. Die Quink an Bord des Schiffes waren schwer bewaffnet und suchten ständig mit nervösen Blicken den Fluss ab. Der Nebel machte es unmöglich, etwas zu erkennen. Wovor hatten sie nur solche Angst?

Irgendwo im Norden Baiyl war ein Feuer ausgebrochen und vom Schutzturm tischten Plasmabolzen durch die Schwärze der Nacht und erfüllten den Wald mit feurigem Chaos. 

Tal zurrte gerade die Bleidecke am Schild fest. Er passte nicht unter Deck und musste daher am Bug liegen. Als sie aufsah, war Ughtred neben sie getreten und deutete auf das bleigraue Wasser hinaus.

»Dort«, murmelte er.

Sie kniff die Augen zusammen und versuchte etwas zu erkennen, aber außer dem Nebel und den Reflexionen der Flammen an Land sah sie nichts. Doch dann brannte es mit einem Mal tatsächlich auf dem Fluss und Tal wurde klar, dass der Nygh recht hatte.

»Flöße«, rief sie laut und da waren auch schon zwei Matrosen mit Armbrüsten neben ihr. Einer hob seine Waffe, aber da erscholl die Stimm des Kapitäns: »Abfallen lassen! Ruder ab, Landabwärts, abwäääääärts!« brüllte er und erschien mit wedelnden Armen auf dem Steuerdeck. Die Mannschaft ließ ihre Waffen sinken und beeilten sich die Befehle ihres Anführers umzusetzen. Sie ruderten wie verrückt zum Land hin und ließen dann den Fluss den Rest machen. Anstelle wie geplant nach Norden zu reisen, driftete die Seekröte nach Süden ab und gab die Anlegestelle für die sich nähernden Flöße frei. Es waren wenigstens drei grob zusammengeschnürte Dinger aus morschem Holz. Darauf befanden sich eine Unzahl von Hobgoblins, die johlten und fluchten und mit Brandpfeilen auf die Dächer der Siedlung schossen. Eines der Flöße zerbrach, als es mit einem Steg kollidierte und die Rotaugen gingen über Bord. Die meisten ersoffen, wo sie ins eiskalte Wasser gefallen waren und nährten die Schlange. Die anderen beiden landeten an. Dutzende grün-grauer Leiber krochen an Land, schossen Pfeile ab und wurden von bis an die Zähne bewaffneten Quink und Silberwölfen empfangen. Irgendwo erhob sich einer der smavarischen Krieger und schleuderte etwas Brennendes in die angreifende Horde und als es explodierte, gingen die Hobgoblins schreiend in Flammen auf.

Doch im selben Moment erreichte die Seekröte eine Biegung und ein kleiner Schilfwald nahm der Besatzung und den Passagieren die Sicht auf das Chaos des Kampfes. 

Ughtred schüttelte den Kopf. Tal sagte leise: »Das ist normal hier draußen.«

 

Am Rande des Waldes waren schon die Ränder der Tagesschwestern zu sehen und der Nebel hatte sich verzogen. Leichter Regen machte die Wasseroberfläche uneben und klärte die Luft vom Brandgeruch. Der Kapitän der Seekröte hatte Befehl gegeben, das Schiff auf die Ostseite der Ejviyslath zu bewegen. Danach ging es im Schritttempo in Richtung Norden zurück. Erst mehrere Stunden später kamen sie wieder an Baiyl vorbei. Im Regen war praktisch nichts von den Kämpfen der Nacht zu erkennen. Doch als das Schiff nahe genug an die Stadt herangekommen war, sah Ughtred die toten Leiber am Ufer liegen. Er rieb sich die Stirn und rückte von dem Chaosschild ab.

Als Tal neben ihn trat sagte er leise: »Warum haben sie das gemacht?«

Tal betrachtete die toten Rotaugen und sagte: »Jemand hat sie angestachelt.«

»Jemand?«

»Vielleicht jemand, der wollte, dass wir ungesehen Baiyl verlassen können. Vor allem ungesehen von der Obrigkeit.«

Ughtred sog die Luft ein. »Ihr meint der Kerl mit dem ihr euch geschlagen hat könnte hierfür verantwortlich sein?«

»Wie gesagt, so etwas ist hier draußen ganz normal.«

Tal wandte sich ab und sah nach Norden. Shishney, Zivilisation, sie hatte die Wildnis so satt.

 

Die Sonnen waren gerade untergegangen, als die Seekröte von Westen auf der Höhe der Plagenkuppe bei Shishney angekommen war. Weiter wollte der Kapitän nicht fahren, aber hier draußen gab es einen Dammweg an der Eisschlange entlang und ein Dutzend Quink wartete, um das Schiff zu entladen. Tal musste den Schild tragen, also gab sie den Sklaven Befehl, neben den Waren für die Stadt auch ihre Ausrüstung zu transportieren. Es gab einen Vorarbeiter, aber auch dieser traute sich natürlich nicht, ihr zu widersprechen. So zogen sie gemeinsam mit den Trägern am Flussufer entlang und selbst Odugme hatte es leichter als sonst, denn die Sklaven hatten die Waren auf Schlitten geladen und Tal hatte dafür gesorgt, dass der Sarg auf dieselbe Weiße transportiert wurde.

Zweimal wurde sie von Stadtwachen angehalten. Da es sich um Silberwölfe handelte, mussten sie die Durchsuchungen über sich ergehen lassen. Es stellte sich heraus, dass man nach wilden Hobgoblins suchte. Offenbar fürchtete man einen Aufstand oder gar einen Angriff seitens der Rotaugen. Tal rollte mit den Augen, sagte aber überhaupt nichts.

Die Sklaven wollten in Quinkstadt bleiben, aber Tal kommandierte einen der Schlitten in die Oberstadt ab. Man würde die Sklaven gehen lassen, sobald die Ausrüstung der Doppelmondhexe beim Haus  Y`shandragor abgegeben wurde.

Besagtes Haus lag im Dunkeln und die Haupttür stand einen Spalt offen. Giftige Rankenpflanzen hatten den Hof überwuchert und es stank nach toten Ratten. Ughtred klopfte im Hof an die Haustür und wartete geschlagene fünf Minuten, bis der uralte Quink öffnete und in die Dunkelheit herausstarrte. Genervt fragte er: »Wer da?«

Ughtred wollte freundlich antworten, aber Tal brüllte gereizt vom Hof herüber: »Rattenscheiße, Tür auf und helft uns die Ausrüstung hinein zu bringen. Feuer machen und besorgt etwas Essbares!«

Sie hatten es geschafft. Shishney hatte sie wieder und der Chaosschild war geborgen worden. Der Nygh rieb sich über die Stirn und sah zu wie die Silberwölfin den Schild quer durch den Innenhof zerrte. Odugme trug Kyon die Stufen zur Tür hinauf. Wie würde es weitergehen? Das Tagebuch berichtete von wirren Vorgängen in der Stadt. Ein Zahnrad musste repariert werden und zwar von einem bestimmten Schmied. Warum konnte kein anderer Schmied diese Arbeit verrichten? Und dann mussten sie in die Zitadelle einbrechen. Ja, man hatte ihn Dieb getauft, aber er hatte den Kerker von Shishney schon von innen gesehen und hatte nicht die geringste Lust, dort zu versauern. Undorn war das Grab seiner Vorväter und er hatte es geplündert. Seine Hand fuhr zum Knauf des Messingschwertes. Was hatte es ihm gebracht? Jetzt sollte er mit den beiden Verrückten in das Grab eines alten Silberwolfes eindringen und die mächtigste Waffe des Landes stehlen. Ein Schild, ein Speer, Drachenfeuer und am Ende ein Schatz über den sie so gut wie nichts wussten. Das Ganze war Irrsinn, aber er musste zugeben, er hatte sich an seine beiden Reisebegleiter gewöhnt. Trotz ihrer Schrullen hatten sie etwas Beständiges, dass sein Herz erwärmte.

Er zuckte mit den Schultern und half die Ausrüstung ins Haus zu schaffen. Wenn Kyon erwachte, würde er sicher alles andere als fröhlich sein. Er, Ughtred aus Korezuul, würde versuchen, in besagtem Moment möglichst nicht in der Nähe zu sein. Ressourcen mussten getauscht werden, Odugme brauchte unbedingt eine richtige Rüstung und er musste lernen, mit Waffen umzugehen. All dies waren Dinge, die erledigt werden mussten. Sollte die Hexe sich um den Barden kümmern.

Und so kehrten sie in das Haus Yˋshandragor zurück. Sie hatten sich besser kennengelernt, den Chaosschild und Weisheit errungen. Doch das Tagebuch des Lonkaiyth dan Y`shandragor hielt noch viele weitere Geheimnisse bereit und es würde zweifelsfrei nicht lange dauern, bis es es wieder hieß: auf ins Abenteuer!

 

 

 

Dem Großes droht, Verzicht ist bald sein bester Freund …

LdY`s

 

Der eherne Speer des Raguel

Ein Recke, ein Held, mondhell und mit scharf geschnittenem Profile, kein andrer ist`s als Raguel Siarn dan Orthenaug. Jeder weiß wo er begraben und hierhin soll die Reise gehen. Denn, ja es gibt kein anderes Klingenwerk auf der Tiba Fe, das eher Schuppenkleid durchstoßen kann, denn dieses Hexenkönigs eherner Speer.

In Shishneys Zitadelle, hoch genug unter dem ewigen Eis der Zauberin Schloss, liegt der Mann, der Krieger, in ewiglichem Schlaf. Bei ihm sein eherner Speer, doch niemand wird hier jemals wieder eingelassen.

So steht es im Buche dieser Stadt: Eine unsichtbare Tür vom Aufzug der Zitadelle, linkerhand führt auf geradem Wege zu Räumen jenseits dieser Welt. Auch dort ist vermerkt, ein Wachraum unter diesem Grab, wo nur ein Rätsel die Decke über einer Treppe öffnet. 

 

Auszug aus dem Tagebuch des Sliyn Lonkaiyth dan Y`shandragor

 

Raguels Grab

Man erzählte sich übelriechende Geschichten über die Hobgoblinplage in Quinkstadt, die vielleicht mit einem schrecklichen Nekromanten im Süden des Plagensumpfes in Verbindung stand, aber die Bewohner des Hauses Y`shandragor hatten ganz andere Probleme. Während also die verschiedenen Garden und Wachen Shishneys von Haus zu Haus gingen und versuchten der ›Rotaugenplage‹ Herr zu werden, überlegte Kyon ungehalten, wie er den maroden Zustand seines Hauses in den Griff bekommen könnte. Als Tal ihn einige Tage nach ihrer Ankunft in Shishney nach den Arunensteinen fragte, gab er nur lapidar zurück, die wären längst für Nahrung und andere Annehmlichkeiten ›drauf gegangen‹. Er hatte den alten Flark, seinen letzten Quinkhofmeister der ihm verblieben war, angewiesen, für die Ressourcen neue Bedienstete einzustellen, aber da er neben besagter Nahrung, Gelbwein und Decken auch Farbe und Reinigungsmittel geordert hatte, waren die drei neuen Quink die der Alte vorstellte, alles andere als hochwertig. Es handelte sich bei ihnen um einen kräftigen, aber recht alten Mann, der mit einem Holzbein daherkam, einer alten Vettel mit schiefem Unterkiefer und einem sehr dürren Mädchen namens Kakluk, die so hässlich war, dass sich Kyon immerhin ihren Namen merken konnte. 

Der Zustand seiner Mutter war, wie in den letzten fünfunddreißig Jahreszeiten unverändert. Sie saß in ihrem Schaukelstuhl und starrte aus dem trüben Fenster auf die nebligen Straßen hinaus. Es war, als könne sie allein kraft ihrer aussagelosen Blicke ihren Gefährten aus den Tiefen der Unterwelt zurückholen. Doch Kyon hatte die Wildnis am eigenen Leib zu spüren bekommen. Sein Körper schmerzte und er erinnerte sich gut daran, wie es war, wenn sich die Todesangst in das Herz grub und an der Seele zu zerren begann. Wer von einem Drachen gefressen wurde, kam nicht wieder. Nicht einmal die Essenz seines Vaters würde nach Shishney zurückfinden. Drachen gaben wertvolle Dinge niemals frei, wenn sie erst einmal davon Besitz ergriffen hatten. Er mochte sich nicht vorstellen, wie es war die Unendlichkeit im Gedärm eines gigantischen Ungeheuers zu verbringen. Hatten die Nugai sie dafür geschaffen? Waren die Smavari Drachenfutter mit brennenden und schreienden Seelen zum Vergnügen der Echesnkönige?

Er erhob sich und strich seiner Mutter über das seidenweiche Haar. Ein Speichelfaden rann ihr aus dem Mund, aber die neue Pflegerin, die Fettel, stand bereit und strich der Silberwölfin über das Kinn. Kyon nickte und unterdrückte den Drang, die Quink zu ermahnen. Sie hatte nichts Schlimmes oder Anstößiges getan, aber es traf ihn zu sehen, dass dieses alte, niedere Wesen sich um seine Mutter kümmerte, während diese einst so schöne und mächtige Frau ihren Speichel nicht bei sich behalten konnte. Kein Wunder, dass seine Art immer wieder zu Ausbrüchen neigte, die ganze Landstriche in Wüsten verwandeln konnten. Das Dasein war ungerecht. Macht bedeutete wenig – Schicksal und Karma waren übermächtig. Schulterzuckend beschloss er, eine Rechnung zu begleichen.

Ughtred und Tal saßen in der Küche im Untergeschoss des Haupthauses und unterhielten sich über Lonkaiyths Tagebuch. Seiner Annahme aus, musste sich die Totenkammer des Raguel im zwölften Stock der Bergzitadelle befinden. Von den Lastenaufzügen auf der linken Seite einer Balustrade sollte es eine Geheimtür geben, die wiederum in einen Unraum führte. Ughtred fragte was das sei und die Hexe erklärte es ihm. Die Smavari hatten vor endlosen Millennien die Grenzen der Dimensionen, welche von anderen Wesen als Realität bezeichnet wurden, überschritten und Maschinen konstruiert, mit deren Hilfe sie diese Grenzen jederzeit erweitern konnten. Smavarische Unräume reichten von der physischen Welt, in die Anderwelt hinein. Besagte Gruft würde also wahrscheinlich außerhalb der Grundfesten der Zitadelle in einer anderen Dimension liegen.

Der Nygh sah sie verständnislos an und fragte, welchen Zweck dies habe, aber die Hexe lachte nur. Zwecke? Musste alles einen Zweck haben?

Als Kyon die große Küche betrat, gab er dem einbeinigen Quink ein Zeichen, dass es ihm zu kalt war und dass er gefälligst das Feuer anfachen solle. Der Alte gehorchte und Kyon ging zu der Anrichte, wo die alte Köchin seines Vaters gerade Milch warm machte. Er holte die Phiole aus der Gürteltasche, die Ayn Yrdelaiy yr Northwyll ihm gegeben hatte und gab zwei Tropfen in einen Becher. Dann gab er zum Erstaunen der alten Quink Milch dazu und bereitete zwei weitere Becher, die er allerdings nur mit Milch füllte. Er stellte sie dicht zusammen, ging zum Tisch und stellte zwei der Becher vor den Nygh und die Hexe und setzte sich mit seinem eigenen ihnen gegenüber. Natürlich hatte er den Becher mit den Tropfen vor Tal hingestellt. Er wartete einen Moment, trank einen Schluck, erkundigte sich nach dem Befinden der beiden und erhob sich, da er noch dringende Geschäfte zu erledigen hätte.

Tal und Ughtred sahen ihm etwas verwundert nach, aber er war schließlich ein wunderlicher Mann, also dachten sie nicht weiter über sein Verhalten nach. Es dauerte nur wenige Minuten, da begann die alchemistische Substanz der Ayn von Baiyl zu wirken.

Tal hatte das Gefühl, ihr Mieder würde immer enger und die Raumtemperatur stieg und stieg. Ja, Kyon hatte dafür gesorgt, dass der Kamin weiter angefacht wurde, aber ein solches Ergebnis hätte sie nicht erwartet. Sie öffnete die Knöpfe ihres Oberteils und sah Ughtred an. Vorher war ihr nie aufgefallen, wie schön seine Augen leuchteten und wie glänzend sein Haar war. Der Nygh nahm einen Schluck Milch und sah sie dann an. Dabei blieben seine Augen eine Sekunde auf ihren nun sichtbaren Brüsten hängen. Sie hatten sich zwischenzeitlich beide oft genug nackt gesehen, aber Ughtred begriff sofort, dass hier etwas nicht stimmte.

Tals Brüste schwollen an und sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse der Gier. Dann stand sie auf und wischte wortlos die Becher vom Tisch. Ughtred floh.

 

Das leise Plätschern des Regenwassers, dass über die defekten Fangrohre vom Dach auf die tief darunter liegenden Pflastersteine schlug, drohte Kyon in den Schlaf zu wiegen. Mit geschlossenen Augen lag er auf seinem großen, ein wenig nach Moder riechenden Bett und wartete auf den Einschlag – und er musste nicht lange warten. 

Als sich die Tür öffnete, öffnete auch er träge die Augen. Aus der dunklen Kälte des Flures schälte sich der bleiche Leib der Doppelmondhexe. Ihre Augen glommen in dämonischer Leere als sie sich langsam dem Bett näherte. Im ersten Moment fand Kyon die Situation interessant genug, um sich einfach entspannt zurück zu lehnen, doch als er die lüsterne Mordgier in Ytˋtalans Blick erkannte, wurde ihm mulmig. Doch für Gegenwehr war es längst zu spät. Er hatte der Hexe körperlich nichts entgegen zu setzen und schon war sie über ihm und grub ihre Fangzähne stöhnend in seinen Nacken. Er versuchte zu schreien, aber sie presste einen Unterarm in seinen Rachen und sofort schmeckte er ihr eigenes Blut. Dann erfasste die beiden Silberwölfe ein übernatürlicher Strudel, von dem zwischenzeitlich schlecht gewordenen Hobgoblinsaft, den die Ayn von Baiyl der Hexe auf Umwegen verabreicht hatte, aufgeheizter Paarungstrieb. Im Verlauf dieses wilden Treibens ging ein Stuhl zu Bruch und wenigstens eins seiner Beine machte Bekanntschaft mit verschiedenen smavarischen Körperöffnungen. Sie verwüsteten gemeinsam Kyons Zimmer und die Köpfe der Bediensteten, die sich ängstlich in den Keller zurückzogen. Einzig Ughtred blieb auf der Treppe, doch auch er wusste später nicht zu sagen, wie er den beiden Furien hätte Einhalt gebieten können. 

 

Als Tal erwachte lag sie in einem nach Urin, Kot und anderen Körperflüssigkeiten riechenden Bett. Sie fühlte sich seltsam ausgelaugt, aber auch auf eine übernatürliche Art befriedigt. Ihr Magen drückte, also verkroch sie sich in eine Ecke des dunklen Zimmers und verrichtete ihre Notdurft. Hatte sie etwas schlechtes gegessen? Sie überlegte, wie sie in dieses Zimmer gekommen war, konnte sich aber nur an eine düstere treppe erinnern, die sie emporgeschwebt war. Schweben war gut. Ihr Geschlecht schmerzte sie ein wenig, und ihre Waden bekamen langsam einen Krampf. Als sie aufstand, erblickte sie Füße, die aufrecht am Bettrand standen. Der dazugehörige Silberwolf lag auf der von ihr abgewandten Seite des Zimmers. Sie humpelte zum Bett und zog mit einem Ruck die widerliche Decke herunter und knüllte sie zusammen. Dann kroch sie zu den Füßen und lugte über den Rand des Bettes.

»Herr Sliyn?«, fragte sie leise und tatsächlich, da lag er.

Sie hob die Brauen. Er war in einem erbärmlichen Zustand. Nackt und bleich lag er im tiefen Schlaf der Erschöpfung. Eine seiner Rippen stand in einem unschönen Bogen aus seinem Brustkorb hervor. Oh oh, dachte Tal und berührte die Stelle. 

Kyon stöhnte und kam zu sich. Er blinzelte und hob abwehrend die Hände, als er ihrer gewahr wurde. Sein Gesicht hatte etwas erschreckend Kindliches. Doch dann wurde er wach und wand sich in deinem Schmerz. Die gebrochene Rippe haltend, japste er nach Luft und war froh, als Tal neben ihn glitt und damit begann, eins der Kissen in Streifen zu reisen. Sie presste die Rippe vorsichtig an ihre ursprüngliche Position, ignorierte seine Schreie und begann ihn mit den Stoffstreifen zu fixieren.

Die Prozedur dauerte recht lange und als sie die Verletzung fixiert hatte, stand sie auf und ging, nackt wie sie war, durch das stille Haus. Sie holte eine ihrer Taschen und gab Kyon eine ihrer alchemistischen Tinkturen, um seine Schmerzen zu lindern. 

»Waren das wir?«, fragte sie nach einer Weile und setzte sich auf die Bettkante. Sie schürzte nervös die Lippen und hob das Stuhlbein hoch, um daran zu schnuppern, ließ es dann aber polternd zu Boden fallen.

Ohne auf eine Antwort zu warten, sagte sie: »Ich weiß wirklich nicht, was da in mich gefahren ist. Jemand muss mich vergiftet haben.«

»Ja«, keuchte Kyon und versuchte sich auf dem Boden, wo er immer noch ans Bett gelehnt saß, in eine bessere Position zu manövrieren.

»Wir müssen herausfinden, wer uns das angetan hat«, hauchte die Hexe leiser.

»Müssen wir nicht. Wir sind jetzt quitt.«

Sie beugte sich vom Bett aus über ihn und fragte mit hängenden Haaren: »Wieso quitt?«

Kayon hob eine Hand, um sich zur Not zu verteidigen und sagte: »Ihr habt mich vergiftet, ich habe euch vergiftet, ergo, quit.«

Sie sah ihn an. »Ihr wart das?«

»Ja ich.«

»Wann?«

»In der Küche.«

»Ah ja?«

»Ja.«

Sie musterte ihn einen Moment. Dann rutschte sie neben ihn auf den Boden. Ihre Brüste waren angeschwollen und ihre Rippen zeichneten sich unter ihrer fast transparenten Haut ab. Kyon musterte sie vorsichtig. Sie war unberechenbar. Sicher würde sie ihm jetzt mit ihrer winzigen, s-förmigen Ritualklinge die Kehle durchschneiden und sein verdammtes Blut trinken.

Stattdessen sagte sie ruhig: »Ja, kommt mir auch so vor. Wir sind quitt.«

Dann richtete sie sich auf, kroch über ihm hinweg auf das Bett zurück und streifte dabei mit einem Knie seinen Brustkorb. Seinen erneuten Schmerzensschrei ignorierend verließ sie Kyons Schlafgemach.

 

Es vergingen einige ruhige Tage. Tal versuchte eine Audienz bei ihrer Ordensmutter Akkatha zu bekommen, wurde aber nicht zu ihr vorgelassen. Trotzig begab sie sich zurück ins Haus Yshandragor und vertiefte sich wieder einmal in die Studien der Bücher, welche sich seit ihrem Besuch in der geheimen Bibliothek in Dranought in ihrem Gehirn befanden. Die chaotisch durcheinander gewürfelten Informationen ließen sich schwer von ihren eigenen Erinnerungen und Gedanken trennen und hatten längst begonnen, sich in diesen aufzulösen. Dennoch fand sie was sie suchte und begann damit, die alten Anleitungen zu feinstofflichen Disziplinen auszuprobieren. Sie versetzte sich regelmäßig in Trance und suchte nach ganz bestimmten Formen. Sie hatte gelesen, dass es möglich war, die eigene Physis, derart mit ihren Wegbegleitern zu verschmelzen, dass jeder von ihnen mittels dieser Synergie die jeweils besten Eigenschaften der anderen Nutzern konnte. Immer wieder griff sie in die Membran, zupfte am den Fäden der Zwischenwelt, bis sie eines Tages darin Kyons Essenz entdeckte. Von diesem Moment an, gelang es ihr spielend, sich mit ihm zu verbinden. Als nächstes folgte Ughtred und dann war es auch kein Problem mehr Odugme mit in die Synergie zu ziehen. Bei den ersten Versuchen kam es zu kleineren Unfällen. Ughtred stolperte und Kyon zerriss eine Saite seiner Laute. Aber bald gelang es ihr, so gut wie der zu sehen und ausdauernd wie der Nygh zu laufen.

Ughtred beschäftigte sich viel mit Odugme. Er trainierte den Phani regelmäßig im Umgang mit Waffen und übte sich selbst dabei weit mehr, als er Anfangs dachte. Es dauerte nicht lange, da bemerkte er, dass seine Körperbeherrschung an Eleganz und Schnelligkeit zunahm und bei den wenigen Malen, da er sich mit Tal im Nahkampf übte, musste auch diese seine Fortschritte zugeben. Ansonsten half er, so gut es ihm möglich war, beim Einkauf, den Renovierungsarbeiten und der Einweisung der neuen Bediensteten. Er hasste es, wenn die Silberwölfe diese Leute Sklaven nannten. In Korezuul gab es keine Sklaverei und die Vorstellung ein anderes Lebewesen zu einem Leben zu zwingen, welches es nicht von Natur aus führen wollte, war jedem Nygh zuwider. Dennoch, er lebte jetzt, zumindest für einige Zeit in Kisadmur und da war es ratsam, sich den hiesigen Gepflogenheiten zu unterwerfen; auch wenn er sie noch so schrecklich fand.

 

Erwähnenswert ist an dieser Stelle noch das Treffen zwischen Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor und den beiden Maskenmännlein seines verstorbenen Vaters. Viele höhergestellte smavarische Häuser rühmten sich wenigstens eines dieser Wesen ihr Eigen zu nennen. Wie die Linie derer von Yˋshandragor an sogar zwei von ihnen gelangte, ist in der Dunkelheit der Geschichte verloren gegangen. Maskenmännlein sind krude Geister der dunkelsten Gefilde der Anderwelt. Sie erscheinen als kleine, wie der Name schon sagt, Männlein mit Masken und zeigen niemals ihre wahren Gesichter. Wahrscheinlich ist dies auch besser so und kein Smavari würde versuchen dieses zweifelsfrei mehr als schreckliche Geheimnis zu lüften.

Der Zweck von Maskenmännlein hingegen war mehr als einleuchtend, besaßen diese Wesen doch geradezu legendäre zauberische Fähigkeiten. Silberwölfe waren ja nun ebenfalls in solchen Dingen bewandert, doch wer einen Diener hatte, musste nicht selbst den Küchenboden kehren und die Magie der Maskenmännlein überflügelte nicht selten die Kräfte ihrer Herren. So auch im Hause Yˋshandragor, in dem Splinternackt, das bedeutend freundlichere Maskenmännlein, einst Faktotum seines verstorbenen Herrn Lonkaiyth für die Sicherheit des Hauses sorgte. Doch tief unter dem Gemäuer des Hauses wirkte Zangenbrand, der Schmied und Pfeilbauer des Herrn und er war alles andere als hilfreich und friedlich. Dies ging soweit, dass Lonkaiyth diesen bösen Geist vor langer Zeit mit einer brennenden Eisenkette an seine Esse schmiedete, um seiner Flucht und Rache vorzubeugen.

Als Kyon also mit den Renovierungsarbeiten und seinem eigenen Wohl einigermaßen zufrieden war, zitierte er Splinternackt zu sich. Maskenmännlein müssen erscheinen, wenn ihre Herren sie beim Namen riefen, und Kyon war nun ganz offensichtlich der Herr im Haus. Sein Vater hatte ihn früher immer vor diesen Wesen gewarnt. Sie hatten nie etwas Gutes im Sinn und würden so oft wie möglich versuchen, ihren Herren zu schaden. Strafen sahen sie als Vergnügen an und eines von ihnen ganz und gar auszulöschen war der Sage nach recht schwierig.

Einen Übergaberitus hatte es nicht gegeben, aber Kyon war leichtgläubig in diesen Dingen und ging einfach davon aus, dass beide Geister nun ihm dienten. Also befahl er, und so weit er es einzuschätzen vermochte, taten sie beide, was er erwartete; zumindest hatte es den Anschein.

Tatsächlich verbeugte sich Splinternackt vor dem jungen Silberwolf und als dieser dem Eltwesen auftrug, sich um bestimmte Dinge im Haushalt zu kümmern, bestätigte es seine Befehle. Als er jedoch sagte, es solle hinunter in den Keller gehen und neue Pfeile beim Pfeilmacher in Auftrag geben, verneinte es mit bitterem Hohn in der Stimme. Diesen Weg müsse er selbst gehen, da der grimme Zangenbrand von niemandem als dem Meister selbst Befehle anzunehmen trachtete. Kyon hatte sich schon gedacht, an dieser Stelle zu scheitern. Dennoch war es den Versuch wert gewesen. Zangenbrand war wirklich ein unangenehmes Ding und er hatte immer ein ungutes Gefühl, die schweren Ketten vor der Schmiede zu lösen und die Feuerhölle des Kobolds zu betreten. Aber es musste sein. Die Reise hatte seine Pfeile aufgebraucht und es war an der Zeit, sich neu auszurüsten. Er wollte zwar keineswegs zu neuen Abenteuern aufbrechen, zumindest nicht in der nächsten Zeit, aber er wusste ja, wie schnell sich die Stimmung der Hexe ändern konnte und dann wollte er nicht unbewaffnet in einer Höhle aufwachen.

Die Treppe zu Zangenbrands Schmiede war durch eine Doppelte Schwarzholztür mit schweren Eisenbeschlägen gesichert. Es gab nur einen Schlüssel für die sechs Schlösser und es dauerte jedes Mal gut und gerne eine Ewigkeit sie zu bedienen. Kyon hasste diese Prozedur, aber sein Vater hatte ihm schon als Welpe klar und deutlich eingebläut, wie wichtig sie für das Überleben des Hauses und ganz Shishneys war. Ist der Gnom denn wirklich so gefährlich, hatte er damals mit großen Augen gefragt und der Vater hatte nur stumm genickt. 

Er starrte in die Dunkelheit hinter der zweiten Tür. Die Treppe war steil und hier unten hätte es kalt sein sollen, doch die Luft war von einer unguten, die Nackenhaare aufstellenden Wärme erfüllt. Mit langsamen Bewegungen hob er die alte rostige Eisenlampe und fühlte das Bitzeln, wo ihr Haltebogen seine Finger berührte. Der Gang ging in einem steilen Winkel in die Tiefe hinab und er hatte mühe nicht vornüber zu kippen. Als er vor der Tür der Schmiede angekommen war, hatte ihn sein Mut fast schon wieder verlassen, aber er dachte an die Hexe und ihr verdammtes Gift und riss sich zusammen. 

Vorsichtig hob er eins der Schlösser an den Ketten der Tür, erkannte aber, dass er es nicht mit einer Hand öffnen können würde. Er musste die Lampe abstellen. 

Mühsam schloss er eins der Schlösser nach dem anderen auf und ließ die schweren Ketten durch die Eisenringe rattern. Der Krach war ohrenbetäubend und er hätte sich gewünscht, sein Vater, oder wer auch immer für diese Sicherheitsmaßnahme verantwortlich war, hätte sich einst etwas anderes, unauffälligeres einfallen lassen. 

Er drückte die schwere Tür nach innen und folgte mit den Augen dem Licht, welches sich ängstlich in den Raum wagte. Doch kaum hatte es die Hälfte des Gewölbes erreicht, stürzte sich ein schwarzes Monster darauf und fraß es mit Haut und Haaren auf. Was blieb, war eine absolut undurchdringliche Finsternis, in der nicht einmal die scharfen Augen eines Smavari etwas sehen konnten. Es war eine übernatürliche, vom Bösen durchdrungene Dunkelheit und ein schwächerer Geist als der eines Eltwesens wie Kyons eines war, wäre allein an diesem schwärenden Bösen zugrunde gegangen.

Allen Mut zusammennehmend rief Kyon den Namen des Maskenmännleins. Zangenbrand, Zangenbrand, Zangenbrand, denn wer den Namen eines solchen Wesens kannte und zu nutzen wagte, hatte Macht über sein Handeln.

Und Zangenbrand gehorchte. Als zwei rote Pünktchen in der undurchdringlichen Finsternis erschien der böse Geist und er knurrte und seine Anwesenheit sprach von brechenden Knochen und verglühendem Fleisch. Doch Kyon blieb stark und gab seine Pfeile in Auftrag. Es solle schnell gehen und er erwarte, die Pfeile oben in der alten Rüstkammer vorzufinden. Ein anderes Maskenmännlein würde sie abholen. Wieder fauchte der Schmied und Feuer loderte auf, aber er gehorchte und Kyon, der genug hatte, wandte sich ab und begann mit der Zeremonie der Wiederverschließung dieser Hölle unter seinem Haus.

Es würde einige Tage dauern und der Höllenschmied würde sich sicher nicht beeilen mit diesem Auftrag, aber die Pfeile würden kommen. Kyon berichtete Splinternackt von seinem Erfolg und dieser lächelte hämisch. Es wäre nicht das erste Mal, dass einer der bestellten Pfeile nach hinten losginge. Das Männlein erinnerte sich gut daran, wie er einmal dem alten Yˋshandragor ein Ohr wieder annähen musste, weil ein Explosionspfeil zuerst explodiert und dann erst geflogen war. Aber davon erzählte er Kyon nichts und dieser hätte es zweifellos auch nicht hören wollen.

 

Weitere Tage vergingen. Der Frühling schien eine Pause zu machen, denn es war wieder kälter geworden und hatte sogar einige Male in den Nächten geschneit. Die Stadtwächter suchten immer noch nach wilden Hobgoblins und mehr als einmal wurden unschuldige Haushobgoblins auf öffentlichen Plätzen verbrannt. Man konnte nie wissen. Leider kam es durch diese Vorgehensweise zu einer Vermehrung der Ratten in den Häusern der Bewohner Shishneys und somit wurden die Stimmen lauter, man solle es nun gut sein lassen mit der Rotaugenverfolgung. Auch im Hause Yˋshandragor entdeckte man einen unbekannten Hobgoblin und Tal und Ughtred gaben sich große Mühe ihn einzufangen. Als es ihnen endlich gelungen war, das quirlige Wesen zu packen, brachten sie es pflichtbewusst zur Wache im Osten des Viertels, doch dort wurde es verhört und da es beteuerte, ein Haushobgoblin zu sein, weigerte man sich, es zu massakrieren. Die Rattenplage hatte nun vorrang und die Obrigkeit hatte verboten Hobgoblins zu verbrennen, die nicht eindeutig als wild auszuweisen waren.

Kyon wurde befragt, ob er den Hobgoblin kenne und dieser winkte ab und sagte, er sei ein Sliyn und als solcher konnte es kaum seine Aufgabe sein, jedes Rotauge in seinem Haus beim Namen zu kennen. Man solle den dürren Kerl in Frieden lassen, schließlich hätte er bei seiner Rückankunft Ratten im Hofe seines Hauses gesehen und das könne ja nun wirklich nicht sein. Tal und Ughtred, die sich noch gut an die Gefahren durch wilde Hobgoblins im Plagensumpf erinnerten, waren ein wenig fassungslos, aber es war schließlich sein Haus und andererseits hatte ihnen der Hobgoblin auch nichts getan. Also ließen sie ihn frei.

 

Kurz nach der Sache mit dem Rotauge hatte Tal feststellen müssen, dass sie nun wirklich über kein einziges annehmbares Kleid mehr verfügte. Sie ging zu Kyon und fragte erneut nach den Arunensteinen und bekam dieselbe Antwort wie beim ersten Mal. Diesmal jedoch verlangte sie einen Ersatz für ihren Anteil. Kyon überlegte einen Moment und trug einer der Quinkdienerinnen auf, ein Kleid seiner Mutter herbeizuschaffen. Doch es war Tal anzusehen, dass diese Sache für sie alles andere als erledigt war. Kyon hatte ein ungutes Gefühl. Er traute der Hexe alles zu und wollte nicht eines Morgens mit einer ungeraden Anzahl von Hoden erwachen. Er überlegte einen Moment bei dem Gedanken und schüttelte dann den Kopf. Er korrigierte sich. Zwei war die Zahl. Nicht eins und auch nicht drei und fünf schon gar nicht – zwei!

Ressourcen mussten her, aber wie? Er überlegte und entschied sich noch am selben Abend bei einer Soiree in der Nachbarschaft, einige seiner neuen Lieder und Geschichten zum Besten zu geben. Gesagt, getan und der Abend lohnte sich sogar in jeder Hinsicht. Er trug Lieder vor, erhielt ein wertvolles Armband von einer alten Dame, der er nur einmal in die Brustwarze biss und hatte später ausdauernden Beischlaf mit dem Gastgeber und dessen beiden Frauen. Als er das noble Haus verließ, nahm er noch zwei Kerzenständer und ein Ding mit, dass er zuerst für eine Kruge gehalten hatte, das sich jedoch als extravagantes Feuerzeug herausstellte. Er versetzte die Sachen noch auf dem Nachhauseweg, bog aber dann ins Haus Lysai ab, wo dessen Besitzer Pegual Athmortis darauf bestand, aus Kyons Hand die Schulden des Hauses Yˋshandragor bezahlt zu bekommen. Wie gewonnen, so zerronnen, dachte der Barde und überlegte, wie er schnell an mehr Ressourcen gelangen könnte.

Seine Gedanken wanderten zur Silberwacht. Er hatte die Bleidecke dort erhalten. Sie hatten da derart viele Waffen, die konnten niemals alle zum Einsatz kommen. Schade im Grunde oder? Doch dann stolperte er über eine Treppenstufe und rannte in den harten Bauch einer ihm bekannten Kriegerin. Ayn Urkaiyney y`Yrten sah ihn mit ihren harten, durchdringenden Augen an und in Gedanken sah er zu, wie sie ihm eines seiner Eier entfernte. Nope, das war nicht der Weg. Er wollte gerade seinen Geist an einen anderen Ort gleiten lassen, da hörte er die Herrin der Silberwacht die Luft durch die gebogene Nase ziehen. Er wand sich zu ihr um, und schnell wandte sie sich ab. Sie war ihm verfallen. Er nickte. Konnte es sein? Er überlegte, warum er selbst nichts davon fühlte. Die Frau war ihm durchaus sympathisch und er mochte ihre straffen Rundungen und auch ihre Stärke imponierte ihm, aber das war nicht zu vergleichen mit der Liebe, die er für Northrian empfunden hatte. Konnte er aus dieser Sache Ressourcen schlagen?

Direkt am nächsten Morgen, die Tagesschwestern waren noch lange nicht aufgegangen, ging er vom Haus Lysai in Richtung der Wache. Er nickte Raguels Statue auf dem Platz davor freundlich zu und hatte diesmal ein eher seltsames Gefühl. Es war, als würde der alte Kriegsheld ihn mit seinen steinernen Augen verfolgen, aber Kyon konnte sich jetzt nicht mit solchen Dingen beschäftigen. Er war schließlich auf Freiersfüßen und musste sich darauf konzentrieren, keinen seiner Hoden zu verlieren.

Er setzte sich in eine der Wachstuben, beförderte seine Laute zutage und ließ ein fröhliches Soldatenlied erklingen. Er mochte diese Art der Unterhaltung nicht, aber jedes Publikum hatte seine Vorlieben und er war weit davon entfernt sich das seine exklusiv aussuchen zu können. 

Die Krieger lachten, tranken und bedachten Kyon mit Lob. Sie liebten es, wenn ihre Wache mittels musikalischer oder gar sexueller Unterhaltung erträglicher gemacht wurde. Etwas später fragte Kyon einen der Männer, wo man wohl die Ayn in einem privateren Umfeld als der Silberwacht treffen könne. Sie hatte ja kein Stadthaus, wie er wüsste, aber eventuell verkehrte sie ja in einem. Der Soldat lachte und schüttelte den Kopf. Das Leben der Kriegerin fand hier in der Wache statt. Kein Wunder, dass sie so spröde sei und nie einen der Männer zwischen ihre kräftigen Schenkel ließ.

»Nie?«, fragte Kyon seltsam betroffen und der Krieger schüttelte den Kopf. 

»Es heißt, sie sei unglücklich verliebt.« Der Mann sah Kyon bedeutungsvoll an und nickte dann.

Kyon überlegte. Wenn er unglücklich verliebt war, betäubte er diesen Schmerz mit sexueller Hingabe. Das funktionierte fast immer und wenn es einmal nicht klappte, trank er einen Tropfen moraidischen Rum.

Doch wie auch immer, gut für ihn, oder? Er wollte gerade gehen, da hielt ihn der Soldat zurück und sagte leise: »Kennt ihr Ayn Yz`Arun Djarias?«

Kyon überlegte einen Moment und antwortete: »Die Männerfresserin?«

Der Soldat nickte. »Ihr konnte nie etwas nachgewiesen werden. Ja, die drei Ehemänner sind tot, zweifelsfrei, aber weder konnten ihre Geister gefunden werden, noch war es möglich die Alte als Mörderin zu überführen.«

Er überlegte kurz. Dann fügte er hinzu: »Der wahrscheinlich höchste Richter Shishneys geht bei ihr ein und aus. Wahrscheinlich einer der Gründe, warum sie nicht überführt werden konnte.«

Kyon überlegte und fragte schließlich: »Und was hat das mit der Silberwächterin zu tun?«

»Na ja, die beiden scheinen Freundinnen zu sein und in Kürze wird die Männerfresserin erneut heiraten.«

»Ah ja? Und wer ist der zukünftig Tote?«

»Ein Stutzer namens Adaiyron dan Y`raguas, er ist der Handlanger von Horath bor Borug, dem besagten, wahrscheinlich höchsten Richter der Stadt.«

Kyon lächelte. Frischfleisch für die Kannibalin.

»Wann findet diese Farce statt?«

Der Soldat fragte in die Runde und einer seiner Kameraden wusste das Datum. In sieben Nächten würde Ayn Urkaiyney also im Hause Djarias sein und Häppchen genießen. Da würde man sich sicher über den Weg laufen.

 

Ytˋtalan schlenderte durch die Turmstadt und betrachtete die pittoresken Türen und Fenster der Häuser. Sie hatte Flark gefragt, ob es hier eine Heilerin mit Schwerpunkt Augenheilkunde gäbe und der alte Quink hatte entsprechende Erkundigungen eingeholt und ihr die Adresse einer Dame namens Nyshnifee yr Learnith genannt. Jetzt stand sie vor besagtem Haus und überlegte. Viele Ressourcen waren ihr nicht geblieben. Kyon hatte eine seltsame Fähigkeit alle Ressourcen in seiner Umgebung zu kanalisieren und dorthin fließen zu lassen, wo er sie am besten brauchen konnte.

Sie klopfte und wartete einen Moment, aber dann wurde die Tür von einer älteren Quink in einer grünen Tracht geöffnet. Die Meisterin erwarte die Frau Hexe.

»Ihr seid kurzsichtiger als eine einäugige Quink nach einem Marsch durch ganz Draiyn Andiled«, sagte die Frau. Sie trug eine Art kurzes Teleskop auf einem ihrer glimmenden Augen und stierte damit in Tals Augen. Dann nickte sie und griff nach einer Phiole auf ihrem Tisch. Überall in dem Behandlungszimmer stapelten sich Gläser, Metallgestelle und Phiolen mit obskuren Tinkturen. Tal hatte sich diese Dinge angesehen, bevor sie sich auf den Behandlungsstuhl, ein Ding, dass sie sich auch gut in einer Folterkammer der Zitadelle hätte vorstellen können, Platz genommen hatte.

»Und nun?«

Die Heilerin schob mit spitzen Fingern Tals Kinn soweit zurück, bis ihre Augen etwa waagerecht zur Decke empor blickten und dann tropfte sie eine leicht brennende Flüssigkeit hinein.

»Blinzeln«, befahl sie mit freundlicher Stimme.

Tal blinzelte und bemerkte jetzt erst winzige grünliche Pünktchen an der Decke, die hin und her wuselten.

»Glühwürmchen«, sagte die Frau. »Ihr seht sie jetzt, weil meine Tinktur die Fehlkrümmung eurer Augen korrigiert. Aber das ist keine dauerhafte Lösung, wenn ihr nicht das Augenlicht verlieren wollt.« Sie machte eine Pause, aber ehe Tal etwas sagen konnte, fügte sie hinzu: »Andererseits wäre das bei euch keine allzu große Veränderung, oder?«

Tal schluckte ihren Ärger herunter und sagte: »Und was schlagt ihr vor?«

»Sehgläser. Wollt ihr elegant oder lieber stabil?«

Die Hexe überlegte eine Sekunde und sagte dann: »Beides. Wann kann ich sie abholen lassen?«

»Ich habe hier etwas Schmales, in dunkelgrün-metallic mit an den Ohren entlang gehenden Streben und Klemmen in Fledermausflügelform. Das Passt zu eurer seltsamen Frisur. Und dies hier nenne ich Modell Fliegerbrille.«

Sie hielt ein dickes Lederband hoch, an dem sich ein Gestell aus demselben Material befand. Darin waren zwei kreisrunde Löcher, in die man die Gläser einsetzen konnte. Tal fand, es sah aus wie das Gesicht einer mittelgroßen Höhlenspinne, aber was tat man nicht alles für tote Gegner?

»Also wann kann ich sie abholen lassen?«

Die Heilerin spielte mit der Lederfassung und sagte: »Das würde zwei Ressourcen machen.«

»Abgemacht.«

»Pro Glas.«

»Pro Sehhilfe?«

Ein feines Lächeln verunstaltete die Lippen der Frau als sie zurückgab: »Pro Glas.«

Das spätere Gespräch zwischen Tal und Kyon verlief recht spröde. Sie brauche acht Ressourcen, er hätte keine, er solle welche besorgen, er würde welche besorgen … 

 

Sieben Nächte später stand Kyon in einer Schlange vor dem Anwesen der Djarias. Die Mauern wurden von Lampions in giftig grünes Licht gehüllt. Das Klientel in der Schlange stammte aus allen Schichten und Ethnien Shishneys. Da waren Krieger der verschiedenen Wachen, Günstlinge des Fürstenpaares, niedrige Adlige aus der Turm- und der Oberstadt und sogar Bewohner von Quinkstadt. Kyon konnte zwar keine Doppelmondhexen sehen, aber er würde sich nicht wundern zumindest jemanden aus dem Chentaitempel Shishney hier anzutreffen. Ob so jemand natürlich in der Schlange warten würde, war eher unwahrscheinlich.

Gerade rückten alle einen Schritt weiter, als hinter Kyon ein rhythmisches Stampfen näher kam. Er wandte sich um und sah im diesigen Licht der Teufelslampen eine massige runde Gestalt durch die Dunkelheit stapfen. Im ersten Moment dachte er, der Irre Riese aus der Totenstadt in der Wüste hätte überlebt und wäre ihm hierher nach Shishney gefolgt. Aber dann kam das Ding näher und Kyon erkannte darin einen smavarischen Droiden. Es handelte sich dabei um einen über sechs Meter großen Dayl`Vic`Snir, einer Art gigantischer Kugel mit zwei kurzen Stummelbeinchen und stählernen Flügeln. Sein Kranichkopf saß auf einem dicken, langen, sehr beweglichen Hals, der den Eisenschnabel und die lange, dünne Lanze darunter zu gefährlichen Waffen machte. Am Rücken, direkt hinter dem Halsansatz des Vogeldroiden, befand sich eine Aufnahme für verschiedene Werkzeuge. Man konnte hier eine Plattform, einen Kran oder eine Feuerlanze befestigen oder eben wie im vorliegenden Fall einen weit über den Kopf des Dings ragenden, gigantischen Hammer.

Kyon blinzelte und versuchte, die Gestalt zu erkennen, die ganz oben auf dem Hammerkopf ritt. Es war tatsächlich dieser, wahrscheinlich höchste Richter Shishneys. Horath bor Borug war ein alter, sehr dürrer Mann mit einer schmalen Nickelbrille und schütterem, glatt nach hinten gekämmten Haar. Er trug einen fadenscheinigen, hellgrünen Anzug und wirkte wie eine alte Eidechse. Was der merkwürdige Ritt auf dem Hammer bedeutete, konnte Kyon nicht einmal erahnen.

Als die Türwächter des Anwesens den Richter auf seinem seltsamen Reittier erblickten, öffneten sie die Türen weit und ließen ihn vor. Niemand in der Schlange sagte etwas dazu. Erst im letzten Moment sah Kyon nun auch den jungen Mann, der im Schatten des Droiden einherging und ebenfalls durch die Tore schlüpfte. Der Delinquent, ganz zweifelsfrei.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis der Barde am Tor angekommen war. Das Pärchen vor ihm war ohne Ansprache eingelassen worden und Kyon war sicher, dies würde bei ihm nicht anders sein. Doch der smavarische Krieger an der giftgrünen Holztür hielt ihn an. 

»Wer seid ihr?«, wollte der Mann schroff wissen.

Kyon sah ihn an und setzte eine genervte Miene auf. 

»Ich bin Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor, Barde und Bogenschütze und stadtbekannter Abenteurer.«

Der Wächter sah ihn ungerührt an und deutete dann hinter Kyon auf die Nächsten.

Kyon öffnete den Mund und wollte etwas sagen, aber er sah dem Krieger an, dass dieser auf Befehl handelte und wahrscheinlich noch schlechter gelaunt war als er selbst. Der würde ihn nie und nimmer in das Haus der Kannibalin lassen.

Er nickte und machte eine wegwerfende Handbewegung. Mir doch egal, dachte er und schlenderte an der Hauswand entlang. Er trug einen dicken Pelzmantel seiner Mutter, denn es war immer noch recht kalt. Der Boden war jedoch nass. Der Schnee blieb nicht länger liegen. Bald würde es wärmer werden. Den Nugai sei dank.

Er umrundete langsam das große Anwesen und suchte nach einem Hinterausgang und natürlich gab es diesen. Mehrere Midyar mit gezackten Hellebarden überwachten ankommende Quink, welche vollgeladene Schlitten und Holzwagen in das Anwesen bugsierten. Dutzende von Gelbweinfässern, Säcken mit Nahrungsmitteln und andere Güter, die Kyon auf die Schnelle nicht identifizieren konnte wechselten vom Reich der kalten Straße in das Revier der Kannibalin hinüber. Als Kyon sich einem der Echsenkrieger näherte, neigte dieser aufmerksam den stacheligen Kopf. Er sah auf Kyon herunter seine Augen sagten: dies ist der Hintereingang.

Kyon versuchte an ihm vorbei zu gehen, doch der Midyar versuchte ihm den Weg zu verstellen und ein weiterer der riesigen Wächter näherte sich bedrohlich. Doch der Silberwolf machte eine herrische Handbewegung und knurrte: »Zur Seite Echse!«

Und tatsächlich wichen die Midyar. Sie konnten nicht unterscheiden, welcher der Silberwölfe ihnen Befehle erteilen durfte und welche nicht. Trat einer der Smavari entsprechend herrisch auf, gab es nichts mehr, was sie ihm entgegensetzen konnten. So betrat Kyon das grün beleuchtete Anwesen und suchte nach einem Übergang aus dem Lieferantenbereich hinüber zum Außengarten, in dem sich ein Teil der Gäste befinden musste.

Eine schmale Tür brachte schließlich das erwünschte Ergebnis. Er schielte durch die Eisengitter und sah die Schatten der Gäste, die sich im Hof tummelten. Gläser die auf hohen Tischen befanden wurden von quinkförmigen Droiden aufgefüllt. Es gab Wärmelampen und offene Stehlen mit Feuer und über der ganzen Anlage flimmerte die nach oben steigende warme Luft. Smavari standen in kleinen Grüppchen beisammen und nahmen Häppchen von Silbertabletts, die ihnen Quink in seltsamen Kostümen reichten. 

Der Gartenbereich war relativ trist und die wenigen Pflanzenbereiche waren zwischenzeitlich zertrampelt worden. Kyon suchte nach der Herrin der Silberwacht und schließlich fand er sie. Sie stand wie viele der anderen Gäste an einem der Hochtische und schien sich mit einem wahren Hünen von Mann zu unterhalten. Kyon erkannte in dem Kerl zuerst nicht einmal einen Smavari. Er war sicher zwei Köpfe größer als er selbst und sein Haupt verunstaltete eine abstehende Mähne. Er sah eher wie ein struppiger Bär, als wie ein Silberwolf aus.

Ayn Urkaiyney trug ein zugegebenermaßen bezauberndes Abendkleid, welches trotz der Heizstehlen ihre Brustwarzen abbildete. Sie hatte ihr massiges dunkles Haar zu einer Turmfrisur hochgesteckt in der vierzehn Silbernadeln mit eisblauen Köpfen steckten. Ihre Lippen gaben ihr wie immer ein genervtes Aussahen.

Kyon näherte sich den beiden so, dass die Ayn ihn möglichst spät erkannte. Er stand praktisch direkt neben ihr, als er hörte, wie sie mit einem leisen Ton des Entzückens die Nachtluft einsog. Sie hob die gekrümmte Nase und schnupperte, als wäre sie eine Wölfin auf der Jagd. Dann sah sie sich um und Kyon tat es ihr gleich und dann trafen sich ihre Augen wie durch einen wirklich seltenen Zufall.

Sie sah mit einem Lächeln an, doch dann trafen sich ihre Augen und irgendetwas in ihr gefror. 

»Was für ein Zufall, euch hier zu treffen Wachtherrin«, sagte Kyon galant und sie gab dem Riesen neben sich mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er sich eine andere Begleitung suchen sollte. Kyon war begeistert. Das klappte ja großartig. Es würde nicht lange dauern und er hätte Zugriff auf alle Ressourcen der Silberwacht. Neue Vorhänge, ein neues Bett, Bezüge, guten Gelbwein, ausgebesserte Fenster, all dies rückte in greifbare nähe.

»Es ist geradezu wunderbar«, antwortete die Kriegerin und Kyon fragte sich, warum er solchen Respekt vor dieser kleinen Frau hatte. Sie war deutlich kleiner als er und auch wenn ihre Oberarme sie als Nahkämpferin auswiesen sah sie in ihrem dünnen Kleidchen und den abstehenden Nippeln alles andere als gefährlich aus. Leider änderte sich dies eine Sekunde später als sie freundlich lächelnd sagte: »Also Sliyn Kyon, zufällig glaube ich so überhaupt nicht an Zufälle und darüber hinaus kenne ich die Gästeliste der Besitzerin dieses Anwesens und ich fürchte, euer Name steht nicht darauf. Darüber hinaus, will ich eure Blicke der Zuneigung möglichst unbewertet lassen, aber ich teile euch hiermit in aller Freundlichkeit mit, dass ich euch entmannen werde, wenn ihr euch ein weiteres Mal mit den Absichten an mich heranschleicht, die euch heute hierher geführt haben.«

Kyon schluckte und rollte mit den Augen. War er ein derart schlechter Schauspieler? Oder konnte sie seine Absichten ebenso riechen, wie seine Macht über ihren Unterleib?

Er hob entschuldigend die Schultern und sagte dann voller Reue: »Ich bitte euch inständig um Verzeihung und um die Erlaubnis mich zurückziehen zu dürfen.«

Sie nickte milde und schnupperte schnell an seinen Schläfen. Dann machte sie eine wegwerfende Handbewegung, als wolle sie einen Kleinstamytoren aus Draiyn Andiled vertreiben.

Mit einer letzten Verbeugung wandte er sich dem Hinterhof zu und verließ den Garten über denselben Weg, über den er hier eingedrungen war. Er griff sich unterwegs in den Schritt und prüfte, ob seine Eier noch da waren. Sie hatten sich auf das Kleinstmögliche zusammengezogen und waren weit in seinen Schritt nach oben gewandert. Aber sie waren noch da. Er war froh, mit heiler Haut davongekommen zu sein.

 

»Ist es denn erlaubt, in die Bergzitadelle zu gehen?« Ughtred nahm einen großen Schluck Gerstensaft und sah Tal und Kyon an. Sie saßen in demselben Zimmer, in dem sie das aller erste Mal zusammengekommen waren. Ughtred hatte noch deutlich das Bild vor Augen. Da hinten war Tal wie eine Puppe auf dem Boden gelegen und hatte sich erst geregt, als ihr Geist aus dem toten Leib ihres Bruders zurück in ihren Lebenden geglitten war. Er schüttelte langsam den Kopf und rieb sich mit der Hand über die Stirn.

Kyon zog an seiner Pfeife und sagte dann mit Rauch in der Stimme: »Die Zitadelle steht jedem offen. Wer soll erkennen, ob nicht sogar ein Nygh von seinem Herrn hier draußen in der Stadt als Dienstbote hineingeschickt wurde?«

»Dienstbote«, murmelte Ughtred, sagte aber sonst nichts weiter dazu.

Tal ließ das Datentagebuch an die Stelle mit der Zeichnung des Unraumes springen. Der Kristall stand wieder einmal zwischen ihnen auf dem Tisch und warf seine Bilder in den Raum darüber.

»Zwölf, das bedeutet also wahrscheinlich zwölfter Stock, oder?«, fragte sie.

Die anderen beiden hoben gleichzeitig die Schultern und ließen sie wieder sinken. Doch dann fragte der Nygh: »Wie ist das mit den besagten Aufzügen? Wie steigt man da heraus, wenn sie durch einen Tunnel nach oben fahren?«

Kyon erklärte: »Ab dem sechsten Stockwerk gibt es Balustraden. Man kann jederzeit von den Plattformen der Aufzüge heruntertreten.«

Ughtred nickte beruhigt. Trotzdem konnte er sich das Konstrukt des Aufzugsschachtes und des ganzen Baus nicht recht vorstellen. Sie hatten ihm erklärt, dass man den sternförmigen Querschnitt des Turmes in das Gebirge geschnitten hatte, aber wie sollte er sich dies vorstellen? Hatten sie ein Messer genommen und das Granit damit ausgehöhlt? Von ihr unten musste es dutzende und aberdutzende von Stockwerken bis ganz nach oben zur Zitadelle Shishney geben. Wie konnte man einen fünfzackigen Turm in ein Gebirge schneiden? Die Wunder der smavarischen Welt waren für Nichteltwesen ganz zweifelsfrei unbegreifbar.

Er nahm noch einen Schluck und fragte: »Und dann? Was wenn wir dort sind?«

»Improvisieren wir«, sagte Tal. »Wie immer.«

Kyon nickte nur. 

Ughtred sagte: »Wie aber finden wir einen geheimen Zugang, der über all die Jahreszeiten nicht gefunden wurde?«

Kyon beantwortete die Frage: »Wir wissen von seinem Vorhandensein. Das reicht.«

Sie unterhielten sich noch eine Weile darüber, was sie anziehen würden und ob sie bewaffnet oder unbewaffnet zur Zitadelle gehen würden. Kyon hatte keine echte Meinung zu dem Thema und sah keinen Nutzen in einer Bewaffnung für diese Aufgabe, aber Tal wollte weder auf ihre Rüstung, noch auf ihre Langschwert verzichten.

 

Die lange Straße war prächtig im Licht des mittäglichen Frühlings, und weit im Norden, wo die Häuser sich zu berühren und zu verbinden schienen, endete sie auf einem gewaltigen Platz vor dem Sockel der fünfeckigen Gebirgszitadelle. Hier von außen konnte man das Schema des gewaltigen Gebäudes bestenfalls erahnen. Links und rechts standen die Kanten des Turmes aus dem Stein des Gebirges hervor und bildeten dutzende von Metern hohe Kanten, die in der feuchten Luft glänzten. Sie schienen aus einer Art schwarzen Glases zu bestehen und waren ein Stück weit durchsichtig, ohne dass man allerdings wirklich ins Innere der Anlage hätte blicken können. Von hier unten konnte man die eigentliche Zitadelle des Fürstenpaares weit oben im Gebirge bestenfalls erahnen. Sie lag im ständigen Frühlingsnebel und schien mehr Sage als Realität. 

Der Platz vor dem gigantischen Haupttor des Turmes leerte sich bereits. Smavari waren keine Freunde der Tagesschwestern und wenn die beiden Sonnen aufgingen, zogen sie sich in ihre Häuser zurück. Natürlich galt dies nicht für die unzähligen Quink, die hier mit den verschiedensten Diensten beauftragt waren. Sie brachten Waren in den Gebirgsturm oder transportierten leere Transportbehälter heraus. Flinke Läufer beförderten Nachrichten in beide Richtungen und überall zwischen ihnen standen bewaffnete Krieger, die für Ordnung sorgten. 

Von Kyon, Tal und Ughtred nahmen sie jedoch keinerlei Notiz. Die drei marschierten geradewegs über den Platz und bahnten sich ihren Weg durch die Menge am Tor. 

Endlich im Inneren angekommen, staunte Ughtred nicht schlecht über die unwirkliche Architektur dieses Gebäudes. Kyon hatte als Welpe hier einen Tag der blauen Sonne verbracht. Seine Eltern waren wie die meisten anderen Stadtbewohner in den Berg gezogen, als Itaraun, die blaue Sonne sich ankündigte und ihre Welt mit einem einhundert Jahre andauernden Tag überzog. Für die Smavari war dies nichts besonderes. Viele von ihnen erlebten dutzende dieser Ruhezeiten in ihrem ewig andauernden Leben. Alle eintausend Jahre kam Itaraun und verbannte die Elt in die Dunkelheit des Gebirges. Für Kyon hatte der Zackenturm kaum etwas Geheimnisvolles. 

Tal war ebenfalls schon oft hier gewesen und kannte ähnliche Gebäude aus der kisadmurischen Hauptstadt Angaworth, wo ihre Großmutter lebte. Außerdem machte sie sich nichts aus Architektur und deren Magie. Für sie waren diese Spielereien Firlefanz, verglichen mit der Allmacht der lebendigen Natur.

Doch Ughtred war geblendet von dem, was er sah. Seine Leute hatten den Stein ebenfalls bearbeitet und Dranought, seine Heimatstadt, wies grandiose Ecken und Winkel im Gebirge auf, doch mit der Statik dieses Gebäudes konnten sich die Nyghgebäude nicht messen. Sie waren an die Regeln der Physik gebunden und wehe dem, einer der Baumeister hatte es mit den Verlagerungen übertrieben. Wenn die Tiba Fe bebte, konnten Türme einstürzen. Wie hatten es die Silberwölfe nur geschafft, diesen unglaublichen Hohlraum zu erschaffen und ihn vor allem zu stabilisieren?

Er blickte an den graublauen Wänden der ersten Halle hinauf und konnte in ihrem Zentrum weit über den sechsten Stock hinaufsehen, ohne dass ihm dabei auch nur ein einziger Stützpfeiler die Sicht nahm. Der Innendurchmesser der Aufzugshalle war derart gewaltig, dass man vom Eingang aus nicht die Gesichter der Aufzugspassagiere erkennen konnte. Und hier im Inneren war auch noch besser zu erkennen, wie es gemeint war, diese Sache mit dem Querschnitt in Form eines Pentagramms des ganzen Turmes. Die Vorderseite der Eingangshalle lag in einem der nach innen gewölbten Winkel besagten Pentagramms und links und rechts des Haupttores reichten spitz zulaufende Wände hinaus auf den Platz. Die hinteren Zacken konnte man leider nicht erkennen, lagen sie doch weit in den Fels gebaut und durch Trennmauern abgeschirmt außerhalb seiner Wahrnehmung.

Langsam gingen sie auf die Plattformen der Aufzüge zu. Alle drei waren zufällig gerade hier unten, aber die rechte setzte sich just in diesem Moment in Bewegung. Ughtred erkannte erst jetzt, dass die Trossen in einem leichten Winkel von der Eingangstür weg nach oben führten. Dies bedeutete, dass der ganze Turm in einer Schräge erbaut sein musste. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, wie man dieses Bauwerk errichtet hatte. Es war, als wären Asan, Götter oder zumindest Titanen nach Kisadmur gekommen und hätten hier mit ihren gigantischen Händen und einer unermesslichen Zauberkraft im Gebirge gewirkt. Doch zu welchem Zweck? Ughtred wusste, dass die Zitadelle den Silberwölfen als Bergfried diente. Er kannte die Geschichten über ihre langen Auszeiten, wenn Itaraun über die Welt herrschte und wie es war, wenn sie nach einhundert Jahren erwachten und ihre Herrschaft erneuerten. Quink wurden nicht so alt. Und die Wölfe taten nichts, um sich in Erinnerung zu halten. Für sie schien es selbstverständlich, sich schlafen zu legen und nach einhundert Jahren zurückzukommen und erneut zu herrschen. Für die neu entstandenen Generationen der Quink musste solch ein Erwachen eine Katastrophe bedeuten. Eben noch lebten sie in Freiheit und entschieden selbst über ihr Dasein und schon kamen bleiche Hexenwesen über sie und machten sich aus ihren Häuten Mäntel und Decken.

Der Nygh schüttelte sich bei dem Gedanken und wunderte sich, dass es in der Historie seines Volkes so selten zu echten Auseinandersetzungen mit den Silberwölfen gekommen war. Es gab scheinbar keinen Grund für diesen Frieden. Korezuul lag ungünstig im Norden der Tiba Fee und man hatte ja gerade kürzlich gesehen, wie mühselig sich eine Reise von Kisadmur dorthin gestaltete. Dennoch, wenn die Elt sich etwas in den Kopf setzten, neigten sie auch dazu, es durchzusetzen. Natürlich waren seine Leute deutlich wehrhafter als die zahmen Quink. Auch die Nyghs kannten psionische Kräfte und sie waren bedeutend bessere und zähere Krieger als die Silberwölfe. Außerdem hatten sie die Große Mutter auf ihrer Seite. Eine der mächtigsten Göttinnen des Universums überhaupt, hatte sich dafür entschieden, den Nyghs und allen Skergen beizustehen. Sie waren Kinder des Urtitanen, aber Mutter Natur, hatte sie als ihre Kinder angenommen und wer wollte sich mit ihr messen?

Es gab Geschichten über einen Angriff seitens der Wölfe auf Korezuul. Sie waren durch die Dimensionen gekommen und hatten ihre alles vernichtenden Waffen mitgebracht. Es schien, als hätte das letzte Stündlein für die Nyghs geschlagen, doch dann war der Zorn der Mutter über die Angreifer gekommen. Alle Amytoren der Wälder und Gebirge hatten sich auf die Wölfe gestürzt, Stürme und Blitze waren über sie gekommen und am Ende war die Mutter selbst erschienen und hatte die Elt mit Krankheit und Elend geschlagen. So stand es in den Aufzeichnungen, die man versteckte und solchen wie Ughtred vorenthielt. Aber er hatte sie Gelesen. Er hatte die Bilder gesehen, die Zeugen vor all den Millennien von diesen Dingen gezeichnet hatten und seine Nackenhaare hatten sich bei dieser Lektüre aufgestellt. Nun, da er die Macht der Silberwölfe in Form dieses Gebäudes sah, begriff er die Allmacht der Götter in seiner Architektur.

Kyon deutete auf den linken der Aufzüge, der sich langsam mit Passagieren füllte und sicher bald abfahren würde. Der Mittlere wurde noch entladen und wies derzeit gut drei Dutzend Quinkarbeiter auf, die leere Kisten zu einem der Seitenausgänge des Bergturmes trugen.

Ughtred fragte etwas über den Aufbau und das Alter des Gebäudes, aber die beiden Silberwölfe waren schon losgelaufen. Als sie die Plattform erreichten wurde Ughtred mulmig. Sie hatte einen Durchmesser von über fünfzehn Metern und bestand aus einem groben Gitter, durch welches man auf den Boden darunter blicken konnte. Ein Geländer gab es nicht. Er wollte gar nicht wissen, wie oft es passierte, dass eine der Plattformen so voll war, dass Arbeiter sich im Gedränge gegenseitig über den Rand schoben. Unwillkürlich suchte er den Boden nach alten Blutflecken ab, fand aber nichts. Dafür gewahrte er einen großen Droiden, der mit einer Art Besen bewaffnet besagten Boden reinigte. Der Nygh schüttelte den Kopf und rieb sich, wie immer, wenn er nervös war, die Stirn.

Vierzehn mächtige Taue liefen durch ein Gewirr von Zahnrädern und offenen Walzen durch die Maschinerie der Plattform und Ughtred versuchte zu begreifen, wie sie arbeiteten aber einige der Räder schienen sogar gegenläufig zu arbeiten und so schaffte er es einfach nicht mit ihrer Funktion klar zu kommen. Als sich das Gebilde in Bewegung setzte, gab es kein Rattern oder Knacken, wie es bei einer Maschine in Korezuul der Fall gewesen wäre. Dort betrieb man Lastenaufzüge mit dampfbetriebenen Maschinen und diese waren in der Regel sehr laut. Hier war nur das Stöhnen der Arbeiter und die Unterhaltungen der Turmbewohner zu hören. Die Plattformen gaben bestenfalls ein leises Reiben von sich. Außerdem bewegten sie sich unglaublich sanft. Es gab weder ein Ruckeln, noch zitternde Bewegungen, nur die einzig sanfte schräge Fahrt nach oben. Er hatte zwar keine Höhenangst und die Plattform war keineswegs überfüllt, aber dennoch hielt er sich ein Stück von den Rändern entfernt. Er sah Kyon zu, wie dieser mit den Zehenspitzen in der Luft, genau am Rand stand und vor und zurück wippte. Gab es ein Gegenteil von Höhenangst? Wollte der Silberwolf in die Tiefe gestoßen und unten von einem Droiden aufgekehrt werden? Ughtred sagte nichts, aus Angst er könnte den Kameraden erschrecken und so verursachen, was er fürchtete.

So fortschrittlich und geheimnisvoll die Aufzüge arbeiteten, Geschwindigkeit hatte zweifelsfrei nicht auf der Agenda ihres Erfinders gestanden. Es dauerte viele Minuten, um vom Boden das erste Stockwerk zu erreichen und tatsächlich gab es hier keine Ausstiegsmöglichkeit. Güter, die hier heraufgebracht werden sollten, mussten zweifelsfrei über die Treppen in den Wänden der Anlage transportiert werden. Hier unten war der gesamte Raum eine Art gewaltiger Dom von unermesslichen Ausmaßen.

Plötzlich begann es zu schneien und Ughtred hob die Augenbrauen. Hinzu kam ein recht lautes und seltsam deplatziert klingendes Geräusch über ihm und als er den Blick hob, stockte ihm der Atem.

Über ihnen schälte sich ein gewaltiges Monster aus der milchigen Trübnis des Hohlraumes. Es war eine Art gigantischer Wurm oder Hundertfüßer, dessen winzige Beinchen träger in der Luft Ruderten. Anstelle eines Gesichts oder eines Mauls, schoben sich viele Meter lange schienenartige Gestelle aus seinem Kopf; deren Zweck Ughtred nicht erahnen konnte. Das ganze Ding rotierte langsam durch die Luft und steuerte den Zwischenraum der Aufzugsplattformen an. Es war unersichtlich, was genau es in der Luft hielt, denn es war nicht aus Flugholz und verfügte weder über Flügel, noch war es mittels Seilen an den Turmwänden befestigt. Vor allem war es kein Lebewesen. Es war eine Art riesiger Droide und der Schnee, der nun den Turm erfüllte, ging von seiner Unterseite aus.

»Berggräber, für den Bergbau«, murmelte Kyon, ohne seinen Blick nach oben zu bewegen.

»Für den Bergbau?«, fragte Ughtred. »Es fliegt!«

Kyons Antwort war eine Mischung aus Verwunderung und Ärger: »Soll es durch den Fels schwimmen? Welche Wunder erwartest du noch von dieser Welt?«

Der Nygh beließ es dabei und beobachtete den gigantischen Wurm, der sich bis ganz nach unten schlängelte und dann in einer sanften Kurve durch den Eingang glitt. Von außen musste es aussehen, als verließe ein Drache seine Höhle. Er schüttelte den Kopf.

Ab dem sechsten Stockwerk gab es wie versprochen auf der Innenseite des Turmes eine Art Balustrade aus demselben Gitter, aus dem auch die Aufzugsplattformen bestanden. Hier war es ein Leichtes, die Aufzüge zu betreten oder zu verlassen, ohne in die Tiefe zu stürzen. Vorsichtiger musste man natürlich sein, wenn keine der Plattformen vor Ort war, denn auch hier gab es keine Geländer oder andersgeartete Sicherheitsvorkehrungen und Ughtred fragte sich, wie viele Quink in den letzten Millennien in die Tiefe gestürzt waren.

Wie zu erwarten war, dauerte die Fahrt in das zwölfte Stockwerk sehr lange und irgendwann setzte sich der Nygh im Schneidersitz auf das Gitter. Immer noch von der schieren Größe des Bauwerks fasziniert, beobachtete er, wie die Gestalten unter ihm kleiner und kleiner wurden. Im Zwölften angekommen, verließ er mit seinen Begleitern den Aufzug und wandte sich, dem Tagebuch entsprechend nach links. Doch plötzlich hielt Kyon ihn an der Schulter zurück und deutete auf eine der zahllosen Treppenfluchten, die ebenfalls auf die Balustrade mündeten. Zuerst verstand der Nygh nicht, aber dann sah er die beiden smavarischen Wächter, die offenbar auf ihn aufmerksam geworden waren. Er beeilte sich im Treppentunnel zu verschwinden, aber die beiden Männer hatten sich schon in Bewegung gesetzt. Kyon ging einige Stufen nach oben, aber dann blieb er stehen und wartete. Von unten war nichts zu hören. Gerade drückten sich zwei von oben kommende Quink an Tals ausladendem Zweihänder vorbei, als Kyon wieder nach unten gehen wolle und just in diesem Moment kamen die besagten Wachen um die Biegung der Treppe.

»Darf ich fragen, wer ihr seid und was ihr hier macht?«, fragte der schmalere der beiden Krieger und sah Kyon direkt an. 

Der Barde zögerte keinen Wimpernschlag und sagte mit leicht verärgerter Stimme: »Ich bin Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor und ich zeige meinem Freund aus Korezuul die Schönheit der Bergzitadelle. Ist daran etwas auszusetzen?«

Der Krieger senkte den Blick und machte einen Schritt zur Seite. Er war zweifelsfrei kein Sliyn und er hatte auch sicher nicht das Recht, einem solchen sinnlos die Zeit zu stehlen. Kyon ging mit Tal und Ughtred an den beiden vorbei, zurück zum zwölften Stockwerk und deutete auf Deckenstreben und Einlässe für die Zugseile der Aufzüge, als erkläre er einem landesfremden Besucher die Besonderheiten der smavarischen Baukunst.

Die Wächter blieben noch einen Moment stehen und unterhielten sich. Es war nicht unwahrscheinlich, dass sie den Schwindel erkannt hatten, aber was sollten sie tun? Sie waren stärker als Kyon, besser bewaffnet und wahrscheinlich waren sie sogar im Recht, aber sie waren ebenfalls Smavari. Smavarische Wächter machten eine kurze Wachphase durch und gingen dann in Kur. Sie brauchten lange sich zu erholen und je komplizierter ihre mehrstündige Wache verlaufen war, umso mehr hatten die Helfer, speziell für diese Arbeit ausgebildete junge Leute, wurden benötigt, um das Trauma der Überarbeitung und sinnloser Verantwortung in den Griff zu bekommen. In den letzten Millennien gab es dutzende Fälle von unbefugtem Eindringen in die Zitadelle. Diebe hatten ihre Ressourcen aufgebessert, Sklaven waren entführt worden und einmal hatte ein Pirat versucht, bis zur Festung Shishney vorzudringen, um die Fürstin zu entführen und Kisadmur mittels Löseressourcenerpressung zu destabilisieren und in heillose Aufregung zu versetzen. Kyons Wissen nach, stand der Moraidi oben im Eispark der Herrin von Shishney. Er war zu einer Erinnerung geworden. Damit hatte er den meisten anderen Vorkommnissen etwas voraus. Denn der Rest, war Staub auf den Stufen der ungezählten Treppen des Gebirgsturmes.

Sie waren auf der Balustrade zurück und gingen auf der linken Seite entlang. Die Wände waren glatt, hatten aber ab und an Risse und schienen an vielen Stellen durchscheinend zu sein. Ughtred untersuchte unauffällig die Strukturen und fand sich außer Stande, die Materialzusammensetzung zu begreifen. Die Wände hatten etwas Kristallines, fast wie normales Glas, aber in ihrem Inneren befanden sich längliche Strukturen, wie magnetisiertes Metall, welches mittels Polarisierung zu kratzigen Strängen geformt worden war. Wenn er genauer hinsah, hatte er sogar das Gefühl, dass das Zeug im Inneren der Wände in Bewegung wäre. Immer wieder scheinen die winzigen Fasern ihre Richtung zu ändern, als wäre der gläserne Anteil des Materials zähflüssig.

Er überlegte. In einem der alten Kristalle hatte er gelesen, dass normales Glas auch nicht starr war. Besah man es sich bei Tageslicht, oder ging es gar zu Bruch, war es hart, bekam messerscharfe Kanten und konnte sogar als Messer benutzt werden. Doch die Alten wussten, wenn man Glas nur genügend Zeit ließ, floss es stets der Anziehung der Tiba Fee folgend, und wurde an der, dem Weltenkern am nächsten liegenden Teil dicker und dicker, während es weiter oben an Stärke verlor. War dies hier derselbe Vorgang? Spielte die Welt gar keine Rolle beim Fließverhalten von Kristallen?

»Ich sehe hier nichts«, holte Tal ihn aus seinen Gedanken.

»Ihr solltet eure Sehhilfe tragen, Frau Hexe«, konterte Kyon und deutete auf die Wand. »Sie hat schließlich unsere letzten Ressourcen verschlungen.

Tal nestelte in ihrer Tasche herum und fingerte nach dem schmalen Rahmen der Brille. Dann hob sie das Ding vor die Augen und schließlich setzte sie es auf. Sofort verbesserte sich ihre Sicht. Doch sie kam zu spät. Ughtred fuhr mit den Fingern eine unsichtbare Linie an der Wand entlang und nickte.

»Das ist es«, sagte Kyon und sah sich ein letztes Mal nach den Wächtern um.

Leider hatten sich zwischenzeitlich nicht nur besagte Wächter auf dem Rundgang der Gitterplattform eingefunden, sondern auch eine ganze Anzahl von Quink und sogar einige Droiden. Es schien, als ob viele von ihnen durchaus interessiert an den Belangen der Besucher waren. Kyon sah Tal und Ughtred an, richtete sich auf und deutete auf die Aufzugstrossen, als erkläre er dem Nygh ihre Funktionsweiße. Dann schlenderte er zu einer der Aufzugsplattformen und machte einen großen Schritt. Auf dem Aufzug deutete er erneut auf den Tunnel und erzählte Ughtred von der Höhe der Zitadelle und ihrem Ursprung. 

Tal und Ughtred zuckten mit den Schultern und folgten dem Barden. Was sollte man machen? Zuviel Aufmerksamkeit war nun einmal zuviel Aufmerksamkeit. Man würde zu einem anderen Zeitpunkt wieder kommen.

Am nächsten Tag, Kyon und Tal hatten lange geschlafen, standen die beiden Tagesschwestern an ihrer höchsten Position, als Ughtred die Tür zu Kyons Haus öffnete und auf die Straße trat. Tal und Kyon hatten ihre Kapuzen über die Köpfe gezogen und folgten ihm. Gegen Mittag, war es mehr als Ungewöhnlich Silberwölfen im Freien zu begegnen. Das Licht der Sonnen behagte ihnen nicht und schadete ihrer Haut. Mittags hielten sie meist ein Schläfchen, folterten in dunklen Kellern ihre Sklaven oder machten andere erbauliche Dinge in Abwesenheit des Sonnenlichtes. Darum war diese Tageszeit auch zweifellos die Beste, um möglichst wenigen neugierigen Leuten zu begegnen, die am Ende auch noch etwas zu sagen hatten. Natürlich würde innerhalb der Turmzitadelle trotzdem etwas los sein, aber mit smavarischen Wachen war eher nicht zu rechnen. Obwohl in der Anlage Dämmerlicht herrschte, war es üblich, auch hier die Tageszeiten zu berücksichtigen. Es war smavarischen Wachen nicht zumutbar, Wache zu halten, wenn alle anderen schliefen. Außerdem erschien es der Obrigkeit auch überflüssig Wächter an Zeiten zu unterhalten, an denen ja ohnehin alle schliefen. Das die Quink sich nicht an solche Vorgaben hielten war ihnen ganz und gar egal.

Als die Drei also zum zweiten Mal in diesem Frühling das gewaltige Haupttor der Zitadelle durchquerten, gab es in der großen Halle keine smavarischen Krieger. Natürlich war die Halle dennoch bewacht. Ein Kontingent von Quinkwächtern sorgte für eine Atmosphäre absoluter Sicherheit. Von außen betrachtet, wirkte hier alles überwacht und sicher. Tatsächlich stand die Bergzitadelle jedoch jedem offen, denn die Quink hatten nicht die Befugnis, Silberwölfe anzuhalten, und ein Quinkbote, der im Namen seines Herren sprach, durfte ebenfalls nicht an seinem Auftrag gehindert werden. 

Ughtred deutete auf den mittleren Aufzug, der sich gerade dem Erdboden näherte. Er war leer. Sie betraten die Plattform und warteten, bis sie sich erneut in Bewegung setzte. Wie beim ersten Mal dauerte es lange, bis die Vorrichtung den zwölften Stock erreichte, aber auch hier herrschte zu dieser Uhrzeit absolute Ruhe. Niemand war da. Kyon ging festen Schrittes zu der Stelle an der Wand, an der sie die Geheimtür vermuteten. Er untersuchte den feinen Spalt und hob die Schultern, doch Ughtred war schon zur Stelle. Obwohl sie niemand beobachtete, bewegte er sich so leise wie möglich. Vorsichtig nahm er sein Sichtglas aus der Tasche und hielt es an die Wand. Da waren dunkle Arme auf der Innenseite zu sehen. Wahrscheinlich die Gelenke oder Führungen der Tür. Als nächstes beförderte er eine schmale Brechstange zutage und versuchte sie unten zwischen Fußboden und Tür zu schieben. Das Material fühlte sich brüchig und seltsam fein an und als er ein wenig mehr drückte, brach eine dünne Kante ab. Perlmutt, dachte er. Wie konnten sie Wände aus Perlmutt bauen?

Er schob den Geißfuß eine Spur tiefer und stemmte das Konstrukt nach oben. Tatsächlich ließ es sich auf diesem Weg ein wenig aus seiner Führung ziehen.

Kyon erkannte den Rand der Tür und legte seine Fingerspitzen daran und tatsächlich reichte der Widerstand seiner Fingernägel, die unglaublich dicke Tür aus der Führung zu sich heraus zu ziehen.

Wie Ughtred schon vermutet hatte, lief sie auf langen, abgewinkelten metallen Armen, die es erlaubten, sie nach außen zu ziehen und auf die Seite zu schieben.

Sofort trat ein schaler Geruch aus der hinter der über eine Hand breiten Tür befindlichen Kammer. Die Öffnung schien im ersten Moment dunkel, aber die halbtransparenten Wände ließen tatsächlich noch einen minimalen Teil des ohnehin wenigen Lichtes im Turmbau hinein und Wesen wie die Smavari oder Nyghs, reichte dies, um sich zumindest eine Vorstellung von ihrer Umgebung machen zu können. 

Kyon machte einen vorsichtigen Schritt hinein und betrat einen niedrigen Bogengang, der von seiner geometrischen Lage schon aus dem Gebirge herausragen musste.

»Unraum«, murmelte Tal hinter ihm und er nickte.

Kyon machte einen weiteren Schritt und fühlte sich für einen Moment schwerelos. Er konnte die Tiefe unter der Realität dieses quantenverschobenen Raumes spüren. Mit jedem, den er machte, hatte er mehr und mehr das Gefühl, hinunter nach Shishney stürzen zu müssen, doch nichts dergleichen geschah. Der Steinboden war alt und fest und würde hier noch lange bestehen, nachdem die Tiba Fe längst in eine ihrer drei Sonnen gestürzt war.  

Ughtred fragte: »Wie funktioniert das?«, und Tal erklärte ihm, dass dieser Teil des Gebäudes in einer anderen Realität verankert worden sei und dass es solche Unräume häufig in Gebäuden der Smavari gab. Wenn man wusste, wie man es anzustellen hatte, war es gar nicht so schwer hinüber zu bauen. Sie hatte einmal ein Seminar in Angaworth zu diesem Thema besucht und zusammen mit ihrer Großmutter ein Unraummodell zusammengebaut, in dem man Falter von der Tiba Fe in die Anderwelt senden konnte.

Ughtred hörte nicht mehr zu. Ihm schwirrte der Kopf. Hinter Tal hatte er nun auch den Bogengang betreten und das Gefühl des Schwindels war überwältigend. Es war, als stünde er wieder auf einer der Fahrstuhlplattformen, und diese rase mit unbändiger Geschwindigkeit in eine Richtung, die er weder in die Kategorie hoch oder runter einordnen konnte. Er rieb sich mehrfach die Stirn und versuchte seinen Kopf zu klären, aber es dauerte einen Moment, bis er wieder klar denken konnte.

Erst als er die Nebenwirkungen des Unraumes überwunden hatte, gelang es ihm, sich auf den etwa drei Meter breiten und sechs Meter langen Keller zu konzentrieren. Er sah zu, wie Kyon vor ihm an einer geländerlosen Treppe im hinteren Drittel des Raumes stehen blieb. Sie bestand aus groben Steinblöcken und führte zur geschlossenen Decke hinauf, wo sie endete. Der Nygh versuchte ihren Zweck zu erkennen, doch es schien keinen zu geben.

Tal sagte: »Das Gewölbe lässt sich garantiert öffnen, wenn wir Steine aus den Seitenwänden ziehen. Seht mal. Die Quadratischen in jedem Gewölbe stehen etwas hervor. Die kann man sicher bewegen.«

Kyon war um die Treppe herum gegangen und hatte sich ihre Stirnseite angesehen. »Hier ist der Rätselspruch aus dem Tagebuch.«

Tal und Ughtred kamen zu ihm und wirklich, hier im Stein der Treppe waren die Glyphen der Scherbenschrift zu sehen, die Lonkaiyth ihnen in seiner Anleitung hinterlassen hatte.

 

Der Erste links vom Bogengang

Dann drei mal drei sind unberührt

Das Spiegelbild des Letzten auch

Vier zum Eingang hin

Und noch einer gleich daneben

Wieder dessen Spiegel

Und einer weiter in den Raum

Dann der letzte auf der rechten Seite

 

Kyon deutete auf den ersten Stein neben dem Eingang in den Keller und nickte. Tal, die näher daran stand, griff nach der Kante und zog daran und tatsächlich ließ er sich mit einem leisen Knirschen einige Finger breit herausziehen. Sie lachte wie ein Kind und fragte: »Wie geht es weiter?«

Kyon las vor: »Dann drei mal drei sind unberührt, also der elfte als nächstes und dann sein Gegenüber auf der anderen Seite!«

Systematisch gingen sie die Anleitung durch und zogen an den Steinen und kaum waren die richtigen acht aus ihrer endlose Millennien alten Position gebracht, ertönte es über ihnen an der Decke der flachen Kammer ein Knirschen und Stöhnen. Langsam und wie von Geisterhand öffnete sich ein schmaler Durchgang über der Treppe und gab dieser einen Sinn. Raguels Grabkammer hatte sich geöffnet. 

Tal lächelte Kyon an, doch dieser machte ohne zu zögern den ersten Schritt auf die Treppe. Sie streckte ihm die Zunge heraus und folgte. Der Nygh kam ihnen hinterdrein.

Die Treppe mündete in einen zwölf Meter langen Raum, an dessen Ende sich eine Empore mit einem steinernen Sarkophag befand. Hier lag Raguel Siarn dan Orthenaug in seinem letzten Ruhebett. Der schwere Deckel des Sarges wurde dem liegenden Abbild des toten Fürsten nachempfunden und in seinen steinernen Händen lag sein mächtiger Speer. Das Abbild war eine brillante Arbeit aus früheren Zeiten, und die Hände des ehemaligen Helden hielten den Speer quer vor sich, so dass seine Klinge über den Deckel des eigentlichen Sarges hinaus ragte. Es war sofort ersichtlich, dass es sich bei dem Speer um eine wirkliche Waffe, und nicht ebenfalls um eine Nachbildung aus Gestein handelte.

Die drei Abenteurer näherten sich der Empore und Ughtred hob die Hand. Er hatte Angst vor eventuellen Fallen und trat darum zuerst näher, doch so genau er die Steine auch untersuchte, er fand nichts verdächtiges. Schließlich trat Tal an den Sarg heran und berührte den Speer. Wie im Tagebuch beschrieben, schien er keine negativen Kräfte auf sie hernieder regnen zu lassen. Kurzerhand griff sie zu und entzog ihn dem Griff seines ehemaligen Besitzers. 

»Und jetzt?«, murmelte der Nygh.

Tal sah ihn an und zuckte mit den Schultern, aber Kyon sagte: »Niemand in Shishney wird den Speer erkennen. Zumindest keiner der Quink. Raguel lebte viele Generationen vor ihnen. Wir gehen und nehmen den Speer mit uns. Es gibt keinen Grund ihn zu verhüllen.«

Gesagt, getan – ohne weiteres Fehlerlesen gingen sie mit ihrer Beute zu der Treppe zurück. Unten angekommen drückten sie die Steine zurück an ihre Positionen und verließen den unteren Kellerraum durch das Bogentor. Auf der Balustrade angekommen, schoben sie vorsichtig die Geheimtür an ihre ursprüngliche Position zurück. Sie warteten einen Aufzug ab, weil gerade ein Kontingent bewaffneter Midyar an ihnen vorüber fuhr und nahmen dann die nächste Plattform.

Ganz und gar unbehelligt verließen sie die Bergzitadelle und waren nun die stolzen Besitzer einer der mächtigsten Waffen des smavarischen Reiches.

 

Das Zahnrad

Einige Tage vergingen. Ughtred trainierte weiter mit Odugme und Tal übergab eines Tages das Kreuzschwert ihres Bruders an den Phani. Sie wollte sich auf den Speer konzentrieren und übte sich im Umgang damit. Schließlich ließ sie auch den großen schwarzen Mann gegen sich antreten und zeigte ihm den richtigen Umgang mit Langwaffen. 

Kyon unterdessen versuchte immer noch, Ressourcen anzuhäufen. Er besuchte mehrere Soirees, ließ sich fürstlich für Balladen und Geschichten entlohnen und gab sie später wieder für Helfer und Helferinnen, Drogen und extravagantes Essen aus. Er taumelte durch die Straßen der Stadt und verlor sich wie so oft zuvor in ihren Winkeln.

Als sie wieder einmal am Runden Tisch in seinem Haus saßen, sagte Tal: »Wir müssen die Sache mit dem Zahnrad angehen. Wir müssen es finden und dafür sorgen, dass es repariert wird. Was steht noch einmal genau im Tagebuch?«

Ughtred sah Kyon an, als dieser genervt vorlas: »Der Schmied wird es richten. Nur leider ist der nicht mein Freund. Schuld und Sühne über dieses Haupt, doch nahm ich diesem Krüppel seine Gattin und weh ihm, somit seinen Erben. Wie soll ich vor ihn treten? Ist dies mein schwerstes Abenteuer? Härter scheint mir dieser Gang, als Mandibelzangen und des Riesen Klauen, doch es muss sein. Also bittend, flehend muss ich in die Quinkstadt gehen, dort den ehemaligen Rivalen um den Gefallen bitten. Tut ers nicht, ich weiß nicht was. Der nächste der dies Kunststück vollbringen könnte lebt in Rivenest, allein das Reisen dahin ist zu teuer für mein Haus.

Doch ihn zu zwingen, wird kaum möglich sein. An Leib und Seele ist der Mann bezwungen längst, noch wär er zu überzeugen? Sein Hass auf uns wird nicht gewichen sein, womit auch das Betteln ohne Frucht verbleibt. Kein Ding besitz ich, das er sein Eigen nennen will. Nichts, gar nichts bleibt mir zu tun. Außer, außer vielleicht die Frau. Ist dies möglich? Kann und will ich dies versuchen? Was würd sie sagen, wenn ich ihn zu uns ins Hause lade – Frieden schließen einfach so?

So muss es sein. Er wird geladen in unser Haus zu trautem Stelldichein. Nur so kann es gehn, denn jeder andre Weg ist mir verwehrt. Welch ein Abenteurer wäre dies, wenn so schlichte Moral ihn hielt von seinen Zielen? Beschlossen ist es und sogleich schreib ich ihm den Brief.«

Er machte eine Pause und nahm einen Schluck aus seinem Becher mit Faltersud. Dann fügte er hinzu: »Aber wo soll das Ding denn sein? Haben wir es auf einer der Reisen übersehen?«

Ughtred, der sich schwer mit der Scherbenschrift des Tagebuchs tat sagte: »Hattet ihr nicht vorgelesen, dass es im Keller sein soll?«

Kyon sah den Nygh an und erwiderte: »Da hätte ich es gesehen. Wir haben doch alles nach wertvollen Dingen durchsucht; mehr als einmal.«

Tal sagte: »Na ja, hier steht …« Sie fuhr mit den Fingern durch die Luft und ließ das Tagebuch eine bestimmte Stelle seines Inhaltes auf die Tischplatte projizieren. »Erster Keller, rechte Treppe, zweite Truhe in der Nische.«

Kyon schüttelte den Kopf. »Kann nicht sein.«

»Lasst uns nachsehen Herr Barde«, sagte der Nygh, stand auf und zog an Kyons Ärmel. Tal lachte und stand ebenfalls auf, aber sie ging zum Fenster und sah in den Regen hinaus. Von hier aus, konnte sie die Doppeltürme ihres Zirkelhauses sehen. Sie legte die Stirn in Falten und presste sie dann an das kalte Glas. Inständig hoffte sie, dass all die Abenteuer ihr früher oder später die Tore in das Zirkelhaus öffnen würden. Die Schwarze Perle war ein Mythos, aber sie wusste auch, wie Akkatha funktionierte. Anerkennung war wichtig und diese vergab die Hexenkönigin nur an jene, die sie sich verdient hatten. Andere, lebten ein Dasein in den Schatten. Aber sie würde sich diese Anerkennung verdienen.

Plötzlich wurde ihr heiß und kalt und ihr Blick wurde vom Boden unter ihren Füßen angezogen. Ihr war schwindlig und dann kam die Vision über sie:

Keller um Keller glitten an ihr vorüber, bis sie merkte, dass sie es war, die in die Tiefe sank. Irgendwo um sie herum war Kyon, denn auch er wurde in den Strudel der Unterwelt gezogen. 

Nach den Kellergewölben des Hauses, mit seiner Esse und dem bösen Geist darinnen, kam die Kanalisation, und dann noch ein Haus, eine Ruine unter dem Anwesen. Noch tiefer wiederum befanden sich dessen Keller und darunter wieder eine Kanalisation. Shishney war alt, und im Alter bildeten Städte Schichten, die sie früher oder später abwarfen wie Schlangen ihre Haut.

Gerade als Tal dachte, den Grund erreicht zu haben und jetzt Kyon ganz deutlich neben sich im Gestein schweben sah, brachen sie gemeinsam durch eine weitere Schicht und gerieten in freien Fall durch eine unterirdische, domartige Kuppel. Hier unten endlich erstreckte sich die erste Stadt am Fuße der Odoreys und niemand hätte ihr Alter bestimmen können. Tausende von Gebäuden ohne Dächer erstreckten sich über eine Distanz, die das heutige Shishney mehr als vervierfachen würde. Tal und Kyon konnten in die Gebäude hineinsehen und sahen seltsame Gestalten, die jedoch nur Schatten ihres einstigen Daseins darstellten. Sie waren vergangen und hatten nur Visionen hinterlassen. Mit großen Köpfen, schlurften sie vornübergebeugt durch die Strukturen ihrer toten Welt. Groß waren diese Bewohner der Unterwelt gewesen und Tal fragte sich, wer sie gewesen waren.

 

Als sie zu sich kam, lag sie am Fenster und Ughtred hatte ihren Kopf auf sein Knie abgelegt. Besorgt blickte er sie an, aber er selbst sah viel schlimmer aus, als sie sich fühlte. Doch dann überkam sie eine gnädige Bewusstlosigkeit.

Sofort hob der Nygh sie auf und brachte sie in eins der Zimmer. Von irgendwoher hörte er Musik. Das musste der Barde sein. Er legte die leblose Hexe auf ein muffig riechendes Bett und stürmte los, um nach Kyon zu suchen. Unterwegs rief er nach den Bediensteten, aber niemand schien in Hörweite zu sein. Seine Nase blutete und er wischte sich mit dem Handrücken das Blut und Rotz aus dem Gesicht. Was war nur geschehen?

Die Musik wurde lauter. Als er Kyons Zimmer erreichte, stand die Tür offen und der Silberwolf saß auf einem Schemel und hatte seine Laute ans Kinn gepresst. Er bewegte sich langsam vor und zurück und hielt in seiner Hand eine Art Bogen. Mit diesem Gerät fuhr er über die Seiten des Instruments und entlockte ihm für Ughtred übermäßig fremdartige Melodien. Es klang so seltsam alt und treibend und Ughtred rieb sich die glühende Stirn. Er sagte etwas, aber das Gefiedel wurde immer anstrengender und riss ihn in einen Strudel der Unverständnis.

»Kyon, es ist Tal …« versuchte er es erneut, aber dann verließ ihn die Kraft und er sank zu Boden.

 

Das Zimmer war dunkel, aber auf dem Fensterbrett glomm ein Talglicht. Ughtred hatte die Augen geöffnet, war sich aber nicht sicher, ob er wach war oder noch immer in diesem schrecklichen Traum umher taumelte. Seine Lippen waren trocken und sein Kopf tat ihm weh. Er berührte kraftlos seine Stirn und stellte fest, dass sie glühte. Nyghs wurden praktisch niemals krank. Er war eine Ausnahme. Aber war er das nicht schon immer gewesen?

Er sank auf das feuchte Bett zurück, fror und schwitzte und versuchte etwas zu sagen, aber dann glitt er wieder in die Dunkelheit seines Fiebers zurück.

Als er erneut erwachte, saß Tal neben ihm. Sie sah unbekümmert aus, aber das tat sie in den meisten Fällen. Sie hatte unbekümmert ihren Bruder als Ersatzkörper benutzt, um ihn aus dem Kerker der Zitadelle zu retten, erinnerte er sich.

»Kyon …« keuchte er mit trockenen Lippen. Die Hexe wischte ihm mit einem nassen Lappen, den er aus der Küche kannte, über die Stirn und dann über die rissigen Lippen, aber er hatte keine Kraft sich zu beschweren. Hygiene und  Sauberkeit spielten im Dasein der Silberwölfe eine eher untergeordnete Rolle. Er ließ es über sich ergehen. Selbst als Tal ihm eine ihrer Hexentinkturen einträufelte schluckte er sie. Was hätte er tun sollen? Er war schwach und sie eine Wölfin.

Im Hintergrund seines Kopfes – oder war es irgendwo im Haus? – fiedelte Kyon die Schreckensmelodie und versuchte Ughtreds Schädel zum Zerbersten zu bringen. Er schloss die Augen und gab sich Mühe dies zu verhindern.

 

Mehr als drei Tage waren vergangen, so erzählten es ihm die beiden Silberwölfe später, als sie endlich wieder gemeinsam in der Küche saßen und heißen Faltersud tranken. Ughtred verzichtete natürlich auf den schwarzen Mottenbrei und hielt sich an seinen eigenen Tee. Es ging ihm besser.

Eine Massenvision, hatte Tal es genannt. So etwas komme vor. Kyon zuckte mit den Schultern und spuckte einen unzermahlenen Insektenflügel auf den Küchenboden.

»Und um was ging es da?«, fragte der Nygh und versuchte, Kyons Tischmanieren zu ignorieren.

Tal antwortete mit latentem Interesse: »Wir haben eine Architektur, tief unter Shishney gesehen. Es muss eine erste smavarische Siedlung gegeben haben, aber weit unter dieser befinden sich noch heute die verlassenen Überreste einer noch viel viel älteren Stadt.«

Kyon überlegte lauf: »Wer kann die gebaut haben? Wir sind die Ältesten und Tollsten oder?«

Die Hexe schüttelte den Kopf und nickte dann, als sie sagte: »Die Aspekte des Kar haben die Stadt in der Tiefe gebaut. Ich weiß aber nicht, welcher Aspekt. Es waren nicht die Nugai. Sie leben nicht in der Tiefe. Vielleicht irgendwelche Asan, denen ist alles zuzutrauen.«

»Asan sicher nicht, oder?« Kyon schüttelte den Kopf. »Die Nugai hätten sie bestimmt platt gemacht.«

»Nugai gehen wie gesagt nicht unter die Erde. Sie hassen das Reich der Würmer«, gab Tal belehrend zu bedenken.

Alle drei starrten noch eine Weile in ihre Getränke. Dann sprachen sie nicht weiter über die Vision. Ughtred genas, aber die schreckliche Melodie blieb ihm noch eine ganze Weile im Kopf und verfolgte ihn in seinen Träumen. 

 

Einige Tage später begaben sie sich endlich auf die Suche nach dem Zahnrad. Kyon hustete und trat schimpfend eine alte Holztruhe von den Treppenstufen. Normalerweise ging er immer in den zweiten Keller hinunter, weil sich hier die Schmiede des Pfeilmachers befand. Im ersten Keller gab es Spinnweben, Staub und vergammeltes Gemüse. Dies war kein Ort für ihn. Er schalt sich dafür, nicht die Quink geschickt zu haben.

»Seht mal«, hörte er Ughtred sagen und hob die Kerze höher, die er aus dem Salon mitgenommen hatte. Der Nygh bückte sich über einen Stapel von Gerümpel und Kyon schob ihn grob zur Seite. Hustend zerrte er eine alte, zerbrochene Truhe aus einer Nische neben der Treppe.

»Da hol mich der Nugai«, flüsterte er, als die Truhe am Kellerboden zerbrach und ein schwerer Gegenstand, der in ein Tuch gewickelt war, davonrollte.

Ughtred sagte: »Das ist es, Barde, hier seht.«

Der Nygh hob das schmutzige Bündel vor Kyons Augen und rieb sich Staub über die Zeichen auf seiner Stirn.

»Du siehst aus wie eins meiner Maskenmännlein«, sagte der Silberwolf.

»Seid mal froh, dass ich keins bin, Herr Barde. Aber ich will der verdammte Urtitan sein, wenn dies schmucke Stück hier, nicht das gesuchte Zahnrad ist!«

Er wickelte die Lumpen auseinander und brachte ein über einen Handspanne durchmessendes und mehr als halb so breites Gebilde aus einem rosafarbenen Metall zutage. Des Weiteren befanden sich mehrere Bruchstücke in dem Tuch.

Das Zahnrad selbst wies einen tiefen Riss auf, in dem wenigstens ein Viertel seiner ursprünglichen Masse fehlte.

»Sieht nicht gut aus«, sagte der Nygh. »Die Bruchstücke reichen nicht einmal, um den Riss zu füllen und ich habe keine Ahnung, was das für ein Metall sein soll.«

Kyon legte den Kopf schief und knurrte resignierend: »Also kannst du es nicht reparieren, war klar.«

Ughtred zuckte mit den Schultern und murrte zurück: »Wird schon einen Grund haben, warum euer Vater einen Brief an den besagten Schmied schreiben wollte.«

»Papperlapapp«, erwiderte Kyon gereizt. »Mein Vater hat dieses Tagebuch schließlich zu Lebzeiten geschrieben und damit zu einer Zeit, da sowohl der geile Schmied, als auch meine Mutter in einem ganz und gar anderen Zustand als heute waren. Was könnte Amyithas heute und in ihrem jetzigen Zustand von meiner Mutter wollen? Das ist Unsinn. Wir müssen eine andere Lösung für das Zahnrad finden. Es gibt eine Unzahl von Schmieden, wird schon einer dabei sein, der es richten kann.«

Tal, die einzige Treppenstufen weiter oben stand, mischte sich ein: »Euer Vater schreibt im Tagebuch, dass es keinen anderen gibt.«

»Da steht, in Rivenest lebt und wirkt einer«, sagte Kyon stur.

Ughtred warf ein: »Rivenest ist die Hauptstadt von Oriad und liegt auf der anderen Seite der Todesgrube.«

»Die Tinscrad«, sagte Tal. »Es würde sicher über eine Jahreszeit dauern und eine unschätzbare Anzahl von Ressourcen kosten, auf eigene Faust dorthin zu reisen.«

Kyon nickte und sagte gut gelaunt: »Gut, fangen wir an, welche zu sammeln.«

Sie gingen die Treppen hinauf und unterhielten sich weiter über ihre Möglichkeiten. Tal und Ughtred vertraten die Meinung, den hiesigen Schmied überreden zu können. Man müsse nur eine Einladung schreiben und ihn in die Gesellschaft zurückholen. Kyon hingegen blieb starrsinnig. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, nach Oriad zu reisen.

Nach einer Weile unfruchtbarer Argumentationen, stand er auf und nahm seine Jacke von einem der Stühle, wo er sie wie immer unachtsam hingeworfen hatte. Tal wollte noch etwas sagen, aber Ughtred legte ihr die Hand auf den Arm. Er schüttelte den Kopf, als wolle er sagen: lasst ihn, er ist sturer als eine trächtige Lope.

Indessen hatte Kyon schon seinen Salon verlassen und war die gebogene Treppe des Vestibüls hinunter gegangen. Er hatte eine ganz klare Vorstellung, wie das laufen würde. Zuerst würde er sich für die nächsten Nächte in einige der Häuser in der Ober- und Turmstadt einladen. Dort würde er Lieder über ihre bisherigen Abenteuer aufspielen, sich vergnügen und eine nicht mindere Anzahl von Ressourcen abgreifen. Er blieb einen Moment stehen und dachte über besagte Lieder nach und kam zu dem Schluss, dass er bisher keinerlei Zeit dafür aufgebracht hatte, sie überhaupt zu komponieren. Egal – mussten es eben alte Lieder sein. Vielleicht konnte er ja einfach ein wenig an den ursprünglichen Texten schrauben.

So schlenderte er durch die engen Gassen zwischen den uralten Häusern und genoss seine Freiheit. Hier war auch schon das erste Ziel. Das Haus Chron, wusste Feste zu feiern. Er klopfte, ein Quink fragte unterwürfig, was der Sliyn wolle und er beauftragte den Diener, den Herrn des Hauses Yˋshandragor für die nächste Soiree vorzumerken. Der Quink verbeugte sich ehrerbietig und terminierte diese Anfrage auf die übernächste Nacht. Kyon ließ den Hausherrn grüßen und kehrte in eine der Kaschemmen in der Turmstadt ein. Hier ließ er eine Ressource, feierte bis spät in die Nacht und prahlte mit seinen Abenteuern.

So ging das viele Tage lang. Er ließ in einem der Herrenhäuser Kerzenständer von großem Wert mitgehen, erhielt Liebesgeschenke und erfreute sich allgemeiner Wertschätzung. Dann versackte er in verschiedenen Lusthäusern und wachte am nächsten Morgen blank wieder auf. So war er, so war sein Leben. Leider beobachtete er sich nicht dabei und war nach wie vor überzeugt, früher oder später die Reise nach Oriad finanzieren zu können.

An einem sehr frühen Morgen ging er sogar zum Silberhafen und befragte einen der Hafenmeister zu diesem Thema. Es handelte sich tatsächlich um einen Smavari und als dieser vom Plan des Barden hörte, Rivenest zu besuchen, stahl sich ein vergnügtes Lächeln auf seine schmalen Lippen. Er erzählte von dem Vortex in der Festung, oben über der Stadt. Leider ließe die Herrin niemanden hinauf und jeder, der es versuchte, wurde von ihr in eine Eisstatue verwandelt. Sie mochte weder Besuch, noch gab sie Soirees oder andere öffentliche Anlässe, die man sich für einen Sprung durch den Vortex hätte zunutze machen können. Eisstatue – das war ihr Ding. Sie war verrückt, wie so viele sehr alte Smavari, aber wer hätte ihr verdenken können, Leute zu Eis erstarren zu lassen? Leute waren generell lästig. Da kam ihm ihre Art des Umgangs mit ihnen durchaus normal vor.

Eine andere Möglichkeit, so der Hafenmeister, wäre die große und vor allem öffentliche Vortexanlage in Angaworth. Hier würde es keinerlei Probleme geben, nach Rivenest zu reisen. Die Obrigkeit der Hauptstadt Kisadmurs war deutlich freundlicher zu ihren Untertanen als die von Shishney; zumindest auf ihre Art geschäftstüchtiger und realitätsnäher. Eisstatuen konnten unmöglich wirklich produktiv sein.

Leider, leider lag Angaworth auf der anderen Seite des großen Gebirges von Kisadmur und es gab nur zwei Möglichkeiten, die Hauptstadt zu erreichen. Option eins war der Vortex in der Festung – Eisstatue. Option zwei war eine unglaublich weite Schiffsreise um die Odoreys herum. Der Hafenmeister nannte verschiedene Haltepunkte weit im Süden des Landes und Kyon, der sich mit Geographie nicht wirklich auskannte, glaubte, was er hörte. Am Ende wäre der Weg nahezu ebenso lang wie die direkte Route über das Meer, nur eben ohne das Meer. Außerdem sollte man Angaworth gesehen haben. Kyon überlegte, und später am Abend sprach er seine Reisepläne den anderen gegenüber an.

Tals Großmutter lebte in Angaworth. Sie vermisste die alte Dame und wäre zweifelsfrei froh gewesen, sie besuchen zu können, aber sie wusste auch, dass es ein wirklich langer und beschwerlicher Weg zur Hauptstadt war. Über die Hälfte ihres eigenen Lebens war es her, dass sie mit ihren Eltern von dort auf die Westseite des Gebirges gezogen war.

»Es ist ein weiter und gefährlicher Weg von Shishney nach Angaworth. Die Fürstin wird uns kaum ihren Vortex nutzen lassen«, sagte sie halblaut beim Essen und schaufelte sich ein paar Echsenschwänze auf den Teller.

Kyon grunzte und schluckte den rohen Fleischbrocken herunter, den er sich gerade in den Mund gestopft hatte.

Ughtred schüttelte den Kopf und versuchte sich auf die Salatschüssel zu konzentrieren, die man ihm hingestellt hatte. Die Essgewohnheiten der Silberwölfe waren ebenso fremdartig für ihn, wie ihr Sexualleben. Wie konnte man nur einen blutigen Fleischbrocken herunterwürgen, ohne ihn ein einziges Mal vorher zu kauen? Wahrscheinlich musste man Wolfsblut in seinen Adern haben. Er fragte sich, wie viel Wahres an den Sagen über die Entstehung der Elt war. Ihre Erschaffer, sie nannten sie die sagenumwobenen Nugai, hatten sie aus ihrem eigenen Fleisch und Blut gemacht, doch angeblich hätte ein Gott einer anderen Art, ihrem Rezept einen Tropfen Wolfsblut hinzugegeben und damit die Silberwölfe von ihren Eltern entfremdet. Er dachte an die Entstehungsgeschichte seiner eigenen Leute. Alle Skergen stammten von dem Urtitanen Crynos ab, doch auch sie hatten sich von ihrem Vater gelöst und die große Mutter Natur als Schutzherrin angenommen. Die Parallele war durchaus interessant; zumindest, wenn man an Schöpfungsmythen glaubte.

»Ich gehe zu dem Schmied nach Quinkstadt und frage ihn einfach, ob er das Zahnrad für uns reparieren kann«, sagte der Nygh und nahm einen Bissen Brot in den Mund.

Kyon war immer noch mit dem Fleischbrocken in seiner Kehle beschäftigt und keuchte: »Absolut sinnlos. Er wird es nicht machen.«

Tal sagte: »Warum denn eigentlich nicht? Er hat doch kein Problem mit euch. Es war euer Vater, der ihn beleidigt und destabilisiert hat.«

»Spielt keine Rolle. Er wird es trotzdem nicht machen. Er ist sauer und verletzt und mit Sicherheit stur.«

Tal überlegte einen Moment und fragte dann: »Und eure Mutter? Wäre es denkbar die beiden wirklich zusammen zu führen?« Sie rechnete schon damit, dass Kyon einen Wutausbruch bekommen könnte und wandte sich sicherheitshalber ihrem Essen zu, aber dieser schluckte endgültig das tote Tier herunter, nahm einen Schluck Gelbwein und sagte: »Für was denn? Sie ist in ihrer eigenen Welt. Erstens will sie ihn nicht sehen, und zweitens würde es ihm kaum etwas bringen, sie so, wie sie jetzt ist, zu besuchen. Mir wäre es im Grunde egal, aber ich sehe keinen Sinn in dem Versuch.«

Das ärgerte Tal. Sie verstand Kyon nicht. Seine Mutter mochte sich in sich zurückgezogen haben, aber tat gerade so, als wäre dies ihre freie Entscheidung gewesen. Sie trauerte, und zwar heftig. Wie groß musste ihre Fähigkeit zu lieben sein, wenn sie der Verlust ihres Gatten derart marterte? Aber sie war ja nicht tot. Wer hätte sagen können, was ein Besuch seitens eines alten Freundes in ihr auszulösen vermochte?

Sie stand auf, schob ihren Teller über den Rand des Tisches und wandte sich ab. Kyon tat das Ganze als Laune ab und Ughtred, der erschrocken war, stand ebenfalls auf und ging der Silberwölfin hinterher.

»Idioten«, murmelte Kyon und stopfte sich einen noch größeren Brocken Fleisch in den Rachen.

 Auf der Treppe holte Ughtred die Hexe ein und sagte: »Ich gehe jetzt mal in die Quinkstadt.«

»Mir egal«, schnaubte Tal und ging die Treppe nach oben.

 

Quinkstadt lag am westlichen Rande Shishneys und grenzte im Süden an den Plagensumpf. Am westlichsten Rand ging der Stadtteil in eine Ebene mit Heidegraß und verkrüppelten Obstbäumchen über. Die dunklen Nadelgehölze des Gebirges begannen erst weiter nördlich, warfen aber ihre Schatten bis hier herunter. Es war nach wie vor kühl und regnerisch und Ughtred, der sich an die zeitlichen Gewohnheiten der Silberwölfe gewöhnt hatte, schlurfte durch das trübe Dämmerlicht des Nachmittags. 

In den Gassen arbeiteten viele Quink. Wenn Ughtred an ihren Läden, Schmieden und Ständen vorüber kam, sahen sie auf und beobachteten ihn. Er war ihnen weit fremder, als ihre Herren, die Silberwölfe. Obwohl er von seiner Leibesgröße her, unter den Quink nicht im geringsten auffiel, hätte er sich kaum mehr von ihnen unterscheiden können. Quink gingen eher geduckt und neigten zur Buckelbildung. Ihre bleiche Haut hatte eine seltsam wässrige, graue oder bläuliche Färbung und wirkte immer irgendwie feucht. Ihre Augen lagen extrem tief in den schwarz umrandeten Höhlen und glichen winzigen weißen Murmeln. Und so war auch ihr Blick. Sah man einem Quink direkt in die Augen, hatte man das Gefühl man blicke durch Glas in sein Gehirn. Hinzu kamen die Fingerdorne der Fischwesen. Ihre Hände waren lang und wiesen kleine Schwimmhäute auf, aber hier vielen vor allem die bis zu zwanzig Zentimeter langen Dornen an ihren äußeren, kleinen Fingern auf. Diese urtümlichen natürlichen Waffen waren steif und konnten nicht mit Fingernägeln oder Klauen verglichen werden. Es waren eher kleine Hörner an den Händen. 

Am Auffälligsten an einem Quink aber, war ganz zweifelsfrei sein Unterkiefer, denn von Natur aus hatte er praktisch keinen. Jeder in der Zivilisation lebende Quink bekam, sobald er das Erwachsenenstadium erreicht hatte, einen künstlichen Unterkiefer aus Metall eingepflanzt. Dieser medizinische Vorgang war schmerzhaft und konnte nur mit Hilfe von Betäubungsmitteln überstanden werden. Die Unterkiefer wurden von den Quink selbst geschmiedet und wiesen Zacken auf, die allerdings rein optischer Natur waren. Quink schlangen ihre Nahrung herunter und zerkleinerten sie daher vor dem Essen. Die gezackten Prothesen waren einfach Teil ihres Erscheinungsbildes. In der Wildnis lebende Quink verzichteten zum Teil auf diesen schmerzhaften Tant.

Ughtred sah als Nygh natürlich ganz anders aus. Er hatte, wenn auch nicht so lange und spitze, Ohren wie die Silberwölfe, ein ebenmäßiges Gesicht und ausdrucksstarke, grüne Augen. Am meisten schien aber sein Bart auf die neugierigen Quinkkinder zu wirken. Immer wieder kamen einige von ihnen herangelaufen und zupften an seinem Bart. Dann lachten sie. 

Überhaupt schien es einen wesentlichen Unterschied zwischen den Kindern und den Erwachsenen zu geben. Bei den Nyghs waren Kinder und Erwachsene ja auch verschieden, aber es war irgendwie anders. Erwachsenen Nyghs fehlte es nicht an Lebensfreude. Hier in Quinkstadt schien es, als ginge diese jedem Individuum spätestens mit dem Erwachsensein verloren. Ältere Quink schlurften gebeugt dahin und schienen das Interesse an allem verloren zu haben. Sie machten einen mehr oder weniger gefühllosen Eindruck und Ughtred fragte sich, wie sie sich unter diesen Bedingungen überhaupt noch vermehren konnten. Er hatte sogar einmal gehört, dass die Silberwölfen das Trinkwasser der Quinkstadt mit einer Droge versetzten, welche die Libido der Bewohner verstärken sollte. Wenn dies wirklich so war, konnte Ughtred hier in den Straßen eher nichts davon bemerken.

Die Schmiede war nicht schwer zu finden. Zuerst wollte er jemanden fragen, aber dann sah er schon von einem Platz, auf dem Pilze verkauft wurden, eine dicke schwarze Rauchsäule im Westen aufsteigen und da wusste er, wo er hingehen musste.

Tatsächlich lag Amyithas Schmiede im Nordwesten, nahe des Stadtrandes zum Gebirge hin. Es handelt sich bei dem alten Haus um ein baufälliges Gebäude mit einem einem Hochofen in seinem Zentrum. Zur einen Seite war es offen; dies war die eigentliche Schmiede, und die andere Seite schien der überdachte Hauptraum zu sein. Die Steinwände waren windschief und das Fundament hatte längst mehrere Handbreit dem Sog des Sumpfbodens nachgegeben. Zu jeder Tages- und Nachtzeit stieg dicker, unheilvoll öliger Qualm aus dem ebenfalls schiefen Schornstein und überzog die Umgebung mit einer schmierigen Schicht des so entstehenden Fallouts.

Trotz dieser Eigenheit seines Gewerbes war der stille Schmied in Shishney und sogar über die Grenzen der Ansiedlung hinaus anerkannt. Kein anderer Handwerker in der Umgebung leistete auch nur annähernd ähnlich gute Arbeit wie Amyithas Darin und jeder Krieger, der etwas auf sich hielt, ließ seine Klingen ab und an in Quinkstadt richten und auf die korrekte Grundschärfe bringen. 

Einen Moment lang erkannte Ughtred in dem Bild des alten Hauses mit seiner eigenartig böswilligen Ausstrahlung seine wahre Natur. Es war ein Sinnbild des smavarischen Umgangs mit ihrer Umgebung. Sie schufen und zerstörten und zerstörten, um zu schaffen und schufen erneut, um zu zerstören. Der Nygh schüttelte diese Gedanken ab und rieb sich dabei die Stirn. Wenn es die Nugai wirklich gab oder gegeben hatte, war ihr Nachlass für die Tiba Fe in Form ihrer Kinder alles andere als gut. Die Silberwölfe hatten nicht nur über ein Drittel dieser Welt in eine Wüste verwandelt, sie verpesteten darüber hinaus die Luft, versklavten ganze Völker und schufen Waffen und Geräte, über deren Gefährlichkeit der Nygh überhaupt nicht nachdenken wollte.

»Andaloy«, rief Ughtred auf Smavarisch und erhielt sofort eine Antwort aus dem Inneren der Schmiede. Ein älterer, sehr gut gebauter Quink kam aus dem Haus. Er trug eine Schmiedeschürze, einen flachen Helm und ein Kinn aus purem Silber. In einer seiner langen Hände hatte er einen schweren Schmiedehammer.

»In wessen Namen sprichst du Fremder?«, fragte der Schmiedegehilfe und legte den Hammer auf einen der großen Ambosse am Rande der glimmenden Esse.

Ughtred stellte sich vor und vergaß nicht, Kyons Haus zu erwähnen. Er hatte gelernt, dass es immer einen Unterschied machte, ob man alleine etwas wollte, oder im Namen eines Silberwolfes sprach. Außerdem wollte er vermeiden, später nachgesagt zu bekommen, Kyons Abstammung absichtlich verheimlicht zu haben.

Der Quink stellte sich als Seklaid, Meister Amyithas Darins Aushilfe vor. Auf die Frage hin, ob der Meister zu sprechen sei, hob er die Schultern. Es war nicht üblich, dass Amyithas mit Bediensteten sprach, im Grunde sprach er so gut wie mit niemandem, aber mit einem Nygh, würde er vielleicht ja eine Ausnahme machen. Ughtred war zumal der erste Nygh, den Seklaid seit seines Lebens zu Gesicht bekommen hatte, was die Wahrscheinlichkeit aus seiner Sicht verstärkte. Er wandte sich der Tür zu, aus der er gekommen war und verschwand im Haus, nur um eine Sekunde später wieder aufzutauchen und den Besucher hereinzuwinken.

Das Innere des Steinhauses sah noch unordentlicher aus als die Schmiede draußen. Überall standen Tische mit Werkzeugen, Halbzeugen und fertigen Produkten herum, aber am meisten erstaunte Ughtred die Decke des Raumes. Hier hingen hunderte der wundervollsten Schmiedearbeiten, die er in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Schwerter, Äxte, Speere und alle Arten von Kriegszeug, sowie Rüstungen, Helme und Schilde hingen hier an Drahthaken zwischen dem Gebälk und bei ihrer schieren Menge, hätten sie auch an keinem anderen Ort in diesem Haus Platz gefunden. Er staunte nicht schlecht über die offensichtliche Qualität der Erzeugnisse des Schmiedes.

Im hinteren Bereich des Zimmers, gab es einen etwas weniger zugestellten Bereich. Hier befanden sich ein einfaches Bett, eine Küche und ein Esstisch mit einem hochlehnigen Stuhl, von dem gerade Amyithas aufstand. 

Der Mann war für einen Silberwolf recht groß, aber erschreckend schmal. Sein Gesicht hatte eine graue Färbung angenommen und sein dunkles Haar hing ihm fettig und dünn über die Hakennase. Trübe gelbe Augen glommen in der Dunkelheit des Raumes. Dann sah Ughtred den Arm des Schmiedes und auch sein Bein. Beide Gliedmaßen bestanden offensichtlich aus purem Gold und mussten unglaublich schwer sein. Der Mann humpelte, doch dies schien keineswegs am Gewicht des Beines zu liegen. Im Gegenteil, das künstliche Bein schien sich geschmeidiger als das andere zu bewegen. Dasselbe schien für den Arm zu gelten. Das Ding sah eher aus wie ein Teil einer ehrfurchtgebietenden Rüstung und passte nicht zum schmalen Körperbau des Schmiedes, aber in seinen Bewegungsabläufen wirkte er kräftig und elegant. 

Als Amyithas vor seinem Gast stand, sagte er: »Nygh?«

Ughtred bestätigte und stellte sich vor. Dann brachte er seine Anliegen vor und versuchte, dabei so geschäftsmäßig wie eben möglich zu klingen. Er wollte eine bessere Waffe. Auf seinen Abenteuern hatte er schmerzlich feststellen müssen, wie wirkungsvoll Tals Schwert und die Pfeile des Barden im Vergleich zu seiner Axt gewesen waren. Nyghklingen waren offenbar schön geschmiedet, aber mit der Gefährlichkeit der kisadmurischen Waffen konnten sie nicht mithalten. Der Schmied sah sich die Klinge aus Korezuul an und nickte. Dann erklärte er, dass er die vorhandene Waffe mit einer Legierung veredeln könne und nannte seinen Preis, der dem Nygh eher niedrig erschien. Ughtred willigte ohne weiter zu überlegen ein und brachte das Bündel mit dem zerbrochenen Zahnrad zum Vorschein.

Amyithas sog hörbar die Luft zwischen seinen dünnen Lippen hindurch. Er streckte die gesunde Hand nach Ughtred aus. Seine Haut wirkte wie altes Pergament. Vorsichtig, als könne er sich verbrennen, berührte er das Zahnrad und murmelte kaum hörbar: »Wygs Rad.«

Ughtred sah ihn an und der Schmied richtete sich auf.

»Eine alte Geschichte. Vor langer Zeit gab es einen Angriff auf eine Festung hier in Kisadmur. Der damalige Herrscher der Anlage wollte seine Familie retten und schickte sie in den Kellerfried. Danach zerstörte er den Mechanismus, der die Tore verschloss und machte ihn so unbrauchbar. Der Zugang war gegen die Angreifer geschützt. Im Verlaufe der Kämpfe kam aber der Schmied des Herrschers ums Leben und als alles vorüber war, konnte das Tor nicht mehr geöffnet werden. Dies hier ist das Zahnrad, das damals zerbrochen wurde. Nur mit ihm war es möglich in die Keller unter Raugnith, so der Name der Festung, zu gelangen.«

Er machte eine Pause und nahm eines der kleinen Bruchstücke aus dem Tuch und hielt es vor seine kränklichen Augen.

»Elamit«, murmelte er. »Dieses Material hätte ich auch verwendet.«

Er gab es zurück und sah Ughtred erwartungsvoll an.

»Es muss repariert werden. Für den Herrn Kyon Yˋshandragor.«

Der Schmied legte den Kopf schräg, als wäre er ein Geier, der einen leckeren Happen Aas entdeckt hatte.

»Yˋshandragor«, machte er und schüttelte den Kopf. »Kann nicht repariert werden.«

»Herr Schmied, wir kommen als Bittsteller. Kein anderer kann das Zahnrad heilen. Ich würde die Reparatur bezahlen.«

Amyithas schüttelte bestimmt den Kopf und sagte mit hochmütiger Stimme: »Ich habe zu tun. Leider kann ich das Zahnrad nicht in Auftrag nehmen. Geh jetzt Nygh. Man wird dich informieren, wenn deine Waffe fertig ist.«

Da Ughtred den alten Silberwolf nicht noch mehr verärgern wollte, verneigte er sich höflich und ging.

 

Als der Nygh den beiden anderen von seinem Misserfolg erzählt hatte, winkte Kyon ab und machte wüste Bemerkungen über die Erfolgschancen dieser Unternehmung. Er verhielt sich ablehnend und faselte immer wieder von der großen Reise nach Rivenest. Tal ärgerte sich maßlos. Um sich abzulenken und nicht tatenlos herumzusitzen, stand sie ebenfalls auf und sagte in freudloser Gleichmut: »Ich gehe hinauf in das Zimmer eurer Mutter. Ich will versuchen mit ihr reden. Am Ende hat sie eine eigene Meinung zu der ganzen Sache. Soll ja vorkommen.«

Kyon entließ sie mit einer lässigen Handbewegung, als brauche Tal seine Erlaubnis, nach oben zu gehen. Sie streckte ihm die Zunge heraus und verschwand.

Ughtred, der die ganze Zeit keinen Ton mehr gesagt hatte, stand ebenfalls auf und ging in den Hof. Er musste den Kopf frei bekommen und dachte über den Bau einer eigenen kleinen Werkstatt in diesem Bereich nach. Alles war besser als die sinnlosen Streitereien der beiden Kinder.

 

In Nyni`scie dan Y`shandragor Kammer war es kühl wie immer und draußen, vor dem stumpfen Fenster erzeugte der andauernde Regen feine Bindfäden als Kulisse. Die Ayn saß in ihrem Schaukelstuhl und neben ihr, am Boden, hockte die alte Quink, die der Dienerschaft neu beigetreten war. Sie zupfte an einem Stück Stoff oder Leder herum und summte eine alte, smavarische Weise.

Als Tal das Zimmer betrat, machte sie eine Handbewegung, welche die Alte dazu bewegte, schwerfällig aufzustehen und das Zimmer zu verlassen. Dann setzte sich die junge Hexe auf das kalte Fensterbrett und griff liebevoll nach der Hand der älteren Frau. Nyni war zweifellos eine Schöne Frau gewesen. Ihre Züge waren ebenmäßig, die Nase schmal und ein wenig gebogen und ihre Augen hatten diese typische Form, die sie als Kisadmuri auswies. Tal erkannte Kyon in diesem von Gram und Schmerz gealterten Gesicht. Wenige Jahreszeiten hatten gereicht, ihr die Blüte, die Schönheit und die Unsterblichkeit zu nehmen.

»Erzählt mir von einst«, sagte Tal leise und blickte auf das trübe Wetter, jenseits der dicken Glasscheibe.

Sie streichelte Nynis Hand und spürte ihre leise reaktion. Sie war wie eine Motte, der das Licht fehlte, um das sie kreisen konnte. Die Hexe konzentrierte sich und berührte die feinen Fäden der Membran in dem Zimmer, brachte sie zum schwingen und leuchten. Sie knüpfte keine spezielle Form, wie sie es tun würde um eine ihrer mächtigen Disziplinen real werden zu lassen, sondern spielte nur und vertrieb sich damit selbst die Zeit und die Sorgen. Northrian kam ihr in den Sinn. Wie musste es sein, in einem Shimwas? Sie hatte gelernt, der Shimwas speichere Geist und Seele, doch im Gegensatz zu anderen Geistspeichern versetzt er den wachen Anteil des Geistes in eine Art Trance und bedient sich seiner Reflexe. Jede Eigenständigkeit, jede Hoffnung, Erinnerung und jeder Weg nach Draußen geriet in Vergessenheit. Sie blickte auf den kalten Stein an ihrem Handgelenk und fragte sich, ob da noch etwas von ihrem Bruder war. Was würden ihre Eltern sagen?

Plötzlich erstreckte sich um sie herum eine Wiese am Rande eines Waldes. Sie wusste genau, dass es sich um eine Vision handelte, denn die Optik der Landschaft fühlte sich falsch an. Sie wirkte wie mit einem Pinsel gemalt; einem alten, viel zu breiten und harten Pinsel. Sie war in einem Gemälde. 

Sich umblickend versuchte sie zu begreifen was man ihr sagen wollte. Da erschien ein Reh. Es stand einige Schritte von Tal entfernt und sah sie mit traurigen Augen an.

»Nyni?«, sagte die Hexe und hörte ihre Stimme von weiter Ferne zu der Szene herüber wehen.

Das Reh sagte: »Sie sollten es erfahren.«

Tal nickte. Die Ayn hatte recht. Doch ehe sie etwas erwidern konnte, sagte das Reh: »Euer Vater ist ein guter Mann. Er hat verdient, dass ihr über euren Schatten springt. Jeder sollte sich darin üben, wirklich jeder und jede.«

Erneut nickte Tal und spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Dann hauchte sie: »Und ihr?«

Da löste sich das Bild auf und die Ayn starrte wieder aus dem Fenster in ihre Regenwelt. Der Bann war gebrochen, aber Tal fühlte sich seltsam bestärkt. Sie stand auf, küsste die alte Smavari auf die Stirn und ging.

 

Sie versuchte es auf eigene Faust. Es wäre doch gelacht, wenn sie den alten Schmied nicht um den Finger wickeln konnte.

Ihr Weg führte Tal, am Zirkelhaus vorbei, zur Brücke nach Quinkstadt. Der Frühling war trotz der fortgeschrittenen Tage launig. Es regnete feine Tröpfchen und der Nordwind brachte kalte Luft aus dem Gebirge herab.

Kaum hatte sie das Tor an der Grenze der Oberstadt erreicht, schrie über ihr eine zottige Krähe. Das Tier sah ein wenig fremd aus, vielleicht eine hier in Kisadmur eher seltene Art. Es hatte dunkles Gefieder und war für eine Krähe eher klein.

»Krääääähhhhhh, kräääääääh, kiiiik, kräääääääh«, sagte die Krähe und Tal blieb stehen, schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Sprache der Tiere. Leicht wob sie die Fäden der Anderwelt zu dem Muster ihrer Wahl. Dann öffnete sie die Augen wieder und sah in den Himmel hinauf.  

»Sag das noch einmal!«, befahl sie dem Vogel.

›Kräh-gebt iiihr mirrrrr was Futäär, rett ich euch einmarrrl«, schnarrte das struppige Wesen. 

»Klingt nach Erpressung«, erwiderte die Hexe, ging aber auf die Brücke zu, wo viele Quink ihren Nahrungsvorrat durch Angeln ergänzten. Als sie sich mit spitzen Fingern einen kleinen Fisch aus einem der Eimer nahm, sahen die Leute ihr zwar nach, sagten aber nichts. Kein Quink würde sich über solch eine Tat seitens einer Silberwolfhexe beschweren. Man wollte schließlich den nächsten Tag erleben. 

Tal sah zu der Krähe auf, die nun auf einen der Brückenpfosten geflattert war. »Da, du freches Biest«, lachte sie und warf ihr den Fisch hin. 

Das Tier fraß und Tal ging nach Quinkstadt.

Sie besuchte ihre kleine Pension und unterhielt sich einige Zeit mit Huinkis, ihrer alten Wirtin, bei bitterem Faltersud. Dann suchte sie an den Pollern nach dem Eisvogel, fand ihn aber nicht. Also ging sie weiter, passierte den Pilzmarkt und fand, wie Ughtred vor ihr, am westlichen Horizont die Rauchsäule der Schmiede. Der Himmel hatte eine schmutzige Farbe angenommen und je näher sie der Schmiede kam, desto dicker wurde der schmierige Belag auf den Häusern.

Seklaid, der Gehilfe des Schmiedes, empfing sie freundlich. Er konnte ja nicht ahnen, welchen Ärger sie bedeutete. Er führte sie ins Innere des Gebäudes und stellte sie dem Meister vor. 

»Ven Arudsel, ein mir nur zu gut bekannter Name«, sagte Amyithas Darin und deutete auf den Tisch, wo er gerade Faltersud bereitet hatte. 

Tal setzte sich.

»Ihr kennt meine Familie?«

»Das meine ich wohl. Eurem Vater habe ich das hier zu verdanken.«

Er deutete auf seinen goldenen kybernetischen Arm. 

Dann sagte er: »Er warf ab, obwohl wir noch unten waren. Alles für das Reich, auf Befehl des Mirthas, ihn zu stärken durch Ruhm und Dinge. Wir hatten vergessen, dass es nur Dinge waren, nach denen wir strebten.«

»Zürnt ihr ihm?«

»Wem? Eurem Vater? Nein.«

Der Schmied schenkte Sud nach und wischte sich dann mit einem schmutzigen Lappen über den dünnen Mund. Schließlich sagte er: »Euer Vater hat eine Entscheidung getroffen. Einmal hat er Befehle befolgt und dann hat er sich gegen sie gewandt. Beides waren mutige Taten. Ich zürne ihm nicht.«

Tal starrte in ihren Becher. Wenn sie der Meinung war, dass Kyon über seinen Schatten springen musste, würde sie dies früher oder später auch von sich selbst erwarten. 

Freimütig erzählte sie dem Schmied von ihrer Unternehmung, der Schwarzen Perle und dem Zahnrad. 

Er lehnte ab und riet ihr, die Sache zu vergessen. 

Sie verabschiedete sich und erklärte nicht aufzugeben. 

Doch als sie am nächsten Tag wieder nach Quinkstadt kam, war die Schmiede geschlossen. Der Quink arbeitete und behauptete, sein Meister sei nicht zugegen. Tal rief nach ihm, aber der Quink hatte den Auftrag, niemanden einzulassen, und sie wollte ihm nicht schaden. Dennoch kam es beinahe zum Streit und der Quink fürchtete mehr als einmal um sein Leben.

Ebenso verlief es am Tag darauf und auch am nächsten. Der Schmied wollte sie nicht empfangen und sie befürchtete, dies war sein gutes Recht. Es verärgerte sie natürlich, aber was sollte sie machen? Sie konnte schlecht, Raguels Speer voran, in die Schmiede stürmen und den alten Kriegshelden zwingen. Wenn Smavari sich weigerten etwas zu tun, war es immer schwer sie umzustimmen. Gewalt, war zweifelsfrei die letzte Lösung in solchen Fällen.

Als sie schließlich am vierten Tag zurück im Haus war, erzählte sie Ughtred und Kyon von ihren Besuchen bei der Schmiede und erntete Hohn vom Herrn des Hauses. Er hatte es ja gleich gesagt und nein, das würde niemals passieren, dass der alte Krüppel ihnen half.

Tal versuchte, ihn umzustimmen. Sie sagte, er solle es selbst versuchen, schließlich hatte sein Vater dem Schmied schlimmes Unrecht angetan. Kyon räumte sogar ein, dass er ihre Meinung teilte. Er empfand die Taten seines Vaters nicht gerade als ehrenwert oder heldenhaft. Einen Mann zu diskreditieren, der im Krieg einen Arm und ein Bein verloren hatte, war nicht, worauf man hätte stolz sein müssen. Trotzdem empfand er die Sache als nicht lohnenswert.

Doch das Gespräch wurde immer hitziger und irgendwann erlag Kyon dem Stakkato den verbalen Angriffen.

Er sagte: »Also gut, einen Versuch. Ich gehe zu dem Schmied aber dafür müsst ihr mir etwas versprechen!«

Die Hexe sah ihn mit wütenden Blicken an. »Was?«, blaffte sie.

»Ihr versprecht mir, mich nie wieder gegen meinen Willen oder ohne mein Wissen zu vergiften! Dann mache ich es.«

Sie überlegte nicht einmal als sie antwortete: »Ja, fa dri mon!«

Diese Formel war heilig. Eine Abmachung, die so besiegelt worden war, konnte nicht gebrochen werden und Kyon sah der Hexe an, dass sie ihre Entscheidung im selben Moment, da sie die Worte ausgesprochen hatte, auch schon wieder bereute. Besonders seltsam daran war, dass er selbst den Schwur ebenfalls nicht ganz oder gar positiv einstufte. Warum? Schließlich hatte sie versprochen, ihn nicht zu vergiften? Er war verwirrt, nahm die Sache aber als Sieg. Der Schmied würde ihn sowieso wegschicken und er würde zukünftig vor der Hexe sicher sein.

Seltsam unbehaglich erhob er sich.

»Was macht ihr?«, fragte Tal und Kyon antwortete mit einem gezwungenen Lächeln: »Ich gehe nach Quinkstadt. Kann ich auch jetzt gleich machen. Wird eh nichts bringen.«

Die junge Silberwölfin sah ihm hinterher. Sie fühlte sich nicht gut. Das war falsch gelaufen. Schwüre dieser Art waren einfach nicht in Ordnung. Sie musste an ihrer Disziplin arbeiten. Wenn Akkatha von dem Schwur hörte, würde es Schimpfe hageln.

 

Kyon war gut gelaunt. Er stellte sich die Ankunft bei Angaworth vor, sah sich über die große Brücke vor dem höchsten Tor der Welt gehen und die Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt bewundern. Nach wie vor war das Wetter trüb und ein Frösteln vertrieb die aufgesetzten, guten Gedanken. Er wusste wohl, wie schwer es war, eine größere Menge an Ressourcen anzuhäufen. Seit dem Tod seines Vaters hatte er einfach nur vor sich hin gelebt und das Vermögen der Familie war ihm aus den Händen geglitten. Das Haus Yˋshandragor hatte einst über eine große Anzahl von Sklaven verfügt. Es war nie eines der reichsten Häuser der Oberstadt gewesen, denn sein Vater war auch nicht unbedingt eine Krämerseele gewesen, aber dafür hatte seine Mutter mit harter Hand für den Erhalt eines gewissen Standards gesorgt. Nach ihrer Abwendung von der realen Welt jedoch, hatte Kyon sich gehen lassen. Jegliche Warnung seitens der Dienerschaft hatte er ignoriert und allzu eindringliche Einwürfe mit harter Hand zur Seite gewischt. So war das Haus in seinem Wert tiefer und tiefer gesunken, bis er im Grunde nichts mehr gehabt hatte. Seither lebte er von der Hand in den Mund, was ihm allerdings dank seines guten Aussehens und seiner Künste erstaunlich gut gelang. Dennoch war er arm.

Die Kosten für eine Überseereise waren mehr als horrend. Mit den Ressourcen der nun erlebten Abenteuer hatte er die gröbsten Arbeiten am Haus erledigen und neue Quink anwerben lassen. Sollte dies umsonst gewesen sein? Warum hatte sein Vater diesen verdammten Brief nicht zu Lebzeiten verschicken können? Warum hatte er sich unbedingt von einem Drachen fressen lassen müssen? Er fragte sich, ob dies auch sein Weg sein würde. War dies eine Art Karma seines Daseins?

Missmutig schlurfte er durch die schmutzigen Gassen von Quinkstadt. Was für ein Ort. Er verabscheute den Fischgestank, die allgegenwärtigen Stände und die vielen neugierigen Kinderaugen. Diese winzigen Wesen erinnerten ihn an Ratten, die nur auf seinen Tod warteten, um ihm dann das Fleisch von den Knochen zu nagen. War er dem Sumpf von Hyn doch nicht entkommen?

Er musste länger nach der Schmiede als seine beiden Vorgänger suchen. Quinkstadt war ihm fremd und er wäre nie auf die Idee gekommen, einen ihrer schmutzigen Bewohner nach dem Weg zu fragen. Angewidert wich er immer wieder Wasserlöchern auf dem Weg aus. Es gab einen Grund, warum die Oberstadt ihren Namen trug. Sie lag mehrere Meter höher als Quinkstadt und galt daher als trocken. Hier grenzte irgendwie alles an den Plagensumpf, stank und war nass.

Es dauerte fast eine Stunde, bis Kyon endlich die Schmiede gefunden hatte. Der Quink ließ ihn allerdings direkt ein. Er hatte nach Tals Erzählung ihres Misserfolgs fast damit gerechnet, unverrichteter Dinge nach Hause zurückkehren zu müssen. Jetzt war er nicht sicher, ob ihm dies nicht sogar lieber gewesen wäre.

Der alte Schmied stand im Chaos seiner Höhle und starrte seinen jungen Gast aus gelben, toten Augen an. Kyon überlegte einen Moment und stellte sich dann höflich vor.

Wenn man in Kisadmur jemanden besuchte, war es nicht nötig, dass dieser sich ebenfalls vorstellte. Amyithas Darin verzichtete also auf Höflichkeitsfloskeln und fragte direkt, um was es ginge. Kyon beschrieb sein Anliegen, wie es vorher seine Mitstreiter getan hatten, und der Schmied lehnte bestimmt ab.

Kyon musterte den alten Mann. Jetzt kam ihm die Weigerung, ihm zu helfen, noch kleinlicher vor als vorher. Der Schmied schien ihm nicht einmal zu zürnen. Warum also konnte der Bastard nicht einfach das elende Stück Metall flicken und fertig? Er überlegte, was er noch sagen könnte und brachte vor, dass ihm wohl bewusst sei, dass der Schmied durch die Handlungen seines Vaters Schaden genommen hätte und dass er, Kyon, als Sohn dieses Mannes sich im Namen seines Hauses entschuldige. Der Schmied nahm die Entschuldigung an und erklärte, dass er dennoch nichts für Kyon tun könne.

Das war dann genug. Kyon ging.

 

Ein Tag war vergangen. Tal, Kyon und Ughtred saßen an dem runden Tisch im Soiree-Salon des Hauses und wie damals, als ihre Reise begann, lag ein Artefakt in der Mitte der alten Holzplatte. Beim letzten Mal glomm hier der Datenkristall des verstorbenen Lonkaiyth dan Y`shandragor, diesmal waren es die Bruchstücke eines uralten Zahnrades. Ughtred schielte zu Tal hinüber, aber die Hexe starrte auf das Artefakt, als wäre es eine Schlange, kurz vor dem Biss. Vielleicht würde sie es aber auch Kraft ihrer Gedanken reparieren können. Wer konnte schon sagen, zu was die Silberwölfin fähig waren?

Doch natürlich geschah nichts dergleichen.

Ughtred holte Luft und wollte einen erneuten Versuch starten, Kyon dazu zu bewegen, endlich weiter in den Schmied zu dringen. Der Plan des Barden, nach Oriad zu reisen, war absurd. Er hatte überschlagen, dass es mehrere Jahreszeiten dauern würde, genügend Ressourcen zu erwirtschaften, um die Reise zu finanzieren. Über die Gefahren und die Dauer einer solchen Maßnahme jedoch konnte er nicht einmal mutmaßen. Hinzu kam, dass er nicht die geringste Notwendigkeit dazu sah. Er war sich sicher, dass es möglich war, den Schmied zu überreden. Natürlich würde es ihm nicht persönlich gelingen. Aber Kyon hatte alle Mittel dazu in der Hand. Leider war der Narr zu stur, um auf einen dummen kleinen Nygh zu hören. 

Trotzdem, musste etwas passieren, also sagte er: »Herr Kyon, könnten wir denn nicht …«

Doch in diesem Moment öffnete sich die Tür, welche auf die Hauptkellertreppe führte und der Raum wurde von Dunkelheit geflutet. Der Effekt sah aus, als krieche eine schwarze Masse in das Zimmer und deckte jeden Gegenstand und jede Person langsam zu. Das Licht erlosch und was blieb waren Schatten und Umrisse in Grau in Grau.

Alle Personen im Raum konnten gut genug im Dunkeln sehen und sie waren alle drei an Situationen wie diese gewohnt, also wandten sie sich der Tür zu und blickten der Herkunft der Finsternis entgegen, wo sich gerade eine kleine Gestalt manifestierte.

Gebeugt durch ein schweres Gewicht in seinen Händen, trat Splinternackt, das einstige Faktotum des Herrn Lonkaiyth in den Salon. Das gerade einmal siebzig Zentimeter große Maskenmännlein trug einen groben, ausgefransten Hausmantel aus dunkelgrauem Stoff. Seine Hände waren mit fleckigen Bandagen umhüllt. Doch noch auffälliger als dieses Auftreten der Eltkreatur war die seltsame Maske die sie trug. Es handelte sich um ein unförmiges Ding mit drei kreisrunden Öffnungen, welche mit trübem Glas gefüllt waren. Am unteren Ende der Maske hing eine Art Trichter, der nach einer Seite abstand. Das Ding gab regelmäßige, keuchende und rasselnde Laute von sich. Ughtred kannte Atemschutzmasken aus den Minen seiner Heimat, doch er verstand nicht, warum das Wesen hier im Haus eine trug. Außerdem machten ihn die drei asymmetrischen Augen nervös. Er hatte von diesen Wesen gehört. Angeblich wurden sie von den Silberwölfen als Leibdiener erschaffen, doch dieses Exemplar war einst der Diener von Kyons Vater und er konnte nicht zuordnen, wie es nun zum Sohn seines einstigen Herrn stand.

Verstohlen wanderte seine Hand zum Griff seiner Axt, die neben ihm an den Tisch gelehnt stand.

Splinternackt trat schwer atmend näher. Er trug einen ganz offensichtlich schweren Gegenstand aus schwarz lackiertem Metall vor sich her. Das Ding war größer als der Kopf eines Midyar und mehr oder weniger kastenförmig. Auf einer Seite war es abgeflacht und wies Tasten mit smavarischen Symbolen darauf auf. Es mussten wenigstens einhundert oder mehr dieser winzigen Dinger sein, aber das war kein Wunder, denn die smavarische Scherbenschrift setzte sich schließlich aus über einhundertundacht Buchstaben zusammen. 

Über den Tasten befanden sich eine Öffnung und mehrere dünne Metallhebel. Der Zweck des Dings war Ughtred unbekannt. Er konnte es einfach nicht zuordnen. Doch als er Kyon ansah, konnte er sehen, dass dieser durchaus wusste, um was es sich dabei handelte.

Das Eltwesen kam zum Tisch und die Finsternis ließ nach. Es war, als ob es den Zauber nicht länger aufrechterhalten konnte. Dann hob es das Metallding mit aller Kraft auf die Höhe der Tischkante und schob es schwerfällig über das Holz.

Schnell griff Splinternackt in seinen Umhang und beförderte einen matt glänzenden Kristall hervor. Er legte ihn neben das Tastending und verneigte sich vor den Herrschaften. Dann wandte er sich ab und schlurfte zu der Kellertür zurück. 

Fast eine Minute herrschte absolute Ruhe im Salon. Ughtred überlegt, ob er seinen Satz von vorhin beenden sollte, aber dann kam ihm Kyon zuvor. Der Barde rieb sich wie sonst Ughtred über die Stirn, hob den Kristall auf und sagte: »Das ist die Schreibmaschine meines Vaters. Eine alte Unterwald aus einer Manufaktur in Angaworth. Er hat mich früher darauf herumtippen lassen.«

Langsam legte er den Kristall in die Öffnung und ein seichtes Glimmen breitete sich in dem grauen Glas aus. Er schob einen der Hebel zur Seite und der Kristall rutschte etwas nach oben und leuchtete stärker. Dann schlug der Barde auf eine der Tasten und ein hauchdünner Arm schnellte aus der Maschine nach oben, berührte den Kristall, hinterließ ein Leuchten und verschwand wieder im Gehäuse. Kyons Finger donnerten mit einer seltsamen Wut auf weitere der Tasten und mit jedem Anschlag hämmerten die dünnen Ärmchen auf den Kristall ein und hinterließen winzige Wölkchen aus glimmenden Nadelspitzen.

Tal stand auf und stellte sich hinter Kyon. Sie war fasziniert von dem Gerät. Sie kannte Schreibmaschinen, hatte aber noch nie eine gesehen. Meist wurden Kristalle besprochen oder gar bedacht. Nichtneurologische Eingabemethoden waren eher verpönt, da sie alles andere als fälschungssicher waren. Man konnte ja schreiben was man wollte und am Ende eine Unterschrift darunter setzen. Im Falle gesprochener oder gedachter Einträge war dies nicht möglich. 

Sie laß was Kyon tippte:

 

Geehrter Myrlan Amyithas Darin

 

Ich, Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor, Herr des Hauses Y`shandragor, erlaube mir, im Namen meiner mitunterzeichnenden Mutter Ayn Nyni`scie dan Y`shandragor, euch diesen Brief zu schreiben.

In Gedenken eures Standes und eurer unvergleichbaren Fähigkeiten und allem voran eurer einstigen Freundschaft zu meiner Mutter, sehe ich einen baldigen Besuch eurerseits in meinem Hause als unerlässlich. Die bevorstehende Soiree ist für morgen Abend angedacht. Eure Anwesenheit ist obligatorisch und eine Absage unvorstellbar.

Ich blicke diesem Treffen mit großer Freude entgegen und verbleibe großmütig trotz meines Titels als euer Freund.

 

Gezeichnet

K`KdY`s & N`sdY`s

Am frühen Nachmittag, Tag, Datum

Shishney, Kisadmur

 

Sie nickte. Das Schreiben war förmlich und standesgemäß. Jetzt musste nur noch Nynis Unterschrift gefälscht werden, aber dies traute sie sich zu. Sie schob Kyon mit ihrem Hintern von seinem Stuhl und setzte sich. Mit den Löschtasten übertippte sie die Unterschrift der Ayn und tippte sie dann in ihrem eigenen Anschlag neu. Tatsächlich sahen die Glyphen im Kristall danach anders aus und hatten eine feminine Note. Blieb zu hoffen, dass Meister Amyithas sich nach all der Zeit nicht so genau an die Handschrift seiner alten Liebe erinnerte, aber einen Versuch war es allemal wert.

Sie sah Kyon an und sagte: »Warum nicht gleich so?«

»Kam mir sinnlos vor. Er wird ohnehin ablehnen. Und dann? Soll ich ihn zu einem Duell fordern?«

Tal lächelte säuerlich und erwiderte: »Fickt euch oh Sliyn.«

Dann schob sie mit einem der Hebel den Kristall aus der Maschine und hob ihn Ughtred hin.

»Hier oh Bote der Ayn von Yˋshandragor, eile und überbringe dem Meisterschmied diese dringende Depeche!«

Der Nygh rollte mit den Augen, verzog das Gesicht und nahm den Kristall entgegen. Dann hob er seine Axt vom Boden auf und griff nach seiner Jacke.

 

Amyithas Darin überflog das Schreiben auf dem trüben Kristall und schüttelte den Kopf. Ughtred stand vor ihm und wartete geduldig die Antwort des Mannes ab. Eine ganze Weile herrschte Stille. Dann endlich holte Amyithas Luft und sagte leise: »Morgen Abend bin ich verhindert und bekomme Besuch.«

Ughtred sah ihn an, als hätte er sich gerade vor seinen Augen in einen Eulenmann verwandelt. Er rieb sich die Stirn und sagte so gelassen wie möglich: »Aber Herr Schmied, das scheint mir eine schlechte Antwort. Wie könnt ihr gleichzeitig unpässlich sein und Besuch bekommen?«

Der Alte überlegte einen Moment und sagte dann: »Ja, ja, dann eben nur unpässlich. Ich schreibe es ihm.«

»Gebt ihr ein anderes Datum an, Herr Schmied?«, wollte Ughtred wissen.

»Äh, ja, ich weiß nicht, vielleicht in ein paar Tagen, vielleicht.«

Er nahm den Kristall zwischen den Zeigefinger und den sehr spitzen Daumen seiner künstlichen Hand und Ughtred wunderte sich, wie leicht ihm dieses Kunststück gelang. Schließlich war der Kristall glatt und die Finger liefen konisch zu und hatten wahrscheinlich kein Gefühl.

Mit zusammengekniffenen Augen starrte Amyithas in das rauchige Chaos des Datenträgers und konzentrierte sich. Ughtred, der zwar wusste, dass man Kristalle kraft der Gedanken beschreiben konnte, war dennoch fasziniert. Er war kein Wissenswahrer und hatte keine Vorstellung davon, wie diese Kristalle letzten Endes funktionierten. 

Die Antwort musste kurz gewesen sein, denn der Schmied reichte ihm nach wenigen Augenblicken die Depeche zurück und sagte: »So Lakai, nun bring das deinem Herrn zurück.«

Ughtred rieb sich die Stirn und schluckte seinen Ärger hinunter. Doch dann sagte er: »Der Herr Sliyn ist nicht mein Herr und ich bin nicht sein Diener; so wenig wie der eure, Meisterschmied.«

»Du solltest wohl wissen, Nygh, dass die Tiba Fe uns Smavari gehört, so wie jede Welt im Reiche MirthasˋEysmi. Alle Völker unterliegen der Gnade des Goldes. Jedes Wesen dient der Glorie meiner Spezies!«

Ughtred sagte: »Ich gehe nun besser, da unsere Meinungsverschiedenheit sonst unfreundliche Ausmaßen annehmen könnte.« Und ehe der Andere noch etwas hinzufügen konnte, hatte der Nygh die Schmiede auch schon verlassen.

Draußen wartete der Gehilfe. Er hatte zweifelsfrei an der Tür gelauscht und machte ein verkniffenes Gesicht. Ughtred überlegte, ob der Quink jetzt unter seinen Aussagen leiden musste, aber dann wischte er den Gedanken beiseite. War nicht jeder seines Glückes Schmied? Die Quink ließen sich alles gefallen. Sollten sie für sich selbst einstehen.

Er lief zum Hause seiner Herren, damit diese nicht zu lange warten mussten und ärgerte sich über sich und die ganze Welt.

 

»Unpässlich, wie lächerlich«, schnaubte Kyon, aber Tal beruhigte ihn sofort, indem sie sagte: »Das ist doch nur Zierde, Herr Sliyn. Er will ein wenig gebeten werden, das ist alles.«

»Ist er ein Weib?«

»Ein Weib tritt euch gleich, der Herr.«

Kyon sah sie an und betrachtete dann den Kristall, der zwischen ihnen auf dem Tisch lag.

Ughtred sagte: »Hat er denn angemerkt, dass er um einen neuen Termin bittet? Er sagte so etwas.«

»Gut, gut, dann in drei Nächten.« Kyon hob den Kristall auf und legte ihn wie beim ersten Mal in die Schreibmaschine aber Tal sagte: »Nein, lasst mich, ich will es probieren.«

Sie tippte den Text und lächelte dabei wie ein kleines Mädchen. Dann entnahm sie den Edelstein der Fassung und hielt ihn dem Nygh hin. Sie wollte etwas sagen, aber der kleine Mann winkte ab und ging.

 

Als der Schmied den Kristall erneut las, kniff er sich mit den biologischen Fingern in die Nasenwurzel. Dann wollte er wissen: »Wer kommt denn noch?«

Ughtred überlegte. Einen Moment dachte er, der Schmied wolle möglichst viel Besuch bei dem Treffen, um in der Menge unterzugehen oder um gesehen zu werden. Er verstand die Silberwölfe nicht und hatte Schwierigkeiten, ihre Eigenheiten betreffend Entscheidungen zu treffen. Aber dann sagte er wahrheitsgemäß: »Ich denke, die Einladung betrifft nur einen ganz kleinen Kreis. Euch und die Mitglieder des Hauses Yˋshandragor. Sonst sollte niemand eingeladen sein.«

Der Alte blickte auf ihn herab. Er schien zu überlegen und nickte dann müde. Wie beim ersten Mal hob er den Edelstein zwischen seine Finger und konzentrierte sich.

 

»Er kommt«, sagte Ughtred mit einer gewissen Begeisterung in der Stimme. Er war so froh, dass die Unternehmung wieder in Fahrt zu kommen schien. Zwar hatte er die müßigen Tage genutzt, im Innenhof des Hauses eine kleine Werkstatt für sich einzurichten, aber er hatte dennoch genug von Shishney und seinen Bewohnern. Jetzt wo er in seiner eigenen Unterkunft wirkten und schlafen konnte, ging es ihm besser, aber es musste etwas passieren. Er hatte Sehnsucht nach seinen eigenen Leuten.

Kürzlich war er mit Kyon in einem dieser Lebehäuser gewesen, und eine der Damen hatte ihm ihre wirklich beachtliche Oberweite ins Gesicht gedrückt. Er hatte höflich abgelehnt und Kyon hatte ihn gefragt warum. Daraufhin erläuterte Ughtred dem Barden, dass er sich nur für Frauen seines Volkes erwärmen könne. Kyon hatte ihn kurzerhand als Rassisten bezeichnet.

War es das? Er hatte Heimweh, nicht mehr und nicht weniger.

Kyon starrte zur Decke hinauf. Ein Netz von dunklen Fäden zog sich quer über die schmutzig graue Fläche. Ihm war, als betrachte er, das von kranken Adern durchzogene Fleisch eines Untoten. Angewidert wandte er sich dem Fenster zu. Was würde der Krüppel von ihm denken? Er würde in jedem Fall erkennen, wie es um das Haus Yˋshandragor stand. Er musste unbedingt etwas unternehmen. Vielleicht sollte er dem alten Stinkstiefel einfach einen Explosionspfeil in eins seiner Augen schießen. Doch stattdessen streckte er sich, köpfte seinen neuen Hausmantel zu und ging stolz erhobenen Hauptes die Treppe zum Vestibül hinunter. 

Tal und Ughtred warteten schon gespannt auf ihn. Gemeinsam gingen sie in die große Halle. Tal hatte Odugme aufgetragen, die zerbrechliche Ayn Nyni`scie dan Y`shandragor hierher zu tragen. Nun saß sie am Tischende, denn sie war die älteste Herrin des Hauses und so war es Brauch in Kisadmur. Kyon würde links neben ihr sitzen.

Schließlich war es soweit. Der alte Hausmeister Flark öffnete die doppelte Eingangstür, von der ein Flügel arg genug in den Angeln quietschte, und kündigte den Meisterschmied Amyithas Darin an. 

Dieser trug einen fadenscheinigen Mantel, lederne Rüstungsteile, die einst sicher Gold gefärbt waren und hohe, beschlagene Beinlinge. Tal konnte sich durchaus vorstellen, dass der Mann früher recht schneidig daher gekommen war. Leider trübte nun seine kränkliche Haut und das fettige, strähnige Haar dieses Bild.

Kyon hieß den Gast förmlich willkommen und wies ihm einen Platz in einigem Abstand von seiner Mutter auf der rechten Tischseite an. Die Stimmung war angespannt. Anfangs sagte niemand etwas. Die Quink trugen das Essen auf. Es gab Echsenschwänze in heller Soße, ein derzeit günstiges Gericht und später Schlangenzünglein in Aspik geeist.

Die Unterhaltung verlief wie erwartet schleppend und als Kyon die wechselhafte Wetterlage vorbrachte, himmelte Tal genervt. Schließlich sagte die Hexe leise zu Kyon: »Denke, es ist an der Zeit, dass die alten Bekannten sich ein wenig in Ruhe austauschen herr Sliyn.«

Sie zwinkerte Kyon zu und deutete mit dem Kinn nach oben. Kyon zuckte mit den Schultern und erklärte, er müsse sich nun dringenden Geschäften zuwenden, aber die Herrin des Hauses würde für die weitere Versorgung des Gastes zur Verfügung stehen.

Ughtred nickte nur und erhob sich als erster. Dann verließen die Drei das große kühle Speisezimmer und überließen den Schmied und die Trauernde ihrem Schicksal. Beim Hinausgehen wanderten Kyons Blicke noch einmal über die Adern an der Decke. Er konnte kaum noch davon lassen. Was kümmerte ihn da der Krüppel und seine Mutter?

 

Sie hockten am runden Tisch und starrten Löcher in die Holzplatte. Die Stille im Raum war nervtötend. Normalerweise war Kyon nicht der Mann für stundenlanges Schweigen und Tal hielt es nur selten länger als wenige Minuten aus, ohne etwas zu sagen, und Ughtred befürchtete schon, die beiden wären schon wieder in ihre Visionen abgeglitten. Doch plötzlich sah Tal auf. 

»Ich will wissen, was da unten vor sich geht! Wenn wir doch nur eine Sonde hätten, oder einen Scout oder so etwas.«

Kyon und Ughtred sahen sie an. Wer konnte seinen Körper verlassen und ungesehen weite Entfernungen zurücklegen?

Sie legte den Kopf schief und machte eine Lopenschnute. Dann lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück, konzentrierte sich und verließ ihren Körper.

Amyithas hatte sich neben Nyni`scie gesetzt. Gerade flüsterte er ihr etwas zu und schließlich legte er seine goldene Hand auf die Tischplatte vor ihr. Eine Ewigkeit schien zu vergehen. Doch dann, hob mit einem Mal auch Nyni die Hand und legte ihre schmalen Finger auf das glimmende Gold des alten Freundes.

Tal spürte, wie ihr die Tränen kamen und sie fragte sich, wie sich ihr arkaner Zustand auf ihr physisches Selbst auswirkte. Sie hielt noch eine ganze Weile inne, doch dann fühlte sie sich unwohl in ihrer Rolle als Beobachterin und schließlich kehrte sie mit einem warmen Gefühl in ihrem Herzen in die Realität zurück. Als sie erwachte, fühlten sich ihre Wangen und ihr Ausschnitt feucht an. Die beiden Männer sahen sie besorgt an.

»Es ist nichts. Sie sind nur soooooo süß«, sagte sie mit einem glücklichen Lächeln.

 

Kyon verabschiedete den Schmied und gab vor, seine Mutter brauche Ruhe. Amyithas nickte ergeben und dankbar und als Kyon erklärte, dass man ein solches Treffen unbedingt wiederholen müsse, war er Feuer und Flamme. Fragte vorsichtig, ob man auch fürderhin auf weitere Gäste verzichten könne und Kyon nickte höflich. Als der Schmied ging, schien er um Millennien verjüngt zu sein.

 

Einige Tage später brachte der Schmied Ughtreds Axt. Ein Quink meldete ihn nur dem Nygh, weil er dies auch so wollte und als Ughtred zur Außentür kam, hatte der Alte eine schwere Tasche über der Schulter hängen. Er holte die Axt hervor und reichte sie seinem Kunden. 

Der kleine Mann besah sich seine Waffe und staunte nicht schlecht. Das Metall sah nun etwas gelblicher aus, aber es war nicht zu erkennen, wie der Schmied die Legierung in die ursprüngliche Schneide eingebracht hatte. Er konnte sie ja kaum eingeschmolzen und genau gleich nachgeschmiedet haben. Oder doch?

Die auffälligste Neuerung war jedoch der Huhnsei große, unheimlich gelblich glimmende Stein, den Amyithas in den Schneidenkopf eingelassen hatte. Er glomm energetisch und Ughtred wollte gar nicht so genau wissen, welchem Zweck er diente. Als er die Schärfe der Klinge prüfte schnitt er sich. Der Schmied lachte und deutete auf seine goldene Prothese. Ughtred hatte noch nie zuvor eine derart scharfe Klinge in Händen gehalten. Axtklingen waren meist eher stumpfer Natur, weil sie dazu neigten, viel Kraft zu übertragen und eher spalteten als schnitten. Dies wiederum führte dazu, dass sie schnell ausbrachen, wenn man sie in einem sehr scharfen Winkel anschliff. Doch dieses Meisterwerk, machte auf den Nygh den Eindruck, als wäre es absolut unzerbrechlich. Er holte aus und schlug damit auf einen Feuerscheit, der hier, im unordentlichen Vorhof, auf dem Boden lag. Die Klinge drang durch das trockene Holz, als wäre es aus Butter. Ungläubig prüfte Ughtred die Klinge und tatsächlich hatte sie auch nicht den geringsten Schaden genommen.

Er sah den Schmied anerkennend an und bedankte sich, doch dieser war noch nicht fertig. Er drückte dem Nygh den Sack in die Hand und sagte: »Dies ist noch ein kleines Gastgeschenk, für die freundliche Soiree die Tage.«

Ehe der Nygh etwas sagen konnte, hatte Amyithas sich abgewandt und ging in seinem seltsam ungleichmäßigen Gang in Richtung Quinkstadt davon.

Ughtred sah in den Beutel. Es waren vier Gegenstände des smavarischen Alltags. Zwei davon erkannte er als Feuerzeuge, eins war eine Kiste, die er nicht zuordnen konnte und das letzte schien ein Apparat zu sein. Es hatte zwei stumpfe abstehende Kristalle und eine Art Drehregler. Er hob die Schultern und brachte die Geschenke dann ins Haus.

Da er niemanden vorfand – die Hexe schien zu schlafen und Kyon war in der Stadt unterwegs – besah er sich das Gerät mit den Kristallen etwas näher. Er kannte sich mit Lesekristallen aus und spürte sofort die neuronale Verbindung, die er mit dem Ding eingehen konnte. Kurzerhand versuchte er es.

»Narun Darn«, sagte eine unfreundliche Stimme in seinem Kopf. Er erkannte, dass es drei Neuronalschnittstellen gab, die er willentlich anfahren konnte. 

»Hallo? Wer ist da?«, dachte er versuchsweise, doch wer sich auch immer auf der anderen Seite befand, wiederholte nur die ersten beiden Worte und trennte dann die Verbindung.

Die zweite Schnittstelle antwortete auf Smavarisch und Ughtred verstand einen Frauennamen. Die Frau fragte, ob es um eine Bestellung ginge und ob er einen Neuronalcode habe. Man fände diesen in der Geistesübertragung. Er verneinte und die Frau fragte, wohin die Phanibestellung gehen sollte. Jemand lieferte Phani aus.

Ughtred schwirrte der Kopf und die Frau sagte, sie wolle den Fall nun eskalieren und schließlich meldete sich ein Mann an ihrer Stelle in Ughtreds Kopf an. Auch er fragte nach einem Code und erklärte, er habe bei einer Zeitverschiebung von fast acht Jahren nicht ewig Zeit für eine Anfrage.

Ughtred trennte die Verbindung und schüttelte den Kopf. Die Smavari waren verrückt, alle!

 

Später saßen sie wie üblich in der Küche und Ughtred zeigte den beiden anderen die Geschenke des Schmiedes.

»Das ist Deckenfarbe«, sagte Kyon zufrieden und hatte ganz offensichtlich keinerlei Probleme damit, sie anzunehmen. Tal, die schaukelnd auf einem der Küchenstühle hockte, griff nach der Kiste und sagte: »Eine Tiefenraumkiste. Da passt mehr rein, als man von außen erkennen kann. Guck!« Sie öffnete das schwarze Ding und steckte ihren Arm hinein. Dieser verschwand mit einem leisen, magentafarbenen Zischeln bis zum Ellbogen.

»Hi hi hi«, kicherte sie, »Das kitzelt.« 

Sie stellte die Kiste neben sich auf den Stuhl und machte damit klar, dass sie nun ihr gehörte. 

Es war Kyon anzusehen, dass er einen Moment überlegte, gegen dieses Vorgehen zu protestieren, aber dann ließ er es. Sie hatte ihm geschworen, ihn nicht zu vergiften, dies schloss ihn nicht, bis ans Ende seiner Tage zu nerven, keineswegs ein.

Ughtred sagte: »Das da scheint eine Art Apparat zu sein, mit dem man mit entfernten Personen kommunizieren kann!«

»Es ist Deckenfarbe«, sagte Kyon und besah sich nun erstmals die Decke der Küche, was sich als Fehler herausstellte.

Ughtred gab auf.

 

»Wir sperren ihn in den Keller und vergessen ihn dort«, sagte Kyon und die Rede war natürlich von Alag Dar`Ytavoulth, dem Kerkermeister von Shishney. Die Sache mit dem Schmied würde aller Wahrscheinlichkeit nach nun ja ein wenig Zeit in Anspruch nehmen, da hatte man sich gefragt, wie man diese sinnvoll nutzen solle. Seltsamer Weiße fand sogar der ansonsten eher pazifistische Ughtred die Idee, den Blödmann aus dem Kerker zu bestrafen, mehr oder weniger verständlich. Der Kerl war höchstwahrscheinlich schuld am Tod von Northrian. Wer hätte es Kyon, als dessen Geliebten und Tal, seiner Schwester, übel nehmen können, sich an dem Kerl zu rächen? Als die beiden jedoch angefangen hatten über Konzepte wie Tötung, Folter und Vertuschung zu diskutieren, hatte er abgeschaltet.

Tal überlegte. Sie spielte mit ihren deutlich länger gewordenen Haaren. Warum hatte sie sich nicht früher darauf konzentriert, sie wachsen zu lassen?

»Wir gehen rein wie beim ersten Mal«, sagte Kyon düster und nickte ihr zu. Da auch der Nygh nichts sagte, fühlte er sich bestätigt. Mittlerweile gab er recht viel auf die Meinung des kleinen Mannes, aber dies würde er natürlich niemals zugeben.

Sie verzog das Gesicht zu einer hässlichen Todesgrimasse. Er musste ja nicht in die stinkende Haut seines toten Bruders schlüpfen. Aber natürlich hatte er recht. Es war der beste Weg. Niemand würde damit rechnen.

Tal sagte: »Und was genau machen wir jetzt, wenn wir ihn haben?«

Kyon sagte verdrossen: »An die Wand ketten. Nygh, mach Ösen an die Kellerwand und besorge Ketten!«

Ughtred hob die Augenbrauen und rollte dann mit den Augen. Er sagte nichts, rührte sich aber auch nicht.

Mit spitzer Schnute sagte Tal: »Können wir ihn einmauern? Ich habe mal eine Geschichte über einen Mann gelesen, der sein Weib einmauerte. Man konnte noch viele Millennien später ihre Schreie hören. Klingt doch schick oder?«

»Und wenn er uns so verreckt?«, warf Kyon ein.

Die Hexe zählte laut die Mittelchen auf, mit denen man künstlich das Leben verlängern konnte. Seltsam, in ihren Schulstunden, war ihr dies nie so einfach von den Lippen gegangen. Es war halt doch etwas ganz anderes, wenn man Wissen in der Praxis anwandte.

Plötzlich fiel ihr Blick auf Ughtreds Axt, die wie so oft an dessen Stuhl gelehnt auf dem Küchenboden stand. Sie stierte das Ding an und strich dann mit der Hand über den Stein in ihrem Kriegshandschuh, den sie wirklich nur selten abnahm.

»Ist das …« Sie machte eine Pause und schluckte. »Ist das ein Shimwas in der Axt und wenn ja, wo kommt er her bei allen Nugai?«

Ughtred sah nun auch auf die Axt neben sich und nickte.

»Kann sein. Der Schmied hat mir die Axt verbessert. War wirklich günstig.«

Kyon legte den Kopf schief. Bei allen Nugai, genau. Der Schmied hatte sich nicht lumpen lassen. Verdammt nochmal, dass wäre wirklich Farbe für das ganze Haus gewesen.

Die Hexe stand auf und ging neben Ughtred in die Knie. Der Nygh empfand ihre Nähe plötzlich noch unangenehmer als sonst schon. Er konnte in ihren Ausschnitt blicken und sie wusste das. 

»Wir legen ihn um und packen ihn genau da rein!«, sagte sie grimmig.

Ughtred ließ die Schultern sinken.

»Naaaaaa«, sagte er gedehnt. »Dann habe ich ihn auf dem Hals und ich denke, dass kann man kaum wollen.«

Die Hexe strich ihm über den Kopf und schnurrte: »Das wird super! Er ist dann in eurer Hand und ihr werdet durch seine Kräfte gestärkt.«

»Nein danke«, versetzte der Nygh entschlossen, nahm seine Waffe auf und machte sich daran, das Haus zu verlassen. Waren die Silberwölfe denn ganz und gar verrückt? Welche Frage eigentlich. Natürlich waren sie es. Er floh.

Tal sah Ughtred hinterher und fragte dann Kyon: »Was hat er denn?«

Der Barde stand auf und schlenderte durch den Raum und sie tat es ihm gleich. Gemeinsam gingen sie in den ersten Stock und dort in Kyons Zimmer.

Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile, während Tal sich auf Kyons Bett räkelte. Die Sache mit dem Shimwas hatte alles geändert. Für sie stand fest, dass der irre Kerkermeister genau diesen Weg gehen würde. Sein Ziel war der Shimwas und dort würde er ihnen bis zum Ende aller Tage Dienen.

»Lust auf ein bisschen Sex?«, fragte Tal und befreite ihre schon beträchtlich angeschwollenen Brüste aus ihrem Kleid. Er wandte sich ihr zu und nickte. »Klar.«

 

Am nächsten Morgen in der Frühe kniete Kyon neben seiner Mutter und stierte durch das Fenster auf den Regen in Shishneys Gasse. Er fragte sich, ob das mit dem Regen auch funktionieren würde, wenn er es brauchte. Konnte er Regen erzeugen, indem er durch das Fenster seiner Mutter blickte? Konnte sein.

Ohne Vorwarnung sagte Nyni: »Warum tut ihr euch das an, mein Sohn?«

Kyon erschrak derart, dass er sich an seiner eigenen Spucke verschluckte und einen Moment brauchte, um zu antworten.

»Was meint ihr, meine Liebe, die Unternehmung?«

Sie nickte und sagte leise: »Ja.«

»Es war Vaters Unternehmung.«

»Er wurde von einem Drachen gefressen und das Untier hat ihm die Seele und den Geist genommen und quält nun ihn und mich all die Jahreszeiten, bis zu unser aller Ende.«

Kyon horchte auf.

»Er quält euch?«, fragte er vorsichtig.

Sie nickte und war wach. »Ja, der Luge lässt mich an der Qual meines Gatten teilhaben und es zerreißt mir das Herz und die Seele. Tagein und Tagaus höre ich seine Schreie und spüre seinen Schmerz.«

Darum war sie in die Zwischenwelt abgetaucht. Kyon nahm ihre kalte Hand und berührte sie mit seinen Lippen.

»Und ihr? Könnt ihr nicht aus eurer Trance auftauchen und euch aus diesem Joch befreien?«

Und mit einem Mal versank Nyni wieder genau dort, an diesem Ort ohne Freude, ohne Licht und ohne Interessen. Ihre Augen vernebelten sich und erst in diesem Moment bemerkte Kyon, dass es draußen aufgehört hatte zu regnen und dass nun erneut die ersten Tropfen fielen.

Tränen rannen ihm über die Wangen. Drachen waren kein Spaß!

 

Etwas später, man hatte extra den Mittag abgewartet, weil zu dieser Zeit ja die meisten Smavari schliefen, hockten die drei wie gewohnt am runden Tisch und berieten sich erneut. Sie hatten ausbaldowert, dass Tal in ihrer astralen Form den Kerker erkunden sollte. Nur so war es möglich, einen halbwegs vernünftigen Plan auf die Beine zu stellen.

Jetzt konzentrierte sie sich und versuchte, ihren Leib zu verlassen, aber es fiel ihr schwer. Sie hatte ihre Kräfte zum Teil verbraucht, als sie die Ayn und ihren Galan beobachtet hatte, und es dauerte oft viele Tage, bis sie wieder in der Lage war, aus der Realität zu schlüpfen.

Kyon sagte: »Was ist mit dem Ring?«

»Ach ja, der Ring! Er ist aufgeladen und bereit. Ich spüre sein Wüten und ich denke, er hat tatsächlich die Macht, die man ihm nachsagt. Sie Einäugige Hexe muss lustig gewesen sein.«

Kyon ließ die Schultern hängen. Er bereute ein wenig, den Ring ins Spiel gebracht zu haben.

»Ihr wisst schon, dass man den Ring den Zeithammer und nicht die Zeitpinzette nennt, ja?« Er betonte die Silbe Hammer besonders vordringlich.

»Was soll schon passieren?« Sie lächelte breit und schon kramte sie in ihrer Tasche nach dem Ring. Als sie ihn gefunden hatte, hielt sie ihn vor Kyons Nase und machte ein zischendes Geräusch. »Der Zeiiiithammeeeeeeeer«, machte sie ihn nach.

Er erschrak und wedelte ärgerlich mit der Hand, um sie zu verscheuchen, aber sie lachte nur und steckte sich den Ring ohne weitere Warnung an den Zeigefinger. Kyon und Ughtred zogen unmittelbar die Köpfe ein und erwarteten den Untergang der Welt. Und der ließ nicht lange auf sich warten …

Kyon sah noch, wie sich Tals Augen zu einem irren Schielen zusammen drehten und ein hässlicher Blutfaden aus ihrem linken Nasenloch troff, doch dann veränderte sich auch seine Wahrnehmung der Realität, denn der Zeithammer hatte seine Arbeit aufgenommen. Er zerrte am Rahmen des Multiversums und veränderte den Ablauf von allem. Er beobachtete sich dabei, wie er, der Zeit rückwärts folgend, neben einer seltsam anmutenden Frau durch eine urbane Landschaft trottete und nach seinem Fahrzeug Ausschau hielt. Dann öffnete er eine Tür und betrat einen Raum, dem er für sein eigenes Dasein eine fundamentale Rolle zumaß, ihn aber auf einer anderen Ebene seines Daseins als unreal betrachtete. Hinzu kam, dass er Tals und Ughtreds multiversale Verdrehungen so wahrnahm, als wäre er sie, und offenbar ging es ihnen ebenso, denn sie schienen sich in ihm zu treffen und alles zu wissen, was er wusste. Er versuchte zu schreien, aber diese Option schien ihm verwehrt zu sein, denn egal in welcher Dimension er den Mund auftat, nie hatte er die Macht, sein dortiges Selbst weiter zu manipulieren. Er krümmte sich zusammen und wurde zum Opfer der Erkenntnis seiner allumfassenden Unwichtigkeit.

Dann rammte der Zeithammer einige der Realitäten in eine fassbare Form. Tal – und damit er – sah sich selbst als anderes Wesen, dass in vielen Millennien ganz andere Abenteuer erleben würde. Dann wurde aus ihr wieder er, aber in einem anderen Körper und wiederum zu einer anderen Zeit. Er befand sich in einer Art Sternenbarke und betrachtete eine Sonne durch ein gewaltiges Dach aus Glas. Vor ihm stand ein pulsierendes Ei, von dem er wusste, dass es lange nach seinem, Kyons Tod, von außerordentlicher Wichtigkeit für die Zeitlinien sein würde. 

Wieder versuchte er zu schreien, denn der Wahnsinn der Vermischung zwängte sich in seinen Schädel und rüttelte an seiner Existenz. Der Zeithammer, seine Macht, die Wahrheit ohne die Grenzen der Zeit zu gewähren, machte alles Sein auf dieser Seite der Realität schlicht und ergreifend zu einem irrealen Spiel.

Da kam er zu sich und fand sich an dem Tag in der Küche vor, an dem er mit Ughtred in das Haus Lysai gehen wollte. Wie viele Tage waren vergangen? War er mit dem Nygh dort gewesen? Hatte die Helferin dem kleinen Mann ihre Titten ins Gesicht gedrückt. 

Er sah Ughtred an und fragte ihn, aber der Nygh schien ebenso verwirrt zu sein wie er selbst. Tal schüttelte sich und erbat sich mit einem Wedeln ihrer Hand etwas Ruhezeit aus. Sie musste ebenfalls zu sich kommen. Der Ring hatte zwar ihren Geist nicht beugen können – und oh ja, er hatte es versucht – aber die Auswirkungen seines Eingriffs in die Realität, hatten sie, genau wie Kyon und Ughtred voll getroffen.

»Geht es euch gut?«, fragte er so ruhig wie möglich und wischte ihr mit dem Daumen den Blutfaden von der Nase.

Sie nickte und machte noch einmal ein Zeichen, man möge ihr einfach einen Moment lassen.

Kyon ging zum Fenster und sah hinaus. Er hätte sich nicht gewundert, wenn sich Shishney von Grund auf verändert hätte, doch seine Nachbarschaft schien noch genau dieselbe zu sein. Er versuchte zu erfassen, welcher Tag war, doch damit hatte er schon unter normalen Umständen seine Probleme und damit ließ er es dabei. Er überlegte, ob es möglich war, mit dem Ring die Zukunft vorher zu sehen oder sie gar zu verändern? Waren die Auswirkungen statisch genug, um sie sinnvoll zu nutzen?

Ruppig rief er nach der Dienerschaft und fragte, ob er im Lysai gewesen sei. Flark sah ihn missmutig an und zuckte mit den Schultern. Es war Sklaven nicht gestattet die Machenschaften ihrer Herren zu erfassen und er wollte keine Prügel beziehen.

Kyon war versucht, den Alten aus dem Zimmer zu treten, mäßigte sich jedoch. Es gab einfach Dinge, über die durfte man nicht zu sehr nachdenken.

»Und, hat es wenigstens etwas gebracht?«, fragte er an die Hexe gewandt. 

Tal schloss die Augen und er dachte zuerst, dies sei eine Reaktion ihrer Genervtheit, aber als sie ihn wieder ansah, nickte sie nur. Ihre Kräfte waren zurück, der Zeithammer hatte gewirkt – und wie!

 

Tal glitt ohne Mühe aus ihrem Körper und steuerte den Norden der Stadt an. Es bereitete ihr keinerlei Probleme die Zitadelle zu finden und durch die Kanalisation den Kerkertrakt. Sie hätte auch einfach seitlich durch die Wände gleiten können, aber sie wollte versuchen eine ungefähre Vorstellung des Weges zu bekommen, den sie später in Norths Körper zurücklegen musste. Astral konnte sie noch besser Sehen als real und so blieb ihr hier unten im Dunkeln nichts verborgen. Wie erwartet gab es kaum Wachen, aber dafür brauchte sie eine ganze Weile den Kerkermeister ausfindig zu machen. Der Idiot hatte sich tatsächlich in einer Zeller eingesperrt und lag seitlich auf einer Pritsche. Er schien zu schlafen. Gut! Sie merkte sich die Zelle und beendete die Astralwanderung. Binnen einer Sekunde schlug sie die Augen auf und sah Kyon und Ughtred, die sie gebannt anstarrten in die Augen.

 

»Und dann packen wir ihn auf einen Schlitten oder so etwas und schleifen ihn hierher ins Haus.« Tal hatte sich in Rage geredet und war voller Tatendrang. Die Vorstellung, endlich Northrians Tod rächen zu können, und dann auch noch mittels einem Shimwas, erregte sie. 

Kyon nickte. Er war einverstanden mit allem, was die Hexe vorhatte, denn er wusste, was sie auch immer tun würde, es hätte die schlimmsten Auswirkungen auf den verhassten Kerkermeister.

Ughtred war nicht mehr so glücklich mit der ganzen Situation, aber was sollte er machen? Mitgefangen, mitgehangen, lautete die Devise. Außerdem stimmte es ja ganz offensichtlich. Alag Dar`Ytavoulth hatte zum Tod von Tals Bruder beigetragen und dafür sollte man ihn durchaus zur Rechenschaft ziehen.

Dennoch, in der Kultur der Nyghs, gab es keine Morde oder die damit hier zusammenhängenden Strafen. Die Vorstellung einer Todesstrafe war Ughtred zuwider. Sein Volk setzte auf Konzepte wie Resozialisation und Vergebung. 

Er fragte sich, ob er durch sein Zusammensein mit den Silberwölfen verrohte. Die Vorstellung dieser Wesen, was Werte betraf, hätte zu denen seines Volkes nicht unterschiedlicher sein können. Für einen Silberwolf waren Dinge wie Gesundheit, Familie oder auch nur Schmerzfreiheit eher nebensächlich. Sie suchten in allem nur Zerstreuung. Nichts schien mehr an ihnen zu nagen als die Langeweile. Warum nur, hatten ihre Erschaffer sie unsterblich gemacht? Sie konnten einfach nicht mit der ihnen zur verfügung gestellten Zeit umgehen. Es gab sehr alte Silberwölfe, denn sie starben ja von natur aus nicht. Aber dennoch gab es offenbar keinen Silberwolf aus der Zeit ihrer Entstehung. Daran waren sicher nicht in erster Linie natürliche Gefahren schuld. Sie wollten einfach nicht ewig leben. Wie Kyons Mutter, verloren sie früher oder später aus welchen Gründen auch immer das Interesse am Dasein und gaben es auf. Dann zogen sie sich in sich zurück oder verließen gar freiwillig ihre Körper. Ughtred hatte noch nie von einem Nygh gehört, der Selbstmord begangen hätte. Verzweiflung und Leid wurden von der Familie oder der Gemeinde aufgefangen. Langeweile kannten die Nyghs kaum. Sie arbeiteten für ihren Unterhalt, schufen Kunst oder erfreuten sich an der Ruhe an einem klaren Bergsee.

 

Tal konnte kaum etwas erkennen. Sie blinzelte und versuchte, Norths Augen besser unter Kontrolle zu bekommen, aber die Ergebnisse waren dürftig. Mit einem Gefühl der Reue erkannte sie, dass es sinnvoll gewesen wäre, den toten Körper mehr zu warten. Jetzt, da sie nach längerer Zeit wieder einmal in ihm steckte, erkannte sie den Verfall, aber sie bemerkte auch, wie sie gegen dieses Ziehen der Zeit ankämpfen konnte. Ihre astrale Kraft stärkte den Untoten. Als sie vorhin aus dem Sarg gestiegen war – in dem im Übrigen jetzt ihr Körper lag – hatte sie sich kaum bewegen können. Die Sehnen waren steif gewesen und der ganze Bewegungsapparat hatte geknackt und geknirscht. Doch nach einiger Zeit der Konzentration, hatte sich dies bald gebessert. Leider tat sie sich mit den Augen deutlich schwerer. Wahrscheinlich lag es daran, dass ihre eigenen Augen ebenfalls nicht die besten waren und sie sehnte sich nach der Brille, die sie seit einiger Zeit trug und an deren Unterstützung sie sich rasch gewöhnt hatte.

Langsam schlurfte sie durch den finsteren Gang des Kerkers. Wie damals, als sie den kleinen Mann befreit hatte, war sie in den Abfluss der Anlage gestiegen und hatte langsam das Säurebad durchquert. Und auch dieses Mal hatten sie die untoten Wächtertiere dieses Zugangs in Ruhe gelassen. Untote schienen sich nie gegenseitig anzugreifen. Warum eigentlich? Die Lebenden taten es doch ständig, warum sollte dies im Tode anders sein. Sie fragte sich, ob der Tod einfach friedlicher war und fand den Gedanken tröstlich.

Plötzlich drang ein Geräusch durch die verfaulten Gehörgänge des toten Leibes. Es war eine Art Patschen und es schien von hinter ihr zu kommen. Sie drehte sich um und versuchte etwas zu erkennen, aber Norths Augen übermittelten ihr nur graue Flächen. Oder doch, war da nicht eine Bewegung?

Direkt vor ihr stand ein Quink mit einer Hellebarde. Seine Augen waren winzige Lichtpunkte im Grau in Grau.

»Was macht ihr hier?«, hörte sie den Wächter vorsichtig fragen.

Sie versuchte den Kopf zu schütteln, da ihr die Ansprache in doppelter Hinsicht grotesk erschien. Man stelle sich vor, ein Quink fragt einen verwesten Smavarileib im Kerker der Zitadelle, was er hier tat. Lustig, was musste der kleine Kerl denken?

»Wääärshvindeeeeee …«, hörte sie North stöhnen und erinnerte sich, dass es noch schwerer war, ihn zum Sprechen zu bringen, als durch ihn zu sehen.

Der Quink machte trotzdem einen Schritt zurück und duckte sich. Er schien sich unsicher, wie er mit der Situation umgehen sollte und Tal konnte ihn gut verstehen. Zum Glück wurden hier unten keine Maskenmännlein eingesetzt. Ein solches hätte sie nicht so einfach handhaben können wie den Quink. Wenn er nicht spurte, würde sie ihn überwältigen und töten.

»Haaauuuu aaaabhhhh …«, versuchte sie es noch einmal und freute sich über die erstaunliche Klarheit ihrer Aussprache. Sie hatte verstanden, was sie gesagt hatte.

Der Quink auch. Er machte eine unterwürfige Verneigung und zog sich dann zurück. Der Gang war gerade und Tal vermutete, dass er in einiger Entfernung weiter hinter ihr her schnüffeln würde, aber solange er nicht Alarm schlug, war ihr das egal. Er hatte keinerlei handhabe gegen sie. Quink durften ihre Meister nicht angreifen oder auch nur gegen sie agieren. Zumindest bei gut erzogenen Quink, wurde diese Prämisse auch stets eingehalten und innerhalb der Zitadelle würde es ja hoffentlich nur gut erzogene Sklaven geben. Wenn er Alarm schlug, würde sie längst weg sein, bis sich smavarische Wächter bequemten hier herunterzusteigen.

Sie suchte nach der Zelle, die sie im Astralraum gesehen hatte, aber das war bedeutend schwerer als gedacht. Selbst mit ihren eigenen Augen, wäre es ihr schwer gefallen, denn hier unten sah alles irgendwie gleich aus. Im Astralraum hatte sie zum Teil durch die Wände gesehen. Personen wurden stark kontrastiert dargestellt. Sie konnte ihre Seelen als leuchtende weiße Balken wahrnehmen. Jetzt war alles ein Matsch aus Braun und Grau.

Sie schlurfte den Gang entlang und musste ein hohles Stöhnen unterdrücken. Warum stöhnten Untote nur immer? Sie hatte ja keine Schmerzen. Vielleicht waren sie genervt? Sie fühlte sich auch genervt. Was soll`s, dachte sie, und gab ein leises untotes Stöhnen von sich. Und als ob die Aspekte des Kar sie erhört hätten, erkannte sie in der nächsten Zelle den schlafenden Kerkermeister.

Sie drückte Norths Gesicht gegen die Gitterstäbe und versuchte etwas zu erkennen. Da war ein Ring unter dem Arm des dürren Kerls. Das war sicher der Schlüsselring. Sie langte durch die Gitterstäbe, aber die Pritsche war mehr als zwei Schritte von ihr entfernt und allein der Versuch stellte sich als utopisch heraus. Verdammte Lopenscheiße, dachte sie und hörte die leisen gestöhnten Flüche aus Norths Kehle aufsteigen.

»Veehhhrdaaam…eeeee Oooooooeeeensheeeeeeiiiiiiiisseeee …«

Sie hielt sich, bzw. Northrian die Hand vor den Mund, aber es war zu spät. Alag regte sich in der Zelle und drehte sein Gesicht nach oben.

»Was zum …«, grunzte er und richtete sich zu einer sitzenden Position auf. 

»Wer?«, sagte er und kam zur Gittertür.

Tal zögerte nicht. Sie griff zwischen den Gittern hindurch, fasste nach den fettigen Haaren des Kerkermeisters und zog sein Gesicht mit aller Kraft gegen die Stangen. Der Einschlag kam so unerwartet und erfolgte ohne ernstliche Gegenwehr, dass seine Wange brach und ein Knochen in sein linkes Auge rutschte. Er wurde sofort schlaff, aber Tal hielt ihn fest und fingerte nach den Schlüsseln. Es dauerte eine quälende Ewigkeit, bis sie es schaffte, den verdammten richtigen Schlüssel zu finden und noch einmal so lange, ihn zu drehen. Sie schalt sich erneut und ermahnte sich, Norths Körper zu trainieren. Doch dann hatte sie es endlich geschafft und griff nach dem leblosen Alag, um ihn sich über die Schultern zu hieven. Leider, leider, bewegten sich kleine Gestalten auf dem Gang und versperrten ihr den Rückweg in Richtung der kleinen Außenpforte, die sie damals für Kyon und Ughtred geöffnet hatte. Sie musste die Treppe hinauf und riskieren, durch den Haupteingang der Zitadelle zu gehen.

 

Kyon schlenderte auf das riesige Portal der Zitadelle zu. Das Wetter hatte sich ein wenig gebessert und die beiden Sonnen drängten durch die stählerne Wolkendecke. Wie erwartet, befanden sich nur Quink und keine Smavari auf dem Platz. Er sah sich um, betrachtete die geschlossenen Läden der smavarischen Behausungen und lugte dann unauffällig zu Ughtred hinüber, der in einiger Entfernung auf dem Sarg hockte und an seiner Pfeife sog. Er war nicht unbedingt unauffällig, aber das Sitzen auf einem Sarg war ja nicht verboten.

Ab und an blieb ein Kind bei ihm stehen, oder ein Erwachsener stellte eine neugierige Frage, aber alles in allem war dies eher eine gute Ablenkung, als ein Problem. Allerdings wäre es in einem solchen Moment natürlich ungünstig, wenn North, beziehungsweise Tal aus der stinkenden Kanalisation auftauchte und den Kerkermeister dabei hätte. Andererseits hatte es Kyon ohnehin im Blut, dass es nicht so einfach sein würde, die Zitadelle durch die untere Ausfalltür zu verlassen. Und genau da kam er ins Spiel. Wie vor Kurzem wollte er in die Zitadelle gehen und dort abwarten.

Sollte es Probleme geben, würde er versuchen, diese mit seinem smavarischen Charme zu lösen. Er hatte schließlich nichts zu fürchten und keiner der Wächter würde sich wagen, irgendetwas gegen ihn zu unternehmen.

Die Erleichterung, aus dem Sonnenlicht der Turmstadt ins Innere der Zitadelle zu treten, war wie immer immens. Er hatte die Wüste überlebt und wahrscheinlich mehr Sonnenlicht absorbiert als jeder andere Smavari, den er kannte, aber das machte ihn natürlich nicht immun gegen die Wirkung der Strahlen. Er rieb sich die prickelnde Haut und war froh, als die Schatten begannen, ihre heilende Wirkung zu zeigen.

Links von ihm befand sich der eher unauffällige Abgang in den Kerker. In der Nähe dieses Bereiches gab es eine Art Informationsstelle, die ständig mit einem oder mehreren Droiden besetzt war. Vor ihm kam gerade die mittlere der Aufzugsplattformen herunter und eine Gruppe von acht Quink wartete mit Wahren, die es in eins der Stockwerke zu transportieren galt. Zwei Midyar standen bei den Quink, schienen sich aber nur mäßig für die Sklaven. 

Kyon schlenderte auf die rechte Seite der riesigen Halle. Hier befand sich eine Sitzgruppe aus gegossenem Holz, die zu Stoßzeiten smavarischen Besuchern als Ruhestätte diente. Natürlich war um diese Tageszeit hier niemand. Die Quink würden sich nicht wagen, sich hier niederzulassen. Wenn überhaupt, setzten sie sich auf die von ihnen transportierten Kisten oder den kühlen Boden aus Perlmutt. 

Er setzte sich auf eine geschwungene Liege, die der Form einer südländischen Baumfrucht nachempfunden war, und sah an den endlosen Aufzugstrossen in den Turmschacht hinauf. Wie lange konnte es dauern, bis der Leichnam seine Arbeit erfüllt hatte? Die Droiden standen reglos da und wirkten eher wie Statuen als wie denkende Apparaturen. Ab und an bewegte einer von ihnen einen Arm und drehte leicht den Kopf und Kyon kam es so vor, als täten sie dies nur, um sicher zu stellen, nicht für defekt gehalten und entsorgt zu werden.

Was hätte er jetzt für einen heißen Faltersud gegeben? Er fragte sich, ob es weiter oben, nahe der Festung, einen entsprechenden Service gab. Hier unten brauchte er auf nichts zu hoffen. Er hatte schon mit eigenen Augen gesehen, dass hochrangige Besucher des Fürstenpaares hier unten campieren mussten, weil sie zu früh in Shishney angekommen waren. In diesem Falle, mussten sie sich selbst mit entsprechenden Annehmlichkeiten versorgen. Von oben war nichts gekommen. Die Turmstadt bot alles, was das Herz begehrte, aber unter Gastfreundschaft verstand Kyon etwas anderes.

Gerade überlegte er, diesen Gedanken in einem Lied festzuhalten, als auf der anderen Seite der Halle die Kerkertür aufging und eine große Gestalt mit einem Kapuzenmantel und einem schweren Bündel über einer Schulter in Sicht kam. Er lachte tonlos auf und machte sich auf den Weg. Unglaublich, die Hexe. Sie hatte es offenbar wirklich geschafft, und dies, ohne einen Alarm auszulösen.

Der Weg durch die Halle war weit und bis er selbst die Mitte erreicht hatte, war North nicht mehr weit entfernt. Der Tote bewegte sich schleppend langsam, und Kyon konnte erkennen, dass dies nicht an seiner Last, sondern weitgehend an seinem schlechten Zustand lag.

Gerade wandte sich einer der Droiden zu North um und setzte sich in Bewegung, aber Kyon war schon nahe genug und sagte: »Hier gibt es nichts zu sehen!«

Der künstliche Mann wandte ihm den Kopf zu und fragte nach seinem Namen, aber Kyon schüttelte den Kopf und sagte nur: »Mach deine Arbeit Droide!«

»Bitte nennt mir euren Namen, damit ich ein Protokoll erstellen kann.«

»Steck dir dein Protokoll in deinen öligen Arsch und verschwinde, sonst hagelt es Brandpfeile!«

Der Droide blieb stehen, folgte aber North und Kyon mit seinen Sensoren. Es war ihm anzusehen, dass er ein Problem mit seinen Direktiven und Kyons direktem Befehl hatte. Das eine schien gegen das andere zu wirken, aber einem unmittelbaren Befehl eines Smavari musste er offensichtlich Folge leisten.

Kyon war zweifelsohne aufgezeichnet worden. Erst jetzt, im Sonnenlicht, schob er seine Kapuze wieder über sein Haar. North hatte es besser gemacht. Sein Gesicht war die ganze Zeit verborgen gewesen. Andererseits, was sollte sein? Sie wussten sicher nicht, wer er war, denn wäre es anders gewesen, hätte der Droide gar nicht erst nach seinem Namen gefragt. Guten Mutes ging er dem Untoten hinterher, auf dessen Rücken der Kerkermeister baumelte.

Ughtred stand sofort auf, als die beiden aus der Zitadelle kamen. Er verscheuchte zwei Quinkkinder und öffnete den Sarg. Dann hob er Tals schlaffen Leib heraus und legte sie ins feuchte Gras zu seinen Füßen. Kyon stand zuerst nur da, aber als sich seine und Ughtreds Blicke trafen rollte er mit den Augen und half North den Entführten ebenfalls abzulassen. Dann sah er zu, wie der Untote in den Sarg stieg, sich niederlegte und Ughtred den Deckel anbrachte. 

»Odugme?«, fragte Kyon und der Nygh deutete mit dem Daumen auf das nahegelegene Ufer des kleinen Sees neben dem Kerkerausgang. 

Kyon rief nach dem Phani und dieser kam sofort angelaufen. Im selben Moment öffnete Tal ihre Augen und sog Luft in ihre Lungen. Kyon sah sich um. Da waren nur die beiden Kinder. Er berührte mit einer Hand einen Pfeil in seinem Köcher und machte dann ohne Bogen eine schießende Bewegung in ihre Richtung. Sie rannten davon.

Ughtred legte das Bündel mit dem Entführten auf den Schlitten, den sie für diesen Zweck mitgebracht hatten, und nickte Odugme zu. Dieser nahm die Ketten des Sarges auf und zog ihn, wie so oft schon, hinter sich her. Der Nygh nahm sich des Schlittens an und Tal half ihm. Von Kyon war diese Art der Hilfe natürlich nicht zu erwarten. Er ging hinter seinem Tross her und bildete die Nachhut. Da die Kinder noch immer in der Nähe waren, schoss er noch zwei imaginäre Pfeile auf sie ab und beide fielen imaginär tot zu Boden.

 

»So, und was nun?«, fragte Ughtred und war sich nicht sicher, die Antwort hören zu wollen.

»Zuerst schaffen wir ihn in den Keller und ketten ihn an die Wand. Nygh, schaffe Ketten herbei und sorge dafür, dass wir den Kerkermeister einkerkern können«, sagte Kyon in bestimmendem Tonfall und verpasste dem Besinnungslosen einen kleinen Tritt.

Tal besah sich den Zustand des Mannes und schüttelte den Kopf.

»Wir müssen seine Wunde behandeln oder ihn in Stase versetzen. Er könnte kollabieren.«

Kyon überlegte eine Sekunde und antwortete: »Stase hat noch selten geschadet.«

Tal holte ein Fläschchen hervor und gab einen Tropfen der unheilvoll aussehenden Flüssigkeit auf die aufgeplatzte Lippe des Verletzten und alle drei sahen gebannt zu, wie sich diese langsam dunkel färbten. Dann verebbte das Zittern des Mannes. Sein Brustkorb wurde ruhig und seine Haut nahm eine wächserne Oberfläche an. Sechzig Stunden Stase waren eingeleitet worden.

Plötzlich sagte Tal: »Ughtred, was ist das eigentlich für ein Stein in eurer Axt?« Sie fühlte in das Gewebe der Anderwelt und drang in den gelben Kristall. »Shimwas«, flüsterte sie.

Kyon hob die Schultern. »Zeig her!«

Ughtred machte ein genervtes Gesicht, hob die Axt vom Tisch auf, wo er sie abgelegt hatte, um die Hände frei zu haben, und reichte sie dem Silberwolf. Dieser wog sie in der Hand und nickte bevor er sagte; »Ganz klar, wir legen ihn um und packen den schmierigen Rest seines Innern in den Shimwas in der Axt.«

»Das machen wir ganz sicher nicht!«, sagte der Nygh bestimmt. »Wer braucht schon den vergammelten Geist eines Silberwolfes in seiner Waffe? Das ist mit Sicherheit alles andere als gut und extrem gefährlich.« Er rieb sich nervös mit der flachen Hand über das Zeichen in seiner Stirn. 

Tal trat dasselbe bei ihrem Kriegshandschuh, in dem sich immerhin ihr Bruder befand. 

Ughtred sah sie an und ehe Kyon etwas sagen konnte sagte er: »Nein danke!«

»Es ist nicht Gefährliche. Wer in einem Shimwas weilt, hat keine Macht und keine Interessen«, gab die Hexe zu bedenken, aber Ughtred hatte die Nase voll. 

Sollten sie zusehen, wie sie mit ihrem Gefangenen klarkommen. Er musste aus diesem Geisterhaus raus. Er brauchte frische Luft. 

Ohne ein weiteres Wort nahm der Nygh seine Axt und ging. 

»Vergiss die Ketten nicht«, rief im Kyon hinterher und lachte dabei.

 

Ughtred wankte müde durch die Gassen der für ihn immer noch fremden Stadt. Es war noch früh am Tag, aber er fühlte sich unendlich müde. Die beiden Verrückten schafften ihn. Er versuchte, sich auf seine Vorhaben zu konzentrieren. Ja, er würde sich um Ketten für den Kerkermeister kümmern, aber dies war tatsächlich nicht der Grund, warum er so schnell auf Kyon eingegangen war. Er hatte in den letzten Tagen immer wieder an seiner kleinen Werkstatt gearbeitet und nun war er endlich in der Lage, dort etwas Produktives zu vollbringen. Er wollte Schlösser bauen. Korezuul hatte ein uralte Tradition in Sachen Schmiedekunst und so hatte er ein handtellergroßes Vorhängeschloss entworfen und einen Prototyp gebaut. 

Die Straßen füllten sich gerade, denn die beiden Sonnen waren auf dem Weg sich schlafen zu legen und in Shishney bedeutete dies, die abendlichen Aktivitäten konnten beginnen. Verschlafen und blinzelnd traten Silberwölfe aus ihren Häusern und machten sich auf den Weg. Ughtred wollte gar nicht wissen, was sie vorhatten. Seiner Erfahrung nach konnte es bestenfalls etwas unmoralisches, in schlimmen Fällen jedoch etwas mörderisches sein.

Je mehr der schlanken Elt die Gassen bevölkerten, desto unwohler fühlte sich der Nygh. So beeilte er sich, den Platz vor der Wacht zu erreichen und nach Nordwesten in Richtung Quinkstadt abzubiegen. Die Quink verstand er in vielem auch nicht, aber sie waren ihm dennoch deutlich näher als die Herren Shishneys.

Auf dem Pilzmarkt angekommen – er hatte gelernt, immer hier nach Dingen zu fragen, die er suchte – ließ er sich zu einem Lageristen führen. Diesem zeigte er sein Vorhängeschloss. Der ältere Mann begutachtete die Arbeit und fragte nach ihrer Herkunft. Ughtred beteuerte, das Schloss selbst gebaut zu haben. Woher er käme? Aus Korezuul.

Der Quink sah ihn ungläubig an und verzog das Gesicht, als er sagte: »Unmöglich. Niemand reist nach Korezuul.«

Ughtred sagte einfach nur: »Doch, ich. Ich bin ein Nygh aus Korezuul.«

»Dann seid ihr mittels eines Vortex hierher gekommen«, wusste der Lagermeister, aber Ughtred fehlte die Kraft, sich weiter mit diesen Dingen auseinanderzusetzen. Er fragte, ob Interesse an seiner Arbeit bestehe und der Quink sah sich das Schloss genauer an.

»Eine schöne Arbeit. Schlicht, stabil und handwerklich profund. Stammt sicher aus Moraid. Ein moraidisches Piratenschloss.«

Ughtred rieb sich die Stirn und sagte: »Ich sage dir, ich habe es gemacht. Hier.«

»Aber das ist doch ganz und gar uninteressant. Will keiner haben. Es kommt aus Moraid und so bieten wir es an. Ich nehme alle die du mir liefern kannst.«

Ughtred überlegte noch einen Moment, beließ es dann aber dabei. Egal, baute er eben moraidische Piratenschlösser. Erst ein Dieb, nun ein Fälscher, das passte ja wunderbar zusammen.

Er handelte Halbzeuge und andere Dinge aus, die er für die Werkstatt brauchte und hatte das Gefühl, ordentlich entlohnt zu werden. Zum Abschied streckte er dem Mann seine Hand zur Besiegelung des Geschäfts hin, aber der Quink kannte diese Geste nicht.

Der Nygh wollte gerade gehen, da fiel ihm doch noch etwas ein. Er fragte ohne große Hoffnung: »Sagt, kennt ihr einen Silberwolf, der sich mit der Zauberei und solchen Künsten auskennt?«

»In der ersten Straße der Oberstadt, wenn ihr hier vom Markt aus durch das Tor hinüber geht, hat der Elementarist Akanios ven Tashliakoko sein Refugium. Die Silberwölfe nennen diese Dinge ja nicht Zauberei oder Magie. Für sie sind es feinstoffliche Vorgänge des täglichen Lebens.«

»Mag sein. Danke für die Auskunft«, sagte Uchtred und machte sich auf den Weg. Die Devise lautete Zweitmeinung.

Wieder in der Oberstadt angekommen fragte er einen Arbeiter auf der Straße nach Meister Akanios und dieser zeigte ihm, wo er dessen Haus finden könne und erklärte, dass man den Elementaristen bloß nicht Meister nennen sollte, denn dies erinnere ihn nur daran, dass er diesen Titel nicht trug.

Ughtred zuckte mit den Schultern und ging in die angegebene Richtung.

Das Haus war grotesk, wie so vieles in der Welt der Silberwölfe. Links und rechts davon erhoben sich trutzige Mauern von feudalen Anwesen und schienen sich im Laufe der Zeit ausgedehnt zu haben, denn das Haus des Elementaristen maß nur noch zwei oder drei Schritte. Die Tür war so schmal, dass sogar Ughtred sich hindurchzwängen müsste. Das ganze Gebäude sah eingeklemmt und unglücklich zusammengedrückt aus. Er schüttelte den Kopf und klopfte an die unglaublich schmale Tür.

Ein schmaler Spalt in der Höhe von Ughtreds Knien öffnete sich und ein winziges, grünlich glimmendes Männlein lugte heraus.

»Ja?«, machte es und verzog sein Gesicht zu einer Fratze des Hasses.

»Ich würde gerne mit M…, äh nein, ja, mit Herrn Akanios sprechen.«

Das Männlein grinste boshaft und sagte: »Ich melde dich an.«

Damit schob es den Spalt wieder zu und war verschwunden. Ughtred blickte in den Himmel und zählte die Wolken. Dann begann er auf und ab zu gehen. Nach einer Weile setzte er sich auf den Bordstein gegenüber und stopfte sich eine Pfeife. Seine Geduld reichte für fast eine ganze Stunde, und gerade, als er erneut klopfen wollte, ertönte eine Stimme hinter ihm.

»Darf ich fragen, auf was ihr hier auf meinem Gehsteig wartet?«

Die Stimme klang jung und weiblich und gehörte zweifellos einer Silberwölfin. Als Ughtred aufstand und sich umdrehte, weiteten sich seine Augen vor Staunen. Genau der schmalen Tür des Elementaristen gegenüber gab es eine weitere, ebenso schmale Tür. Auch hier schien das Haus von anderen Anwesen eingezwängt worden zu sein. Warum war ihm das nicht eben schon aufgefallen? Er rieb sich die Stirn und besah sich die Bewohnerin des Hauses, die in der Dunkelheit stand und herausblickte.

»Ich bin Ughtred aus Dranought. Das liegt in Korezuul«, stammelte er ein wenig unbeholfen, aber die Kindfrau nickte nur freundlich und winkte ihn durch die Tür. Das Innere des Hauses war tatsächlich so schmal wie erwartet. Der Eingangsbereich hatte eine Breite von weniger als zwei Schritt und war darüber hinaus mit zwei schmalen Tischen und einem Schränkchen verbaut. Ughtred hatte trotz seiner Größe Probleme, der Gastgeberin zu folgen.

Sie führte ihn in ein Zimmer, welches nur unwesentlich breiter als der Flur war und eine Fülle von Möbeln aufwies, die es ganz und gar unübersichtlich machte. Tische, Stühle, Schränke und Regale schienen sich zum Teil bis an die hohe Decke aufzutürmen und nahmen ihm die Luft zum Atmen. Hinzu kam die seltsame Perspektive des Mobiliars. Alles war seltsam schmal und dafür recht hoch. Es gab Tische, die nicht breiter als Ughtreds Hand waren und auch die Stühle schienen gerade einmal zum Anlehnen zu reichen; für ein bequemes Sitzen waren ihre Sitzflächen einfach viel zu klein.

»Ich bin Nuorny Silyvee yr Northra«, sagte die winzige Silberwölfin, und ehe ihr Gast etwas erwidern konnte fügte sie hinzu: »Wie mein Nachbar gegenüber, widme ich mich der Alchemie und den okkulten Künsten. Wenn ihr zu ihm wolltet, seid ihr bei mir an der richtigen Adresse gelandet.«

Ughtred wunderte sich über das Ihr. Welche Silberwölfin hatte ihn je beim ersten Treffen so angesprochen? Er überlegte. War sie am Ende gar keine Kisadmurin? Aber nein, sie war genau so eine Silberwölfin wie Tal, sie war einfach nur kleiner. Jünger schien sie nicht zu sein, denn ihr Blick hatte etwas mehr als Erwachsenes.

Schnell nickte er und sagte: »Tatsächlich brauche ich eine Expertise in diesen Dingen.«

Er erzählte ihr von seiner Axt, beschrieb die Sache mit dem Shimwas und fragte schließlich, wie sie es sähe, den Geist eines Silberwolfes in einem Ding zu bannen und seine Kräfte darauf wirken zu lassen.

Seltsamerweise wollte die Alchemistin nichts über den Ursprung des Geistes im besagten Shimwas wissen. Sie überlegte einen Moment, nahm ein Glas von einem der Tische in die Hand und sagte dann mit einem rätselhaften Lächeln auf den Lippen: »Es gibt tausende und abertausende von Gegenständen, die mit einem Shimwas belegt wurden. Ich für meinen Teil, habe tatsächlich noch nie gehört, dass sich solch ein Artefakt negativ auf seinen Besitzer ausgewirkt hätte.« Sie machte eine Pause und fügte dann mit einem kleinen Lachen hinzu: »Das ist ja gerade das lustige bei einem Shimwas. Im Gegensatz zu anderen Geistspreichern, lässt er der in ihm gefangenen Entität keinerlei Handlungsspielraum. Geist und Seele erfahren eine Trennung und können so nicht mehr eigenständig interagieren. Es ist wie eine Stase. Manche Okkultisten behaupten, Wesen in einem Shimwas würden träumen, andere sagen, sie schliefen raumlos und ohne Empfinden und wieder andere vertreten die Meinung, sie gingen ganz darin auf und nichts von ihnen bliebe übrig. Auf jeden Fall, habe ich noch nie von einer Entität gehört, die aus einem Shimwas entkommen wäre. Einmal Shimwas, immer Shimwas, wie der Okkultist sagt.«

Sie lachte erneut, stellte ihr Glas ab und beugte sich näher zu Ughtred hin, um seine Stirn genauer zu begutachten. Sie murmelte etwas und wollte schon die Hand ausstrecken, um den Nygh zu berühren, aber dann entschied sie sich anders und sagte: »So, war es das oder kann ich euch noch anderweitig behilflich sein?«

Ughtred blinzelte und legte den Kopf schief. Er konnte die Silberwölfe einfach nicht einschätzen. War da etwas Anzügliches im Blick der Kindfrau?

»Was schulde ich euch?«, stotterte er und rieb sich die Stirn.

»Ich habe euch einen Gefallen getan, ihr werdet mir einen tun. So ist das in okkulten Kreisen.«

Okkulte Kreise, dachte Ughtred. Er war hierher gekommen, um sich beruhigen zu lassen, aber jedes Mal, wenn er versuchte, die Welt der Silberwölfe zu begreifen und sich mehr in sie zu integrieren, hatte er das Gefühl, sich mehr und mehr in ihr zu verheddern. Er war wie eine Fliege am Rande eines gewaltigen Spinnennetzes. Früher oder später würde er ganz eingesponnen sein und dann würden sie kommen und ihn aussaugen.

»Gut«, sagte er tonlos und wandte sich der schmalen Tür zu. Er wollte nicht unhöflich sein, wusste aber auch nicht, was er sonst noch hätte sagen sollen. Doch die Alchemistin kam ihm zuvor und drückte sich an ihm vorbei, um ihn herauszulassen. Er bedankte sich höflich und betrat die Straße. Als er sich noch einmal umwandte, war die Tür hinter ihm schon wieder geschlossen und er musste sich darauf konzentrieren, das schmale Haus überhaupt zu erkennen. Wie machten sie das nur?

 

»Das wird ihn sehr verärgern, wenn wir es machen, ohne ihn noch einmal zu fragen«, sagte Tal zu Kyon und hob dabei ihre schmalen Schultern.

Der Barde schüttelte den Kopf und drehte die Axt in seiner Hand. Der Shimwas leuchtete gelb, als wisse er, dass von ihm gesprochen wurde. Kyon hatte die Axt aus Ughtreds Verschlag geholt, als der Nygh sein Anwesen verlassen hatte.

Jetzt stand er vor Tal, die am Küchentisch hockte und trotz der Gegenargumente der Hexe wussten beide, dass die Entscheidung längst getroffen war.

Kyon legte die Axt auf den Tisch und sagte verdrossen, aber ohne es ernst zu meinen: »Dann eben nicht, lassen wir den Scheißkerl einfach wieder frei.«

Tal strich mit einem Finger über die scharfe Klinge der Waffe und schüttelte den Kopf.

»Sicher nicht. Machen wir`s einfach.«

Sie stand auf und rückte ihren Lendenschurz zurecht. Kyon hob die Axt auf und wandte sich der Eingangshalle zu, wo sich die beiden Kellertreppen befanden.

Gemeinsam schritten sie hinunter und keiner von ihnen verschwendete auch nur noch einen einzigen Gedanken an die Moral ihres Vorhabens. Ihre Herzen waren kalt. Sie waren Smavari.

Im Keller beugte sich Tal über den Kerkermeister. Alag stand immer noch unter dem Einfluss ihrer Stasetropfen und seine Lippen hatten sich tief schwarz gefärbt. Kyon machte sich daran, den Mann auszuziehen und Tal entledigte sich ihrer eigenen Kleidung. Sie wollte sich nicht mit dem Blut des Monsters besudeln und viele Rituale der Doppelmondhexen sahen Nacktheit vor.

Als sie sich bückte, um ihre winzige Doppelklinge aus einer Tasche an ihrem Gürtel zu befreien, begann sie ein leises Lied zu summen, dass ihre Mutter ihr und Northrian vor hunderten von Jahreszeiten vorgesungen hatte. Sie streckte sich, strich sich mit einer der Spitzen der Ritualklingen über die Brüste und den Bauch und begann leise Flüche zu murmeln. Der Vorgang, einen übergehenden Geist in einen Shimwas zu bannen, war nicht schwer. Jede Hexe konnte es. Wahrscheinlich hätte sie es binnen weniger Minuten auch Kyon beibringen können, aber natürlich wahrten die Hexen ihre Geheimnisse.

Dann blickte sie in der Dunkelheit des Kellers den still am Boden liegenden Kerkermeister an und fand es irgendwie schade, dass der Mörder ihres Bruders sich in Stase befand und ihre Klinge nicht spüren würde. Doch dann machte sie eine schnelle Handbewegung und schnitt Alag die faltige Kehle durch. Es ging so schnell, dass Kyon es gar nicht richtig mitbekommen hatte und sie war sich selbst nicht sicher, ob sie es wirklich getan hatte. Doch dann bildeten sich zwei breite Rinnsale dunklen Blutes und liefen links und rechts der Wunde zum Kellerboden hinab. Die mittels Stase ohnehin extrem verlangsamte Atmung erlag sofort und keine Sekunde später griff Tal in das feinstoffliche Gewebe, fand die neuronalen Kontakte des Shimwas und betätigte ihn. Sofort entstand ein Sog in der Zwischenwelt und als sich der Geist des Sterbenden aus dessen Hülle löste, wurde er ohne Gnade in den Shimwas gezogen.

Noch ein letztes Mal rührte sich der Kerkermeister trotz Stase, dann verschied er und überließ seinen Geist und seine Seele den Mächten des smavarischen Artefaktes. Kyon griff nach der Axt und bekam einen elektrischen Schlag. Er zuckte heftig zusammen und ließ die Waffe wieder zu Boden gleiten. 

Die nackte Hexe lächelte und sagte liebevoll: »Das ist der Shimwas. Er braucht einen Moment, bis er die Energien korrekt gebündelt hat. Dann ist es nur noch ein leichtes Kribbeln und mit der Zeit bemerkt man es überhaupt nicht mehr.«

Der Barde nickte und berührte den Griff der Axt erneut. Als er diesmal keinen Schlag bekam, hob er sie auf und wog sie in der Hand.

»Kann noch nichts spüren, ihr habt wohl recht«, stellte er fest.

Tal stand auf und rieb sich das Blut vom Handgelenk. Dann streckte sie den Rücken durch und brachte ihre, wenn auch derzeit kleinen, aber dennoch weit nach oben stehenden Brüste zur Geltung. 

»Ich bin müde«, schnurrte sie und ließ dabei ihre Nackenwirbel knacken.

Kyon wandte sich ihr zu und fragte: »Tatsächlich?«

»Kommt drauf an.«

 

Später am Abend, Tal und Kyon waren gerade verschlafen und zerzaust aus dem oberen Stockwerk des Hauses herunter gekommen und Ughtred hatte in der Küche frischen Tee aufgesetzt, setzten sie sich alle drei an den länglichen Küchentisch und warteten, bis die Quink ihnen ein Abendessen servierten. Der Nygh wollte wie immer helfen, aber Kyon hielt ihn zurück und sagte: »Die waren teuer. Sollen was für ihren Unterhalt tun.«

Dennoch ließ es sich Ughtred nicht nehmen, dem alten Hausmeister die schwere Suppenschüssel abzunehmen, als dieser sich keuchend dem Tisch näherte.

Er stellte das Behältnis in die Mitte des Tisches und sagte: »Ich muss mich bei euch bedanken.«

Tal und Kyon sahen ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Belustigung an. 

»Na ja, die Sache mit dem Geisterdings in meiner Axt. Ich habe darüber nachgedacht und denke, dass es wahrscheinlich doch nicht schaden kann. Es ist also eher freundlich von euch, mich mit einer derart mächtigen Sache zu beschenken.«

Kyon lächelte böse und stand auf, um zu der Anrichte zu gehen. Dort hatte er die besagte Axt abgelegt. Jetzt nahm er sie auf und brachte sie zum Tisch.

Ughtred sah ihn an und hob die Augenbrauen.

»Ist erledigt«, sagte der Silberwolf und zeigte seine Zähne.

Ughtred ließ die Schultern sinken. »Echt jetzt?«, sagte er verdrossen.

Tal nickte und fragte in den Raum: »Und, ist schon was zu spüren?«

Kyon sah sie an und sagte triumphierend: »Habt ihr vorhin nicht schon genug gespürt Hexe?«

Tal streckte ihm die Zunge heraus und zeigte ihm den Mittelfinger ihrer linken Hand, eine Geste, die unter den Smavari als anrüchig genug empfunden wurde.

Ughtred berührte vorsichtig den Griff der Axt und sagte: ›Ist er da jetzt drinnen? Also ist er tot und da drin?«

Kyons Antwort kam prompt und ungerührt: »Sie hat ihn tranchiert wie eine Säbelgans und ausbluten lassen. Denke schon, dass er hinüber ist.«

Tal fügte hinzu: »Guckt nicht so betroffen. Er war in Stase und hat leider nicht einmal etwas davon mitbekommen. Wir können nur hoffen, die Okkultisten irren sich alle und er leidet in dem Shimwas.«

Kyons und Tals Blicke trafen sich und es war ihnen beiden anzusehen, dass sie an North dachten. Sofort bereute Tal ihre Worte und wandte sich dem Fenster zu, als sie sagte: »Zumindest werden Teile seiner Kräfte auf die Waffe übergehen. Kann sein, dass der Stein noch eine Weile braucht, um sich ganz und gar aufzuladen, aber ihr solltet jetzt schon eine Wirkung verspüren.«

Ughtred hob seine Waffe an und verspürte tatsächlich ein seltsames Kribbeln in der Handwurzel. Er griff fester zu und ließ die Kraft der Anderwelt auf sich wirken. Tatsächlich, da war ein Ziehen und Wirken in seinem Arm, welches sich Stück für Stück auf seinen ganzen Körper ausbreitete.

Kyon nickte und sagte: »Jetzt ist der blöde Wichser wenigstens mal wirklich für etwas gut.«

Der Nygh schüttelte den Kopf, zuckte mit den Achseln und sagte dann: »Also noch einmal. Ich bedanke mich für eure Umsicht, Frau Hexe, Herr Barde.« Und mit diesen Worten nahm er sich einen Kanten Brot, klemmte die Axt unter seinen Arm und verließ die Küche.

»Seltsamer Kauz«, murmelte Kyon und steckte dabei Tal ein Stück des hellen Quinkbrotes in den Mund. »Ich werde die Stumpen niemals verstehen.«

Tal kaute und sagte mit vollem Mund: »Vom Vögeln versteht ihr etwas. Vielleicht liegt es daran. Sicher habt ihr euer Gehirn weich gevögelt und seid darum so begriffsstutzig.«

Kyon verzog das Gesicht zu einer Grimasse und nahm einen großen Schluck der Suppe. »Zu viel Salz«, sagte er und spuckte den Rest auf den Fußboden. »Ich sollte Flark auspeitschen lassen, aber der Krüppel-Quink wird es kaum bewerkstelligt bekommen, und man kann wohl kaum von mir verlangen, dass ich es selbst erledige.«

Kopfschüttelnd sagte Tal: »Da war überhaupt kein Salz an der Suppe.«

»Aber es steht welches in der Nähe im Regal.«

»Oh ja, dafür sollte man die Quink tatsächlich alle auspeitschen, Herr Barde.«

»Ich peitsche gleich euch aus, Frau Hexe.«

»Oh jaaaaaaa.«

 

Sie hatte Mühe, sich zu orientieren. In den Wäldern waren ihre Sinne scharf und alles stellte sich klar und deutlich dar. Hier, an diesem Ort der eintausend Wohnhöhlen, hatte sie Probleme, zu erkennen, wo ein Revier endete und das nächste begann. 

Langsam glitt sie durch die Gassen. Sie schwebte über Bächen aus Urin und Kot und hatte Mühe, die eindringlichen Gerüche zu sortieren. Überall um sie herum regierte die Niedertracht. Sie hasste ihre alte Tante. Noch schlimmer als Mutter Gier, war die Niedertracht von den schlechtesten Gerüchen aus den tiefsten Höllen der Anderwelt erfüllt. Kaum ein anderer Dämon war in seiner Art grausamer und gnadenloser als sie.

Gerade kam sie an einer Wohnhöhle vorüber, in der ein Mann einem Kind die Haut vom Rücken schälte. Sie knurrte leise und ihre eigene Gier begann sich zu regen. Dort schlug ein anderer Mann mit einer Rute auf eine Anzahl kleinerer Wesen ein und lachte, als das erste Blut zu fließen begann. Noch eine Höhle weiter aß eine Frau etwas, dass einmal gedacht, geliebt und gesprochen hatte. Sie selbst legte wenig Wert auf das Sprechen, aber sie liebte das Leben.

Sie hätte sich beinahe für den Mann mit der Rute entschieden, da bemerkten ihre scharfen Sinne etwas weiter entfernt eine ganz andere Qualität der Niedertracht. Da waren zwei, die gaben sich unterwürfig und zeigten sich ihrem Umfeld leidend, doch insgeheim, war es ihre Art, andere zu quälen. Sie taten es ohne Grund. Sie waren rein. Sicher, hatte man sie zu dem gemacht, was sie heute waren, doch sie hatten sich nicht dagegen gewehrt. Ihre Geister waren wach und ohne Gnade die unumwundenen Anhänger von Tante Niedertracht.

Sie knurrte amüsiert und hob vom Boden ab. Langsam schwebte sie an einer der Hauswände entlang und näherte sich den Dachgiebeln. Dann glitt sie mit den Krallen über den Ton der Ziegel kratzend über das Dach. Auf der anderen Seite machte sie einen Hüpfer auf eine hohe Mauer und von dort glitt sie wie eine dornige, grüne Flüssigkeit in den Hof hinab. 

Die beiden Niederträchtigen hörten sie nicht kommen, aber sie erwachten aus ihren Alpträumen, als sie begann, ihr Fleisch zu fressen. Sie biss dem Männlichen mit einem Happs ein Bein ab und schnappte dann nach dem Brustkorb des Weiblichen. Dabei erfasste sie eine schlaffe Brust und riss sie in der Bewegung ab. Gurgelnde Schreie mischten sich mit ihrem eigenen Wüten und der Mann versuchte gar, mit einem Messer nach ihr zu stechen. Sie verbrannte ihm kurzerhand das Gesicht, aber nicht zu viel, gerade genug, dass seine Augen kochten und er noch schreien konnte. Doch dann geriet sie in Raserei und schnappte wie die Bestie die sie nun einmal war einmal hierhin und einmal dorthin und Finger, Hände, Arme und schließlich sogar ein Kopf, flogen lustig durch die Luft und platschten, der Schwerkraft der Tiba Fe gehorchend auf den blutigen Boden.

Als es vorüber war streckte sie sich und gab ein wohliges Schnurren von sich. Sie spie noch einmal grünes Feuer in den Nachthimmel hinauf, aber im selben Moment musste sie würgen und kotzte einen Arm aus ihrem Inneren hervor. Sie krümmte sich, denn an dem Arm hing eine Schulter und an dieser wiederum ein ganzer Mann und man kann sich sicher vorstellen, wie unangenehm es ist, sein muss, einen ganzen Mann aus sich heraus zu würgen!

 

Als Kyon schwer atmend die Augen öffnete, wunderte er sich als Erstes über den unglaublichen Gestank um sich herum. Er würgte, konnte aber nicht verhindern, dass ihm mit Galle vermengte Suppe aus den Mundwinkeln quoll.

Was war das nun wieder für eine Teufelei? Aber er wusste genau, was hier vorgefallen war. Er konnte sich wie immer an nichts erinnern und er traute weder der Hexe, noch dem Stumpen aus Korezuul, aber in dieser Sache gab es wohl längst keine Zweifel mehr. Er war ein Lykanthrop.

Irgendwo seitlich von ihm waren Stimmen zu hören. Wo war er nur? Mit verklebten Augen versuchte er seine Umgebung zu verstehen. Da war ein schwerer, aber niedriger Tisch. Eine Art Küche, oder ein Arbeitszimmer wie bei einem Lederarbeiter. Quink, dachte er. Es roch nach Scheiße und Blut. Verdammt sei mein Karma, was habe ich nur getan, um derart genervt zu werden? Er dachte an den toten Kerkermeister in seinem eigenen Keller. Das konnte es ja wohl kaum sein, oder? Oder Herr oder Frau Karma? Das hier wegen einem scheiß Monsterkerkermeister?!

Vorsichtig stand er auf und glitschte in etwas Nassem aus. Es war eine abgetrennte Hand, die in Blut und Kot unter ihm gelegen hatte. Er schüttelte das Ding von sich weg und versuchte mehr zu erkennen. Zwei, es waren wenigstens zwei tote Quink. Eine ältere Frau, deren Brustkorb weggerissen war und ein Mann, dem der Kopf fehlte. Wo war der Kopf?

Er schüttelte den eigenen Kopf. Irgendwo über ihm erschollen Stimmen. Links in seinem Blickfeld war plötzlich ein Flackern zu erkennen. Da war ein Fenster. Er musste hier raus.

Dann stellte er fest, dass er nackt war. Na das hatte noch gefehlt. Er war nackt und über und über mit Blut besudelt. Er wischte einen abgetrennten Finger aus seinen langen Haaren und wäre beinahe erneut in den Gedärmen der Toten ausgeglitten. 

Rutschend und stolpernd suchte er nach einer Treppe und fand einen Aufstieg und eine Tür. Raus oder tiefer rein? Er überlegte, wo die Tür hinführen würde. Wenn er hier im Anwesen – wessen Haus es auch immer sein mochte – in den Hof hinauf ginge, würde man ihn zweifellos stellen. Viele Häuser, wie auch das seine, hatten Verbindungstunnel zu anderen Anwesen. Er ging zur Tür und hatte Glück. Sie ließ sich widerstandslos öffnen und offenbarte ihm einen zweiten, noch dunkleren Kellerraum und eine weitere Tür an dessen Ende. Schnell schlüpfte er in die dunkle Kälte und schloss die Tür hinter sich. Er zitterte und ging sehr vorsichtig, da er Bedenken hatte, in einen Nagel oder etwas Schlimmeres zu treten. Nach dem Raum gab es noch einen Keller und dahinter einen sehr langen Gang, der ihn wie erhofft unter den Straßen Shishneys zu einem anderen Anwesen führte. Er versuchte zu erkennen, wessen Haus er hier von unten betrat, aber Keller sahen für ihn alle gleich aus. Als er das Ende des Fluchttunnels erreichte, hatte er erneut Glück, denn auch die hiesige Tür war unverschlossen. Schnell machte er sich eine geistige Notiz, seine eigenen Kellertüren aufschließen zu lassen, falls einer seiner Nachbarn einmal in einer ähnlichen Situation sein sollte. Er hatte sein Karma ja offenbar schon genug belastet und musste unbedingt für ein wenig Ausgleich sorgen.

Vom Keller des zweiten Hauses betrat er einen Innenhof. Den hier ruhende Midyar bemerkte er leider zu spät. Er wollte gerade das Tor zur Straße öffnen, da hörte er hinter sich ein Brummen. Gleichzeitig erscholl einige Straßen weiter lautes Geschrei und das Getrappel vieler Füße. Mistgabeln und Fackeln – sie suchten nach der Bestie. Sie waren aufgebracht. 

Er musste an die Räuber von Diry denken. Was hatte sie so weit gebracht, sich endgültig gegen ihre Herren zu wenden und sogar zu den Waffen zu greifen?

Kyon wandte sich dem Reptilkrieger zu und machte eine beschwichtigende Handbewegung. Der Midyar stand auf, ließ aber seine zackige Keule am Boden liegen. Er nahm auch keine bedrohliche Haltung ein und Kyon war trotz der prekären Situation fasziniert, dass ein derart grobes Wesen offenbar doch in der Lage war, seine Gefühle zum Besten zu geben. Er musste unbedingt ein Lied über die Schuppenköpfe schreiben. Titel wie ›Stachelherzen‹ und ›Gefühlvolle Wilde‹ gingen ihm durch den Kopf. 

»Es ist alles gut, mein Großer«, sagte er in der Dunkelheit des Hofes, in der er nur die bernsteinfarbenen Augen des Midyar erkennen konnte. 

Das Wesen hob nun doch die Keule vom Boden auf und Kyon schwante, dass eventuell nicht alles gut sein könnte. Ohne ein weiteres Wort schob er den schweren Verschlussbalken zur Seite und ließ ihn donnernd auf den Steinboden fallen. 

Seine Flucht brachte ihn vom westlichen Teil der Turmstadt durch die Übergangswege zur Oberstadt. Er hörte zwar immer wieder die Rufe des Mobs, begegnete aber niemandem, der ihn aufzuhalten versuchte. Die Smavari mieden offenbar die Straßen in dieser Nacht. Sie hatten ein Gespür, wie weit sie gehen konnten. Diese Nacht war eine Blutnacht und diese feierte man besser hinter verschlossenen Toren. Selbst die Wachten schienen kein Interesse an der Sache zu haben, aber Kyon war dies ganz recht so. Er hatte kein Interesse daran, erklären zu müssen, warum er splitterfasernackt und mit dem Kot und Blut von Quink besudelt durch die Straßen Shishneys wanderte.

Außer Atem erreichte er schließlich sein Haus. In der Küche brannte Licht, aber auch hier hatte er kein Interesse an einem Gespräch. Also schlüpfte er in den Hof, schlich an Ughtreds neuer Schmiede vorbei und öffnete die Außenluke zum Keller. In der Waschküche säuberte er sich und als er das Gefühl hatte, halbwegs rein zu sein, fing er genervt von vorn an. Erst als er sicher war, nicht mehr nach den Toten zu riechen, warf er sich ein Hemd über, das hier klamm auf einer Leine hing.

Er wollte schon nach oben gehen, aber dann verharrte er in der kalten Luft des Kellers. Langsam wandte er sich einer der Türen zu. Er öffnete sie, lauschte einen Moment und ging in den nächsten Raum. Von hier aus nahm er eine schmale Treppe und kam schließlich in einen der beiden Hauptkeller. Auf dem Boden lag der Tote. Die Stase schien noch zu wirken, denn seine Haut war immer noch wächsern und seine Lippen schwarz. Oder waren dies einfach nur die natürlichen Merkmale des Todes?

Kyon bückte sich, nahm Alags Füße und begann den Leichnam hinter sich her zu ziehen. Von hier aus war es recht weit, aber er musste diese Situation hinter sich bringen. Die Treppen in die Tiefe zur Schmiede hinunter waren am schwierigsten, aber obwohl der Kerkermeister dutzende Male schwer mit dem Kopf auf die Stufen schlug beschwerte er sich nicht. 

Kyon löste die Ketten und gab den Code in das Sicherheitsschloss der Tresortür der Schmiede ein. Als er die Tür langsam auf zog, blieb im Inneren alles still. Ohne weiteres Zögern schob er den Toten hinein und machte sich daran, die Tür sorgfältig zu verschließen. Sollte der grimme Zangenbrand mit Alags Leib tun, was Maskenmännlein eben mit Toten machten. Ihm war es egal. Er lebte.

 

»Nicht die Scherbe«, rief sein Vater und versuchte seiner Frau den geliebten Gegenstand zu entringen. Sie keifte und fauchte wie eine Giebelkatze.

»Was denkt ihr euch überhaupt? Bin ich eine Quink, dass ich in diesem Loch leben muss? Wir haben gerade nicht genug Ressourcen, um uns über Wasser zu halten. Wann haben wir die letzte Soiree ausgerichtet?«

Kyons Darm entleerte sich und er gluckste fröhlich, als sich um ihn herum ein stinkender See auszubreiten begann. Mit seinen Patschehändchen den braunen Brei verteilend versuchte er auf sich aufmerksam zu machen, aber Mutter und Vater waren zu sehr mit diesem Ding beschäftigt. Blödes Ding.

Sie hatte es gepackt, doch er ließ es nicht los. Hin und her tanzten sie durch den Raum und versuchten dabei, den Nachbarn ihre Standpunkte klarzumachen. Die Alte Quink, eine der letzten Sklavinnen, die dem Haus geblieben waren, kam herbeigeschlurft und begann den Boden und dann Kyons Hintern zu säubern.

»Es ist von weltbewegender Wichtigkeit, Weib!«, rief Lonkaiyth.

»Prunk ist von weltbewegender Wichtigkeit!«, konterte seine Frau. Sie zerrte an dem Ding und schubste den Gatten dabei quer durch den Raum, sodass dieser durch die Scheiße seines Sohnes schlitterte und ausglitt. Als Kyon den riesigen Schatten von seines Vaters Hintern auf sich zukommen sah …

… schreckte er aus dem Schlaf. Er schüttelte sich und versuchte in der Realität anzukommen. Was war das für ein Ding gewesen? Welche Rolle spielte es? Er hatte selten Kindheitsträume, daher musste es eine Rolle spielen. Wollten seine Träume und Visionen ihm etwas bestimmtes sagen und er verstand es nur nicht? Was bei allen Nugai hatte der Mann in dem fahrenden Haus von ihm gewollt? ›Nie wieder Prag‹, oder ›niemals Prag‹, hatte er gesagt. 

Müde und von all diesen Dingen überanstrengt, richtete er sich im Bett auf und schob Tals Beinen von sich herunter. Sie hatte aus ihrem Leib einen Knoten gebildet, der sein rechtes Bein zu einem Teil von  ihr gemacht zu haben schien.

Er grunzte und schob sie vom Bett. Danach stand er auf und konzentrierte sich auf sein Gemächt. Er hatte es ordentlich wachsen lassen, aber jetzt nervte es ihn und er musste dringend pinkeln. Also stellte er sich in eine Zimmerecke und zielte in die hier stehende Blumenvase. Zuerst prallte alles an den vor langer Zeit getrockneten Blumen ab, aber als er sie mit seinem Strahl vernichtet hatte, landete der Rest in der Vase. Er war ein Drache, der mit seinem Odem Vernichtung über die Welt brachte.

Was war das für ein Ding? ging es ihm wieder durch den Kopf. Mutter würde es wissen. Sie hasste es, wenn er stank, vor allem wenn er nach Weibern stank, also musste er sich waschen. Immer musste alles so kompliziert sein. Er hatte einmal gehört, dass seine smavarischen Vorfahren so lange Zungen gehabt hatten, dass sie sich ganz und gar damit reinigen konnten. Degenerierte alles mit zunehmender Realität?

»Was war das für ein Ding, um das ihr euch mit Vater gestritten habt?«

Seine Mutter kämmte sich die Haare mit einem feinen silbernen Kamm. Ein dünnes Holzplättchen trennten ihre Finger von dem unguten Metall, aber er wunderte sich trotzdem, warum sie keinen Kamm aus Bernstein oder Holz verwendete. Sie hatte einmal gesagt, die Macht des Silber würde ihr Haar beleben. Er wusste, wie belebend Silberpfeile auf smavarische Haut wirkten und zog Holzkämme vor.

»Wir haben uns um alles gestritten, mein Sohn. So ist das in der Ehe«, sagte sie seltsam klar und beschäftigte sich weiter mit dem Teufelskamm.

»Ich meine die Scherbe, so ein gelbliches Ding. Es sah aus, als sei es aus Glas, aber dann auch wieder nicht, denn es schien hart wie Metall zu sein.«

Da hob sie den Kopf und blickte an ihm vorbei, zu ihrem großen Ehebett hinüber. Einen Augenblick dachte er, sie wäre wieder in ihrer Traumwelt versunken, doch als sein Blick dem ihren folgte, sah er das Holzbrett über dem Kopfteil des Bettes. An dem Brett gab es zwei kurze Arme. Das Holz war alt und ausgeblichen und nur da, wo die beiden Ärmchen hervor standen, gab es eine dunkle, gebogene Stelle. Da musste es gehangen haben.

Er stand auf, kroch über das Bett und berührte das Holz als er flüsterte: »Und was war es?«

»Ressourcen, mein Sohn.«

Er wandte sich zu ihr um.

»Und wo ist es jetzt?«

»Er hat es mit sich genommen und es war nicht bei den Sachen, die sie mir von ihm zurückgegeben haben.«

»Verdammt«, flüsterte Kyon, ging zu seiner Mutter zurück und küsste sie auf die glatte Stirn.

Er musterte ihr Gesicht. Es hatte sich verändert. Sie wirkte etwas jünger.

 

»Wir müssen die Sache endlich vorantreiben«, schimpfte Tal und stopfte sich ein Stück des grünlichen Teebrotes in den Mund. »Dss kon nmuglech ss waida gehn«, sagte sie mit vollem Mund und spuckte Krümelchen über den Tisch.

Ughtred starrte in seinen Krug und schnippte einen Brotkrumen von seiner Hand.

Kyon sagte: »Der Schmied wird`s schon machen.«

Tal würgte den Brei in ihrem Mund herunter und keifte: »Er soll es schneller machen! Geht zu ihm und macht Druck!«

»Der Nygh solls machen. Ughtred, geh zum Schmied und mache Druck.«

Der Angesprochene nahm einen Schluck aus seinem Humpen und strich sich mit der anderen Hand über die Stirn. Es nervte ihn natürlich, wenn sie ihn wie einen Boten behandelten, aber die Hexe hatte natürlich recht. Niemand konnte sagen, wie lange der Schmied brauchen würde dieses elende Zahnrad zu reparieren und er wollte nach Hause. Kein Zahnrad, kein Korezuul. Also stand er auf und ließ die Schultern knacken. Als er bedrohlich seine Axt anhob, die sofort noch bedrohlicher zu vibrieren begann, verstummten die beiden anderen, ließen die Ohren hängen und sahen ihn mit großen Augen an, als hätte ein Erwachsener Kinder bei einer Untat ertappt, die er ihnen schon hundert Mal verboten hatte. 

Ughtred verzog sein Gesicht und sagte: »Buyrns«, das Wort für Kinder in seiner eigenen Sprache.

 

Als er über die Brücke nach Quinkstadt ging, hockten da wie immer Frauen und Männer und angelten. Er grüßte höflich, erhielt aber nur mäßige Reaktionen. Am Ende der Brücke krümmte sich ein Quink zusammen und Ughtred dachte schon, dem Mann ginge es schlecht, doch als er ihn ansprach, ob er Hilfe benötige, erkannte der Nygh, dass er den Mann nur dabei störte seine Notdurft zu verrichten. 

»Klappt noch«, sagte der Quink und hob eine Hand, als wolle er sagen: »Guck, sogar mit nur einer Hand.«

Ughtred ging schnell vorüber. In Dranought schiss verdammt noch eins keiner auf die Straßen. Es gab nicht einmal Bettpfannen. Wozu auch? Jedes Haus hatte einen Abtritt. Er schüttelte den Kopf und ging weiter.

Der ölige Ruß verpestete die Luft um die Schmiede. Myrlan Amyithas Darin stand gebeugt über der Esse und zog gerade ein langes Werkstück aus der Drachenglut. Dann schlug er mit einer Eisenkugel auf das glühende Metall. Sein goldener Arm schien der perfekte Ersatz für einen Schmiedehammer zu sein. Funken flogen und der alte Silberwolf schob die Arbeit zurück in die Glut.

Sein Geselle, der neben ihm stand und einen überdimensionierten Blasebalg bediente wischte sich den Schweiß aus dem rußgeschwärzten Gesicht. Drei Schlagphasen später machte der Schmied ein Zeichen und ließ die Eisenkugel sinken. Er brauchte eine Pause. Ohne den Nygh zu beachten schlurfte er in den überdachten Teil der Schmiede.

Seklaid sah den Besucher an und wartete was dieser zu sagen hatte.

»Zahnrad?«, schnaufte der Nygh und ließ die Schultern hängen. 

Der Quink deutete auf die Esse, in der das Metall wieder eine rote Farbe angenommen hatte. »Das ist ein Auftrag der Scherbenesser«, sagte Seklaid. »Dauert sicher noch bis zum Ende der Jahreszeit oder sogar noch bis weit in den Sommer hinein. Aber dann kommt gleich als nächstes euer Zahnrad. Das dauert ja nur vier, fünf Tage.«

Ughtred starrte den Mann an und musste an sich halten, nicht dieselben Manieren zu verfallen, die hier in Shishney üblich waren. 

»Kann er es nicht vorziehen?«

»Die Chentai sind schwierige Klienten.« Er sprach dieses Wort aus, als wäre es eine Schlange, die ihm in die Zunge gebissen hatte. Dann betätigte er einen Hebel an der Esse und Funken stöbern auf, als er verschwörerisch hinzufügte: »Aber natürlich könnte man das etwas machen. Für nur eine Ressource kann sich das Blatt wenden.«

Ughtred sah den Quink an. Bot er ihm gerade an, das Werkstück zu sabotieren?

»Und die Scherbenesser?«, fragte er mit schief gelegtem Kopf. »Wird dein Meister nichts merken?«

»Ich bin Seklaid der dritte und weiß, wie gefährlich die Silberwölfe sind, aber der Alte hat im Augenblick ohnehin nur noch Augen für die Mutter deines Meisters. Ach entschuldige, er ist ja nicht dein Meister.« Er lachte als er sagte: »Lass das einfach meine Sorge sein.«

Unmutig kramte Ughtred eine Ressource hervor und legte sie auf den steinernen Rand der Esse. Dann wandte er sich ab und ging wortlos. Er war ganz und gar in die Machenschaften dieses Landes eingegangen. Diebstahl, Korruption, Mord … was kommt als nächstes? 

 

In der Küche roch es nach gekochtem Blut und Schokolade. Überall standen Töpfe und Pfannen herum und es herrschte ein heilloses Durcheinander. Unter der Anrichte rumpelte es und Gläser klirrten, als sie über den Steinboden kullerten. 

Plötzlich pfiff ein Topf und Tal stieß sich, als sie sich aufrichtete. 

»Au«, fluchte sie und rieb sich den Schädel. Sie nahm den Topf vom Feuer und goss ein wenig der brodelnden Flüssigkeit in eine flache Holzschale. Das Zeug stank wie die falsche Seite eines Zackenhorns und kühlte schnell ab. Sie stocherte mit einer ihrer Haarnadeln darin herum und hob dann den Deckel eines weiteren Topfes hoch. 

»Was wird das, endlich ein Gift, dass auch bei Nyghs wirkt?«, fragte Kyon, der die Küche betreten hatte. 

»Haltet das Mal«, sagte die Hexe und drückte ihm die Kasserolle, in die sie gerade einige Löffel Marmelade gegeben hatte, in die Hände.

Er steckte einen Finger in die Marmelade und leckte ihn dann genüsslich ab.

Tal rührte das sinkende Zeug mit ihrer Haarnadeln um und gab dabei den Inhalt des anderen Topfes hinzu. Dann sagte sie beschäftigt: »Ich mache Pralinen; genauer gesagt Blutpralinen.«

Kyon verzog das Gesicht. Es war also soweit. Sie hatte endgültig den Verstand verloren und würde sich in Kürze in eine blutdürstige Fledermaus verwandeln. Er hatte ja Erfahrung mit den Bluttrinkerinnen seiner Art. Warum passierte dies eigentlich immer nur Frauen? Gab es überhaupt männliche Vampire?

Er gab ihr den Topf zurück und sah zu, wie sie zuerst das Schokozeug in kleine Förmchen verteilte und dann die Marmelade dazu gab. Als letztes goss sie eine Glasur aus einer Blumenvase darüber. Das Ganze sah äußerst ungleichmäßig aus und die meisten der Förmchen waren übergelaufen. 

»Schon fertig«, sang die Hexe und strich Kyon mit spitzem Finger einen Schokoladenrest auf die Nasenspitze. Sie lachte und leckte ihm dann schnell über die Nase.

Beinahe wäre er nach hinten gestolpert. Als wäre sie tatsächlich eine wirre Fledermaus, wedelte er sie mit den Händen von sich und fragte genervt: »Was soll denn das jetzt? In Shishney gibt es schönere und ganz sicher besser schmeckende Pralinen als das Zeug, dass ihr da zusammengerührt habt.«

Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen und ihre Ohren legten sich gefährlich nach hinten. Dann explodierte sie. 

»Was das soll? Ich handle. Ganz einfach. Das soll das. Ich habe mir überlegt, was euer Vater im Tagebuch meinte, als er von einem Gastgeschenk für diese Spinnenmutter schrieb. Sie ist eine Bluttrinkerin und sie ist eine Frau und darum wird sie ganz sicher Blut und Pralinen mögen. Also habe ich Blutpralinen gemacht. Aus meinem Blut und mir meinen Händen. Was bei allen Nugai habt ihr gemacht? Wenn ihr glaubt, ihr könnt die Schwarze Perle durch das Vögeln von immer mehr und neuen Sexualpartnern erringen, täuscht ihr euch. Das wird nicht klappen. Das Tagebuch ist der Weg. Und es wäre an der Zeit endlich Mal wieder zu handeln.«

Die letzten Worte schrie sie so laut, dass ihr Speichel durch die Luft spritzte und in Kyons Gesicht landete.

 

Der alte Flark klopfte an das Arbeitszimmer des früheren Herrn des Hauses. Er hatte ihn nie kennengelernt. Er war noch gar nicht geboren gewesen, als dieser sich von einem Drachen fressen ließ. Er diente der Ayn und als sich schließlich ihre Sinne verdunkelten, ihrem Welpen. Die Ayn war eine strenge Frau, aber sie hielt sich an die Sitten und konnte mit Ressourcen umgehen. Dieser hier hingegen, ließ das Haus seit langer Zeit verkommen. Er kratzte sich mit einem Fingerdorn an der Schläfe und klopfte mit dem anderen an die Tür. 

»Wer?«, klang es dumpf aus dem Arbeitszimmer.

Flark nannte seinen Namen und trat ein. Er berichtete von dem Besucher, der unten in der Halle auf den Herrn des Hauses wartete. Es sei der Meisterschmied und seine Belange wären dringlich genug.«

Kyon zog sich etwas über und schob den alten Quink zur Seite. 

Zuerst wollte er nach unten gehen, doch dann dachte er daran, der verrückten Hexe begegnen zu können und überlegte es sich anders. Kurzerhand schickte er den Diener nach unten. Er würde den Gast hier im Arbeitszimmer empfangen. Er war ein Sliyn, der Schmied nicht. Sollte der alte zu ihm herauf steigen. 

Kurz darauf klopfte Flark und kündigte Myrlan Amyithas Darin an. Der Schmied trat ein, verbeugte sich militärisch knapp und kam zur Sache. 

»Allem voran möchte ich mich für eure Gastfreundschaft bedanken.« Bei diesen Worten schob er ein Säckchen mit Ressourcen über den Tisch. 

Kyon nickte und bedankte sich ebenfalls.

Dann fuhr der Schmied fort: »Es geht um die Ayn. Eure Mutter.«

Wer sonst? Dachte Kyon und machte mir der Linken eine drehende Handbewegung, die Amyithas zum Fortfahren bewegen sollte. 

»Es ist ihres Zustandes wegen«, begann der alte und erklärte umständlich, dass er nach neuesten medizinischen Erkenntnissen ein Neuronalkorsett geschaffen hätte, weiches seiner Meinung nach, die körperliche Schwäche der Dame des Hauses – er nannte ihren Namen nicht – überwinden könnte.

Kyon hörte sich das in Ruhe an und zuckte dann mit den Schultern. 

»Zur Anprobe und eventuellen Übergabe müsste die Ayn leider nach Quinkstadt gebracht werden. Eine neuronale Verunreinigung auf dem Weg von dort hierher wäre zu riskant. Angebracht besteht natürlich keine Gefahr mehr.«

Kyon verstand kein Wort, aber was spielte das für eine Rolle? Er hatte nicht vor sich gehen den Willen dieses Mannes und schon gar nicht gehen seine Ressourcen zu stellen. Seiner Mutter würde es zweifellos gut tun, das Haus zu verlassen, selbst wenn die Reise nur nach Quinkstadt ginge. Dementsprechend hörte er überhaupt nicht weiter zu und erklärte dem Alten, er könne schon am morgigen Nachmittag, wenn der Tiefstand der Tagesgestirne es zuließe, mit einem Besuch des Hauses Yˋshandragor bei seiner Schmiede rechnen. Amyithas beteuerte seine Freude, erhob sich und ging.

 

Tal erwachte von einem brennenden Schmerz an ihrem Oberschenkel. Sie wühlte die Decken zur Seite und betrachtete im Halbdunkel des Zimmers die Stelle. Was bei den Nugai war das? Vorsichtig befühlte sie ein etwa daumengroßes, schwarzes Konstrukt auf ihrer Haut. Zuerst erkannte sie es nicht, aber dann verstand sie, dass es sich um das Zeichen der Zahl Vier in der Scherbenschrift handelte. Die Haut brannte, weil das Zeichen frisch tätowiert war. Eine Vier oder das Zeichen für Vura, was Fäuste bedeutete. Aber einzelne Zeichen stellten in den meisten Fällen Zahlen dar.

Sie berührte ihre Zunge mit einem Finger und dann mit diesem, von Spucke benetzt, das Tattoo. Sie rubbelte darauf herum, um es wegzuwischen. Ihre Haut färbte sich rötlich und brannte immer mehr. Aber die Glyphe ging nicht weg. Sie war nicht einfach aufgemalt. Sie war in ihrer Haut! Jemand hatte sie im Schlaf tätowiert.

Tal atmete tief ein. Das hatte nicht Kyon gemacht, da war sie sich sicher. Wer im Haus würde so etwas tun? Sie war fassungslos. Erneut begutachtete sie ihren Schenkel und tupfte mehr Spucke auf das Schwarz. Diesmal tat sie es nicht in der Hoffnung, die Glyphe entfernen zu können, sondern um die Schmerzen zu lindern. Dann öffnete sie eine ihrer Taschen, die unordentlich auf dem Boden verstreut lagen und beförderte eine Creme zutage. Sie fluchte leise und dann überlegte sie, warum ausgerechnet die Vier. Diese Zahl stand für die Ordnung und die Achsen der Realität. Realität und Ordnung, wie passend, war sie doch die ordentlichste Smavari, die sie kannte.

Erzürnt schüttelte sie ihr mittlerweile einigermaßen langes Haar und sprang aus dem Bett. Wer hatte das getan? Sie überlegte, kratzte die wunde Stelle und wurde immer wütender. Sie musste an die verrückte Ayn von Baiyl denken, aber selbst Yrdelaiy war nicht zur Ferntätowierung in der Lage. Konnte man mittels Anker aus der Ferne Zeichen in der Haut anderer hinterlassen? Sie schüttelte den Kopf und setzte sich neben das Bett um zu pinkeln. 

Dann stand sie auf, wischte sich mit dem Bettzeug trocken und schnappte sich ihren Lendenschurz und eins der neuen Kleider, die sie von Kyons Ressourcen ertauscht hatte. Gift und Galle, dachte sie, kann doch alles nicht sein.

 

Die Ayn zog es vor, mit einer Kutsche nach Quinkstadt zu fahren, anstelle von einem Phani getragen zu werden; viel zu dekadent, so ein großer schwarzer Mann, der eine Dame auf den Armen trug. So bestellte Kyon einen zweirädrigen Wagen aus schwarzem Porzellan mit einem Droidenantrieb. Der Droide sah aus wie eine dreibeinige Lope ohne Kopf. Sein Körper bestand ebenfalls aus Porzellan und Metall. Die Fahrt ging langsam voran, denn Kyon hatte darum gebeten, allen Schlaglöchern auszuweichen. Er hatte Angst um die fragile Gesundheit seiner Mutter. Doch trotz der langsamen Fahrweise des künstlichen Tieres kamen sie kurze Zeit später in Quinkstadt an und hielten vor der Schmiede. Die Luft roch nach verbrannter Pestgalle und Kyon hoffte inständig, das dieser Ausflug nicht umsonst war. Drückend lagen die Ausdünstungen der Schmiede über dem ganzen Gebiet. Der Schmied selbst und sein Gehilfe standen auf dem Gehweg, der sich rund um das Gebäude zog, und erwarteten die hohen Gäste. Kyon stieg ab und hob seine Mutter aus dem Wagen. Sie trug ein altes schwarzes Spitzenkleid, dessen Ausschnitt eigentlich bis zu ihrem Nabel ging, nun aber mit einem Tuch abgedeckt worden war. Ihr faltiges, von Gram zerrüttetes Gesicht war von einem Schleier bedeckt.

Der Schmied hatte sich ebenfalls in Schale geworfen. Er trug eine grüne Jägerkluft, vielleicht ein Überbleibsel seiner militärischen Ausrüstung, und hohe schwarze Stiefel. Sein Haar glänzte zwar wie immer ungewaschen und fettig, aber er hatte es zu einem straffen Zopf nach hinten gebunden, was ihm immerhin einen verwegenen Auftritt bescherte.

»Willkommen in meinem bescheidenen Haus. Tretet doch bitte ein«, sagte er hohl und öffnete die Tür, indem er den Quink neben sich zur Seite stieß.

Kyon tat wie gebeten und wollte seine Mutter in die Schmiede tragen, aber Nyni`scie wollte auf ihren eigenen Beinen gehen.

Im Haus herrschte zwar immer noch heilloses Durcheinander, aber es war deutlich zu erkennen, dass man zumindest im Eingangsbereich mehrere Tische zur Seite geschoben und andere Dinge übereinander gestapelt hatte, um Platz für die Gäste zu schaffen.

Kyon fühlte sich unwohl. Er hatte nicht verstanden, was diese Vorstellung hier bringen sollte. Dennoch machte er gute Miene zum bösen Spiel und wartete, bis der Alte sich in der Mitte des engen Raumes aufgebaut hatte. Es war dem Mann anzusehen, dass er Lampenfieber hatte. Er schwitzte und zappelte wie ein Welpe, aber schließlich riss er sich zusammen und begann mit seinem Vortrag. Er sprach von Neuronen, neurologischen Erkenntnissen und einem Durchbruch in der medizinischen Altersversorgung. Er beteuerte, genau zu wissen, wie sein Arm funktioniere und sich genauestens in die Prothesenwissenschaften eingelesen zu haben. Dann ließ er einen Kristall ein Schaubild in die Luft werfen, dass niemand verstand.

Kyon nickte die ganze Zeit und wartete mürrisch ab, bis der Alte Luft holte und sagte dann: »Also gut, kommen wir zur Sache!«

Amyithas nickte und sagte: Also gut, hier ist es.«

Der Quink hob eine Art Korsett aus Gold und weißem Alabaster aus einer seltsamen blauen Truhe, die ebenfalls wie Armeebedarf wirkte.

Gold und weiß, nicht gerade sehr sexy, dachte Kyon und zuckte mit den Schultern.

Der Schmied, der seinen Blick gesehen hatte, erklärte, es handle sich um ein medizinisches Hilfsmittel, nicht um ein Kleidungsstück. Es müsse nun angepasst werden, und zu diesem Zwecke müsse er den Raum verlassen.

Kyon verzog das Gesicht und fragte platt: »Warum?«

»Unziemlich, wenn ich dabei wäre und meine Gefühle mich erzittern ließen.«

»Erzittern?« Kyon grinste verschlagen.

Der Schnitt machte eine Bewegung mit seiner gesunden Hand und deutete auf eine Tür, die sich prompt öffnete. Kyon hätte schwören können, dass die Tür eben nicht da gewesen war. Nun trat eine junge und wirklich schöne Smavari in den Raum. Sie trug ein einfaches, hellgraues Kleid, dessen Material so durchsichtig war, dass man die dunklen Vorhöfe ihrer großen Brustwarzen erkennen konnte.

Der Schmied erklärte, sie sei eine Helferin eines der Häuser der Oberstadt und verzichte auf die Nennung ihres Namens. Sie sei bezahlt, bei der Anprobe behilflich zu sein. 

Kyon nickte dem Mädchen zu und wartete ab, was als nächstes geschah. Amyithas drückte sich an seinen Besuchern vorbei und es war ihm anzusehen, dass er es vermied, die Ayn anzusehen. Seinem Gehilfen ein Zeichen gebend, verließ er den Raum und der Quink überreichte das Korsett der jungen Silberwölfin und ging ebenfalls hinaus. 

Sie Helferin betrachtete das Neurokleidungsstück interessiert und sagte freundlich: »Dann helfen wird der Dame sich zu entkleiden. Ich denke es wird genügen ihr Kleid abzustreifen und ihr eigenes Korsett zu lösen.«

Kyon hatte seine Mutter so oft nackt gesehen, dass ihm nichts an dieser Sache hier seltsam oder gar leiblich vorkam. 

»Dann wollen wir mal«, sagte er mit einem Lächeln. 

Würdevoll erwiderte Nyni: »Aber achtet darauf, mir nicht die Frisur zu verderben.«

Gemeinsam zogen sie die Ayn aus und legten ihr das goldene Korsett an den Rücken. Zwei spinnenartige Beine schoben sich oben heraus, legten sich auf die knochigen Schultern und kamen am oberen Brustansatz zur Ruhe. Die Helferin begann das Korsett zu schnüren, was ihr einigermaßen schwer von der Hand ging, denn die Ösen befanden sich auf der Vorderseite, was ihr ungewohnt erschien. Kaum schloss sich das Korsett, ging ein Zittern durch Nyni und ihre Haltung veränderte sich. Binnen weniger Sekunden strafften sich ihre Schultern, sie richtete sich auf und nahm eine durchaus gerade und stolze Haltung ein. Ihre Augen leuchteten als sie laut sagte: »Was starrt ihr mich an, wo bin ich hier und wer ist dieses bezaubernde junge Ding?«

Kyon war erstaunt. Er hatte nie mit einer derart schnellen Veränderung des Zustandes seiner Mutter gerechnet. Er stammelte: »Quinkstadt, Schmiede, ihr wisst schon, Meister Amyithas.«

Doch ehe Nyni reagieren konnte, fing sich Kyon und erläuterte er seiner Mutter, wo sie war und warum sie sich hier befand. 

Sie hörte genau zu und erklärte sich mit der Gesamtsituation zufrieden, allerdings gedenke sie, keine Sekunde länger in Quinkstadt zu verweilen, da die Luft hier unerträglich sei.

Dies wiederum brachte Kyon zum Lachen. Er stimmte zu und wartete, bis die namenlose Helferin der Ayn in ihr Kleid geholfen hatte. Dann öffnete er die Tür und ließ die beiden Frauen zur sinkenden Essen hinaus.

»Die nette junge Dame hat ihr Quartier in der Oberstadt. Ist das nicht ein netter Zufall?«, flötete die erstaunlich muntere Ayn und fügte schnell hinzu: »Natürlich werde ich sie mitnehmen. Unzumutbar für sie diesen stinkenden Ort zu Fuß zu durchqueren.«

Kyon nickte ergeben und hob seine Mutter in den Wagen. Dann setzte sich die Helferin neben die Dame. Als Letztes versuchte sich Kyon auf die Sitzbank zu zwängen, aber seine Mutter machte sich absichtlich breit und sagte: »Dieser Wagen ist ein Zweisitzer. Seid galant und lasst den Damen den Vortritt. Ihr strolcht doch ohnehin ständig in diesen zwielichtigen Gegenden umher.«

»Der Platz wird schon genügen«, sagte Kyon genervt, aber seine Mutter hob den Zeigefinger und deutete damit auf ihn, eine Geste, die sie seit langer Zeit nicht mehr angewandt hatte. Sie bedeutete, dass ihre Ansicht anerkannt werden musste und zwar ohne Widerworte. 

Kyon ließ die Schultern sinken und gab dem Droiden Anweisung zur Oberstadt und dort zum Haus Yˋshandragor zurückzukehren und die Damen dort abzusetzen.

So stand er im Schmutz vor der Schmiede und blickte der Kutsche hinterher. Als er sich umwandte, sah der Schmied seltsam zufrieden aus und der Quink grinste hämisch. Kyon nickte den beiden zu und machte sich auf den Heimweg.

 

»So, jetzt trinken wir Mal gemeinsam einen Becher Gerstensaft, Herr Odugme«, sagte Ughtred zu dem schwarzen Riesen, der auf einem grotesk winzigen Schemel neben der neuen Werkstatt des Nyghs hockte. 

Der Angesprochene schob die von Ughtred modifizierte Maske in der dafür vorgesehenen Schiene nach oben, wo sie an einem Pivotpunkt einrastete. Dann nahm er dem kleinen Mann den dargereichten Becher aus der Hand und nippte vorsichtig. Nur ein Wenig der goldbraunen Flüssigkeit rann an dem Versatzstück in seinem Kinn entlang und benetzte seine breite, glatte Brust. Ughtred nickte freundlich, prostete dem Phani zu und nahm selbst einen tiefen Schluck. Dann versuchte sich der Nygh mit einer Unterhaltung mit dem Freund. Denn genau dies war Odugme für ihn. Sie waren gemeinsam durch die Hölle gegangen und auch wenn die verrückten Silberwölfe den Phani als Sklaven oder gar Gegenstand betrachteten, für ihn war er ein Mann, ein fühlendes Wesen, dass treu an seiner Seite gekämpft und gelitten hatte.

»Gibt es etwas, was du dir wünschst?«, fragte er vorsichtig, denn er wollte den Phani nicht verletzen. Er konnte die Gefühlslage des Mannes nur schwer einschätzen.

Odugme nahm einen vorsichtigen Schluck und sah dann zu Ughtred hinunter. In seinen Augen gab es eine klare Diskrepanz zwischen den Worten Du und Wünschst. Er war ein Sklave, geschaffen den Silberwölfen zu dienen, Wünsche, waren innerhalb dieses Daseins nicht inbegriffen. Beinahe hätte er den Kopf geschüttelt, aber Ughtred schien zu ahnen, was in ihm vor sich ging und der Nygh nickte einfach nur. Dann sagte Ughtred etwas Belangloses über das Wetter und den derzeitigen Frieden, um die Stimmung nicht abfallen zu lassen.

Doch plötzlich hob Odugme ein Stöckchen auf und begann etwas zwischen den Sandalen des Nyghs in den gestampften Boden des Innenhofes zu ritzen. Er begann mit zwei nebeneinander stehenden Kreisen, doch schnell folgten Striche und Punkte und schon war ein Strichmännchen, besser gesagt ein Strichfräulein mit beachtlicher Oberweite, entstanden.

Ughtred sah den großen Mann an und legte den Kopf schief. Immerhin hatte man dem Phani, wie allen Männern seiner Art, bei der Geburt das Geschlecht genommen. Sehnte er sich dennoch nach den Zuwendungen einer Frau? Der Nygh trank sich Mut an und fragte: »Du willst eine Frau?«

Odugme schüttelte nun bestimmt den Kopf, deutete dann zuerst auf seine Zeichnung, und dann auf sich. Als nächstes legte er den Zeige- und Mittelfinger seiner linken Hand nebeneinander und schob beides vor sein Herz.

Ughtred verstand. »Es gibt eine bestimmte Frau! Verdammte Scheiße. Und wo? Daheim?«

Der Riese schüttelte den Kopf. Dann zeichnete er ein Haus neben die Frau und deutete auf die Stadt hinaus.

»Du hast sie auf der Schiffsreise oder sogar schon davor kennengelernt und jetzt lebt sie hier in der Stadt der Silberwölfe? Weißt du wo?«

Odugme nickte. Er zeichnete den Herrn Kyon mit einer Laute und weitere Frauen und ein Hausdach darüber. Dann deutete er in eine bestimmte Richtung die Straße hinunter.

»Ein Haus, in dem der Barde verkehrt. Hier in der Nähe?«

Ein Nicken.

»Das Haus Lysai?« Ughtred schüttelte den Kopf bei diesen Worten, wusste aber im selben Moment, dass er richtig lag. Schon nickte der Phani und machte ein kehliges Geräusch, welches wahrscheinlich ja bedeuten sollte.

»Wie ist ihr Name?« Ughtred vergaß immer wieder, dass Odugme nicht sprechen konnte, aber der Riese öffnete den Mund und sagte etwas, das wie ›Wadaa‹ klang.

»Scheiße nochmal«, sagte Ughtred und trank den Rest seines Gerstensaftes mit einem Schluck. Dann stand er auf und gab vor, nun keine Zeit mehr zu haben. Er müsse Besorgungen machen und seine nächsten Schmiedearbeiten vorbereiten. Der Phani nahm ebenfalls seinen letzten Schluck und schob seine Maske herunter.

Ughtred ging kurzerhand in seinen Verschlag, nahm einen Umhängebeutel mit einigen Ressourcen auf und zog eine Jacke über. Dann ging er in den Hof zurück und verabschiedete sich von dem Freund. Sein Weg stand fest. Das Haus Lysai war sein heutiges Ziel.

Natürlich hatte er wenig Hoffnung, etwas für Odugme tun zu können. Ein Phani galt als Statussymbol und war sicher weit mehr Ressourcen wert, als er in mehreren Jahreszeiten ansparen könnte. Aber sein Vater hatte ihn nicht zu einem Pessimisten erzogen, also hatte er beschlossen, zumindest zu fragen. Das Haus Lysai lag ja nur wenige Minuten vom Hause Yˋshandragor entfernt in einer Seitenstraße. 

Es war früher Nachmittag und Ughtred genoss das Licht der Tagesschwestern. Die Zeitgewohnheiten der Silberwölfe waren für ihn oft schwer zu ertragen. Er mochte den Tag, sie die Dämmerung. Hier, in Shishney, gingen sie jedoch häufig getrennte Wege. Dieser Umstand hatte dazu geführt, dass er begann, sich wieder an seinen eigenen Biorhythmus zu gewöhnen. Er wusste zwar, dass er dies noch bereuen würde, aber er hatte auch keine Lust, sich zu etwas zu zwingen, wenn es aktuell nichts brachte.

Vor dem Haus Lysai stand ein Quink und ein Midyar. Die beiden sahen ihm entgegen und der Quink fragte ihn, in wessen Auftrag er hier sei. Ughtred verneinte und erklärte, er sei in eigener Sache hier und wünsche den Herrn des Hauses zu sprechen. Der Quink versuchte ihn abzuwimmeln, aber der Nygh blieb hartnäckig und sprach von anstehenden Geschäften mit dem Herrn des Hauses. Also klopfte der Wächter an. 

Die Tür öffnete sich und ein weiterer Quink fragte, in wessen Namen Ughtred spräche und wieder erklärte der Nygh, dass er in eigener Sache hier wäre. Dann wurde er zu einem jungen Silberwolf in einem durchsichtigen Gewand vorgelassen und bekam zum dritten Male die gleiche Frage gestellt. 

Leicht verärgert bestand er darauf, den Hausbesitzer zu sprechen und kein weiteres Mal aufgehalten und befragt zu werden. 

Der Helfer nickte. Offenbar hatte er die Axt des Nyghs bemerkt und da er sich nicht mit dem Status dieser Ethnie auskannte, wollte er kein Risiko eingehen, in Stücke gehackt zu werden. Also beschloss er den Herrn des Lysai um Rat zu fragen und verschwand gerade noch früh genug.

Ughtred ging auf und ab. Er hasste diese Art der Unterwürfigkeiten, der seltsamen Etikette und vor allem dieses von oben herab, wenn es um verschiedene Spezies ging. Er selbst machte keinen Unterschied zwischen sich und den Silberwölfen und auch die Quink waren für ihn gleichrangig. Dann kamen ihm die Hobgoblins in den Sinn und er wischte diesen Gedanken ärgerlich aus seinem Gehirn.

Der Helfer erschien und lächelte wie ausgewechselt. »Herr Pegual Athmortis erwartet euch. Ich habe euren Namen nicht verstanden?!«

Ughtred nannte seinen Namen und überlegte einen Moment. Pegual, genau. Er erinnerte sich an den Mann. Groß, extrem helles Haar und seltsam leere Augen. Er hatte einmal gehört jetzige Besitzer des Lysai wäre einst ein Scherbenesser gewesen und hätte die Gilde zu Gunsten einer Frau verlassen. Der Wahrheitsgehalt dieses Gerüchts jedoch war schwer auszuloten, zumal die Scherbenesser keinen Spaß verstanden, wenn einer der Ihren abtrünnig wurde. Wie auch immer, Pegual war wenigstens ein Name, den Ughtred sich merken und den er halbwegs korrekt aussprechen konnte.

Das Arbeitszimmer des Silberwolfes war geschmackvoll eingerichtet. Die Wände waren roh belassen aber zum Teil mit dicken Quinkstoffvorhängen verdeckt und die Möbel bestanden aus Holz und warmen Stoffbezügen. Ughtred hasste nichts mehr als Möbel, welche mit Quinkhaut bezogen waren. Diese Sitte der Silberwölfe stieß ihn mit Abstand am meisten ab.

Pegual lag mehr als er saß auf einem niedrigen Sofa und richtete sich auf, als der Helfer den Nygh in das Zimmer schob und seinen Namen nannte. Der weißhaarige Silberwolf deutete auf eine Kissenstatt vor ihm, wo auf einem sehr niedrigen Beistelltisch frische augapfelgroße Kapern und zwei Schalen mit Gelbwein standen. 

»Ihr seid der Nygh«, stellte Pegual fest und nahm sich eine der Kapern.

Ughtred hob die Schultern und wollte gerade Peguals Aussage bestätigen, als dieser feststellte: »Ihr schuldet mir einen Phani!«

Ughtred hätte sich beinahe an seiner eigenen Spucke verschluckt. Verdammt, das konnte ja heiter werden. Und warum spricht mich der Kerl mit ihr und euch an? fragte er sich und überlegte, was er antworten sollte.

»Sorgt euch nicht, junger Freund, in der Stadt mögt ihr ein gesuchter Verbrecher sein, aber ich bin sicher, selbst der wahrscheinlich höchste Richter Shishney, der euch verurteilt hat, würde euch nicht erkennen. Solche Dinge sind nicht die Stärke von uns Smavari. Und ich für meinen Teil bin nicht nachtragend.«

»Dann würdet ihr mir vielleicht eine weitere Phani überlassen?«, platzte es aus Ughtred heraus.

Pegual sah ihn einen Moment an, weil er dachte, der Nygh hätte einen Scherz gemacht und er verstehe nur den Humor der Korezuulen nicht, aber Ughtreds Blick blieb fest und jetzt, wo er sein Anliegen vorgebracht hatte, war ihm auch tatsächlich wohler.

»Eine Phani, eine bestimmte?«, fragte der Weißhaarige und steckte sich eine weitere Kaper in den Mund. Er hatte seine Fassung wiedererlangt und schien die Unterhaltung nun noch mehr als zuvor zu genießen.

»Tatsächlich eine bestimmte. Ihr Name ist Wada, Oda oder Uda.«

»Oada«, sagte Pegual. »Eine Schönheit. Sie war in der selben Lieferung, die Ihr zusammen mit dem Schurken Chanrir bor Borygis sabotiert habt.

Ughtred zuckte mit den Schultern. Dann fragte er: »Wo ist denn der Schurke Chanrir bor Borygis?«

Pegual lachte und sagte: »Chanrir lebt irgendwo in einem Unterschlupf in den Sümpfen. Er ist ein Räuber und Verbrecher und er kommt mit seiner Band nur dann nach Shishney, wenn er denkt, einen guten Plan ausgeheckt zu haben. Der Letzte war ja offensichtlich nicht so perfekt.«

Endlich griff auch Ughtred nach einer der Kapern. Er schüttelte den Kopf und wischte damit die Sache mit dem Frachtschiff beiseite.

»Wieviel wird wohl so eine Phani wert sein Herr Pegual?«, fragte er stattdessen und der angesprochene konterte höflich: »Nun, so etwa 350 Ressourcen und mit dem anderen Phani, den ihr mir schuldet wären das glatt 700.«

Der Nygh schluckte die Kaper und ließ die Schultern sinken.

Pegual fragte: »Was wollt ihr denn mit Oada? Ist sie nicht ein wenig …« Er machte eine Pause, überlegte und sagte dann doch: »Ist sie nicht sehr groß für euch Herr Nygh?«

»Ich will sie nicht für mich. Sie gehört zu Odugme. Das ist der andere Phani den ich euch schulde. Sie gehören irgendwie zusammen.«

»Wie rührend. Ein Phanipärchen, hat man so etwas schon gehört?«, sagte Pegual und lachte dabei.

Aber dann hob er schnell beschwichtigend die Hand und sagte: »Ihr sollte sie haben!«

Ughtred sah verwirrt auf. Er kannte die Silberwölfe als verrückt, aber sie neigten wirklich nicht dazu, etwas zu verschenken. In dieser Hinsicht waren sie hart und zäh.

Er wollte etwas sagen, aber Pegual kam ihm zuvor: »Ich will eine Beteiligung! Vollumfänglich!«

Der Nygh hob die Augenbrauen und es war ihm anzusehen, dass er nichts verstand.

»Diese Sache mit eurer Unternehmung«, setzte Pegual nach. »Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor sprach schon mehrfach von seiner Queste, der Suche nach der Schwarzen Perle von Granband. Ich gebe euch die Phani und erlasse euch eure Schuld, was einer Generalamnestie gleichkommt und alles, was ich will, ist eine Beteiligung an der Unternehmung. Allumfänglich.« Er betonte das Wort Allumfänglich zum zweiten Mal und nickte dabei.

Ughtred wurde immer unwohler zumute. Was hatte er da nun wieder angerichtet? Er richtete sich auf den Kissen auf und sagte: »Verzeiht mein Herr, aber diese Entscheidung kann ich natürlich nicht treffen. Da müsste ich schon den Herr Sliyn und die Doppelmondhexe fragen.«

»Na dann los. Die Phani läuft uns sicher nicht weg«, lachte der Besitzer des Hauses Lysai und machte dabei eine lässige Handbewegung, die seinen Gast entließ.

 

Ihr Oberschenkel juckte und davon wachte sie auf. Es dauerte einen Moment, bis sie ihre Glieder entwirrt hatte und sie nach dem Grund ihres Unbehagens suchen konnte. Es war die Innenseite ihres linken Oberschenkels. Oder war es doch der Rechte? Links, ganz eindeutig! Vorsichtig duckte sie sich unter ihre Decke und untersuchte die Stelle. Da war etwas, eine Spinne oder etwas noch Schlimmeres. Sie sprang vom Bett, verhedderte sich dabei in der Decke und polterte auf den Boden ihres Zimmers. Der nun folgende Kampf war absurd. Sie konnte nicht gewinnen. Mehrfach biss sie in die Decke hinein, riss an ihr und erwischte schließlich ihre Wade mit ihren eigenen Fangzähnen. Der Schmerz ihres Bisses rief sie jedoch aus ihrer Panik und so schaffte sie es endlich, sich von der elenden Decke zu befreien.

Tief durchatmend und so ruhig wie möglich schlich sie sich an ihren Schenkel heran. Ganz vorsichtig berührte sie ihre weiße Haut, schob ihre Fingerspitzen Zentimeter für Zentimeter näher an die Stelle heran und wagte sich kaum hinzusehen. Hier war es. Allen Mut zusammennehmend öffnete sie die Augen und sah sich an, was da auf ihrer Haut hockte. Es war die Vier. 

Nach Luft schnappend richtete sie sich auf, zog sich am Bettrahmen hoch und langte nach dem Griff des Fensters. Als frische Luft in das muffige Zimmer flutete, wurde sie klarer. Sie stellte sich hin und besah das Zeichen missmutig. Wenn sie stand, war die Glyphe aus der Scherbenschrift ja für sie richtig herum zu lesen. Andere hingegen, die sie zu sehen bekämen – und sie hoffte, dass andere sie sähen – würden sie als auf dem Kopf stehend empfinden.

Sie nahm ihren Lendenschurz von der Bettlehne und zog ihn an. Über einem Stuhl hing eins von Kyons Hemden. Sie packte es und zog es über die Schultern und verließ das Zimmer. Sie musste nicht weit gehen, denn ihr Ziel lag auf demselben Stockwerk und nur einige Türen weiter. Es war das Zimmer der Ayn des Hauses.

Nyni`scie dan Y`shandragor hatte sich in den letzten Tagen sehr verändert. Tal hatte sich die Geschichte von dem Neuronalkorsett erzählen lassen und es sich angesehen. Seit Nyni es trug, war sie wacher und konnte sich recht gut konzentrieren. Vor allem war sie auch in der Lage sich mehr oder weniger allein durch das Haus zu bewegen.

Als Tal an die Zimmertür klopfte, bat die Ayn sie höflich herein. Sie öffnete die Tür und betrat den kleinen, nach abgestandenem Atem riechenden Raum. Außer der Ayn war noch die alte, kränkliche Quink anwesend. Die Vettel kämmte der Dame des Hauses die Haare und versuchte dabei, so unauffällig wie möglich zu sein.

Nyni saß entspannt auf ihrem Schaukelstuhl, der allerdings vom Fenster weggezogen worden war. Anstelle Regen in die Straßen zu starren, hatte sie einen Stickrahmen auf dem Schoß und ließ die Nadel durch das Leinen wandern.

Tal erblasste. Sie konnte es einfach nicht fassen. Die Ayn stickte eine Vier und zwar aus ihrer Sicht, auf dem Kopf stehend.

»Warum stickt ihr das, Frau Nyni`scie?«

Die Ayn blickte auf und sagte: »Weil sticken mir Freude bereitet meine Liebe.«

»Ich meine nicht das Sticken, ich meine die blöde Vier«, spuckte Tal und fuchtelte der Ayn mit dem Finger vor der Nase herum.

»Mäßigt euch, mein Kind. Es ist mir einfach so in den Sinn gekommen. Oder nein, ein Reh hat es mir eingegeben. Es war ein Reh. Ich kann eure Manieren nicht billigen. Hinzu kommt euer schlechter Einfluss auf meinen Sohn Katha`Kyon. Ich verbiete jeglichen weiteren Umgang mit ihm!«

Tal starrte die Frau an. Diese hatte nicht ein einziges Mal von ihrer Arbeit aufgesehen. Was dachte sich die Alte nur? Einen Moment wollte Tal weiter nachhaken, aber dann schüttelte sie mit dem Kopf. Das Tattoo war nicht von der Ayn. Da war sie sich jetzt sicher. 

Sie verabschiedete sich ohne weitere Diskussion von Nyni und suchte nach Kyon. Das Gesinde schickte sie in sein Arbeitszimmer und dort fand sie ihn auf dem Stuhl seines Vaters sitzend vor.

»Hier seht!« Sie stellte ihren Fuß in seinen Schritt und schob ihren langen Lendenschurz zur Seite.

Kyon sah auf und ließ dann seinen Blick an ihrem Knie vorbei an der Innenseite ihres weißen Schenkels entlang wandern. In ihrem Schritt verharrte er und legte den Kopf schief.

»Nein, nicht das. Da, am Schenkel. Da ist eine Tätowierung«, keifte sie und zerrte an ihrer eigenen Haut, um dem Dummbatz die Richtige Stelle darzubieten.

»Ja und? Schön. Sieht nett aus. Warum eine Vier?«

Tal rollte mit den Augen wie ein tollwütiger Arwolf. »Ich hab das nicht machen lassen. Es war einfach so da«, sagte sie so ruhig wie möglich, aber Kyon war sicher, die Wächter der Silberwacht konnten sie problemlos verstehen.

»Eine Vision. Es ist eine Vision«, sagte Tal weiße und schob ihre Hand beiseite, um wieder besser ihr Geschlecht sehen zu können.

Genervt zog sie das Hemd aus und ließ ihre Brüste anschwellen. Dann kniff sie die Lippen zusammen. Wutentbrannt gingen ihr die Worte der Ayn durch den Kopf. Kein Umgang mehr mit ihrem Sohn, das ich nicht lache, dachte sie und sagte ein wenig von sich selbst überrascht: »Wollt ihr eigentlich nicht heiraten, Herr Sliyn?«

Kyon hatte sich gerade nach vorn gebeugt und öffnete seine Hose, doch jetzt hielt er inne und fragte: »Was?«

»Na Heiraten, ein Paar werden, wollt ihr?«

Kyon schob sie ein Stück von sich weg, bis sie auf seinen Knien zu sitzen kam. Er musterte zuerst ihre Oberweite, schaffte es dann aber doch darüber hinaus zu wandern und traf schließlich ihre Augen. Einen Moment wartete er ein Zeichen von Humor in ihren Augen zu erblicken, aber da war kein Schalk zu sehen. Er kniff die Augen zusammen und versuchte zu deuten, was genau er sah. Es war eher Ärger, wenn nicht gar Hass. Aber diese Gefühle schienen keineswegs ihm zu gelten. Es war etwas Allumfängliches, das etwas mit ihr zu tun hatte, etwas, dem er nicht folgen konnte.

»Wie meint ihr das?«, fragte er lahm und sie antwortete jetzt mit einem erstaunlich fröhlichen Lächeln: »Ich habe euch gerade einen Antrag gemacht.«

Kyon schüttelte den Kopf und sagte: »Das meint ihr nicht im Ernst.«

»Doch, schon.«

»Ähm, ja, also nein meine ich, nein, nicht nein, sondern einfach, so etwas kann man nicht übers Knie brechen. Ich brauche Bedenkzeit.«

Sie ließ ihre Brüste noch ein klein wenig mehr anschwellen und drückte ihm eine ihrer Nippel ins Gesicht.

 

Ughtred kam die Straße zurück gelaufen und betrachtete seine derzeitige Wahlheimat. Das Haus Y`shandragor war nicht gerade eine Schönheit. Seine vordere Fassade krönte ein spitzer Giebel mit einem dreieckigen Fenster in der Mitte. Die Mauern hatten im Laufe der Zeit die Farbe abgestorbenen Mooses angenommen. Hinter dem Haupthaus und dem winzigen Innenhof lagen schmale Wirtschaftsgebäude, die vor langer Zeit von Quink bewohnt wurden, heute jedoch leer standen und ein kleiner, von Mauern eingerahmter Garten. Hier wuchsen eine Hand voll winziger, dürrer Tannen, viele Ginsterbüsche und Spinnenfledermäuse von beachtlicher Größe. Die Fenster auf der Vorderseite des Hauses boten einen tristen Ausblick auf die enge Gassen der Stadt und nur vom obersten Stockwerk aus konnte man über die Stadtmauer im Süden auf die Ebene vor Shishney blicken.

Er schob den nie gesperrten Silberriegel der hohen Tür auf und trat in den Hof. Odugme hockte immer noch auf dem Schemel, gerade so, wie er ihn verlassen hatte. Ughtred fragte sich, wie der Riese das machte, denn ihm wurde schon nach kurzer Zeit der Hintern Schmerzen. 

Er hob die Hand zum Gruß und Odugme machte die Bewegung nach, aber Ughtred wusste nicht, ob der Riese die Geste überhaupt zuordnen konnte oder einfach nur ihre Spiegelung als auszuführenden Befehl verstand. Der Nygh zuckte mit den Schultern und ging die schiefen Steinstufen zum Eingang des Herrenhauses hinauf. Er musste diese Sache zu einem guten Ende bringen, das war er dem Phani schuldig. Wenn er damals nicht den blöden Haken des Krans geöffnet hätte, wären Oada und Odugme vielleicht nie getrennt worden.

Er steuerte die Küche an, denn er hörte lautes Gezeter aus der Richtung und wenn Tal zeterte, war Kyon meist nicht weit. Tief durchatmend öffnete er die schief in den Angeln hängende Tür und trat ein.

»Es ist beleidigend, wie sie mich behandelt. Hätten wir doch nur nie den blöden Schmied auf den Plan gerufen«, hörte er gerade die Hexe sagen. Kyon zuckte mit den Schultern und schlurfte heißen Faltersud. »Zahnrad«, gab er lakonisch zu bedenken.

Ughtred sagte: »Ich brauche eure Hilfe.«

Die beiden Silberwölfe, denen ihr Streit ohnehin gerade langweilig geworden war, sahen ihn an. Mit einem schmutzigen Lächeln sagte der Barde: »Warum nicht?«

Ughtred wischte die blöde Antwort mit einer harschen Handbewegung aus dem Raum und setzte sich auf einen der Stühle. Dann erzählte er die Geschichte um Oada und den Herrn des Hauses Lysai. Es dauerte eine Weile, bis er alles richtig zusammen bekommen hatte, denn er tat sich nach wie vor schwer, manche Begriffe im Smavarischen korrekt zuzuordnen.

Plötzlich stellte sich Tal neben ihn, hob ihren Rock hoch und deutete auf die Innenseite ihres Schenkels. »Sagt euch das was?«

Er starrte auf ihre Haut und versuchte zu erkennen, was er sah, aber da das Zeichen auf dem Kopf stand, verstand er seine Bedeutung nicht. Hinzu kam, dass die Aktion der Hexe nichts mit seinem Anliegen zu tun hatte und er jedes Mal aus dem Konzept gerissen wurde, wenn sie ihm, aus welchen Gründen auch immer, ihr Geschlecht präsentierte.

»Äh, nein«, machte er und sah hilfesuchend zu Kyon hinüber. Dieser hatte sich zurückgelehnt und nahm einen großen Schluck aus seiner Tasse. Er blickte zur Decke empor und Ughtred wusste genau, dass seine Gedanken bei den Spinnweben und Adern im Putz des Raumes verweilten.

»Bei den Titten der Großen Mutter, könntet ihr beiden nicht einmal bei der Sache bleiben?«, donnerte er und knallte seine Axt auf den Tisch. »Odugme braucht unsere Hilfe. Er hat den scheiß Sarg durch die Wüste von Draiyn Andiled geschleppt, er hat eine Million Mal euer Zelt aufgebaut und die Lopen versorgt, er macht alles was ihr verlangt und jetzt braucht er einmal euch. Ist mir egal was ihr euch aufs Bein zeichnen lasst und die blöde Decke des Hauses ist mir noch viel egaler.«

Tal und Kyon sahen ihn mit großen Augen an. Ihre Blicke klebten an ihm und ihre Augen waren geweitet. Sie waren Giebelkatzen im Angesicht einer großen Giftschlange.

»Gut, gut«, versuchte Kyon den Nygh zu beschwichtigen. »Pegual will also eine Beteiligung. Allumfänglich.«

Ughtred hatte das Gefühl gleich wahnsinnig werden zu müssen. »Was zur Anderwelt bedeutet dieses Allumfänglich

»Er will halt genannt werden. Wenn wir die Perle finden, will er an unserem Ruhm teilhaben, ganz so, als wäre er dabei gewesen«, sagte Kyon nun wieder einigermaßen gelangweilt.

Tal untersuchte noch das Tattoo, sagte aber: »Dann soll er sich aber auch wirklich beteiligen. Geht hin und sagt ihm, er soll sich beteiligen.«

»Macht er das nicht schon, wenn er uns Oada überlässt?«, fragte Ughtred mit kleinlauter Stimme.

»Quatsch«, sagte die Hexe und sah ihn mit stählernen Augen an. Die Phani werden wir kaum mit uns auf die Reise nehmen. Sie ist bestenfalls eine Entschädigung hier im Anwesen des Sliyn. Was wir brauchen, sind Ressourcen, die wir mit uns nehmen können. Oder denkt ihr das Weib passt in eine eurer Reisetaschen?«

Der Nygh verzog das Gesicht und wollte etwas sagen, aber Kyon machte eine herrische Handbewegung und brachte ihn zum Verstummen. Dann sagte der Barde: »Es ist beschlossen. Wir akzeptieren Pegual als Sponsor, aber eine Phani allein reicht nicht aus, weil sie nicht in eine von den Reisetaschen des Nyghs passt. Er soll weitere Ressourcen zahlen. Geh hin und sag ihm das.«

Ughtred rieb sich über die Stirn und musste den Impuls niederkämpfen, die beiden in kleine Stücke zu hacken. Andererseits hatte er ja sein Ziel erreicht. Er verstand zwar nicht so ganz den Gegenwert, den der Herr Pegual erlangen würde, aber was scherte es ihn? Am Ende würde Odugme mit Oada vereint sein und sie hätten Ressourcen für die nächste Reise. Da konnte er auch noch einmal zum Haus Lysai gehen.

So verzichtete er auf ein Gemetzel in der Küche und stand auf. Wenn es sein musste, und er es machen musste und überhaupt alles musste, konnte es auch jetzt sofort müssen. Er begann in smavarischen Bahnen zu denken und befürchtete, allein die Sprache der Silberwölfe würde ihn früher oder Später zu einem Halbwesen der Anderwelt machen. 

Schnell lief er aus dem Haus und als er in der Gasse angekommen war, rannte er sogar. Er wollte den Handel so schnell wie möglich besiegeln, ehe er überhaupt nicht mehr verstand, was er tat. Diese Angst, ständig vom Einen ins Andere zu geraten, verfolgte ihn wie ein untoter Silberwolf aus den Schatten der Ruinen von Draiyn Andiled. 

Beim Lysai angekommen musste er nicht klopfen und auch keine Erklärungen abgeben. Die Belegschaft war offensichtlich angewiesen worden, ihn auf dem kurzen Dienstweg einzulassen. So kam es, dass er keine Stunde nach dem ersten Gespräch mit Pegual Athmortis erneut vor diesem saß und eine Verhandlung führte, von der er so gut wie nichts verstand.

»Der Herr Yˋshandragor …«

»Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor«, berichtigte ihn Pegual.

Ughtred begann von neuem: »Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor entbietet euch seinen Gruß und ist einverstanden, euch an unserer Unternehmung teilnehmen zu lassen. Allumfänglich!« Das letzte Wort stieß er aus wie eine zuschnappende Schlange.

Pegual flüsterte: »Allumfänglich.«

»Ja, aber natürlich erwartet er eine Zuwendung über die Phani hinaus.«

»Eine Zuwendung über die Phani hinaus«, wiederholte der Silberwolf die Worte.

»Macht ein Angebot, Herr Pegual.«

»Fünfzig scheint mir angeraten genug, angesichts der Tatsache, dass ihr mir einen Phani schuldet und ich diese Schuld verdopple.«

Ughtred nickte ohne zu zögern.

Pegual klatschte in die Hände und eine Tür öffnete sich. Ughtred erschrak wie immer, wenn irgendwo im Zimmer Türen entstanden, die er vorher nicht wahrgenommen hatte. 

Eine große und üppige Frau bückte sich unter dem Türrahmen hindurch. Sie war groß und schlank und ihre Haut war schwärzer als der dunkelste Obsidian. Wie Odugme trug sie eine Maske aus purem Gold, die jedoch ihr ebenmäßiges Kinn frei ließ und ihre schönen Augen eher betonte als sie zu verdecken. Im Gegensatz zu Odugme trug sie kein künstliches Geschlecht. Ughtred wusste von den Silberwölfen, dass man den weiblichen Phani ihr Geschlecht ließ. Allerdings hatte man auch ihr zweifelsfrei die Zunge genommen. Oada war ein Abbild der Großen Mutter in schwarz. Einzig das Fehlen jeglichen Haarwuchses zeugte, neben ihrer Hautfarbe, vom Unterschied der Göttin. Selbst ihre Nacktheit hatte etwas göttliches und Ughtred hatte Schwierigkeiten sie ungehemmt anzusehen.

Der Silberwolf machte eine Handbewegung zu der riesigen Frau hin und sagte: »Oada, wie gewünscht. Hinzu kommen fünfzig.«

Ughtred nickte nur.

»Dann ist es eine Sache«, sagte Pegual. »Geht hinaus und lasst euch auszahlen und nehmt die Phani mit euch. Ich erwarte Bericht.« Pegual lächelte freundlich und gab Oada ein Zeichen, dem Nygh zu folgen. Er musste ihr nicht erklären, was sich zugetragen hatte. Sie hatte ganz offensichtlich einen weit regeren Verstand als Odugme und begriff sofort, was sich zugetragen hatte.

Der Weg zum Haus war diesmal seltsam leicht für Ughtred. Es hatte wieder einmal begonnen zu nieseln, aber er genoss die letzten Strahlen der müden Tagesschwesterrn, die sich durch das Grau der Wolken kämpften. Es war wärmer geworden und der fortschreitende Frühling gab ihm die Hoffnung auf einen angenehmen Sommer. Oadas nackte Haut glänzte feucht, doch auch ihr schien dies nichts auszumachen. Sie trug die Kiste mit den Ressourcen auf dem Kopf und ging so gerade und stolz, wie Ughtred es selten zuvor bei einem Lebewesen gesehen hatte.

Beim Haus angekommen, öffnete er erneut die Tür und führte die große Frau zu Odugme, der aufblickte, sich aber weder Überraschung, noch Freude anmerken ließ.

Ughtred sah die beiden an. Einen Moment hatte er Angst einen Fehler gemacht zu haben. Was, wenn Oada den Mann überhaupt nicht mochte und lieber im Lysai geblieben wäre?

Er überlegte zu fragen, schüttelte dann aber den Kopf und holte stattdessen einen weiteren Schemel aus seinem Verschlag. Die Phani legte die Kiste ab und setzte sich neben Odugme. Im selben Moment kam Tal aus dem Haus. Sie hüpfte die Treppe herunter und kam zu Ughtred und dem Phaniärchen. »Das ist sie wohl«, sagte sie, als hätte sie ein großes Geheimnis aufgedeckt.

Ughtred rieb sich über die Stirn, denn er war immer noch in Sorge. Er stellte Oada vor und erklärte dieser, um wen es sich bei der Hexe handelte. Die Phani nickte unterwürfig.

Tal besah sich die glatte Fülle der riesigen Frau und nickte anerkennend. Dann sagte sie unverblümt: »Du gehörst jetzt wohl dem Hause Yˋshandragor. Odugme gehört mir. Ihr werdet zumindest in nächster Zeit eng beieinander leben. Gefällt dir das?«

Phani waren nicht dazu gemacht, dass ihnen etwas gefällt oder nicht. Soviel zumindest hatte Tal zwischenzeitlich begriffen. Also wiederholte sie strang: »Magst du Odugme und gefällt es dir, bei ihm zu sein?«

Oada nickte höflich und legte ihre Hand auf die des Riesen.

Tal spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen zu füllen drohten und wandte sich ab. Sie ging ins Haus zurück, um mit Kyon zu reden.

Dieser erwartete sie schon. Es war ihm anzusehen, dass er, wie jedes Mal, wenn sich eine Änderung anbahnte, mit Problemen rechnete.

»Die beiden Phani bekommen ein Zimmer neben einem meiner Zimmer!«, befahl die Hexe.

»Sicher nicht«, sagte der Barde.

»Aber ich befehle es!«

Kyon blickte zu Boden und rieb sich die Nasenwurzel. »Wenn ich einem Phanipaar eigene Zimmer gäbe, würde ich mein Haus beschämen. Wegen mir können sie in einem Zimmer neben dem euren auf eure Befehle warten, aber ein eigenes Zimmer bekommen sie natürlich nicht.«

Dies leuchtete Tal ein. Natürlich konnten Statussymbole keine Statussymbole erhalten. Sie tat sich manchmal schwer mit dem Reichtum. Einen Augenblick dachte sie an ihre Eltern, die sich aus dieser verdrehten Welt zurückgezogen hatten, aber dann erhob ihrer Großmutter die Stimme und ließ Tal erwachen.

»Ja, gut«, sagte sie. »Sie werden in einem Zimmer neben den meinen auf meine Befehle harren!«

 

Kyon hielt die Hand seiner Mutter und sah ihr beim Sticken zu. Sie plapperte die ganze Zeit von alten Tagen und Soirees und Kyon war sich unsicher, ob er ihre offensichtlich vergangene Stille heute nicht vorgezogen hätte.

»Und dieser Gnom, er hat einen viel zu großen Einfluss auf die Tagesgeschäfte des Hauses. Ich habe die Bücher jetzt erstmals in diesem Millennium zur Gänze geprüft und mehrere große Diskrepanzen entdecken müssen. Allein die reinen Ressourcen sind unstimmig. Ich habe schon mit Splinternackt und Flark darüber gesprochen, aber es ist wie es ist: es fehlen welche.«

Kyon schnaufte und dachte an die Küchendecke.

»… Wer kann schon sagen, was sie im Schilde führt?«, hörte er die Ayn weiter plappern. »Sie verzaubert euch, wo ihr geht und steht, und wenn ich auch nicht glaube, dass sie für die Sache mit den Ressourcen verantwortlich ist, denke ich nach wie vor, dass sie einen schlechten Einfluss auf euch hat. Ihr solltet sie des Hauses verweisen. Im Übrigen habe ich begonnen, ausstehende Zahlungen zu verwalten. Da ist ein Lagerquink, der dem Haus noch mindestens acht Ressourcen schuldete und bei der Wache waren es fast ebenso viele. Eine entsprechende Forderung wurde verfasst und ausgehändigt. Die Antworten waren positiv.«

Er streichelte ihre Hand und nickte ergeben.

»… Und eine erneute Soiree. Intim, mein gesundheitlicher Zustand erlaubt noch keine großen Smavarimengen. Ich denke an den Meisterschmied, dem ich dieses wunderbare Korsett zu verdanken habe.«

»Sehr wohl, Ayn, ich werde es veranlassen«, flüsterte er und legte seinen Kopf auf ihre Knie. 

»Es hat wirklich aufgehört, mein Sohn. Die Schreie, sie scheinen verstummt zu sein. Der Drache hat mich entlassen.«

Kyon flüsterte mit Tränen in den Augen: »Das ist gut zu hören.«

 

Einige Tage später betrat der Schmied erneut das Haus Yˋshandragor. Er brachte wieder Ressourcen als Gastgeschenk und wusste zu berichten, dass ein tragischer Unfall in seinen Arbeitsabläufen die Reparatur des Zahnrades in greifbare Nähe gerückt habe. Er konnte sich nicht erklären, was zu diesem Missgeschick geführt hatte, aber er würde nun vor dem Wiedereinstieg in besagte Arbeit das Zahnrad in Angriff nehmen. Eine Fertigstellung desselben sei in weniger als acht Tagen zu erwarten.

Kyon nickte und versuchte gar nicht erst zu verstehen, was vorgefallen war. Stattdessen entließ er Amyithas zu seiner Mutter und begab sich selbst zu Tal und Ughtred, die beide begierig darauf warteten, wie es um ihre Unternehmung stand. Als Kyon die Worte des Schmiedes wiedergab, sahen sich die anderen beiden mit verschwörerischen Blicken an.

Er schüttelte den Kopf und beließ es dabei.

 

Die Tage vergingen schleppender nachdem der Schmied die baldige Lieferung des Zahnrades versprochen hatte. Es war gerade so, wie in den Geschichten der alten Tage, in denen es den Aspekten des Kar möglich gewesen war, Raum, Zeit und Dimension frei nach ihrem Willen zu gestalten. Hatte der große gO, der Weltenerschaffer, die Sonnen der Tiba Fe verlangsamt? Kyon verbrachte die Zeit wie immer mit Müßiggang, aber Ughtred hatte schwierigkeiten sich angemessen abzulenken. Natürlich arbeitete er an und in seiner kleinen Werkstatt und natürlich ging er auch nach wie vor seinem Training nach, welches auch Odugme miteinbezog. Trotzdem verspürte er eine kribbelnde Rastlosigkeit in seinen Gliedern. Wenn er Morgens allein in der Küche saß und aus dem Fenster blickte, überkam ihn das Heimweh nach Korezuul. Er sah die hellgrünen Auen und die gewaltigen Laubbäume, die er hier so schmerzlich vermisste. Kisadmur am Berge, ein düsteres Land, dachte er dann jedes Mal und träumte sich nach Hause. 

 

Tal träumte von der Vier auf ihrem Schenkel. Zuerst zumindest war es nur eine Vier. Doch bald wurde draus mehr und mehr. Sie hatte Probleme damit, den Traum zu deuten, aber je mehr Zahlen sie erkannte, um so klarer wurde das Gesamtbild. Es war eine Art Formel, aber natürlich verstand sie nicht was sich ihr hier offenbarte. Sie konzentrierte sich auf den Traum und suchte nach Kyon, aber er war nicht hier. Es war ein Solotraum und so musste sie ihn auch alleine verstehen. Sie ärgerte sich. Immer wenn es um etwas Schwieriges ging, ließ er sie damit allein. Hatte er denn kein Ehrgefühl? Sie mussten jetzt zusammenhalten, denn wie sollte sonst ihre Ehe funktionieren?

Als keine neuen Zahlen oder Zeichen hinzu kamen, entschied sie sich dafür aufzuwachen. Sofort nahm sie einen ihrer Hexenkristalle heraus und übertrug das Geträumte über eine Neuroverbindung auf den Speicher. Sie prüfte das Ergebnis und war damit zufrieden. Innerhalb der Formel stand die Vier ganz rechts und wie auf ihrem Bein, auf dem Kopf. Die restlichen Zahlen waren deutlich kleiner und mit seltsamen, wahrscheinlich mathematischen Zeichen untereinander verbunden. Die Formel hatte eine linke und eine rechte Seite, soviel begriff sie schon einmal. Alle kleinen Zahlen und Zeichen standen auf der einen Seite und die umgedrehte Vier auf der anderen. Also musste alles was links stand das selbe bedeuten wie eine Vier. Oder zumindest eine umgedrehte Vier. Sie überlegte noch einmal, ob sie etwas im Zirkel über solche Formeln gelernt hatte, konte sich aber nicht einmal an eine entsprechende Erwähnung erinnern.

 

 

Was hatte das nur zu bedeuten? Ihre Neugierde zerriss sie beinahe. Warum träumte sie von diesen Zahlen und woher kam die Vier auf ihrem Schenkel? Sie rieb über die immer noch gereizte Stelle und überlegte. Wer kannte sich hier in Shishney mit Zahlen aus? Zahlen sind die Sache der Zahlmeister oder? Zahlmeister kannte sie vor allem im Silberhafen. Da gab es einen Droiden, der ausschließlich in Zahlen dachte. Genau den würde sie fragen.

Gesagt, getan, tog sie sich an und wollte schon unbewaffnet aufbrechen, entschied sich aber dagegen. Eine unbewaffnete Hexe war eine gefährdete Hexe und auf Gefahren hatte sie keine Lust. Also schnappte sie sich den Speer.

Es war noch dunkel als sie das Haus verließ. Sie schlich an Ughtreds Bretterchaos vorbei, öffnete das Tor und trat auf die Straße hinaus. Der Weg zum Silberhafen war nicht weit und sie genoss die frische Nachtluft. Inständig hoffte sie, dass der rühling so bliebe und ihre kommende Reise nicht mit Stürmen und Gewittern verderben würde.

Der Hafen lag in morgendlicher Schwärze. Überall erwachten gerade die Arbeiter, Schiffe wurden losgebunden und erhoben sich langsam in die Luft. Sie fragte einen Quink wo sie den Zahlmeister finden könne und dieser deutete auf die Zahlmeisterei, aber Tal blieb stehen und fragte, ob er den Droiden meine. Nein, er meine natürlich den Zahlmeister. Wo der Droide sei? In einem Lager. Sie überlegte, ob sie den frechen Kerl bestrafen sollte, es war ja schließlich seine Schuld, wenn er sie falsch verstand und ihr dann auch noch eine fehlerhafte Information gab. Aber sie war eine großzügige Hexe und beließ es bei einer Verwarnung.

Das Lager befand sich unterhalb der Landeplattformen und Tal musst noch einmal nach dem Weg fragen. Als sie aber endlich besagte Lagerhalle betrat, sah sie den Droiden schon an einem Gestell stehen und offenbar Kisten zählen. Die hohe wand des endlos langen Raumes war von Schienen und beweglichen Regalen bedeckt, welche unzählige Frachtkisten trugen. Alle hatten verschmierte Aufdrucke in roter Farbe. Sie hatte einmal gehört, Quink hätten Probleme mit kühlen Farbtönen, weswegen man Anweisungen für sie am besten in Rot oder in Schwarz anbrachte. 

»Du bist der Droide«, stellte Tal fest, als sie sich neben dem künstlichen Mann aufbaute. Er sah zumindest aus wie ein Mann. Er hatte einen metallisch wirkenden Körper und sein Kopf wirkte ein wenig wie ein smavarischer Totenschädel. Geschmackvoll, dachte die Hexe und wartete auf Antwort.

Der Droide wandte sich ihr zu und sah sie an. Seine Augen waren glimmende Sensoren in der Dunkelheit der Halle, denn weder er, noch die Hexe brauchte zusätzliches Licht, um etwas zu erkennen.

»Das scheint mir eine korrekte Feststellung zu sein.«

»Ich habe eine Formel. Also in meinem Traum. Es ist eine Vier, die auf dem Kopf steht und dann wirre Zahlen und Zeichen und beides scheint Vier zu bedeuten, soviel weiß ich schonmal. Sagt euch das was?«

Der Droide hob in einer sehr smavarischen Geste einen seiner spitzen Spinnenfinger an sein Kinn und schien nachzudenken, aber Tal wusste, dass er dies nur tat, um sie zu beeindrucken. Sie wollte schon etwas abfälliges sagen, aber er kam ihr zuvor: »Ich habe versucht aus eurer Beschreibung etwas zusammenzustelen, doch die reine Datenmasse ist zu gering. Leider kann ich auf dieser Ebene nichts für euch tun Herrin. Ich wünsche noch einen angenehmen Morgen.«

Tal verzog das Gesicht zu einer grimmigen Schnute und deutete mit dem Finger auf den Droiden. 

»Du wirst mir jetzt helfen, diese blöde Formel zu entschlüsseln!«

Dann fiel ihr ein, dass sie die Formel ja aufgezeichnet hatte und beförderte ihren Kristall aus ihrer Tasche hervor. Sie hielt ihn in die Luft und sofort erschien der gewünschte Inhalt.

»Ihr wollt also sagen, dass ihr damit nichts anfangen könnt?«, blaffte sie gereizt und stemmte eine Faust in die Hüfte.

Der Droide hob einen Finger, sah aber in den Augen der Smavari, dass es nun besser war, nichts zu Kluges zu sagen. Stattdessen betrachtete er die Zahlenkolonne und die verkehrten Vier. Etwas an seinem Hinterkopf ratterte leise und dann sagte er: »Diese Formel ist nicht smavarischen Ursprungs. Unsere Mathematik richtet sich in drei Dimensionen aus, die Formel jedoch nur in zwei. Sie ist bei Weitem älter und muss somit den Alten zugeordnet werden.«

»Die Alten?«

»Es ist mir verboten, über diese Dinge zu sprechen.«

»Du meinst die Aspekte des Kar.«

Da der Droide nichts sagte, nickte die Hexe und sagte: »Also stammt sie von einem der Aspekte. Von welchem?«

In einer sehr lebendigen Geste schüttelte der künstliche Mann den Kopf. Er legte einen Finger an die Stirn, als müsse er nachdenken, dann klackt es erneut in seinem Schädel und er sagt: »Dies ist schwer zu sagen. Hinzu kommt, dass es mir verboten ist Begrifflichkeiten aus diesem Bereich zu gebrauchen.«

»Der erste Aspekt ist allwissen, aber nicht mehr da. Welche der Aspekte sind mathematisch begabt?«

»Meine Befehle verbieten es mir …«

»Ja, ja, du darfst nicht darüber sprechen. Ich werde an anderer Stelle mehr erfahren. Sag mir lieber, was die Formel an sich bedeutet.«

»Vier.«

»Auf beiden Seiten steht die Vier. Warum steht die rechte auf dem Kopf?«

»Die Formel ist nicht eindeutig. Seht das negative ›Y‹? Es kann innerhalb dieser Formel zwei Bedeutungen haben, was das ganze Konstrukt auf eine Ebene der Philosophie hebt. Darauf deutet auch das auf dem Kopf stehende Ergebnis hin.«

Tals Stirn zog sich in Falten. »Zwei Bedeutungen? Was jetzt?«

»Es ist leider möglich, diesen Teil der Formel als zwei verschiedene Zahlen zu deuten. Somit kann die Formel links einmal Vier, auf einer anderen Gedankenebene aber auch Fünf gedeutet werden.«

Tal überlegte einen Moment. Die Fünf ist die Zahl des Chaos. Chaos und Ordnung, Ordnung und Chaos, aber warum? Wer auch immer diese Formel, beziehungsweise die Vier in sie gegeben hatte, musste einen Fehler gemacht haben. Was an ihr bitte sollte chaotisch sein?

 

Tage vergingen. Niemand kümmerte sich um die zukünftige Reise. Selbst Ughtred tat sich schwer mit der Vorstellung endlich wieder aufzubrechen. Dies war keineswegs der Faulheit oder dem Willen in Shishney zu bleiben geschuldet. Es lag vielmehr daran, dass er Schwierigkeiten damit hatte, sich vorzustellen, dass es tatsächlich bald weitergehen könnte. Es war eine Frage der Hoffnung, nicht des Willens.

Als er einmal über die unteren Plattformen der Silberwacht schlenderte, erblickte er weit über sich die schlanke Silhouette der Gefährlichen, des eigentümlichen Schiffes der Droidin Rotgold. Er schirmte seine Augen gegen das Licht der Argol Fe und Hiyweens ab und versuchte zu erkennen, ob jemand an Bord war, aber was spielte es für eine Rolle? Natürlich würde er es bevorzugen mit diesem Schiff zu fliegen, aber es war ja nicht absehbar, wann das verdammte Zahnrad endlich fertig würde und ohne dieses Wissen konnte man kaum einen Packt mit der Kapitöse aushandeln. Missmutig schlenderte er zum Haus zurück, aber er behielt sein Wissen um die Gefährliche im Hinterkopf. Vielleicht würde ja doch etwas aus dieser Fahrt werden. Er schickte einen stummen wunsch an die Große Mutter und ging seinen Arbeiten nach.

Tatsächlich schien diese ihn zu erhören, denn schon zwei Tage später, klopfte Seklaid III, der Schmiedegehilfe an das Tor des Hauses und als Ughtred ihm öffnete holte der Quink mit gekräuselter Oberlippe das Zahnrad hervor. Er lachte und erklärte, nach einer kurzen Unterhaltung mit dem Nygh, er müsse sofort nach Quinkstadt zurück. Das Zahnrad sei in einem perfekten Zustand und würde zweifelsfrei seine ihm zugedachte Funktion erfüllen.

Ughtred verabschiedete sich von seinem Besucher und wog das Schwere Zahnrad in beiden Händen. Dort, wo ein Stück ausgebrochen war, befand sich nun ein schwarzer Ersatz. Seklaid hatte erklärt, das Elamit würde sich mit der Zeit heller färben, aber das Zahnrad sei sehr alt und darum würde man wohl immer einen Unterschied erkennen können. Er hatte es auf einen Stein gelegt und einen seiner Fingerdorne als Achse benutzt. Mit der Anderen hand am Rad, hatte er das Artefakt gedreht und dann einen Finger an die rotierenden Zähne gehalten. Die Toleranz war mit bloßem Auge nicht zu erkennen gewesen, aber was bedeutete das schon?

Der Nygh zuckte mit den Schultern und holte eine Ledertasche aus seinem Verschlag. Dann packte er das Zahnrad ein und ging damit ins Haus. In der Küche angekommen blickte er sich um, fand aber außer dem einbeinigen Koch, er konnte sich einfach den Namen des Mannes nicht merken, niemanden vor. Ein wenig genervt ging er die Treppe hinauf und klopfte an Tals Tür. Er wusste nicht warum er sie ausgewählt hatte, aber es dauerte nicht lange, da öffnete sich die Tür. Sie war natürlich nackt.

Wie immer ein wenig verlegen blickte er an ihr vorbei und sagte mit mürrischer Stimme: »Das Zahnrad.«

Die Hexe ging vor ihm in die Hocke, damit sie sich mit ihm auf Augenhöhe befand.

»Das Zahnrad … was?«

»Na es ist fertig. Der Geselle hat es gebracht.«

»Welcher Geselle?«

»Der vom Schmied.«

Tal verzog des Gesicht und stand auf. »Ist der Sliyn wach?«

»Kaum«, kam die knappe Antwort des Nyghs.

»Ich mache das!«

Sie krabbelte über ihr Bett, beförderte einen winzigen Lendenschurz zu tage und ein viel zu weites Hemd, welches Ughtred auch schon an Kyon gesehen hatte. Waren die beiden ein Paar? Also so richtig? Was bedeutete eigendlich ›so richtig‹ bei den Silberwölfen? Die Korezuulen kannten die Ehe, allerdings war dieses Konzept nicht auf zwei Partner beschränkt. Bei den Silberwölfen schien es ähnlich zu sein, aber er war noch keinem Paar von ihnen begegnet, dass wirklich zusammen zu gehören schien. Sie sprachen von Partnerschaft, verhöhnten sich aber ständig gegenseitig und schienen auch offensiv und wo es nur ging gegeneinander zu arbeiten.

Er versuchte nicht zuzusehen, wie Tal den kaum vorhandenen Lendenschurz umgürtete und wartete, bis das nächste innerfamiliäre Fiasko seinen Lauf nahm. Dieses Haus war verflucht, soviel war sicher, aber was sollte man auch von einem Anwesen erwarten, dessen Hausherr von einem Drachen gefressen wurde und der einen Sohn zurückließ, der sich mit einer verrückten Doppelmondhexe herumschlagen musste? Hinzu kam die Ayn. Ughtred hatte beobachtet, wie die Frau sich binnen weniger Tage einer unglaublichen Veränderung unterzogen hatte. Seit sie das seltsame Korsett des Schmiedes trug, war sie nicht nur agiler geworden. Die Haut ihres Gesichtes schien sich Stunde um Stunde zu verjüngen und ihr vor kurzer Zeit noch trocken brüchiges und moosgraues Haar hatte einen glänzenden Silberton angenommen. Außerdem hatte sie begonnen die Geschäfte des Hauses zu übernehmen und dazu schien auch zu gehören, über Tal und ihn selbst herzuziehen. Sie hatte ihn Gnom (was auch immer dies sein sollte) und Dieb genannt und ihm ins gesicht gesagt, dass sie solchen wie ihm wohl kaum ihr Vertrauen entgegen bringen könne. Er wischte diese Gedanken beiseite, sah noch wie Tal ihren Hintern an ihm vorbei auf den Flur schlängelte und blickte ihr hinterher. Doch plötzlich blieb sie stehen. Als hätte sie eine böse Vorahnung blickte sie auf den geschlossenen fensterladen des Flures und kam geduckt zu Ughtred zurück.

»Ist noch sehr früh gell?‹, sagte sie mit spitzen Lippen.

Er zuckte mit den Schultern.

»Macht ihrˋs«, sagte sie und schob ihn an sich vorbei auf die der Tür des Schlafzimmers zugewandten Seite.

Ughtred ließ genervt die Schultern sinken und tat ergeben, worum man ihn gebeten hatte. Was spiele es schon für eine Rolle? So würde es wenigstens schnell gehen. Er klopfte harsch gegen das alte Holz und kaum eine Sekunde später hörte er innen ein vertrautes Klacken und dann bohrte sich vor seinen Augen ein Jagdpfeil durch die Tür und blieb darin stecken. Der Nygh machte einen Schritt zurück und sah zu Tal hinüber. Diese hob nur entschuldigend die Arme und machte dann eine wedelnde Handbewegung, die ihn zum Fortfahren aufmuntern sollte. 

Er verzichtete auf ein weiteres Anklopfen und rief stattdessen: »Das Zahnrad.«

Tal verzog das Gesicht und zischte: »Könnt ihr nicht einmal einen Satz bilden?«

»Das Zahnrad ist fertig.«

Tal schüttelte den Kopf und sagte leise: »Wow!«

Von drinnen war Kyons Stimme zu hören: »Ich komme runter. Verschwindet jetzt alle beide, bevor ich einen panzerbrechenden Pfeil auflege!«

 

Spinnen sind Freunde

Zu dritt um den runden Tisch sitzend betrachteten sie die Zeichnungen und Texte des Tagebuches. Lonkaiyth hatte das Zahnrad im Zusammenhang mit einem Ort namens Raugnith erwähnt. Kyon erzählte von alten Schlachten zwischen den sogenannten Pferdemännern, den Gorden und den Bewohnern Kisadmurs. Raugnith war eine alte Festungsanlage im äußersten Nordosten des Landes. Sie lag in der Ebene zwischen den Ardeyrt und dem Tiradnischen Rücken, einem der größten Gebirgszüge der Tiba Fe. Heute lebten dort nur noch eigenbrötlerische Eremiten, vielleicht die tatsächlichen Nachfahren des einstigen Herrschers. Wie auch immer, unter der besagten Festung sollte es laut Tagebuch, eine Vortexschleuder geben und um diese zu erreichen, war wohl das Zahnrad nötig. Der Barde überlegte laut, wie man sich dies vorzustellen hatte und als Ughtred über die eventuellen Richtungen der Schleuder spekulierte, sagte Kyon, dass hier wohl eine Art Werkzeug vonnöten sein würde. Sein Vater sprach von einer Art Zange, die sich im Gebirge, einem der voreingestellten Ziele befinden solle.

Sie rätselten noch eine ganze Weile, aber es würde ihnen nichts übrig bleiben, als nach Raugnith zu reisen. Da erzählte der Nygh von der Gefährlichen, die er einige Tage zuvor über dem Silberhafen gesehen hatte. Tals Augen begannen zu glänzen. Sie mochte die Droidenkapitöse Rotgold. Außedem war die Gefährliche ein wirklich schnelles Flugschiff. Sofort erklärte sie sich bereit, zum Hafen zu gehen.

Kyon sagte: »Wir müssen nach Nordwesten. Der Weg wird uns über Uraiyd nach Elaiyney und von da nach GoradˋSin führen. Wir werden kaum ein Schiff finden, dass direkt zwischen den Gebirgen hindurch nach Ongaiyd geht. Spätestens in GoradˋSin müssen wir ein anderes Schiff nehmen.«

Tal erwiederte: »Wir wollen doch sowieso zuerst zum Naivt der Spinnenfrau. Um eine Passage nach Raugnith kümmern wir uns, wenn wir nicht gefressen wurden.«

Ughtred verzog das Gesicht. Er wollte gar nicht gefressen werden und dies war ihm anzusehen. Einen Augenblick sahen ihn die beiden Silberwölfe an, aber da er dann doch nichts zu sagen hatte sagte Kyon: »Na gut, lassen wir uns von den Spinnen fressen und fliegen dann zur ältesten Festung der Tiba Fe, um uns von dort mittels Vortex in die Unendlichkeit schleudern zu lassen. Ich fange schon einmal an ein episches Lied über uns zu schreiben.«

Die Hexe lachte und streckte ihm die Zunge heraus und er machte ein abfälliges Zeichen mit seiner Hand.

Etwas später ging Tal die Treppen zum Silberhafen hinauf. Sie freute sich, denn die Gefährliche lag immer noch über Shishney vertäut. Behend hüpfte sie über einen Anker und schlenderte mit hüftschwung auf eine der Zugangsplattformen zu. Da es keine Planke zur Gefährlichen hinauf gab rief sie: »Heyo? Ist da oben jemand?«

Ein Quinkkopf erschien am Rand der Schiffswand und blickte herunter. Sie erklärte ihr Anliegen und wartete, bis der lange Treppenbalken zu ihr heruntergelassen wurde.

Der Droidin war nicht anzusehen, ob sie sich freute Tal wiederzusehen. Ihre nur wenig bewegliche Miene hatte etwas unendlich Gleichmütiges und wahrscheinlich, war es genau dass, was Tal so an der Frau gefiel. Für sie war sie eine Frau. Es spielte keine Rolle, ob ihr Leib aus Fleisch und Blut oder aus Metall und Keramik bestand. Im Inneren war sie eine Frau.

Sie beschrieb ihr Anliegen und Rotgold sagte, dass die Gefährliche in zwei Tagen nach Elaiyney auslaufen würde. Von dort aus, müsse man eine andere Passage finden. Und wie bei ihrer ersten gemeinsamen Reise, wollte die Droidin für die Passage keine Ressourcen. Tal war hoch erfreut, auch wenn ihr lieber gewesen wäre, noch am selben Tag abzulegen.

Sie verabschiedete sich und schlenderte aufgeregt zu den anderen zurück. Es war endlich so weit. Ja, es würde noch zwei Tage dauern, aber es war so weit. Das Abenteuer würde seinen Lauf nehmen. Hätte sie gewusst, was als nächstes geschehen würde, wäre ihre Freude in nacktes Grauen umgeschlagen.

 

Man beriet sich, schmiedete Pläne für die Reise nach Elaiyney und Ughtred versuchte auf die Schnelle Reiseproviant zu organisieren. Natürlich war dies nun innerhalb der Gesellschaft der Silberwölfe eine sehr kurzfristige Angelegenheit und tatsächlich gelang es ihm nur für wenige Tage haltbare Nahrung zu besorgen. Doch man würde ja an mehreren Orten Halt machen und dort könnte man sicher die Wegzehrung aufstocken. Alle überlegten genau was sie mitnehmen sollten. Man wollte sich einschränken, denn die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass überschüssiges Gewicht bremste, aber dann durfte auch wieder nichts fehlen. Jeder brauchte ein Feuerzeug, Tals jetzt langes Haar konnte unmöglich ohne Lockenstab gebändigt werden, Kyon sortierte seine Pfeile, doch konnte man zu viele Pfeile haben? Am schwersten fiel Tal die Sache mit dem schrecklichen Chaosschild. Das Ding wog nach wie vor eine Tonne, und sie hatte allein schon Mühe, es aus dem Keller die Treppen empor zu schleppen. Mit der schweren Bleidecke, die ihn abschirmte, konnte sie ihn kaum noch heben. Sie fragte sich, wie sie nur lernen sollte mit dem Ding zu kämpfen. Speer und Schild, Schild und Speer, aber sie war nicht stark genug für das Zeug. Sie musste an ihrer Stärke arbeiten. Schnell machte sie zwei Liegestütze und fühlte sich schon besser. Sie würde das schaffen. Sie war eine Doppelmondhexe!

Alles in allem verliefen die letzten Vorbereitungen recht chaotisch und die beiden Tage vergingen sprichwörtlich wie im Fluge. Am Tag der Abreise endlich geriet das ganze Haus erneut in helle Aufregung. Alle waren spät dran und mussten sich sputen, denn Kapitöse Rotgold hatte Tal mitgeteilt, die Gefährliche würde sehr früh aufbrechen. So ranten sie hin und her, bissen von einem Brot ab, verbrannten sich an einem viel zu heißen Becher Faltersud und warfen alles durcheinander.

Doch dann war es endlich so weit. Sie standen an der Rehling und blickten auf das noch dunkle Shishney hinunter. Bald würden die Quink erwachen und die Smavari sich zur Ruhe begeben. Bald würden die Tageschwestern über das Gebirge gekrochen kommen und alles mit ihren gleißenden Strahlen überziehen. Die Gefährliche stieg auf und machte eine Drehung. Schließlich waren die Motoren zu hören und eine starke Vibration ging durch den Leib des Schiffes. Die Kapitöse stand auf dem Oberdeck mit dem Außensteuer und deutete in eine Richtung und ihr Mat brüllte Befehle. In einem Weiten Bogen glitt das Flugschiff über die Stadt hinweg, hielt sich nahe der Odoreys und nahm dabei stetig Fahrt in Richtung Nordwest auf.

Es vergingen mehrere Stunden und Tal hatte sich mit Kyon unter Deck zurückgezogen. Da sie sich ohnehin wenig aus Luftreisen zu machen schienen, wollten sie sich lieber ausruhen. Odugme hatten sie dazu angehalten sich ebenfalls noch ein paar Stunden hinzulegen, denn er sollte möglichst frisch sein, wenn es zum Umladen der Ausrüstung käme.

Ughtred indess, stand an Deck und genoss die Morgenprieße. Er hielt sein Gesicht in den Fahrtwind und ließ zu, dass die Elemente ihm die Sorgen aus dem Geist wuschen. So vergingen stunden und irgendwann erkannte der Nygh Uraiyd in der Ferne. Er winkte zum Spaß und sah zu, wie das Flugschiff über die Ansiedlung hinwegstrich. Er schlenderte von einer Seite des Decks zur anderen und blickte nach hinten, um Uraiyd so lange wie möglich betrachten zu können. Dann kehrte er an seinen ursprünglichen Standort zurück und hielt sich an der Vertäung der Rehling fest, als das Schiff in ein Luftloch geriet und einen Hüpfer machte.

»Jetzt müssten wir uns bald über Diry befinden«, murmelte er zu sich selbst und versuchte etwas unter sich zu erkennen, doch die kisadmurischen Wälder waren düster und ganz und gar Blickdicht. Er sehnte sich nach den lichtumfluteten Auen seiner Heimat. Dann zog eine Bewegung auf der anderen Seite des Schiffes seine Aufmerksamkeit auf sich. Im Osten war eine Art Schneiße in den Odoreys zu erkennen, aber es war schwer zu bestimmen, um was es sich hier handelte, denn das Gebirge lag nebelverhangen als undeutliche graue Masse neben der Flugroute der Gefährlichen. Der Nygh kniff die Augen zusammen, als sich das Schiff auf die gleiche Höhe des Gebirgseinschnittes bewegte und dann ging alles rasend schnell. Instinktiv griff er nach einem der Taue und sah mit Entsetzen in den Augen, wie sich etwas Gewaltiges aus dem Gebirge, direkt in die Flugbahn des Schiffes wälzte. Einen Augenblick dachte Ughtred, es sei eine Lawine, aber als der Nebel aufgewühlt wurde, war das Schwirren von gewaltigen Flügeln zu erkennen. Größer als die Gefährliche, schob sich der Amytor in die Flugbahn des Schiffes und rammte sie, wahrscheinlich ohne sie wahrzunehmen. Die Luft um Ughtred wurde binnen eines Herzschlages zu einem Chaos aus Holzsplittern, Tannennadeln und Angstschreien. Ein Matrose wurde vor seinen Augen von Deck geschleudert und dann riss es auch ihn von den Beinen. Das Seil hatte sich aus seiner Verankerung gelöst und er flog wie eins der Schnurspielzeuge, die er für die Quinkkinder Shishneys angefertigt hatte, um den Rumpf des Schiffes. Mit eisernem Griff hielt er sich an dem Tau fest und spürte den furchtbaren Ruck in seiner Schulter, als die Gefährliche Mittschiffs entzwei brach. Das gigantische Ungetüm, rauschte indessen durch die Luft und seine im Vergleich zu seiner Körpermasse irrwitzig kleinen Flügel wirbelten Bäume auf und versorgten das Chaos immer weiter mit Tannennadeln.

Dann konnte Ughtred sich nicht länger halten. Das Tau hatte den endgültigen Winkel erreicht, doch der Schwung war unaufhaltsam und als es vom Rumpf des Schiffes gestoppt wurde, rutschte es schmerzhaft durch seine Hand und verbrannte ihm die Haut. Er stürzte dem Waldboden entgegen und sah sein Leben an sich vorüberziehen. Mutter, oh Große Mutter, nimm mich auf.

Der erste Einschlag war der schlimmste. Er hörte über sich eine Explosion, wahrscheinlich einer der Motoren des sterbenden Schiffes, dann brach etwas unter ihm, sein Bein. Er überschlug sich, denn er war auf dem nach Westen abfallenden Hand des Gebirgswaldes aufgekommen. Um ihn herum schwirrten Holzsplitter, bohrten sich in sein Fleisch und verhinderten, dass er etwas sehen konnte, doch sein Sturz machte es ihm ohnehin unmöglich sich zu koordinieren. Immer wieder prallte er an Baumstämme, rollte weiter, überschlug sich erneut und fiel immer tiefer und tiefer, in den Kessel der großen Muttergöttin.

 

Tal und Kyon erlebten den Untergang der Gefährlichen auf eine ganz andere Weiße. Sie schliefen. Als der Amytor das Flugschiff rammte, wurden sie wie Spielbälle in der ihnen zugewiesenen Kabine hin und her geschleudert. Ausrüstungsgegenstände flogen durch die Luft, eine von Tals Haarnadeln bohrte sich in Kyons Oberschenkel und die Hexe blieb mit einem Fuß an einem Bettpfosten hängen und brach sich einen Zeh. Immer wieder drehte sich die Kabine und machte jeglichen Halt unmöglich. Als das Schiff schließlich den Waldboden berührte, verhinderten unbekannte kosmische Kräfte, dass es sich weiter überschlug. Stattdessen bohrte es sich, für die gewaltigen kinetischen Kräfte erstaunlich sanft, in die Erde, verfehlte wie durch ein Wunder die stärkeren Bäume und walzte die dünnen beiseite. Schließlich drang der Rumpf ins Erdreich und kam mit einem furchtbaren Ruck zum Stehen.

Kyon hatte es vorgezogen im letzten Moment die Besinnung zu verlieren, aber Tal entknotete ihre Glieder und zog sich über den nun, in einem unnatürlich schrägen Winkel unter ihr liegenden Kabinenboden. Sie untersuchte Kyon oberflächlich und nickte, als dieser sich regte und zu sich kam.

»Was?«, fragte er, als sei alles Übel der Welt ihre Schuld.

Sie zog ihm dafür mit spitzen Fingern die Haarnadel aus dem Bein und er schrie laut auf.

Der Raum war auf einer Seite mit Erde, Schmutz und Trümmerteilen gefüllt. Die Türöffnung, der Raum lag schräg und der Boden war kaum noch zu erklimmen, befand sich unterhalb der Trümmerschicht. Wie lange würde es dauern, bis sie keine Luft mehr hatten? Tal krabbelte auf allen Vieren zu der Stelle, wo sie am ehesten die Tür vermutete und begann zu graben. Wie ein Wolf vor einem Kaninchenbau schaufelte sie Dreck und Erde durch die Luft und zischte schließlich Kyon an, damit er ihr half. Es dauerte einen Moment, bis dieser den Schmerz seiner Verletzungen überwinden konnte, aber dann sagte Tal: »Verdammt nochmal, wir müssen Ughtred und Odugme finden!«

Kyon konzentrierte sich und rief die psionischen Wölfe aus seinem Geist. Er wusste nicht, ob sie helfen konnten, aber er musste es versuchen und wusste, dass allein ihre Anwesenheit ihn stärken würde. Doch kaum war der riesige Rüde erschienen, stürzte er sich auf das Erdreich und begann zu graben, dass der Dreck nur so durch die Luft spritzte. Die Wölfin brauchte etwas länger, um zu erscheinen, doch auch sie grub.

Kyon kam zu Tal und begann nun ebenfalls zu graben, aber die Hexe lehnte sich an die Wand und sagte: »Ich suche sie. Das geht schnell. Dann wissen wir wenigstens wie es ihnen geht. Wehe ihr macht irgend etwas mit mir wenn ich draußen bin.« Und ehe Kyon etwas erwidern konnte entwand sich ihr Geist und ihre Seele aus der Realität ihres Körpers und glitt in die Anderwelt hinüber. Sofort nahm sie Fahrt aus und versuchte zuerst das Heck des Schiffes zu finden. Als sie sich umblickte, nahm sie den Geist der Wölfin neben sich war. Sie hatte keine Ahnung, ob Kyon das Geistwesen an ihrer Seite hielt, aber es wirkte eher, als hätte es selbst diese Entscheidung getroffen. Es lief ihr schwebend voraus und half ihr die Richtung zu finden, in die sie wollte.

Tal hatte keine Ahnung, was geschehen war und im grauen Äther war schwer zu erkennen, wieso die Gefährliche sich in diesem Zustand befand. Sie war mittschiffs zerborsten. Etwas unglaublich riesiges musste sie gerammt haben. Bei diesen Gedanken nahm Tal wie immer die gewaltigen Schemen auf der anderen Seite der Membran war. Die Grauen Wächter hatten sie noch nicht entdeckt, aber sie musste sich beeilen, denn wenn diese Dinger hier waren, würden sie früher oder später auch ihre Tentakel nach ihr ausstrecken.

Ihr geographisches Grundverständnis und der Richtungssinn der Wölfin halfen ihr, das Heck der Gefährlichen zu entdecken. Es war nach Süden abgedriftet, lag aber immer noch ungefähr auf einer Linie mit der ursprünglichen Reiseroute. Tal schwirrte zuerst am Steuer vorbei und musste mit Schrecken erkennen, dass Rotgold, sich immer noch mit einer Hand an dem Steuerrad haltend, in der Mitte durchgerissen war. Sie bewegte sich träge und schien trotz des schweren Schadens noch bei Bewusstsein zu sein.

 

Irgendwo in der Dunkelheit weckte ein Pochen Ughtred aus einer leichten Besinnungslosigkeit. Er versuchte sich zu orientieren und fand sich am Fuße eines Baumriesen wieder. Er wusste, was er sehen würde, wenn er an seinem linken Bein hinunterblickte und erschrak dennoch. Sein Fuß stand in einem unschönen Winkel nach Innen. Er hatte Schmerzen, fühlte sich aber auch taub. Er dankte im Stillen der Großen Mutter, noch am Leben zu sein und griff nach dem erstbesten Stock am Boden, um ihn von der Rinde zu befreien. Dann nahm er ihn in den Mund und begann sein Bein zu versorgen. Er hatte sofort begriffen, dass er es strecken musste, um den Knochen auch nur halbwegs in die richtige Position zu bringen. Mit schnellen Handgriffen befreite er weitere Äste von der Rinde, kürzte sie zurecht und machte sich ein Werkzeug zum Strecken des Beines. Als er so weit war, riss er Stoffstreifen aus seinem Hemd und nahm den ersten Stock zwischen die Zähne.

Wird weh tun, dachte er und streckte sein Bein. Zitternd und stöhnend versuchte er die Schienen anzubringen, aber ihm fehlte die Kraft sie wirklich fest zu bekommen. Dann ließ er sich erschöpft und zitternd auf den Waldboden zurückfallen. 

Als er diesmal aufsah, traf ihn ein heller Tropfen, der an einer Art Faden auf ihn heruntergefallen war. Er rieb sich das Zeug von der Backe und es klebte an seiner Hand. Als er aufblickte sah er noch mehr Fäden in der Baumkrone und etwas Großes, dass gerade im Begriff war zum Nachbarbaum hinüber zu gleiten. Sofort griff er nach seinem Messer und versuchte mit dem Rücken den Baumstamm zu erreichen. Er schaffte es gerade so, sich aufzurichten, da krabbelte ein hundsgroßes Ding mit Spinnenbeinen und schwarzen Fledermausflügeln auf ihn zu. Alles ging furchtbar schnell und das Monster hatte schon seine Zähne in seinen Arm gegraben, bevor er reagieren konnte. Es machte einen Satz von ihm weg und lauerte. Da musste er trotz der schrecklichen Situation lachen.

»Du blödes Vieh, dein Gift wird dir bei mir nichts helfen, komm nur noch einmal her, dann bringe ich dir einen neuen Trick bei!«, brüllte er heißer. 

Die Spinnenfledermaus, denn als solche hatte er das Wesen erkannt, tat wie ihr geheißen und griff an und wie versprochen rammte Ughtred ihr sein Messer in den Kopf. Das Tier zappelte und ehe es reagieren konnte, stach Ughtred wieder und wieder zu, biss es kraftlos zu Boden sank. Es schlug noch mit den Flügeln, doch dann lag es still und Ughtred griff danach. Er wusste nicht, wann er etwas anderes zu Essen bekäme und wie getestet, machte ihm das Gift des Dings ja nichts aus.

 

Tal wusste, dass Odugme in einer der Ladekabinen unter diesem Bereich untergebracht worden war und glitt auf der Suche nach ihm durch die Decks. Sie spürte das Ziehen des nahen Chaoschildes und schließlich entdeckte sie den Phani. Er hockte mit dem Rücken an einer der Wände und hatte das Bewusstsein verloren. Eine Platzwunde an der Stirn blutete heftig, aber er würde es überleben. Hinzu kam ein langer Riss oder Schnitt an einem seiner muskulösen Oberarme, aber Tal entschied, dass er auch damit durchkommen würde.

Schon glitt sie erneut durch die Trümmer und suchte nach Ughtred. Er war nicht da. Plötzlich hob die Wölfin den durchscheinenden Kopf und schnupperte in die astrale Welt hinaus. Dann schnappte sie in die Luft und rannte los. Tal streckte ihre Hand aus und wurde von ihr mitgezogen. In windeseile rasten sie durch den kisadmurischen Wald und Tal hatte schwierigkeiten irgendetwas in ihrer Umgebung zu erkennen. Alles war karge Bäume, spitze Äste, aus dem moosigen Boden hervorstehende Gesteinsbrocken aus der Luft zu Boden rieselnde Nadeln. Der Zusammenstoß mit was auch immer, hatte sich eindeutig auf ide ganze Umgebung ausgewirkt. Überall lagen Trümmer von Bäumen am Boden und es war klar zu erkennen, dass viele der Bäume hier erst nach dem Unfall entwurzelt worden waren.

Dann machte die Wölfin einen Bogen und hielt auf einen riesigen, sehr energetisch wirkenden Baum im Grau der Zwischenwelt zu. Etwas hell leuchtendes lag am Stamm dieses Baumes, und Tal war glücklich, als sie Ughtreds geschundenen Körper entdeckte.

Kurz umgarnte ihr Geist den Nygh und sie überlegte, was sie für ihn tun konnte, aber dann wandte sie sich von ihm ab. Sie musste zurück zu Kyon, denn nur in der realen Ebene würde sie etwas für ihre Freunde tun können. Sie konzentrierte sich auf die Gravitation der Zwischenwelt und schwirrte davon. Doch dann blickte sie zurück. Die Geisterwölfin sah ihr mit leeren Augen nach. Ihr durchscheinender Leib indess, hatte sich neben Ughtred niedergelassen. Mit aufgerichteten Ohren hielt sie Wache, breit, den Verletzten gegen alle Angriffe aus der Dunkelheit zwischen den Nadelbäumen mit Zähnen und Klauen zu verteidigen.

Tal nickte ihr zu und ließ sich in die Richtung fallen, in der sie den Bug des Schiffes vermutete. Eine Sekunde später drang sie durch das Metall und kam bei ihrem Körper an. Sie wollte tief einatmen, aber die Luft in der Kabine war fast verbraucht. Sie hustete und versuchte den schalen Geschmack in ihrem Mund zu ignorieren, musste aber würgen. Neben ihr gruben Tal und der Wolf im Dreck. Sie richtete sich auf, ordnete ihre Glieder und half so gut es ging. Sie hatten nicht mehr viel Zeit. Bald würden sie ersticken und der Wolf würde bis zum Ende aller Tage ihr stumme Totenwächter sein.

So gruben sie wortlos, um möglichst wenig Atemluft zu vergeuden, und schließlich kratzte Kyon mit den Fingernägeln über eine Metallkante. Er ließ sich zur Seite fallen und machte Tal platz und sie grub an dieser Stelle weiter. Es war die Schwelle der Luke. 

 

»Heda, ist da jemand?« Die sonore Stimme eines Quink drang aus der Welt der frischen Luft zu Kyon herunter. Er hatte Tal geholfen die Luke aufzuschieben und nun versuchten sie gemeinsam in das Zwischendeck zu gelangen. 

»Hier unten, wir sind hier«, rief er hinauf. »Wir brauchen ein Seil, das Deck liegt zu schräg.«

Eine Weile geschah nichts, doch dann war das Poltern eines schweren Seiles auf dem Metall des Decks zu hören. Kyon versuchte etwas zu erkennen, doch dann entschied er sich dafür Tal zu helfen aus der Kabine zu kommen. Er verschränkte die Finger seiner Hände ineinander und hob sie hoch. Die Ausdauer des Wolfes gab ihm die Kraft dazu, aber seine Beine zitterten und er stand kurz vor dem Zusammenbruch.

Mit Tränen in den Augen sah er, wie Tal nach etwas griff und dann ihre Hand darum schlang. Doch dann kam eine Gestalt das Seil herunter. Es war ein Matrose. Er hatte den Unfall überlebt und schien unverletzt.

Er drückte sich an den beiden Silberwölfen vorbei und half Kyon, der ihn des Geisterwolfes wegen beruhigte. Gemeinsam entschieden sie, nun, da genug Sauerstoff zur Verfügung stand, nach Tals und Kyons Ausrüstung zu graben. Sie brauchten das medizinische Material aus der Silberwacht von Shishney. Sie waren alle verletzt und vor allem Ughtred musste versorgt werden. So grub der Quink mit dem Wolf und schließlich fanden sie alles, was sie brauchten. 

Der Weg durch den feuchten Wald war hart für Kyon. Er hatte mehrere durchaus schwere Verletzungen davongetragen, aber Tal hatte ihn so gut es ging stabilisiert und behandelt. Eine Goldschiene stützte seinen ledierten Brustkorb und mehrere Verbände ließen sie wie eine Mumie aussehen. Aber er beklagte sich nicht. Es war keine Zeit sich zu beklagen. Der Nygh konnte jeder Zeit sterben und er brauchte seinen Nygh.

Sie brauchten fast die ganze restliche Nacht um Ughtred zu finden. Als die Geisterwölfe sich sahen, liefen sie aufeinander zu und wedelten mit den Schwänzen. Dann entglitten sie der Realität und kehrten in die Anderwelt zurück. Tal stürzte zu Ughtred und begann mit ihrer Arbeit. Sie gab zwei automatische Schienen in die Wunde an Ughtreds Bein und wartete einen Moment, bis die darin enthaltenen Stoffe ausgehärtet waren. Dann verabreichte sie Schmerz- und Heilmittel und nähte schließlich das Bein. Ughtred stöhnte entkräftet und schloss die Augen. Er sagte nichts, aber es war ihm anzusehen, dass er froh war, die Silberwölfe um sich zu haben. Später, als sie sich auf den Weg gemacht hatte, erzählte er, was er gesehen hatte. Er beschrieb den gigantischen Amytoren und von der Chancenlosigkeit der Gefährlichen. Doch die Große Mutter hatte ihn gerettet und offenbar hatte sie auch die Silberwölfe nicht im Stich gelassen. Tal und Kyon schwiegen. Es waren ihre Vorfahren, die überhaupt erst Amytoren geschaffen hatten. Schwer zu sagen, ob besagte Muttergöttin sich um ihrer beider Leben gekümmert hatte, oder ob es nicht viel mehr ihr eigenes Karma war, welches sie hatte überleben lassen.

Auf dem Weg zum Heck kamen sie durch ein gebiet, in dem eindeutig ein Hobgoblinstamm lebte. Die Rotaugen hatten Fallen ausgehoben und Tal wäre beinahe in eine hineingefallen, wenn Kyon sie nicht zurückgehalten hätte. Der Matrose, der Gefährlichen hatte weniger Glück. Er machte den Fehler ein ganzes Stück abseits zu gehen und übersah die tödliche Gefahr. Als die anderen das Krachen der Fallenabdeckung hörten, war es zu spät. Der Mann stürzte in die Dunkelheit und wurde unten von langen, spitz zugeschnitteten Pfählen empfangen. Als Tal den Rand er Falle erreichte, war er schon tot. Diese Wälder waren gefährlich. Amytoren waren Naturgewalten, doch Hobgoblins, Arwölfe, Schlangen und andere unliebsame Begegnungen waren nicht minder gefährlich. Ughtred fluchte, doch sie mussten diese Gegend verlassen. Er dachte an die Spinnenfledermaus und rieb sich dabei über die Stirn. »Der arme Mann«, murmelte er, doch Tal und Kyon waren schon weiter gegangen.

Längst waren die Tagesschwestern erwacht, als sie über sich lichter und lautes Rufen vernahmen. Die Sonnenstrahlen erreichten zum Glück für Tal und Kyon nur selten den Boden des schwarzen Waldes, doch Ughtred verdammte diese Tatsache. Er sehnte sich nach der Wärme der Tagesgestirne.

Die Lichter über ihnen gehörten offensichtlich zu Rettungsschiffen. Tatsächlich lagen zwei Flugschiffe über dem Hex vor Anker. Unten hatte man begonnen ein Lager zu errichten. Quink und Midyar durchstreiften den Wald und suchten nach Überlebenden. Als sie die drei Abenteurer entdeckten, führten sie sie zu einem großen Zelt, gaben ihnen Wasser und Decken und berichteten von dem Hilferuf seitens der Droidenkapitöse und dem schnellen Aufbruch der beiden Schiffe von Elaiyney aus. Die Weiterreise nach GoradˋˋSin erlebten die drei Abenteurer wie in Trance. Sie begaben sich unter Deck und versuchten nicht mehr an das Chaos dieser Reise zu denken. Ja, man sprach von diesen Dingen, von Amytoren und Drachen und Weltenzusammenstößen, aber so etwas passierte anderen, nicht einem selbst. Ughtred, der den Amytor als einziger der drei mit eigenen Augen gesehen hatte schwieg, aber einige der überlebenden Quink müssen ebenfalls Zeugen des Unglücks gewesen sein und versuchten sich durch den regen Austausch ihrer Erlebnisse zu trösten. So erhielten Tal und Kyon ebenfalls einen, wenn auch durch die unterschiedliche Wahrnehmung der Matrosen, so dennoch recht klaren Eindruck von der Urgewalt, die der Gefährlichen widerfahren war. Kyon überlegte, wie er dieses Erlebnis in ein Lied fassen konnte, aber dann wieder beobachtete er sich selbst dabei, wie wie sich seine Einstellung zu Schiffsreisen verändert hatte und ließ es lieber. Er wollte vergessen und Tal schien es nicht anders zu ergehen.

In GoradˋSin gingen sie von Bord, suchten sich eine Kaschemme und genossen die Sicherheit der Ansiedlung. Allen dreien war anzusehen, dass sie der Weiterreise nach Ongaiyd mehr oder weniger lustlos entgegenblickten. Ihr nächstes Flugschiff würde tiefer fliegen, denn die Route verlief zwischen den Odoreys und dem Ardeyrt. Da Amytoren sich am liebsten in den Höhenlagen von Gebirgen aufhielten – wer sagte das eigentlich? Draiyn Andiled war flach wie ein Quinkpfannkuchen und dort wimmelte es von den Dingern – hatte man die Hoffnung unbehelligt zwischen den Gebirgen hindurchfliegen zu können. Dennoch dauerte es einige Zeit, bis Kyon am hiesigen Hafen eine Weiterfahrt nach Nordosten aushandelte, widerwillig Ressourcen übergab und die anderen informierte, dass es weitergehen konnte.

Mutlos und mit hängenden Ohren betraten die beiden Smavari das nächste Schiff und nur Ughtred schien seine gute Laune wiedergefunden zu haben. Auch ihm war anzumerken, dass er Flugschifffahrten von nun an aus anderen Augen sehen würde, aber sein Herz war voller Zuversicht und dies galt für alle Lebenslagen. Er sah es aus einem mathematischerem Blickwinkel als die Silberwölfe: Wer einmal einen solchen Zusammenstoß erlebte, wird kaum durch puren Zufall ein zweites Mal betroffen sein. So viele Riesenamytoren gab es nun auch wieder nicht. Beim nächsten Mal würde es vielleicht ein Drache sein, aber den Amytor hatte er nun hinter sich.

 

Ongaiyd war ein winziges, verschlafenes Nest mit einer kreuzförmigen Hauptstraße die sich im Osten noch einmal gabelte. Auffälligerweiße gab es tatsächlich keine einzige Straße, die aus dem Ort in die Wildnis hinaus führte.

Es ergab sich, dass man im Bodenlosen Loch, einer Kaschemme unterhalb der Holzhafen genannten Landplattformen unterkam. Trotz der etwas gedrückten Laune, handelte Kyon mit dem Wirt die Unterkunft gegen sein Spiel aus und beobachtete dabei, wie die Hexe den Chaosschild über die Holzdielen zerrte und schließlich unter ihr Bett schob. Das passte ja. Hätte es einen angebrachteren Platz für das Ding geben können als unter dem Hintern der Doppelmondhexe?

Ughtred setzte sich und fühlte sich beobachtet. Eine der Silberwölfinnen an einem Nachbartisch schien ihn zu fixieren. Er wollte schon etwas sagen, aber dann kam Tal ihm zuvor. Sie fragte die Frau, ob sie wisse, wie man von Ongaiyd nach Raugnith gelangen könne. Sie sagte, es gingen nur selten Schiffe in diese Richtung. Dann unterhielten sich die beiden Frauen eine Weile über ihre jeweiligen Berufungen. Es stellte sich nämlich heraus, dass Vaadris Borthulk, so der Name von Tals Gesprächspartnerin, eine Zauberin war. Zauberinnen unterschieden sich von Hexen in ihrer ganzen Einstellung zum Multiversum. Während Letztere alles Sein von einem okkulten Blickwinkel sahen, betrachteten sie alles aus nüchternen Augen. Die Wissenschaft war ihr Weg. Tal hatte im Grund nichts dagegen, aber ohne die konzeptionelle Unwissenheit des Okkulten, hätte sie ihr Dasein wahrscheinlich nicht ertragen können. Wissenschaften waren alles andere als verkehrt, aber alles zu wissen, nichts zu fühlen oder zu glauben, dass missfiel ihr sehr. Dennoch war das Gespräch durchaus angenehm, denn es lenke Tal von Kyon ab, der schon wieder mit den Gästen der Kaschemme zu flirten begann und sicher gleich zu spielen anfangen würde. Sie aber war genervt. Sie wollte weder mit ihm tanzen noch ihn bei sich haben. Im Augenblick wollte sie überhaupt nichts mehr. 

Plötzlich krachte und rumpelte es über der Kaschemme und einige der Gäste standen auf und gingen zur Treppe, um sich anzusehen was passiert war. Doch andere blieben auch sitzen und bewegten sich nicht. Es schien als wüssten sie genau, was da oben los war.

Kyon fragte den Wirt und dieser berichtete, dass der einzige hier ansässige Kapitän probleme mit der Navigation hätte und ab und an sein Schiff den Holzhafen streife.

Der Barde konnte es nicht glauben und drängte sich an den anderen Gästen vorbei. Er ging die kurze Treppe hinauf und spähte über den Platz zu der Hafenplattform empor und tatsächlich, da oben lagen überall Holzsplitter herum und etwas weiter rechts, fast außerhalb seines Blickfeldes wippte der Rumpf eines Flugschiffes. Es hatte einen der Flaggenmasten abgeknickt und war dann in eine der Palisaden abgerutscht.

»Das ist die Jagende«, sagte einer der Männer vor Kyon. »Der Kapitän ist ein wenig wirr im Kopf, aber besser als gar keiner oder?«

Kyon sah den Mann an und nickte, ohne es so zu meinen. Er dachte an die verunglückte Gefährliche und zuckte dann mit den Schultern. Vor seinem inneren Auge sah er sich dieses Schiff besteigen. Es war ganz klar. Er würde früher mit diesem Schiff nach Raugnith fliegen. Das Schlimme daren, er hatte keine Vision oder so etwas. Er wusste es einfach. Niedergeschlagen ging er zurück in die Kaschemme.

Später spielte Kyon wie verabredet tatsächlich auf und es dauerte nicht lange, da füllte sich die Kaschemme. Immer mehr und mehr Smavari drängten sich in den veräucherten Raum und schließlich wurde aus dem Spiel eine ausgewachsene Orgie. Ughtred floh früh in seine Kammer und auch Tal zog sich zurück. Kyon indess blühte auf. Als das Bodenlose Loch seinen Boden doch noch fand und sich die Feierlichkeit, die er ausgelöst hatte auf den Platz und schließlich bis zum Holzhafen hinauf ausweitete wurde er immer ungestümer, lauter und hemmungsloser. Im Verlaufe dieser Nacht machte er viele Bekanntschaften, an deren Namen er sich jedoch am nächsten Morgen nicht mehr erinnern konnte. Er sang, als ginge es um sein Leben und ebenso verfuhr er mit der körperlichen Liebe. Männer und Frauen drängten sich an ihn, luden ihn auf und entleerten ihn, bis auch er nahezu leblos zu Boden ging.

Wie gewohnt war es noch dunkel, als Tal erwachte. Sie blickte sich um und fand Kyon mit dem Hintern auf ihrem Bett und mit dem Oberkörper am Boden liegend vor. Er war nackt und sein Körper wies die Spuren der nächtlichen Schlacht auf. Kopfschütteln öffnete sie ihre Medizientasche und trug Salbe auf die am stärksten betroffenen Stellen auf. Sie redete auf ihn ein und schimpfte ein wenig, aber wenn er wirklich zu sich gekommen war, ließ er sich nichts anmerken.

Dann verließ Tal ihre Kammer. Das Bodenlose Loch glich einem Schlachtfeld. Auf einem der Tische lagen ein Mann und eine Frau in nackter Umarmung. Ihre Haare waren miteinander verknotet und jemand hatte ihre Genitalien mit blauer Farbe bemalt. Auch auf dem Boden lagen Gäste und Tal entdeckte Vaadris in einer der Nischen am Boden liegen. Immerhin waren bei ihr nur die kleinen straffen Brüste entblößt.

Sie ging zu der derangierten Zauberin und schnippte ihr mit dem Zeigefinger gegen die kleine Nase. Kopfschütteln und blinzelnd erwachte die junge Frau und begann zu lallen, doch Tal stopfte ihr eine Pastille in den Mund und zwang sie zu schlucken. »Das sollte euch ernüchtern«, sagte sie ohne Mitleid.

Sie richtete sich auf und betrachtete die Unordnung. Es stank nach Erbrochenem und billigem Gelbwein und auch Rum schien geflossen zu sein. Das Bodenlose Loch hatte, wie viele kisadmurischen Kaschemmen keine Fenster und lag zum Teil unter der Erde, also ging Tal zu den Treppen der Eingangstür und öffnete Letztere. Am oberen Absatz der Treppe lagen zwei Männer in eindeutiger Pose und Tal verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Was hatte der Herr Sliyn hier nur veranstaltet?

Sie ging zu der Zauberin zurück. Diese war zwischenzeitlich ein wenig zu sich gekommen und rieb sich den Hinterkopf. »Wie schlömm isses?«, fragte sie mit belegter Stimme.

»Was wisst ihr über das Naivt?«, fragte Tal gerade heraus.

»Hä?«

»Das Naivt, Nest, Heim von Frau Spinne.«

Vaadris rieb sich das Gesicht und sagte: »Ich habe von diesem Ort gehört, aber natürlich war ich nie da. Er liegt irgendwo im Gebirge.«

»Wie finden wir ein Schiff dorthin?«, versuchte Tal es noch einmal ohne allzu große Hoffnung.

»Kein Schiff fliegt ins Gebirge. Ihr habtˋs doch selbst erlebt. D-aber da ist eine Taverne. Keine Kaschemme, den Unterschied kennt ihr doch oder?«, lallte die immer noch angeschlagene Zauberin.

Tal schüttelte genervt den Kopf und sagte so ruhig wie möglich: »Ja, den Unterschied kenne ich. Was ist mit der Taverne?«

»Im Wald iss sie. Das iss. Im Wald hinter dem Pallisonzenzaun, wo der … das Schlugschiff drangerummst ist, da ist ein altes Tor. Sˋgibt ja keine Straßen. Also keine draußen, nur drinnen. D-aber Wildpfade gibtˋs schon. Der im Norden führt zu der Taverne und da wohnen Waldläufer und die kennen Frau Spinne und den Weg auch.«

»Waldläufer im Norden?«

Vaadris nickte eifrig und deutete sinnlos in eine Himmelsrichtung, die Tal definitiv als nicht nördlich erkannte. Aber sie nickte trotzdem und beließ es dabei. Vielleicht stimmte es ja, was die junge Frau erzählte und es war gut einen Ansatz zu haben. Wenn es einen Pfad dort hinaus gab, würden sie ihn finden und wenn es da draußen Waldläufer gab die den Weg kannten, würden sie auch diese Finden.

 

Am Abend saßen Tal und Ughtred an einem Tisch im Bodenlosen Loch.

»Wo ist er?«, fragte Tal und meinte Kyon.

»In seiner Kammer. Ich habe den sie von außen abgeschlossen. War gar nicht so einfach bei den Schlössern hier.«

Tal nickte und nahm einen Schluck Faltersud. Sie hatten beschlossen den Feierlichkeiten ein Ende zu bereiten. Genug war genug. Nachdem Tal dem Nygh von ihrer Erkenntnis seitens der Zauberin erzählt hatte, waren sie überein gekommen, das Kyon keinen weiteren Abend aufspielen würde. 

Schon jetzt hatten sich viele Besucher im Bodenlosen Loch eingefunden. Sie befragten den Wirt nach dem Barden aus Shishney und ab und zu kam einer zu ihnen an den Tisch und wollte wissen, wann der Sänger bereit für die zweite Runde wäre. Ughtred musste wirklich an sich halten aber erstaunlicher Weiße blieb Tal ruhig. Sie erklärte, dass es keine weitere Soiree geben würde, da der Barde krank geworden sei. Daraufhin zogen sich viele der Besucher eiligst zurück. Sie hatten unter Umständen sehr engen Kontakt mit Kyon gepflegt und überdachten nun, ob dies so klug gewesen war. Krankheiten waren übertragbar und manche von ihnen konnten als überaus unschön bezeichnet werden. 

Ughtred sagte finster: »Wir können den Schild nicht mitnehmen. Auf Lopen ist es einfach viel zu anstrengend.«

Tal nickte. »Ich habe gestern bei der Party eine der Stadtwächterinnen gesehen. Ich werde sie fragen, ob er den Schild für uns aufbewahrt.«

»Und Lopen?«

»Auch darum kümmere ich mich. Ich gehe nachher zur hiesigen Leihe. Das wird schon. Passt ihr auf unseren Star auf.«

Tatsächlich hatten die beiden Glück, denn sie waren noch dabei sich zu unterhalten, als bei einem erneuten Schwung von Besuchern auch besagte Stadtwächterin die Kaschemme betrat.

Tal hatte sie gestern mit Kyon gesehen. Es war eine dralle, junge Kriegerin und Kyon – wer hätte es gedacht? – hatte ihr den Hof gemacht. Tal rieb sich, in einer Geste, die sie selbst an Ughtred erinnerte – über die Stirn und sagte: »Also los. Gehen wirs an.«

Die Stadtwächterin stellte sich als Ayn heraus, aber sie machte eigentlich einen freundlichen und keineswegs überheblichen Eindruck. Ihr Name war Ayn Ubarith Nodhsly und Tal erinnerte sich, dass sie sich gestern schon vorgestellt hatte.

Die beiden Frauen unterhielten sich nur kurz, denn die Ayn hatte von Kyon von dem Unterfangen um die Perle erfahren und war bereit, für einen Mikroanteil, den Schild im tiefsten Keller unter dem hiesigen Herrenhaus zu verstecken. Das würde für sie kein Problem darstellen. Tal war froh, zumindest dieses Problem schnell in den Griff bekommen zu haben und sagte zu. Ohne weiteres Zögern holten sie den Schild aus Tals Zimmer.

Dann nannte Ubarith der Hexe noch den Namen einer der beiden Lopenleihen von Ongaiyd und zog dann, etwas traurig, wegen der offenbaren Tatsache, dass es keine zweite Festlichkeit geben würde, ab.

»Lopenleihe der Udaiy«, wiederholte Tal den Namen, den die Stadtwächterin genannt hatte gegenüber Ughtred. Es war dem Nygh anzusehen, dass er lieber mit ihr gegangen wäre, aber andererseits war er nicht bereit, zu riskieren, dass der Barde ausbrach und das ganze Städtchen erneut in Aufruhr versetzte.

Tal gab ihm recht und sate: »Ich gehe kurz hoch und sehe nach dem Sliyn und dann sorge ich für Lopen. Das wird schon.«

 

Kyon erwachte und wünschte sich, ein Wesen ohne Kopf und ohne Hintern zu sein. Er fand sich in einer Position vor, die ihm zwar nicht fremd, aber alles andere als angenehm war. Er lag mit dem Hintern auf dem Bett und sein Oberkörper ruhte in einer durchgebogenen Position am Zimmerboden. Hatte die irre Hexe ihn nicht irgendwann mit Salbe verarztet? Warum bei den Alten hatte sie ihn dann nicht wenigstens auf das Bett zurück gezogen? Doch dann erkannte er die schreckliche Wahrheit: Für ihre Gummiknochen war seine jetzige Position wahrscheinlich normal und angenehm und damit dachte sie zwangsweise, auch er zöge es vor, so zu schlafen. Er hasste die Welt.

Als er versuchte sich aufzurichten, begann besagte Welt sich immer schneller zu drehen und als er endlich den Kopf oberhalb des Bettes hatte, überkamen ihn Tiba Fes Meere. Er richtete sich auf, hörte sein Rückgrat knacken und öffnete den Mund zu einem weiten O. Dann spie er, wie er noch nie zuvor in seinem Leben gespien hatte. Er merkte nicht, wie sich die Tür öffnete und Tal an seine Seite sprang, merkte nicht, wie immer mehr aus ihm heraus schoss – seine Welt war Meerwasser und Chaos.

In einem unmöglichen Schwall schoss das salzige Nass und alles andere, was er in sich hatte in das Zimmer. Er konnte den Mund nicht schließen, denn der Druck war viel zu groß für seinen Wolfskiefer. Bald drohte er zu ersticken und er hörte Tal neben sich fluchen und spürte dann ihre Krallen in seinen Haaren. Kurz bevor er die Besinnung verlieren und gnädig ersticken konnte, hörte die Welt auf sich durch ihn zu ergießen. Er kippte zur Seite, landete auf dem nassen Bett und krümmte sich zusammen. Salzwasser war sehr schädlich für Smavari, auch wenn es aus ihnen heraus schoss.

Tal versuchte ihm etwas einzuflößen, aber es ging nicht. Er hustete und versuchte am Leben zu bleiben.

Plötzlich krabbelte vor seinen Augen etwas Lebendiges aus dem Erbrochenen. Es war nicht groß, etwa wie ein Huhnsei, aber es war eindeutig zu groß, um es angenehm erbrechen zu können und es war lebendig. Er kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen was es war. Ganz sicher waren es die Amytoren. Er war nun ebenfalls schwanger von ihnen, wie der arme Mann in der Taverne damals, vor der Wüste. Er würde aufplatzen und sterben und sein Geist würde unendliche Zeiten in diesem nach brackigem Meerwasser stinkenden Loch umherirren.

Neben ihm bückte sich Tal und betrachtete das krabbelnde Ding auf dem Bettrand. »Winkerkrabbe«, murmelte sie. »Sicher kein Amytor.«

Hatte er laut gesprochen oder nur gedacht? Oder schlimmer noch, konnte sie jetzt jeden seiner Gedanken lesen? Er versuchte etwas zu sagen, brachte aber nur »was?«, heraus,

»Es ist eine Krabbe. Ich habe keine ahnung wo sie herkommt, aber es ist eine einfache Krabbe. Kein Amytor oder so etwas.«

»Ausgekotzt?!«

Sie nickte. »Offenbar eine sehr reale Vision. Nur warum?«

»Weiß nicht.«

Sie half ihm sich so gut es ging zu reinigen und öffnete ein Fenster. Hier, im oberen Stockwerk der Kaschemme, war dies den Nugai sei dank, immerhin möglich. Dann fing sie die kleine Krabbe und ging in die Küche hinunter, wo sie das zappelnde Tier in ein Glas packte und mit etwas Pergament und einem Gummiring verschloss. Dem Wirt trug sie auf, das Zimmer des Sliyn reinigen zu lassen und Ughtred sagte sie, dass er gut aufpassen solle; obwohl sie im Moment nicht an Kyons Feierlaune glaubte.

Ughtred schüttelte genervt den Kopf. Jedes Mal wenn er Kyon darauf ansprach, wann es weiter gehen könne, bekam er generell das Wort ›Morgen‹ zu hören. Immer Morgen, nie jetzt. Er hatte keinerlei Lust sich mit dem Barden auseinander zu setzen.

 

Tal suchte in der Kaschemme nach Vaadris Borthulk und hatte Glück. Sie war noch da. Kurzerhand sprach sie die Zauberin an und erzählte ihr, was vorgefallen war.

»Eine Vision, eindeutig und so wie es aussieht ja eine aus der Zukunft. So etwas ist ja nicht unbedingt selten. Ich habe alle drei, vier Nächste eine«, sagte Vaadris mit immer noch schwerer Zunge.

»Ihr kotzt Krabben und Meerwasser?«

»Nein, aber einmal habe ich tatsächlich eine dreibeinige Spinne hervorgewürgt.«

»Einer Sage nach, schlucken wir ständig Spinnen im Schlaf. Was sagt euch, dass es sich da um eine Vision wie die des Sliyn gehandelt haben soll?«

»Na ja, das Tier war nicht von der Tiba Fe.«

Tal nickte. Das leuchtete ein. Vaadris schien etwas von diesen Dingen zu verstehen. Sie unterhielten sich über die Sache mit der Vier und der Ordnung und dem Chaos und schließlich schlug die Zauberin vor, zu ihr nach Hause zu gehen, um ein Experiment mit der Krabbe durchzuführen. Tal willigte ein und sie verließen das Bodenlose Loch.

Gemeinsam schlenderten sie die Straße entlang in der Vaadris ihr kleines Haus hatte. Es befand sich in der Mitte einer Kreuzung und stand auf einem etwa drei Meter hohen Sockel, war sehr klein und konnte maximal einen Raum beherbergen. Die junge Frau ging eine gewundene Trepper voran und öffnete die schmale Eingangstür. Der Innenraum war geschmackvoll eingerichtet und hatte vier Türen. Tal nickte. Hinter den Türen mussten sich Unräume befinden, denn von außen waren hier keine Wohnstrukturen zu sehen gewesen.

Vaadris bat ihren Gast sich in einen Quinkledersessel zu setzen und mit ihr einen Faltersud zu trinken. Sie unterhielten sich noch eine Weile und irgendwann kam die Zauberin erneut auf die Vier und die Formel. Sie mutmaßte, dass diese alte Art der Mathematik, auf die Herrin der Zahlen hinweisen könnte. Dabei ging es um eine Sagengestalt der Nugai. Die Herrin der Zahlen war eben die Nugai, die den Smavari vor der Sprache schon das Rechnen und damit die Logik beibrachte. Sie war sozusagen die Mutter aller Logik für die Smavari. Tal hatte noch nie von dieser Figur aus der smavarischen Entstehungsgeschichte gehört, aber das hatte nichts zu bedeuten. Es gab unzählige Individuen der Aspekte des Kar, die sich auf die Entwicklung der Smavari ausgewirkt hatten und die Doppelmondhexen konzentrierten sich eher auf die aktuelle Umsetzung von okkulten Kräften und nicht um alte Götterfiguren. Ihre Hexenmutter Akkatha konnte angeblich mit Asen und Nugai kommunizieren, oder sie sogar beschwören, aber es gab niemanden, der einen solchen Vorgang bezeugen konnte. 

Nachdem sie ausgetrunken hatten, stand Vaadris auf und deutete auf eine der Türen. »Kommt, ich will etwas probieren!«

Tal stand auf und sah zu, wie sich die Tür öffnete und vor ihren Augen tatsächlich ein Unraum entstand. Sie wollte Vaadris fragen, wie sie zu so etwas gekommen war, konnte aber ihr eigenes Staunen nicht überwinden. Die Öffnung führte nämlich in eine Art längliches Laboratorium, dass bei Weitem größer war, als die Wohnküche der Zauberin. 

In der Mitte standen drei Tische mit Versuchsanordnungen. Die Wände waren mit Regalen mit Kolben und Kisten und Werkzeugen vollgestellt. Auf einem der Tische lag eine Leiche, wahrscheinlich ein Quink, die erstaunlicher Weiße nicht stank. Der Brustkorb stand weit offen, aber es gab weder Gerüche, noch Fliegen.

Als die Zauberin Tals Erstaunen bemerkte, sagte sie, nicht ohne Stolz in der Stimme: »Ein eigens von mir erfundener Duftstoff. Er verhindert die negativen Eigenschaften der Fäulnis.«

»Fäulnis hat gute Eigenschaften?«, fragte Tal mit interessiertem Blick, aber Vaadris hatte schon angefangen ihren Versuch aufzubauen. Sie stellte lange Kolben auf den Mittleren Tisch, befestigte Drähte aus einem der Schränke und öffnete eine Art Wandschrank, in der große Kupferspulen standen. Dann streckte sie die Hand nach Tal aus und sagte: »Krabbe!«

Tal kramte das Gals mit dem Krabbeltier hervor und gab es der Zauberin. Diese setzte eine Brille auf und sah Tal an, die selbst eine trug. Dann zuckte sie mit den Schultern und sagte: »Wollen mal sehen, was du für einer bist mein kleiner Freund.«

Damit legte sie einen Hebel um und begann eine Kurbel an einer der Spulen zu drehen. Energieblitze liefen an den Kupferleitungen entlang und zischten über die frei durch den Raum führenden Kabel, um in dem Gals zu verglühen. Die Krabbe zischte und dampfte, Beinchen zogen sich zusammen und schließlich stieg dicker, öliger Qualm vom Tisch auf. 

»Merkt ihr das? Kein Geruch. Gut was?«

Tal beugte sich über das Glas. Es war nur noch ein Rest Wasser darin. Sie wedelte ungeduldig mit der Hand den Qualm beiseite und erschrak, als sie sah, was von dem tier übrig geblieben war.

»Was bei den Nugai ist denn das jetzt?«

Sich langsam hin und her windend lag an der Oberfläche des bisschen Wassers in dem Glas eine Art Larve mit Fischschwanz. Das Wesen war nur noch halb so groß wie die ursprüngliche Krabbe und machte den Eindruck, als würde es nicht mehr lange durchhalten.

»Ist das etwa eine Larve?«, fragte Tal verwirrt.

»Allerdings. Das ist der empirische Beweis für meine Theorie. Ich habe das Kontinuum für die Grabbe für einen kurzen Moment relativiert. Als nächstes würde sie zum Ei werden; aber ich glaube so lange macht sie es nicht mehr.«

»Ihr meint, weil sie aus der Zukunft stammt und ihr die Zeitlinie relativiert habt, wurde sie verjüngt?«

»Das generelle Kontinuum, nicht nur die Zeit, aber ja, sie wurde verjüngt; was nur möglich war, weil sie halt noch gar nicht existieren dürfte. Also aus unserer Sicht. Aus der Sicht anderer Zeitdimensionen sieht das ganz anders aus.«

»Fuck!«

 

Später versuchte Tal dem immer noch lädierten Kyon die Sache mit der Krabbe zu erklären, aber er wollte es gar nicht so genau wissen. Sie stritten sich ein wenig, hatten schlechten Sex und gingen ihrer Wege. An diesem Tag würde es auf jeden Fall noch nicht weiter gehen. Ughtred hatte die Kaschemme nicht verlassen, und war auch nicht dazu bereit, außer es würde endlich weiter gehen. Er nörgelte und Tal erklärte sich bereit, nach einem kleinen Nickerchen, die Lopenleihe aufzusuchen.

Ayn Udaiy Virith yr Sheamiths Leihe war ein schöner, flacher Bau mit mehreren Stallungen und einem großen Grundstück darum herum. Tal war zuerst ein wenig beunruhigt, weil die Hüterin der Tiere eine Ayn war, aber als Lady Udaiy aus dem Haus kam, war sie seltsam schnell von der sher jung wirkenden Frau eingenommen. Sie war schmutzig, wahrscheinlich von handwerklicher Arbeit, hatte ein hübsches Gesicht und unglaublich grell scheinende grüne Augen. Sie stellte sich für eine Ayn recht herzlich vor und hieß die Doppelmondhexe willkommen. Verhandlungen zum Thema Lopen gab es praktisch überhaupt nicht. Udaiy überließ es allein den Alphas zu entscheiden, welche Aufträge sie annahmen und welche nicht. Also begleitete sie die Hexe zu einer der beiden derzeit hier ruhenden Herden.

Der Anführer war eine tief schwarze Orey`Orevi namens Teerfell, und neben ihm stand Jagdschatten, sein Sohn. Tal griff in die Zwischenwelt und wob schnell die feinstofflichen Formen, die es ihr erlaubten, die Sprache der Lopen zu verstehen und zu sprechen und stellte sich vor. Sie beschrieb ihr Anliegen und sah in den Augen des älteren Zackenhorns, dass es nur zu froh war, zu einem Abenteuer eingeladen zu werden. Sie unterhielten sich nur kurz, denn Teerfell war nicht unbedingt ein Zackenhorn der vielen Worte. Etwas anders sah es mit seinem Sohn aus. Er hatte ganz eindeutig einen Narren an der Silberwölfin gefressen und bestand drauf sie nach den Verhandlungen mit seinem Vater noch zu begleiten. Er schlug vor sie zu begatten und ihr viele kleine Zackenhörner in den Bauch zu pflanzen. Tal lehnte freundlich ab und erklärte, dass sie nun zu ihrem eigenen Alpha zurück müssen. Sie verabschiedeten sich mit dem alten Schwur: »Leben für Leben!«

 

Fast auf die Stunde genau einen Tag später stand Kyon vor Teerfell und dessen Herde und wiederholte die Worte des Bundes. Das große Zackenhorn verbeugte sich und schnaubte zustimmend. Dann begannen Ughtred und Odugme die Packsättel aufzulegen und die Ausrüstung zu verstauen. Es war ein trüber Spätfrühlingstag und es nieselte, wie so oft in den kisadmurischen Niederungen. Alle hatten ihre Mäntel mit Kapuzen übergestreift und warteten nun auf den Aufbruch. Als der Barde sich auf den Rücken des großen Zackenhorns zog richtete er sich auf und wollte schon die Hand für ein Zeichen heben, aber in diesem Moment schob sich die Hexe auf ihrem eigenen Tier an ihm vorbei und deutete mit ihrem Speer auf einen bewaldeten Hang, der zwei oder drei Kilometer entfernt lag. Dann beschrieb der Speer einen Bogen, denn zwischen ihnen und besagter Landschaft lag die, durch den Schiffsunfall verursachte, defekte Palisade. Der Speer beschrieb einen Halbkreis und deutete schließlich auf die Straße nach Westen. Obwohl es außerhalb des ortes keine Straßen gab, befand sich hier eine Art Stadttor. Sie bedeutete ihrer Lope mit den Versen, dass sie bereit war und das Zackenhorn ging in die angezeigte Richtung. Teerfell schnaubte ein wenig entrüstet und wollte die weibliche Lope überholen aber Kyon sagte: »Daran gewöhnt man sich nie oder? Aber es bringt nichts. Lassen wir sie im Glauben das Sagen zu haben und genießen die hierdurch entstehende Leichtigkeit des Seins.«

Er wusste nicht, ob das Tier seine Worte verstanden hatte, aber es verzichtete tatsächlich auf ein Gerangel um die Anführerschaft, schnaubte den kalten Nachtatem aus und blieb hinter seiner Alphakuh.

Das Tor war – wer hätte es gedacht? – verschlossen und mit schweren Riegeln belegt. Es dauerte eine ganze Weile es zu öffnen, aber da sie niemand daran zu hindern versuchte und die drei Quinkwächter nur tröge dabei standen, kamen sie gut voran. Die Auflage das Tor selbst zu öffnen, quittierten die Quink mit der Aussage, dass die Ayn es verboten hätte. Egal, dachte Kyon und war froh, als die kleinen Idioten das Tor hinter ihnen schlossen, als die letzte Lope im Wald verschwunden war.

Unterdessen führte Tal die Herde um Ongaiyd herum, bis sie wieder an der Stelle waren, an der das Flugschiff die Holzmauer gestreift hatte. Wie die Zauberen Vaadris gesagt hatte, ging von hier ein alter Wildpfad von der Ansiedlung nach Norden ab. Sie hob in Kyons Art die Hand und ballte sie zur Faust. Ughtred lachte und rieb sich über die Stirn, aber Kyon schien die Neckerei überhaupt nicht zu bemerken. Dann ging es nach Norden weiter.

Der Weg war schmal und steinig und das Wetter derart trüb, dass es schwierig war, etwas im dunkeln zu erkennen. Als die Tagesschwestern sich ankündigten wurde der Nebel immer dichter und machte das Vorankommen schwerer. Immer wieder strauchelte eine der großen Dromirthare. Mehr als einmal wäre Odugme beinahe von seiner riesigen Lope gerutscht und nur die Erfahrung hielt ihn im Sattel. Die etwas leichteren Zackenhörner hatten weniger Probleme mit dem Weg. Zum Glück ging es schnurgerade nach Nordwesten und keine Abzweigung machte den Eindruck richtiger als der Hauptweg zu sein. Zweimal fanden sie smavarische Jagdpfeile in den Bäumen stecken und über eine Stunde von Ongaiyd entfernt lag der von Pilzen überwucherte Kadaver eines Hobgoblins auf einem kleinen Hügel nahe des Weges. Ughtred befürchtete, nicht genügend Proviant dabei zu haben und wäre am liebsten abgestiegen um die Pilze einzusammeln. Doch er verzichtete darauf. Selbst ein Hobgoblin hatte die Totenruhe verdient. Stattdessen sammelte er Pilze bei ihrer ersten Rast. Es stellte sich heraus, dass der Weg zu eng war, um das Zelt vernünftig aufbauen zu können und Tal und Kyon mussten sich unter der flatternden Fahne ausruhen, die Ughtred ihnen behelfsmäßig an den Bäumen befestigt hatte. Doch dafür reichten die für die Silberwölfe so unangenehmen Sonnenstrahlen ohnehin nur selten bis zum feuchten Boden der kisadmurischen Wälder. 

Zwei Nächte und Tage folgten sie dem Pfad durch den schwarzen Wald. Nichts störte sie in der Monotonie ihres Vorankommens und nichts erfreute sie dabei. Nur ab und an, wenn sie sich ausruhten, sammelte Ughtred Pilze und frühe Beeren und genoss die Wildnis. Wie immer fehlte ihm sein Korezuul, doch er hatte gelernt, dass auch Kisadmur seine schönen Seiten hatte. Es war am frühen Abend des zweiten Reisetages, als Tal, Kyon imitierend, den Arm hob und der Tross zum Stehen kam. Vor ihnen stiegt das Land ein wenig an und die Bäume wurden dichter. Dickes Nadelgehölz mit abgebrochenen, kantigen Ästen versperrte ihnen den Weg. Der Wildpfad endete hier. Sie stiegen ab und gingen ein Stück zu Fuß den Hügel hinauf und kämpften sich durchs Unterholz. Oben angekommen standen sie an einem Bruch und blickten über die Wipfel, der tiefer gelegenen Bäume.

Mitten im Wald war eine große Lichtung zu sehen, in der ein riesiges Haus lag. Es gab keinen richtigen weg dort hinunter, aber die Lopen würden sicher keine Schwierigkeiten mit dem Abhang haben. Zu Fuß konnten auch die Zweibeiner hinunter gelangen und so machten sie sich auf den Weg. Kyon rutsche mehrfach aus, doch dann straffte sich sein Körper. Mit purer Willenskraft überwand er die Fährnisse der Wildnis. Er hasste es, immer wie ein Anker auf die anderen zu wirken. Er hasste die Wildnis. Aber dann wieder, in manchen Momenten, wenn er mit der Pfeife in der Hand auf einem Stein saß und über die dunklen Wälder blickte, schien er seinen Vater zu verstehen.

Für das Haus konnte es keine andere Beschreibung als gigantisch geben. Sie standen vor der groben Konstruktion aus unbehandelten Baumstämmen und wunderten sich über die Maße. Es hatte eine Länge von weit mehr als zwanzig Schritte und eine Breite von wenigstens zehn. Das Dach ruhte auf den Stämmen in über fünf Metern Höhe und der Giebel war sicher noch einmal zwei Meter höher. Türen und Fenster waren ebenfalls gewaltig in ihren Ausmaßen und gerade die vermeintliche Haupttür maß zwei- auf drei-meter-fünfzig. Sie blickten sich fragend an. Kyon machte ein Zeichen, dass die Lopen zum Verstummen brachte und schlich sich zu besagtem Tor. Er lauschte einen Moment, aber da bellte schon wieder eins der aufgeregten Zackenhörner, also klopfte er einfach an.

Im Inneren war ein lautes Stampfen zu hören und schließlich wurde ein winziger riegel zur Seite geschoben. Als sich die Riesentür öffnete, erschien das zottelige Haupt eines riesigen Trolls. Wie hätte es anders sein können?

Kyon stolperte zurück und Tal griff nach dem Speer, der vor ihr im Waldboden steckte, aber der Troll sagte langsam und mit gedehnter, tiefer Stimme: »Aaaaaaah, Gäste. Silberwölfe, Lopen und ein Eichhörnchen. Koooomt hereiiiin, kommt kommt.«

Sie sahen sich an und Ughtred fragte: »Eichhörnchen?«

Tal kicherte. Sie stand hinter dem Nygh und nur Kyon konnte siehen, wie sie ihm mit den Händen Eichhörnchenohren machte. Kyon schüttelte genervt den Kopf und machte ein Zeichen zur Hütte hin. Durch ihre Ausmaße stellte sich nicht die Frage, was aus den Lopen würden. Bei der Größe der Tür konnte man sie einfach mit hinein nehmen.

Das Erste, was auffiel, wenn man die Taverne betrat, war der angenehme Geruch nach Kräutern und frischen Wildblumen, die büschelweiße getrocknet an der Decke hingen. Der Innenraum war, wie zu erwarten, für normale Wesen gewaltig. Es gab eine Hauptkammer mit einem riesigen Kamin und einer Schlafstätte, die leicht zwei Trollen Platz geboten hätte. Um diese Kammer herum schlossen sich kleinere Zimmer an, deren Türen dem Troll auch Schwierigkeiten machen würden. Im hinteren Gebäudeteil schloss sich ein großer Raum an, auf dessen Boden frisches Heu und zwei sehr alte Zackenhörner lagen. Die Tiere beschnüffelten die Neuankömmlinge, waren aber viel zu alte für einen Revierkampf.

Kaum waren alle in dem Haus untergekommen, entzündete der Riesenhafte Gastgeber Kraft seiner Stimme zuerst das Kaminfeuer und dann an Balken aufgehängte Deckenlichter. Er tat dies nicht etwa mit hilfe psionischer Disziplinen. Es geschah vielmehr durch die Zauberkraft technischer Hilfsmittel. Später klärte er auf, dass er die Autofeuer und Lichtgeber aus seiner Zeit beim smavarischen Militär hatte und stolz darauf wahr, unter den Silberwölfen gedient zu haben. Sein Name war Mardor und er war auch nicht einfach ein Troll. Sein Volk nanne man Burvirole, eine von den Silberwölfen eigenst für ihre Kriegszüge erschaffene Kriegerspezies. Tal fragte ihn, ob er das Naivt kenne und er kannte es. Darüber hinaus erklärte er sich sofort bereit die Silberwölfe zumindest dorthin zu geleiten. Der Weg sei nicht ungefährlich und er wäre ein starker Krieger.

Dann erzählte er seine Geschichte: »Mardor sieht brennenden Sternenstaub, Sonnen, Planeten – Seite an Seite mit gold geflügelten Silberwölfen. Gleißend helle Sternenbarken ziehen an Heliumfeuer vorbei. Welt der Pferdemänner. Riesige Pyramiden und Stätten aus Stein von Göttern gemacht. Mardor springt in den Kampf, zerreißend, zerquetschend, zermalmend, zertretend – epische Schlacht. Pferdemänner kämpfen voll Grimm mit Schwert und Axt, Feuersalven und zischendes Eis. Episch.« Nach einem großen Schluck Faltersud aus einem Becher, in dem ein Nygh baden könnte, murmelt er weiter: »Dann trifft Fuß von Eisenwyrm Mardors Schulter und aus ist der Kampf. Pferdemänner bringen in Tiefe und er arbeitet. Viele Zeiten mit anderen Gefangenen. Dort Mugina. Mugina gut. Gemeinsam fliehen mit Hilfe von Muginas Horn. Wieder lange Reise, doch jetzt durch Grau in Grau – die Welt der Wächter. Hier leben, vorbei der Kampf, genesen, alt werden. Mugina verloren. Horn verloren. Taverne Muginas Horn.« 

Als er endet glänzen seine tief im Schädel verborgenen Augen voller Tatemdrang. Doch dann werden sie trüb und er berichtet von seinem Weib. Ihr Name war Mugina und einst erlangten sie gemeinsam die Freiheit. Sie flüchteten hierher, zur Tiba Fe und in den schwarzen Wald. Doch hier ging sie ihm verloren und nun war er untröstlich. Er war immer noch ein Krieger, aber sein Herz war alt und krank.

Tal mochte Mardor. Sie erkannte sofort, dass er Kriegsverletzungen davongetragen hatte und bot sich an, diese zu behandeln. Zutraulich entblöste der große Mann mit dem struppigen Haar seine Jacke und Tal erschauderte. Aus seiner Brust ragte ein Stück Eisen und das Fleisch um das Schrapnell war krustig aufgeworfen und seit langer Zeit entzündet. Jedes andere Wesen wäre sicher an dieser Verletzung zu Grunde gegangen, doch nicht der Troll. Seine natürlichen Heilungskräfte regenerierten ihn schneller, als die Wunde ihn töten konnte. Die Hexe untersuchte das Ding in Mardor und kam zu dem Schluss, dass es wenigstens in seine Lunge hinunter ragte, doch es saß so fest, dass sie es nicht mit den ihr hier im Wald zur Verfügung stehenden Mitteln erausschneiden konnte, ohne ihn zu töten.

Der große Mann tat ihr leid, und sie versorgte die Wundränder so gut es ging und benutzte all ihre Heilmittel, die ihr passend erschienen. Dieses Wesen war extra für sie erschaffen worden und beschwerte sich nicht einmal über seinen Zustand, der zweifelsfrei nur eingetreten war, weil er sich einem, für ihn ganz sicher unwichtigen Kriegszug angeschlossen hatte. Wahrscheinlich hatte man ihn nicht einmal gefragt. Man hatte ihn so gemacht, dass er ohne zu zögern für die Smavari in den Tod gegangen wäre.

Den restlichen Abend und den kommenden Mittag verbrachten sie in Muginas Horn. Mardor bewirtete sie an einem von ihm geschnitzten Tisch und ebenfalls selbstgemachten Stühlen mit erstaunlich wohlschmeckenden Speisen. Ab und an versuchte er Ughtred Nüsse zuzuschieben und nannte ihn Eichhörnchen. Es ging ihm einfach nicht in den gewaltigen Schädel, dass es Wesen geben konnte die so groß wie Hobgoblins waren, aber keine grüne Haut hattem.

Die Übernachtung in Mardors Haus kam den Abenteurern wie ein Urlaub vor. Als Kyon sich in eins der Zimmer zurückzog, schlüpfte Tal hinter ihm durch die Tür und machte es sich in seinem Bett gemütlich. Die Atmosphäre hier im Wald war einfach zum Ankuscheln.

Für Mardor war es ganz normal, dass die Gäste am nächsten Morgen ausschliefen und erst spät zum Frühstück erschienen. Nur das Eichhörnchen leistete ihm gesellschaft und  half dann das Frühstück für die Silberwölfe zu richten. Nach dem Essen, machten sich alle zum Aufbruch bereit. Odugme sattelte die Lopen und befestigte den Sarg auf einer von ihnen. Ughtred, der dies beobachtete tippte Tal an den Oberschenkel und fragte in möglichst freundlichem Ton: »Denkt ihr das wird wieder?« Er deutete dabei mit dem Kinn auf den Sarg und rieb sich dann verlegen über das Hexenzeichen auf seiner Stirn. Er dachte schon die junge Frau verärgert zu haben, doch sie sah einen Moment zu dem Phani und den Lopen hinüber und wandte sich dann ihm zu. Nach einem weiteren Moment des Schweigens sagte sie lakonisch: »Ehrlich gesagt zweifle ich. Ich werd mich mit dem Loslassen befassen müssen.« Sie machte eine Pause und sah in Ughtreds Seegrüne Augen. Dann stahl sich ein trauriges Lächeln auf ihr schönes Gesicht und sie sagte: »Aber noch nicht heute. Nicht heute.«

Ughtred hatte eine Außentür in seiner Kammer und öffnete sie, um das Wetter zu prüfen. Das Wetter jedoch bescherte ihm einen Pfeil, der knapp neben seinem Kopf im Holz des Türrahmens einschlug. Sofort schlug der Nygh Alarm und schloß die Ausfalltür. 

»Ich dachte du lebst hier, warum greifen die dich an?«, rief er Mardor zu, als er die Küche erreicht hatte.

Alle sahen ihn erstaunt an. Dann sagte Marnor dumpf: »Böse Rotaugen.«

»Dann kämpfen wir«, rief Tal grimmig und packte Raguels Speer. »Los Krieger, Zerfetzen und Zerreißen!.«

Mardor nahm seine riesige Axt von den Haken und wandt sich der Tür zu, aber Tal war ihm schon voraus und stürzte sich wütend in den Wald. Odugme zog sein Schwert und Tal schüttelte den Kopf, aber der Phani schnaubte. Er würde gehorswchen, aber es war ihm trotz seiner goldenen Maske anzusehen, dass er seiner Herrin in den Kampf folgen wollte. Die Hexe verzog das Gesicht zu einer Schnute und zuckte dann mit den Schultern. »Dann aber los«, knurrte sie wütend.

Ughtred hatte seine Position an der Tür wieder eingenommen und wartete, bis die Schützen von der Hexe und dem Burviol abgelenkt waren, und er den Ausbruch wagen konnte. Unterdessen postierte Kyon sich an der großen Tür auf der seite der Lopenunterkunft. Er öffnete sie, blickte hinaus und entdeckte in unmittelbarer Nähe zwischen den kantigen Stämmen der schwarzen Bäume Bewegung. Schnell zog er einen Nebelpfeil aus dem Köcher und schoss. Der Pfeil traf einen der Stämme und binnen weniger Sekunden breitete sich undurchdringbarer Nebel um die Angreifer aus. Sie husteten und dann flog auch schon der zweite Pfeil. Der Schrei des Terrorpfeils wurde zwar vom Nebel ein wenig gedämpft, genügte aber um die verwirrten Waldbewohner vollends ihre Lage überdenken zu lassen. Sie versuchten einen Weg aus dem Nebel zu finden und einer von ihnen erschien kurz am Ereignishorizont und erhielt als Belohnung einen ganz normalen Pfeil mitten in die Stirn. Es war ein Jukrey, der noch einige Schritte nach forn stolperte und dann zussammenbrach.

Unterdessen war Tal schon mitten um Wald. Der Speer war lang und unschierig in dieser Umgebung aber ihre kampferprobten Arme führten ihn meisterhaft zwischen den Stämmen der Bäume und wo sie diesen nicht auszuweichen vermochte, fällte sie die dünneren Bäume. Vor ihr befand sich ein Hobgoblin und einige Schritte weiter zwei Jukrey. Hinter sich hörte sie Mardor, aber sie wollte nicht warten. Wutentbrannt griff sie in die feinstoffliche Welt und wob eine Disziplien, die zuerst ihre eigenen Kräfte verstärkte und dann erschuf sie ein Gewebe der Snergie, die sie mit ihren Freunden und dem Burivol verband und das Beste aus jedem von ihnen herausholte.

Blitzschnell rammte sie dem Hobgoblin den Speer in den Bauch und schleuderte den Winzling in einem Bogen über sich hinweg. Sofort rannte sie zu den beiden stämmigen Jukrey und holte mit dem Speer aus. Hier standen die Bäume weit genug auseinander, dass sie den Speer mit seiner unterarmlangen Klinge in einem Bogen schwingen konnte. Einer der Gegner, er war mit einem alten smavarischen Kurzsäbel bewaffnet, versuchte seine Klinge hochzureißen, aber die Hexe ar einfach zu schnell. Der Speer traf ihn wie eine Schwertschneide am Bauch und durchtrennte die Gurte seiner Lederrüstung und seine Bauchdecke, nur um es beim zweiten gleich zu tun. Beide Rotaugen gingen schreiend und gurgelnd in die Knie und Tal rammte einem von ihnen den Speer in den offenen Mund. Sie schrie wild und ihre langen Haare knisterten vor psionischer Energie. Sie war eine Klingentänzerin, sie war Tal, North, Chentai, Scherbenesserin, der tanzende Tod!

Der ganze Kampf dauerte nur wenige Sekunden. Noch drei oder vier weitere Hobgoblins und Jukrey starben unter der Wut des Speeres, Kyons Pfeilen und Ughtreds Wurfäxten. Mardor, der einfach langsamer als die anderen war. Kam zu spät, bückte sich aber nach einem der Gefallen, hob ihn auf und riss ihm einen Fuß ab, um ihn an Ort und Stelle zu verspeisen.

Odugme indessen, kam ebenfalls zu spät. Die übrigen ANgreifer, es war unklar, wie viele es waren, flohen in die Dunkelheit des Waldes. Wieder einmal hatte sich gezeigt, wie sehr die Silberwölfe das Grauen und den Grimm in sich trugen und wie schwer es war, sich vor diesen Mächten zu verschließen. Odugme ließ das lange Chentauschwert sinken und sah seine Herrin an. Tal drehte sich zu ihm um und sagte: »Du gehorchst, aber beim nächsten Mal werde ich dich nicht übergehen.« Der große schwarze Mann nickte zufrieden. 

 

»Morgen«, sagte Kyon und Ughtred rollte mit den Augen wie ein wütendes Zackenhorn. Er konnte dieses ›Morgen‹ nicht mehr hören. Aber Tal nickte. Sie sah ein, dass es besser war, den Rotaugen Zeit zu geben ihre Ängste wachsen zu lassen. Mardor hatte zwei von ihnen eingesammelt und war gerade dabei Suppe aus ihnen zu kochen. Sie zog die Stirn in Falten, als er ihr ein Stück Fleisch reichen wollte und kämpfte mit der Reaktion ihres Magens. Burviole waren eindeutig keine Kostverächter. Ein Wunder, dass sich der Stamm draußen überhaupt getraut hatte anzugreifen. Wahrscheinlich waren sie nach dem langen Winter hungrig und hatten es auf die Lopen abgesehen. Wie auch immer, Morgen erschien ihr gut.

Also verbrachten sie die restliche Nacht und den folgenden Mittag in Muginas Horn, auch wenn sie Mardors Küche diesmal ablehnten. Erst als die beiden Tagesschwestern den Zenit über Kisadmur überschritten hatten, öffnete Ughtred erneut die Tür seiner Kammer und lugte in die Schatten des Waldes hinaus. Er wartete einen Moment, aber die Luft blieb frei von Pfeilen. Es gab auch keinen Nebel und so war er sich sicher, die Taverne diesmal unbehelligt verlassen zu können. Er trat ins Freie und lauschte, aber auch jetzt gab es kein Schwirren von Pfeilen. Schließlich rief er zum Aufbruch und Kyon ließ Odugme das Außengatter der Lopenunterkunft öffnen. Die Tiere waren froh in die Wildnis entlassen zu werden. Sie rangelten untereinande rund jede von ihnen versuchte als erste hinaus zu kommen. 

Mardor kam um das Haus herum und deutete auf einen Wildpfad, der zwischen den Tannen nach nördlicher Richtung führte. Die Wärme der Luft kündigte den kommenden Sommer an und überall schwirrten Insekten über den Bluten von Waldblumen. Es roch nach Sommerfrische und sich langsam erwärmendem Unterholz. So konnte es kaum verwundern, dass der ganze Zug gut gelant aufbrach und Muginas Horn hinter sich ließ. Hätten sie gewusst, dass der Weg sie durch eine wirklich üble Sumpflandschaft führen Würde, wären sie sicher anderer Stimmung gewesen.

Zwei Tage und Nächte war der Weg durch den Wald erträglich, doch dann wurde das Land immer feuchter und erinnerte an die Niederungen von Hyn. Gegen Morgen des dritten Tages gab es nur noch wenige Bäume und schließlich mussten die Reiter absteigen und die Lopen frei laufen lassen. Der Boden war nass, führte an Seen entlang und wies immer wieder Teerlöscher auf. Einmal stolperte Ughtred in eins dieser Löscher und konnte sich gerade so an den Hörnern der hinter ihm gehenden Lope festhalten. Doch auch das Tier rutsche in die schwarze Brühe und nur Odugme rettete die beiden davor unterzugehen. Er packte das Zackenhorn am Schwanz und hielt es fest, bis es aufhörte zu stampfen und Mardor helfen konnte es aus dem Dreck zu ziehen. Ughtred war über und über von Teer bedeckt und hatte seine liebe Mühe seinen Bart zu reinigen. Immer wieder strich er durch sein Gesichtshaar und machte einen mehr als betretenen Eindruck. 

Eine weitere Gefahr stellten die Parasiten dieses Landstriches dar. Es gab neben den allgegenwärtigen Mückenschwärmen seltsame flache Wasserzecken, die sich an der Haut festsaugten und ihren Wirt vergifteten. Tal untersuchte Kyon und gab ihm ein selbstgemachtes Gegengift und hätte beinahe den Befall der Lopen übersehen. Doch Odugme untersuchte die Tiere und so verlor die Hexe ihre Antidote, rettete aber wahrscheinlich mehreren Zackenhörnern das Leben.

Nach am selben Tag, an dem Tal alle nach Parasiten untersucht hatte, kamen sie durch einen lichten Wald mit seltsam dünnen Bäumen. Nasse Grashügel wechselten sich mit kleinen Tümpeln ab und die Luft stank nach Brackwasser und Moder. Kyon, der wie so oft die Führung des Zuges übernommen hatte hob seinen Blick und erschrak. In einer Höhe von über fünf Metern über seinem Kopf befand sich der gigantisch Schädel eines Schreitvogels. Er hatte die Beine des Tieres als Teil der Flora wahrgenommen, doch der gut und gerne zwei Meter lange Schnabel und die drei rötlichen Augen gemahnten ihn eines Besseren. Er hob die Hand, machte aber kein Geräusch. Der riesige Reiher stand keine drei Meter von ihm und der Lope auf der er saß entfernt und es wäre dem Vogel ein Leichtes gewesen, ihn mit seinem überdimensionalen, sehr spitzen Schnabel zu erstechen und mit Haut und Haaren zu verschlingen. 

Ughtred erschrak jedoch, als er ebenfalls einen der Riesenreier sah und schrie Alarm. Da bewegte sich der Wald um die Reisenden herum und nicht weniger als fünf der gigantischen, dunkelrot gefiederten Vögel setzten sich in Bewegung. Im ersten Moment dachten alle, es käme zum Kampf, aber die Vögel waren ganz offensichtlich ebenfalls erschrocken und traten die Flucht an. Sie hätten ohne Weiteres eine Lope verschlucken können, aber sie zogen es vor zu fliehen. Mit mehr als zehn Meter weiten Schritten eilten sie über die Hügel, trampelten durch Tümpel und verschwanden im Nebel des westlichen Horizonts.

Mador sagte ruhig: »Schmeckt wie Huhns …«

 

Mehrere Tage und Nächte ging die Reise weiter nach Norden. Tal fragte sich, warum das Gebirge links von ihnen verlief und warum der Weg nicht stärker anstieg, aber ihr Führer würde schon wissen was er tat. Und tatsächlich, drei Tagesreisen, nachdem sie die Tümpel der Riesenreiher hinter sich gelassen hatten begann das Land anzusteigen. Die Silhouette des Ardeyrt war nicht mehr als Gebirgskamm zu erkennen und stattdessen war der Horizont zu einem hellgrauen Band aus Nebel und düsteren Baumspitzen geworden. Die schwarzen Wälder von Kisadmur machten ihrem Beinamen alle Ehre. 

Auch wurde der Weg langsam immer beschwerlicher. Je dichter der Wald mit seinen nadelreichen Bäumen wurde, um so mehr Findlinge lagen im moosigen Unterholz und versperrten das eine ums andere Mal den Weg. Oft mussten sie stundenlange Umwege machen, weil riesige umgefallene Bäume oder gar unüberwindliche Schluchten den Weg versperrten. Auch die Pausen gestalteten sich nun immer schwieriger. Lopen konnten überall rasten und auch Mardor und Ughtred schienen damit kaum Probleme zu haben, aber es gab nur selten genügend Platz auf dem Waldboden, um das Zelt für die Silberwölfe aufzubauen und auch Odugme konnte sich nirgendwo ausstrecken. 

Dann, es war kurz vor einer der üblichen Mittagspausen, ahmte Mardor die Handbewegung von Kyon nach und brachte damit die Lopen zum Stehen. Er fuhr mit seiner riesigen Pranke durch die Baumwipfel mehrer Tannen und zeigte den Reisegefährten, was er entdeckt hatte.

Kyon nickte. Er hatte es auch gesehen. Über einen Meter zierten die Faust des Trolls. Er wedelte damit herum und schüttelte den Kopf. Dann sagte er: »Naivt. Nicht mehr weit.«

SIe rasteten unter diesen ersten Vorboten der Weißen Spinnen und als sie nachmittags aufbrachen, hatte jeder von ihnen ein ungutes Gefühl. Es war eine Sache sich das Nest der Riesenspinnen vorzustellen; jetzt jedoch ihre seildicken Weben vor Augen zu haben, zeichnete noch einmal ein ganz anderes Bild.

In der folgenden Nacht hatte Tal mehrmals das Gefühl, von vieläugigen, bleichen Gesichtern beobachtet zu werden und Kyon sprach sogar davon, auf eine Vision zu warten. Er bereitete sich darauf vor, aber seine Vorahnung erfüllte sich nicht. Am nächsten Morgen, die Tagesschwestern besprengten gerade die Baumwipfel mit ihrem roten Feuerhauch, hielt Mardor erneut an. Das Gelände war noch deutlich steiler geworden und nun waren überall zwischen den Zacken der Baumstämme die weißen Schleier des Spinnenvolkes zu sehen.

»Nicht weiter hier«, sagte der riesige Mann ohne weitere Vorwarnung und deutete auf den Boden unter sich. »Hier warten. Einige Tage, Nächte, hier warten. Mardor auf Zackentiere und Horntiere aufpassen. Wolf und Dämonen verteiben. Warten.«

Tal trat zu ihm hin und legte ihre schmale Hand auf eins seiner Knie. Sie nickte und sagte freundlich: »Wir verdanken dir viel Mardor. Es ist sher freundlich von dir, dass du hier auf uns warten wirst.«

Der Troll zog die Nase hoch und wischte sich mit dem Arm seiner Jacke den Rotz aus dem Gesicht. Weinte er etwa? Schließlich sagte er zwischen zwei tiefen Seufzern: »Ihr nicht wiederkommen. Tot. Spinnen fressen.«

Tal blickte zu Boden. Dann erwiderte sie mit einem gefährlichen Unterton der nicht Mardor, sondern allen Gefahren ihrer Unternehmung galt: »Wir sind Smavari. Ich bin eine Hee des Doppelmondes. Wir führen den Chaosschild und Raguels Speer mit uns. Wir haben den besten Bogenschützen dieser Welt in unseren Reihen, den besten Dieb und den treuesten Träger. Wir sind auf dem Weg einem Feuerberg die Stirn zu bieten. Ich fürchte keine Spinnen!«

Mardor schnaubte etwas beruhigt und wandte sich Ughtred zu, der begonnen hatte die Lopen zu entladen.

Gemeinsam nahmen sie ein letztes Mahl zu sich und lehnten, wie alle Male zuvor Mordors Trockenhobgoblinfleisch dankend ab. Es waren noch einige Stunden bis zum Mittag und so entschieden sich die Abenteurer aufzubrechen. Außerdem schien der Wald ohnehin immer undurchdringlicher zu werden. Zwar gaben ihm die weißen Schleier zwischen den Bäumen einen seltsam phalen Anstrich, doch offenbar hielten die Gespinste dennoch die Kräfte der Tagesgestirne davon ab, ins Reich der Weißen Mütter einzudringen.

Die vier Gefährten wanderten durch ein unreales Reich aus Fäden und Zeitlosigkeit. Bald war überhaupt nicht mehr zu erkennen, ob Tag oder Nacht war. Die hellen Gespinste schienen tatsächlich zu leuchten und über ihnen zusammen mit den Bäumen ein undurchdringliches Dach zu bilden. Der Weg war uneben, aber es gab nach wie vor eine Art sichtbaren Pfad und Tals untrügliches geographisches Empfinden zusammen mit dem Wegekristall der Nygh aus Undorn, konnten sie sicher sein, sich nicht verlaufen zu haben. Anders war es ganz eindeutig anderen gegangen, die versucht hatten das Naivt zu finden. Immer wieder zeigten reglose, zwischen den Baumstämmen baumelnde Gestalten von solchen Versuchen. Schwarze, leblose Dinge hingen kopfüber zwischen den dornenreichen Stämmen und bezeugten die hungrige Gesinnung der Bewohnerinnen dieses Reiches. Tal umklammerte den Griff des Speeres und überdachte ihre Aussage. Es schienen durchaus viele Spinnen hier zu hausen. Und groß waren sie offenbar auch. Doch als sie schließlich der ersten der Weißen Mütter von Angesicht zu Angesicht begegneten schalt sich die Hexe stumm ihres Hochmutes wegen. 

Gerade hatte Ughtred allen geraten, das extra zu diesem Zweck mitgebrachte Spinnenseil sichtbar um die Schultern zu legen, als Tal aufsah und in einer der Baumkronen direkt über ihrem Kopf eine gewaltige unförmige gewahr wurde. Neben ihr wollte Kyon die Hand nach seinem Bogen ausstrecken, aber Tal machte einen Schritt von ihm weg und hob beschwichtigend die Hand. Schnell griff sie in die Sphäre der Anderwelt und erkannte das riesige Wesen über ihr. Sie versuchte seine Sprache aus den feinen Fäden des Äthers zu ziehen und es gelang. In der Sprache der Spinnen sagte sie holprig: »Wir sind Freunde.«

Das Wesen hatte einen Leibesumfang von gut und gerne zwei Metern und seine Beine mussten wenigstens doppelt so lang sein. Ughtred fragte sich, warum alles außerhalb von Korezuuls Grenzen riesig sein musste. Hatte sich das Land an die Silberwölfe angepasst? Nyghs waren klein, also waren auch die Tiere ihres Landes klein!? War es das? 

Er schluckte, als er mitansah, wie sich der gewaltige scheußliche Leib des Wesens seinen Weg zwischen den Baumstämmen herunter bahnte und endlich aus seinen eigenen Spinnfäden hindurch sichtbar wurde. Und was war dies für ein schrecklichen Anblick? Die Spinne hatte ein flaches Gesicht mit einer Unzahl schwarzer, lebloser Augen, die scheinbar ohne Ordnung hier platziert worden waren. Am unteren Teil des hässlichen Kopfes hingen zwei armlange Glieder, die in dicke, fast ebensolange tief schwarze Fangzähnen ausliefen. Direkt hinter dem Kopf begann der unglaublich feiste Leib. Die Haut darüber schien zum Platzen angespannt zu sein und wies eine ungesunde, von hellblauen Fasern durchwachsene Färbung auf. Am schlimmsten aber waren die dicken Beine, von denen jedes zwei riesige, gekrümmte klauen aufwies. Dicke und grotesk lange Haare standen kerzengerade von diesen Gliedern ab und wirkten dabei wie Kyons Pfeile. Hätte er auf dieses Wesen geschossen, seine Pfeile wären zwischen diesen Tasthaaren untergegangen.

»Essen, süßes Essen«, sagte die Spinne zu Tal und hob ihre Fangzähne. Doch als Tal erneut beteuerte, eine Freundin zu sein, hielt sie inne.

Die Hexe überlegte einen Herzschlag lang, griff nach dem soll um ihre Schulter und sagte dann frei heraus: »Ich bin eine der kisadmurischen Doppelmondhexen und dies ist ein smavarischer Edelmann auf einer Queste. Wir vier erbitten freies Geleit zum Naivt, dem Heim von Frau Spinne.«

Sofort spürte sie an der Reaktion der Spinne, dass sie den falschen Ton angeschlagen hatte. Hinzu kam, dass über ihren Köpfen weitere Riesenleiber die fremden Besucher zu beobachten schienen.

Die Spinne vor Tal hob aggressiv die Vorderbeine und zischte: »Keine Schwestern, Essen, Essen!«

Sie versuchte sich auf Tal zu stützen, doch die Hexe reparierte blitzschnell. Sie riss den langen Speer hoch, durchtrennte ein Bein der Angreiferin und rammte ihr dann die Klinge mitten in das flache Gesicht. Zischend und spuckend wand sich die Spinne, drehte sich schmerzerfüllt auf den Rücken und als Tal ohne Gnade ein weiteres Mal mit dem Speer nach ihr stach, verebbte die Gegenwehr gegen das unvermeidbare Ende. 

Zwei weitere Weiße Mütter hatten sich von den Bäumen herab gelassen und zum Angriff bereit gemacht und hinter ihnen lauerten unzählige weitere ihrer Schwestern.

Ughtred, Odugme und Kyon zogen schnell ihre Waffen, aber diesen Kampf konnten sie nicht gewinnen. Zwischen den Stämmen der schwarzen Bäume wimmelte es plötzlich von Beinen und einem seltsam toten und dennoch hungrig dreinblickenden Meer von schwarzen Augen.

Da erhob Tal abgelaufen die Stimme und sagte in der zischenden Sprache der Weißen Mütter: »Schwestern, hier ist nichts zu essen. Sucht anderenorts. Wir sind auf dem Weg zur großen Mutter.« Sie hatte erkannt, dass es hier keinen Austausch in diesem Sinne geben würde. Die Spinnen waren einfach geistig nicht rege genug dazu. Sie mussten nur überzeugt werden, es mit ihresgleichen zu tun zu haben.

Trotz dieser erneuten Ansprache kamen die riesigen weißen Arachnieden näher gekrochen. Sie hoben die Vorderbeine und zischten immer wieder: »Essen, süßes Essen, Nahrung …«, doch Tal blieb ruhig und ignorierte auch die tote Spinne zu ihren Füßen. Dann schien der Zauber zu wirken. Zuerst beruhigte sich eine der Weißen Mütter, dann die nächste und schließlich zogen sie ohne Anzeichen weiterer Emotionen ab. Der Weg zum Naivt war frei. Und was für ein Weg des Schreckens war dies? Je weiter die Abenteurer in den gruseligen Wald vordrangen, umso mehr leblose Hüllen hingen in den Bäumen. Es roch nach etwas säuerlichem und überall waren zwischen den endlosen Spinnweben die Leiber der Riesenspinnen zu sehen. Stunde um Stunde ging es durch diesen Wald der Schrecken, bis Kyon auf etwas auf dem Weg deutete. Tal trat neben ihn und strich Spinnweben von der Speerspitze und dann langte sie nach einem besonders dicken Faden, der sich in Ughtreds Bart verfangen hatte.

Vor den vier Abenteurern erstreckte sich, der unendlichen Spinnweben geschuldet kaum zu erkennen, eine Erdspalte, die ihnen den Weg versperrt hätte, wäre da nicht die seltsamste Brücke gewesen, die sie je gesehen hatten. Über eine Entfernung von gut und gerne dreißig Metern wurde der Abgrund von einem Konstrukt aus versteinerten Spinnweben überspannt. Das Material glitzerte in der ewigen Feuchtigkeit dieser Umgebung und hatte im Laufe der Zeit eine seltsam kristalin anmutende, schimmernde Farbe angenommen, die weder als Grau, noch als Blau bezeichnet werden konnte, aber dennoch in der Reichweite beider Begriffe lag.

Rechts und links dieses unwirklichen Bauwerkes befanden sich Statuen Weißer Mütter von geradezu unglaublicher Größe. Sie sahen täuschend echt aus, hatten aber einen Leibesumfang von fast vier Metern. Ihre Beine, die sie unter sich zusammengefaltet hatten, mussten länger als ein moraidischer Wellenbrecher sein. Doch halt, was war dies für ein kranker Zauber? Gerade als Tal auf die Brücke treten wollte, ging ein abstoßendes Krachen und Knacken durch die linke der beiden Statuen und da bewegte sich auch schon ein erstes Bein.

Von unsäglichem Grauen erfüllt, mussten die vier Gäste des Spinnenwaldes mitansehen, wie die größte Spinne aller Zeiten zum Leben erwachte, sie einen Herzschlag lang stumpf und ausdruckslos anstierte und sich dann der Brücke zuwandte. Sie hatte von den Fremden Notiz genommen und nun konnte ihr Verhalten nur als Einladung ihr zu folgen verstanden werden. 

Ughtred rieb sich über die Stirn und fühlte, wie ihn die Kraft der Großen Mutter durchströmte. Auch Tal schien Trost in ihrem Glauben zu suchen, denn ihre Lippen murmelten tonlose Zauberformeln und ihre Hände beschrieben uralte und fremdartige Zeichen. Kyon war fahl wie eine gekalkte Wand und rührte sich nicht und nur Odugme schien mehr oder weniger unbeeindruckt von der Ungeheuerlichkeit des nun über die Brücke kriechenden Wesens zu sein. Er stand aufrecht und schien seit längerem derart mit seinem Leben abgeschlossen zu haben, dass ihn selbst die gigantischste aller Spinnen nicht mehr schrecken konnte.

Ughtred berührte Tals Schenkel und machte ein schnalzendes Geräusch mit der Zunge. Die Hexe sah zu ihm herunter und nickte grimmig. Die Einladung einer unsterblichen Smavarizauberin sollte man niemals ablehnen. Sie machte den ersten Schritt auf die Brücke und die anderen folgten ihr.

Auf der anderen Seite des versteinerten Gebildes befand sich ein Weg, der von Spinnweben verhüllt wurde. So betraten die Abenteurer einen Tunnel aus klebrigem Tod und auch hier waren in der Tiefe der Spinnenweben Leiber und Knochen früherer Gäste zu erkennen. Der Tunnel hatte einen Durchmesser von bestimmt sechs Metern und ließ der Riesenspinne genügend Raum, sich problemlos fortbewegen zu können. Er führte auf einen ebenfalls von Spinnweben überdachten Platz, der sich vor einer Wand aus wiederum versteinerten Netzen befand. Zwar war, der unzähligen Weben geschuldet, die Architektur des Naivt kaum zu erkennen, aber es war klar, dass es der urtümlichen smavarischen Natur folgte. Es gab keine erkennbare Geometrie oder Logig und dennoch war klar zu erkennen, dass hier ein genialer Geist seiner Kreativität freien Lauf gelassen hatte. Durch ein ungleichmäßiges Bogentor führte die Riesenspinne ihre Gäste in einen Dom aus glitzernder Glorie. Die Luft war noch feuchter als im Wald und fast unangenehm warm und stickig. Hinter dem ersten Dom schloss sich ein zweiter an und danach ein Dritter und dieses Bauwerk musste eine Deckenhöhe von über dreißig Metern haben. Hier blieb die Spinne stehen, zog ihre riesigen Beine unter den Körper und wartete reglos der Dinge, die da geschehen mochten.

Die Vier sahen sich in der Endlosigkeit des Naivt um und versuchten den Zweck der gigantischen Ausmaße zu verstehen, aber es gab weder Unterkünfte, noch sichtbare Aus- oder Eingänge. Gerade wollte Tal in die Höhe rufen, da entstand an der höchsten Stelle des Domes eine Art weißer Tropfen. Das Ding schien sich langsam zu drehen und wuchs, je länger es wurde und sich dem Boden näherte immer mehr an. Als es nur noch wenige Meter über dem Erdboden war, hielt es an. Es bestand ganz und gar aus Spinnweben, aber oben war keine Spinne zu erkennen. Dann drehte es sich eine halbe Umdrehung weiter und ließ erkennen, dass es auf der Rückseite hohl war und eine Art, an der Decke hängender Thron war. In diesem unirdischen Ding, saß, mit geradem Rücken und in übernatürliche Schönheit gehüllt Danaiy Kaar, Frau Sinne, die Mutter der Arachnieden.

Ihre Haut war weiß wie die Gespinste ihrer grausigen Kinder und ihre Augen waren wie graue Halbedelsteine, die die Endlosigkeit der Galaxie widerspiegelten. Sie war weder Leben noch Tod, nicht Materie noch Geist, alt wie die Idee von Schönheit, Last und unendlicher Hingabe zu traurigen Gedanken. Sie war der Inbegriff der Blutdrinkerinnen und jeder, der sie besuchte, musste wissen: egal wie dieser Besuch ausginge, er würde hier Federn lassen.

Tal verbeugte sich vorsichtig und sagte mit unsicherer Stimme: »Frau Spinne, ich bin Elisha Yt`Talan ven Arudsel, Schülerin des Zirkels der Doppelmodhexen von Shishney.« Sie stockte und die fremdartige Frau sah sie emotionslos an. Dann wandte sich die junge Hexe Kyon zu, überlegte viel zu lange und sagte dann stotternd: »Dies ist Kyon …«, eine Pause und dann: »Und Ughtred und Odugme.«

Die Mutter der Spinnen öffnete ihre Lippen und es war zu erkennen, dass sie dies vor langer Zeit das letzte Mal getan hatte. Welcher Hunger musste in diesem alten Geschöpf wüten?

»Kyon, nur Kyon, welch unförmlicher Name. Kann er sprechen?«

Kyon räusperte sich, aber Tal kam ihm zuvor und sagte hastig: »Sliyn, er ist ein Sliyn.«

Frau Spinne blickte auf, wusste aber, dass Kyon nun selbst für sich sprechen musste.

Er räusperte sich erneut und sagte mit gewohnt ruhiger Stimme: »Ich bin Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor und lebe ebenfalls in Shishney. Weder Gilde noch Zirkel haben Einfluss auf mein Sein, doch ich begehe eine Queste, die mein Vater, der Abenteurer Sliyn Lonkaiyth dan Y`shandragor mir nach seinem Tode auferlegte. So sind wir hier, die wir vor euch stehen, auf der Suche nach der Schwarzen Perle von Grandband.«

»Schwarze … Perle …«, wiederholte sie und dann mit einem seltsam fremdländischen Dialekt: »Granbaux.«

In diesem Moment erhielten die Zeit und das ganze Multiversum einen Riss. Der Spinnendom erzitterte und die Eruption erstreckte sich über Kisadmur, erreichte binnen einer Sekunde den Rest der Tiba Fe und erzeugte eine Schockwelle, die den Lauf aller Dinge für alle Zeiten beeinflussen würde. Eine schier endlose Zal von Abenteurern jeder schon existierender oder noch kommender Spezies hielten, bei was auch immer sie gerade taten inne und blickten auf. Die vier im Dom der Spinnenherrin senkten die Köpfe und warteten auf einen kuriosen, unbeschreiblichen Tod. Doch dann ging dieser Moment, der keiner war, der nie geschehen würde, aber alles Sein veränderte zuende, wie es jeder Moment tat der jemals stattfand. Die bleiche Frau blickte auf und sagte mit einem seltsam schrecklichen Verstehen in der kühlen Stimme: »Ich habe euer Schicksal gesehen. Es ist interessant, sich damit zu beschäftigen.« Als wäre damit alles zu diesem Thema gesagt, wandte sie sich Tal zu und fragte: »Uman? Ist dies ein Uman?«. Sie deutete mit einem ihrer spitzen Finger auf Odugme.

Tal, die aus ihren Gedanken und Schrecken gezogen wurde sagte: »Nein, er ist ein Phani.« Sie wusste nicht, was ein Uman war und versuchte einfach nur zu retten was zu retten war.

»Er ist wunderbar – animalisch und dennoch von einer unschuldigen Sündhaftigkeit erfüllt. Ich möchte ihn kosten.«

Um ihre Fassung ringend kann Tal den anderen zuvor: »Er«, sie schluckte und sagte dann sicherer: »Er ist unser Freund und er bedeutet uns viel. Bitte verschont ihn.«

»Danny hört nicht gerne was sie tun soll.« Die Mutter der Spinnen sprach ihren eigenen Namen verzerrt und fremdartig aus. Es klang nicht smavarisch oder in sonst einer Weiße passend zu Raum und Zeit in der sie sich befand. Sie verzog dabei ihre Lippen und Tal fühlte sich ein wenig an sich selbst erinnert, wenn sie etwas nicht bekommen sollte, auf das sie einfach nur Lust hatte – und dieser Gedanke machte ihr große Angst.

Doch Danny schien den Phani schon vergessen zu haben und wandte sich stattdessen wieder Kyon zu. Würde sie ihn auch kosten wollen?

Einen kurzen Moment trafen sich die Augen der beiden Wesen. Unendlichkeit, unendliche Macht, unendliche Trauer, unendlicher Verlust trafen auf die selben gefühlen in ihrer puren jugendlichen Form. Da traten Tränen in die sonst so leidenschaftslosen Augen dieses alten Wesens. Doch auch dieser Moment verging, denn er war der Wimpernschlag eines Schmetterlings im Leben von Frau Mutter.

Kyon öffnete die Lippen und wollte etwas sagen, aber dann erinnerte er sich an die Worte seines Vaters im Tagebuch:

›Oft dachte ich an die schöne Spinnenfrau. Kaum eine andre Tochter der Silberwölfe reicht an ihre Grazie, doch auch hier ist Vorsicht angeraten. Eben noch wähnt man sich in lieblicher Umarmung und schon trinkt die Zauberin den Lebenssaft des unglücklichen Wanderers. Der Trick ist Wahrheit und Geduld, denn fragt man sie um Hilfe, wird sie Niederes von jenem Bittsteller halten. Doch verbringt man Zeit mit ihr und spricht von ehernen Gefahren, wird sie ganz von selbst zu Hilfe eilen.‹

So sagte er: »Wisst ihr von meinem Vater?« War es dies? War dies der Antrieb, der ihn all diese Abenteuer bestehen ließ? Sein Vater war ein Geist. Seine Mutter hatte ihm gesagt, er wäre endgültig von ihr gegangen und würde sie nun in Frieden lassen, doch was war mit ihm, dem trauernden Sohn?

Danaiy Kaar hob das schöne Kinn und nickte dann freundlich. Sie zögerte einen Moment, sagte dann aber: »Nichts ist festgeschriebene Wahrheit. Alles ist in Bewegung. Ihr seid ein wahrer Abenteurer und werdet eure Bestimmung erfüllen. Ich sehe alles, all eure Wege in allen möglichen Formen. Doch ihr werdet Hilfe brauchen.«

Später erinnerten die Besucher des Naivt sich kaum noch an das weitere Gespräch mit Danny. Doch in ihren Herzen verschmolz ihr Bild, welches diese Frau in ihnen hinterlassen hatte zu einer Mischung aus unbeirrbarer, chaotischer Naturmacht wie die einer Sonne und einer, auf eine sonderbare Weise fürsorglichen, einsamen Frau. Sie gab ihnen sanfte Ratschläge, lächelte über vergangene Kapriolen und nannte Ughtred Eichhörnchen. Zum Abschied versprach sie als Geschenk das Gift ihrer Kinder und tatsächlich, fanden die Vier am Ende der versteinerten Brücke vier große, in Spinnennetzes eingehüllte Amphoren, in denen sich das gefährliche Nass befand. Tal würde daraus einen Sud brauen, die jede beliebige Waffe in ihrer Tödlichkeit verstärkte. So hatte es der Abenteurer Lonkaiyth aufgetragen, und so war es gekommen.

 

Der Weg aus dem Naivt gestaltete sich ganz anders als der hinein. Wo es auf dem Hinweg zu einem Gefühl der Verwirrung und der Orientierungslosigkeit und gar zum Verlust der Realität gekommen war, empfanden die Abenteurer den Rückweg als absolut unproblematisch. Geradezu beschwingt schritten sie durch den von Spinnweben durchzogenen Wald und selbst wenn sie rasteten, kamen keine unangenehmen Gefühle auf. Die allgegenwärtigen Toten in den Gespinsten waren Teil einer Realität, die man Akzeptieren konnte, wenn man klar vor augen hatte, dass man ihr selbst fern bleiben würde. Zwar war auch auf diesem Weg nicht erkennbar, wann sich Tag und Nacht abwechselten und auch jetzt schien es, als ob keiner der Vier zu jeder Zeit wirklich wach wäre, doch als sie schließlich die letzte Barriere aus Weben und verlorener Zeit überschritten und das Reich der Weißen Mütter hinter sich ließen, kam es ihnen vor, als wenn sie nicht einmal die Hälfte der Zeit des Hinweges hinaus gebraucht hätten.

Hinzu kam, dass sie die Realität Kisadmurs an der selben Stelle erreichten, an der sie in den Wald von Frau Spinne eingedrungen waren. Es war Ughtred, der zwischen den zackigen Bäumen hindurch auf einen Punkt im Wald deutete und rief: »Da, da ist Mardors Feuer!«

Und wirklich, in der Feuchtigkeit eines frühen Waldmorgens prasselte ein großes Feuer. Sie traten näher heran und sahen den Burivol auf der Seite liegend. Eine der Lopen hatte sich an seinen Rücken geschmiegt und genoss den Schutz durch den riesigen Troll. Als die Tiere, die herannahenden Freunde witterten, sprangen sie auf und freuten sich. Auch Mardor richtete sich auf. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er niemals mit der Rückkehr der vier Abenteurer gerechnet hatte und auch jetzt, da er sie vor sich sah, war er sich ihrer Realität alles andere als sicher.

 

Auf der Rückreise nach Ongaiyd kam es zum Glück zu keinen nennenswerten Katastrophen. Dennoch war sie alles andere als leicht. Es hatte angefangen zu regnen und die Hänge wurden schnell schlammig, was brachten die Gefahr mit sich brachte, abzurutschen und über irgend einen Abgrund in die Tiefe zu stürzen. Bei Starkregen, waren die Gebirgsausläufer mit ihren riesigen glatten Findlingen und den nicht wirklich vorhandenen Pfaden eine sehr gefährliche Wegstrecke. Mardor tat was er konnte, den Weg so einfach wie möglich zu halten, doch gegen die Elemente und das Wetter konnte auch er nichts tun. Es dauerte einige Tage und Nächte, bis die Muginas Horn erreichten und sich müde in den Schutz der riesigen Hütte schleppten. Mardor musste mehrere Hobgoblins ausfegen, die sich zwischenzeitlich wie die Mäuse Einlass verschafft hatten aber nach kurzer Zeit – sein Autofeuer und die Lichter funktionierten trotz der ungebetenen Gäste – konnte man es sich in der Taverne gemütlich machen und ausruhen. 

Der Abschied von dem großen, ehemaligen Soldaten der smavarischen Armee viel ihnen schwer. Mardor verzog zwar keine Miene, aber es war ihm dennoch anzusehen, dass er das kleine Abenteuer mit seinen einstigen Dienstherren genossen hatte. Er war alt und auf seine Weiße verbraucht, aber ein wenig seines alten Kriegsgeistes war ihm geblieben und es war durchaus ersichtlich, dass man seine Art eigens zu diesem Verhalten geschaffen hatte. Sie verabschiedeten sich und selbst die Lopen, schienen sich schwer von dem Troll zu trennen. Tal sprach mit ihnen darüber und sie beteuerten, den großen Zweibeiner im Sommer erneut zu besuchen. Warum auch nicht? Sie waren frei.

 

Ongaiyd lag unter einem dichten Regenschauer verborgen. Die Lopen blökten froh, als sie die Ansiedlung witterten und beschleunigten ihre Schritte. Auch sie hatten die Nasen voll vom schlechten Wetter und wollten unter die Abdeckungen ihrer Leihe. Lady Udaiy Virith yr Sheamith begrüßte die Tiere überschwänglich und nickte den Abenteurern zufrieden zu. Es war ihr anzusehen, dass sie nicht damit gerechnet hatte, alle Tiere oder gar die Reiter wiederzusehen. Tal fragte sich warum die Frau schon wieder ein derart schmutziges Gesicht hatte, unterließ es aber zu fragen. Sie war genauso müde wie die anderen drei und wollte nur noch schlafen. So begaben sie sich zum Holzhafen und dort ins Bodenlose Loch, wo sie nach wie vor Kredit hatten und zuerst eine warme Suppe zu sich nahmen und dann ihre Kammern aufsuchten, um sich gründlich zu erholen.

Erst am nächsten Abend erwachten die beiden Smavari und trafen sich in der Stube mit Ughtred, der wie immer zu dieser Zeit einen Tag hinter sich hatte. Sie berieten wie es weiter gehen sollte und kamen noch einmal überein, dass man natürlich von hier aus direkt versuchen würde Raugnith zu erreichen. Ein Hafenarbeiter bestätigte, dass es hier nur ein einziges Schiff gäbe, dass in die nordöstliche Wildnis führe und dies sein die Jagende. Kyon seufzte laut und ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken. Ughtred hätte ihm beinahe die Hand auf den Kopf gelegt, konnte den Impuls aber gerade so unterdrücken.

Tal sagte: »Was solls? Wir haben schlimmeres erlebt.«

Das mochte zwar stimmen, aber der Flug von Shishney hierher konnte man kaum als Ansporn für eine weitere Flugschiffreise betrachten und Kyon hatte die Jagende gesehen. Das Ding war ein Wrack. Hinzu kam, der ganz eindeutig ähnlich marode Verstand ihres Eigners. Doch Kyon erhob sich vor den erstaunten Augen der anderen beiden und blickte zur Decke der Kaschemme empor, als könne er durch sie hindurch zur Plattform des Holzhafens hinüber sehen. Er hob die Schultern, sog die Luft ein und sagte: »Ich mache das!«

 

Die Luft war immer noch regenverhangen als Kyon allein die Stufen zum Holzhafen von Ongaiyd hinauf stieg. Er war müde, aber er konnte sich gar nicht so recht erinnern, wann er das letzte Mal nicht müde gewesen war. Als er die Plattform erreichte, schüttelte er nur den Kopf. Das einzige Schiff hier schwebte, mit dem vorderen Bereich des Kiels die hölzernen Planken der Plattform berührend und wies mit dem Hinterteit in einer Schräge gen Himmel. Gerade waren einige Quink dabei die Leinen die den Bug hielten zu lockern, um der Jagenden die Möglichkeit zu geben, sich aufzurichten.

Er rief einen der Matrosen zu sich und fragte nach dem Kapitän des Schiffes. Der Quink schnifte und deutete auf das Wrack. Kyon wollte wissen, wie lange es dauern würde, bis man das Schiff als normaler Smavari betreten könne und der Matrose beteuerte, dass dieser Zustand bald erreicht sein würde. So setzte sich Kyon auf einen der Poller und zündete sich eine Pfeife an. Er inhalierte den Rauch und blickte über Ongaiyd. Warum das alles? Er zuckte mit den Schultern und beförderte den Kristall seines Vaters zutage. Er dachte an Northrian und den Beginn der Reise. Drachenodem und Spinnengift – dieses Schiff würde ihn nicht umbringen. Von seinen eigenen Gedanken überzeugt erhob er sich nach einer halben Stunde und befahl den Quink eine Planke zu etablieren. Dann stieg er die Stufen der Planke hinauf und betrat das wackelige und von Löchern verunstaltete Deck der Jagenden.

Kapitän Yrnesdt bor Nyrath Thirath empfing ihn und Kyon verwarf allen Mut. Dieses Schiff bedeutete sein Ende.

Yrnesdt war ein dürrer, uralter und äußerst neurotischer Geselle. Er hatte ein eingefallenes, von tiefen Falten durchzogenes Gesicht und einen aufgeregten, wässrigen Blick. Seine Ohren standen in unterschiedlichen Winkeln von seinem Schädel ab, den ein Kranz schütteren, grauen Haares umrahmte. Ständig fummelte er mit seinen spindeldünnen Fingern in seinem Gesicht herum und machte damit einen irgendwie erschrockenen Eindruck auf Kyon.

»Jaaaaaaa, neeeeiiiin, dieses Schiff fährt, nein es fliegt sogar!«, sagte der Verrückte Kapitän, ohne das Kyon ihn gefragt hätte.

Der Barde nickte und sagte: »Raugnith?«

»Die Festung, die Trauuuuuer, dahin gehtˋs … Ja.«

DerKapitän machte eine kurze Pause, sagte aber dann: ›Jaaaaaaa, neeeiiiiin, dahin geht kaum ein Weg.«

Kyon unterbrach ihn und sagte: »… und darum werdet ihr mich und meine Gefährten dorthin bringen. So wird es kommen. Und ihr braucht auch keine Bezahlung dafür!«, versuchte der Barde sein Glück.

»Vorsehung es ist und ich brauche keine Bezahlung!«, wiederholte Yrnesdt und nickt als er hinzufügte: »Ihhhhr habt keine Wahl! Ihr müsst, wir müssssseeeeen!«

Kyon und Yrnesdt rollten beide mit den Augen, wenn auch aus verschiedenen Günden. Dann ging Kyon ohne ein weiteres Wort zu verschwenden. Der Kapitän war verrückt, aber wer war wohl irrer, dieser arme verlorene Geist oder jene, die sich in seine Hände begaben?

Einige Minuten später berichtete er vom Glück, welches über die Unternehmung gekommen war. Nicht nur, dass es ein Flugschiff nach Raugnith gab, nein, man wurde eingeladen ohne Kosten die Passage zu genießen. Tal und Ughtred sahen ihn mit genervten Blicken an, standen auf und begannen zu packen.

 

Tief unter Raugnith

Am nächten Morgen, aus Ughtreds Sicht war es natürlich noch Nacht, ging es los. Der Kapitän erklärte zur Sicherheit erneut, wie wichtig die Reise nach Raugnith war, und dass auf keinen Fall Ressourcen dafür verlangt werden dürfen. Er würde unter keinen Umständen etwas dafür bezahlen, die Passagiere an Bord zu nehmen. Zähneknirschend und dann lächeln, nahm Kyon dieses Los an und wunderte sich danach über sich selbst. Er würde auf diesem Geisterschiff sterben. Vielleicht wäre es tatsächlich angebracht gewesen, wenigstens etwas von dem Todeskapitän für seinen Spaß zu verlangen.

Die Jagende erhob sich mit einem Seufzer, der wie die letzten Laute eines weidwunden Tieres klangen und krachte dann derart laut, dass Ughtred am liebsten direkt über Bord gesprungen wäre.

Langsam und mit zerfledderten Segeln drehte sich das Schiff in den Wind und nahm Fahrt auf. Im Süden waren die Gebirgsausläufer zu sehen, aber Ongaiyd lag zu tief, um viel erkennen zu können. Der Bug drehte sich nach Nordosten und hier kam ein endloses Nebelfeld in Sicht. Zuerst zogen die Niederungen der kisadmurischen Wälder unter der Jagenden vorüber, aber dann wurde der Boden immer nebelverhangener und bald war es, als durchpflügten sie ein Meer aus weißer Gicht. Selbst als die Stunden dahinschmolzen und die Tagesgestirne versuchten die Silberwölfe an Bord des Schiffes zu verbrennen, ließ der Nebel und der bewölkte Himmel nichts Dergleichen zu. Die Welt bestand aus flüssigem, graublauem Stahl und keine Macht des Universums schien daran etwas ändern zu können.

Stunde um Stunde glitt die Jagende durch diese Welt aus Zwielicht und verlor sich immer mehr in der Unendlichkeit der kisadmurischen Wildnis. Schon lange waren keine Städte oder Tavernen zu sehen gewesen und wenn sie dort unten, zwischen den Gipfeln der dunklen, aus dem Nebel ragenden Bäume sein sollten, waren sie hier oben in Vergessenheit geraten.

Erst in tiefster Nacht änderte sich das Landschaftsbild. Kyon stand mit einem der Matrosen am Bug des Flugschiffes und wunderte sich gerade über die so ganz und gar gelungene Fahrt. Da veränderte sich langsam, aber für seine scharfen Augen unverkennbar der Horizont. Wo eben noch eine Wüste aus Sümpfen, Auenlandschaften und nebelverhangenen Wäldern zu sehen gewesen war, blockierte nun ein dunkles Band, das nach oben hin immer heller wurde die Sicht. Am oberen Rand dieses endlosen Hindernisses wurde es immer heller und ging schließlich in eine graublaue, von Lichtblitzen durchzuckte Masse über, die noch weiter oben zu einem tief schwarzen Sternenhimmel wurde. Der Tiradnische Rücken trennte die nordöstliche Wildnis vom Rest der Tiba Fe. Dieses Gebirge war so gewaltig, dass niemand es zu überwinden vemochte. Weder Lopen, noch Waldläufer und auch keine Flugschiffe konnten es bezwingen. Kyon wusste nicht genau, was sich auf der anderen Seite dieser gewaltigen Barriere befand, vermutete aber hier die Länder Tiradnai und Arigin. Sein Vater hatte ihn diese Namen gelehrt, doch er konnte sich kaum noch an die Geschichten darüber erinnern. Es war, als hätte der Drache nicht nur den Leib, sondern auch die Vergangenheit des Abenteurers gefressen. Seinem Sohn zumindest, hatte er ein düsteres, schwer begreifbares Erbe hinterlassen. Arigin zumindest wurde nicht von Smavari bewohnt. Dunkle Wälder in denen geflügelte Blutsauger hausten. Und Tiradnai war angeblich ein Land mit vielen Flüssen und hier lebten der Sage nach Nyghs, oder zumindest Wesen, die diesen glichen. Sie waren Fischer oder Fischjäger, aber er hatte noch nie jemanden kennengelernt, der einen Tiradnai oder wie auch immer man diese Leute kannte. Er nahm sich vor, den Stumpen danach zu fragen. Die Korezuulen waren wahrscheinlich Nachbarn dieser Lande und der Dieb gab ja gerne einmal mit seinem Wissen an. Kyon durfte es nur nicht so offensichtlich machen. Er würde vorgeben schon alles zu wissen und nur darüber plaudern zu wollen. Ughtred war zwar nicht gerade redseelig, aber wenn es um den Austausch von Geschichten ging, taute er oft auf und redete wie ein Gebirgswasserfall.

Unten in der Ebene schien sich die Landschaft nun ebenfalls zu verändern. Die weiten Nebelfelder lichteten sich in der Dunkelheit der Nacht und gaben den Blick auf eine weite Seelandschaft im Norden und eine Tundra weiter südlich zu. Kyon wusste nicht genau wie hoch die Jagende derzeit flog, und er vermied es nach unten zu sehen, aber er konnte vor allem im Süden extrem weit sehen. Mit einem entsprechend guten Fernrohr hätte er vielleicht sogar Angaworth auf der Ostseite des Odoreys sehen entdecken können. Er wusste nicht, dass er in Wahrheit immer noch auf die Gebirgsflanke der Ardeyrt sah und sich sein Heimatgebirge viel weiter südlich befand. Vielleicht hätte er bei den Lehrstunden seines Vaters doch besser aufpassen sollen.

Er wollte schon gehen, da kam Tal aus dem geschundenen Unterdeck des Schiffes, entdeckte ihn und kam zu ihm an die Reling. Sie sagte nichts und blickte nach Nordosten, ihrem Ziel entgegen. An ihn gelehnt strich sie sich die flatternden Haare aus dem Gesicht und ließ die kalte Luft auf sich wirken. Kyon versuchte sie zu verstehen, im Äther zu finden, aber so oft er dies auch anstreben mochte, er würde sie niemals finden. Er dachte an das Verhältnis zwischen seiner Mutter und seinem Vater. Er hatte sie oft heimlich beim Sex beobachtet und konnte sich durchaus an ihre Leidenschaft erinnern, aber Lonkaiyth war auch in diesen Dingen nie ganz bei der Sache gewesen und er meinte, seine Mutter hätte sich oft darüber beklagt und zu entsprechenden Hilfsmitteln gegriffen. Gab es glückliche und erfüllte Beziehungen unter den Smavari? Waren sie nicht alle zu wirr kalt und auf allen Gefühlsebenen kurzangebunden?

Er unterdrückte den Impuls YˋTalan in den Arm zu nehmen und deutete stattdessen Fahrtvoraus. 

»Da, seht ihr die Lichter am Boden? Nein, näher, nicht im Gebirge, da hinten in den Hügeln und Wäldern.«, sagte er und versuchte ihren Kopf in die entsprechende Richtung zu drehen.

»Sind wir da? Ist das Raugnith?«

Er zuckte mit den Schultern und sagte: »Meines Wissens gibt es hier draußen nichts anderes. Es muss die Festung sein. Ich frage mich wirklich, für was man sie einst errichtet hat.«

Doch dann dachte er an ihre gemeinsame Vision. Die unterirdischen Stätten, deren Zweck sich dem Gedankenreich eines jeden Smavari entziehen musste. Unterirdische Welten, Reiche der Alten – lebten die Smavari überall über deren Ruinen und waren sie es gewesen, die entschieden hatten, wo genau eine smavarische Siedlung errichtet werden musste? Die Alten – er schüttelte den Kopf. Es war eine Sache düstere Lieder über Drachen und Bewohner der Unterwelt zu verfassen und bei schummrigen Licht Damen vorzutragen, die sich vom Schauer erfasst an ihn schmiegen würden, doch hier draußen zu sein, Riesen zu begegnen, von unterirdischen Verliesen und deren Bewohnern zu träumen und sich selbst dort unten einhergehen zu sehen, dass ging weit über sein eigenes vergnügliches Maß an Horror hinaus.

Plötzlich wurde hinter ihnen die Stimme des verrückten Kapitäns laut. Er rief seiner abgehalfterten Truppe von Quink wirre Befehle zu und diese taten, was sie ohnehin getan hätten.

»Land in sicht, volle Enterbereitschaft, richtet die Lanzen aus!«, kreischte das dürre Gespenst vom Steuerruder des Oberdecks aus und wedelte dabei mit einem krummen Fernrohr hin und her. 

Kyon lief es Kalt den Rücken herunter, denn er konnte sich an die Landung der Jagenden bei Ongaiyd erinnern. Sie würden in voller Fahrt in die Landefläche der Bergfestung einschlagen und zu tausenden winziger Fetzen zersprengt werden. Wenigstens hatte das Schiff nicht wirklich Feuerlanzen an Bord, denn ansonsten wären sie zweifelsfrei auch noch in Flammen aufgegangen. Doch zu seiner Überraschung wurde die Fahrt eher ruhiger. Die Matrosen, so abgehalftert sie auch aussahen, schienen ihr Handwerk durchaus zu verstehen und da sie sich nicht an die Befehle des Kapitäns hielten, bestand die Hoffnung für ein Ende der Fahrt ohne entgültige Katastrophen.

Tal rief neben ihm gegen den Fahrtwind an: »Seht, die Lichter, das muss es wirklich sein. Wie schön es von ihr oben wirkt. Warum wird Shishney nicht so wunderbar angestrahlt?«

Kyon wandte sich ihrem Ziel zu und tatsächlich, er konnte jetzt auch die Beleuchtung in der Ferne erkennen. War war das nur? Er kniff die Augen zusammen und versuchte zu verstehen was er sah. Weit vor ihm gab es viele Hügel, aus deren sanften Kuppen hie und da zackige Findlinge herausragten. Diese Brocken waren Teile der Ausläufer des Gebirges und von anderer Substanz als der restliche Grund. Wie fast überall in Kisadmur wuchsen auch hier überall die riesigen schwarzen Bäume und machten es schwer etwas zu erkennen. Doch in der unmittelbaren Fahrtrichtung des Schiffes ragten mehrere besagter Gesteinsbrocken viele dutzend Meter in die Luft und bildeten eine groteske Landschaft von aus Granit bestehenden Zelten für Titanen. War dies auf natürlichem Wege entstanden? Wieder gingen ihm die Geschichten und Träume über die Alten durch den Sinn. Das Licht auf das Tal gedeutet hatte beleuchtete eines dieser Zelte und bildete ein grünlich glimmendes Dreieck. Und hier war sie, die Bergfestung Raugnith, letzte kisadmurische Bastion vor der endlosen Wildnis des Tiradnischen Rückens.

Von hier oben machte die Burg einen geradezu winzigen Eindruck, aber dies kam in erster Linie daher, dass es einfach schwer einzuschätzen war, wie weit sich die riesigen Findlinge über ihr in den Nachthimmel erhoben. Tatsächlich war Raugnith nur unwesentlich oder sogar überhaupt nicht kleiner als die Festung Shishney über dem Odoreys. Entgegen der Vorstellung der Abenteurer lag sie allerdings nicht unmittelbar im Gebirge, sondern in besagtem, vorgelagerten Hügelfeld unter den riesigen Brocken begraben, die Titanen vor der Zeit vom Gebirge hier herunter geschleudert haben mussten.

Ughtred kam ein wenig verschlafen zu Tal und Kyon und sah aus, als hätte er Drogen aus dem Fundus der Hexe gestohlen. Doch Kyon wusste genau, wie es um den kleinen Mann stand. Er zeigte seine Ängste nicht, wie es die Smavari taten, aber sie waren da. Der Flug mit der Jagenden war so seltsam ruhig verlaufen, da war es kein Wunder, sich sorgen zu machen. Nach allem was sie bisher erlebt hatten und vor allem, nach dem letzten Zusammenstoß mit dem Schicksal, konnte man durchaus ein wenig pesimistisch sein.

»Ist es das?« wiederholte Ughtred Tals Worte und Kyon musste unwillkürlich lächeln. Was hatte er nur getan, um mit diesen beiden Kindern geschlagen zu werden? ›Ist es noch weit; sind wir bald da?‹, murmelte er tonlos und nickte dabei einfach. Dann sagte er: »Sieht so aus, Herr Dieb. Wollen hoffen, ihr habt euch in eurer Berufung geübt.«

Ughtred verzog das Gesicht zu einer genervten Grimasse und wollte schon antworten, aber dann besann er sich eines Besseren und winkte ab. Stattdessen hielt er sich an der Rehling fest und starrte auf die faszinierende Landschaft vor ihm. Er nickte nun auch. Wahrscheinlich hatte der blöde Silberwolf ja recht. Hier ging es bald ums Ganze, was wollte er sich vormachen? Das Tagebuch des irren Abenteurers ließ nur wenig Spielraum für Spekulation. Er, der Kleine, der Dieb, er würde sich dem Ungeheuer stellen müssen. Bisher waren all diese Dinge nichts als Lieder und Sagen für ihn gewesen. Er hatte es geliebt von ihnen zu lesen, sich in den Staub und die Dunkelheit der Bibliothek der Wissenwahrer zu verkriechen und in diese Anderwelt abzutauchen und ja, schon damals hatte es ihn die Faszination dabei entdeckt werden zu können erregt. Doch man hatte ihn erwischt und was war geschehen? Sein Ruf hatte gelitten und er hatte selbst entschieden, Abstand zu seinen Leuten zu suchen. Weder hatte man ihn hingerichtet, noch gefressen. Das hier, das war eine ganze andere Sache. Es ging, wie er längst begriffen hatte, nun einmal ums Ganze!

Als die Jagende ihre Fahrt verlangsamte und den Sinkflug einleitete wurden die der Anlage vorgelagerten Plantagen Sichtbar. Die Festung selbst war ein Gebäude von dreieckiger Form und schmiegte sich in das Zelt aus Granit. Die Lichter kamen aus einem Graben, der sich zwischen den eigentlichen Gebäuden und den Feldern und deren Bebauungen befand. Tal, die ihre Großmutter mehr als einmal in Angaworth besucht hatte, kannte diese Art der Bauweise, denn auch hier umgab die Stadt ein breiter Graben. Das mit den Lichtern jedoch war ihr neu. Es schien keinen wirklichen Zweck zu haben und sie überlegte, ob es eine mehr oder weniger natürliche, chemische Ursache dafür geben konnte. 

Das Schiff schlingerte auf eine Plattform zwischen dem Graben und der Festung zu und wurde von einem tief grünen Leitstrahl empfangen. Der Kapitän versuchte diesem Licht auszuweichen, aber sein erster Mat griff ihm ins Steuer und lenkte gegen. Offenbar war Yrnesdt diese Form der Meuterei gewohnt und ließ sie brav über sich ergehen. Auf dem Leitstrahl reitend glitt das Flugschiff auf eine Anordnung von niedrigen Lagern zu, schrammte über das höchste von ihnen und hinterließ zersplitterte Ziegeln und schreiende Wachen. Dann, immer noch viel zu schnell schlitterte es mit einem furchtbaren Krachen die Plattform berührend auf dieser entlang und nur der hastig ausgeworfene Anker konnte das Schlimmste verhindern. Das Zweitschlimmste war der Ruck, der einen Teil des Hecks abriss und alle Mannschaftsmitglieder und die Passagiere durch die Luft beförderte. Manche schlugen härter auf, andere hatten mit dieser Art der Landung gerechnet und sich entsprechend vorbereitet.

Als alle ihre Knochen entwirrt hatten machten sie eine Bestandsaufnahme und kamen zum Schluss, dass es keine größeren Verluste gab. Es dauerte eine Weile, da kamen Arbeiter aus der Plattformanlage an Bord und begannen, den Schiffstischlern bei den ersten Reparaturen zu helfen. Ein riesiger, ein wenig wie eine dreibeinige Schildkröte aussehender Ladedroide schob die Jagende in eine aufrechte Position. Das Ding hatte eine Art Kran auf dem flachen Rücken und hob damit nicht nur eine Treppenplanke an das Schiff, sondern half auch den Passagieren den Chaosschild und den Sarg herunter zu bringen. 

Ughtred half Odugme mit der Ausrüstung. Unterdessen suchten Tal und Kyon nach Anzeichen für eine Stadtwache und den eventuellen, damit einher gehenden Problemen. Zwischen den vielen Arbeitern, die es offenbar gewohnt waren, dass Schiffe in ihre Plattform einschlugen und schon mit dem Wiederaufbau begonnen hatten, befand sich kein einziger Smavari. Es war dunkel, noch sehr früh am Morgen und damit die richtige Zeit für die Eltwesen. Wo waren sie nur? War es ihnen denn egal, dass jemand Schäden an der Festung verursachte?

Kyon deutete auf einen der Quink und rief ihn zu sich. Der Kerl wirkte ein wenig kränklich, gehorchte aber aufs Wort. Barsch fragte ihn Kyon nach der hiesigen Herrschaft und der Quink erklärte, dass die Stadtwächter in erster Linie in der Festung zu finden seien. Draußen auf den Plantagen sahen sie natürlich auch nach dem Rechten und beschützten die Arbeiter aber hier auf der Landeplattform bekam man sie selten zu sehen. Er versuchte einen Witz und meinte, wer wolle schon ein Flugschiff auf den Kopf bekommen, wenn man nicht musste?

Kyon sog genervt die Luft ein und sagte: »Bring er uns zu den Stadtwächtern.«

Unglücklich nickte der Arbeiter und tat wie ihm geheißen. Er führte die kleine Gruppe von Fremden von der, für eine reine Festung, ohne diese umgebende Stadt, recht große Schiffsplattform an einem breiten Burggraben entlang. Der Graben hatte eine Tiefe von etwa zehn Metern und war an seinem Grund mit einer grün leuchtenden Melange gefüllt. Tal fragte, was das sei und der Quink zuckte mit den Schultern. Es sei natürlich und schon immer da gewesen. Die Silberwölfe müssten sich darum keine Sorgen machen, es hätte keine Auswirkung auf sie. Bei den Quink sähe dies anders aus. Sie bekämen schnell Geschwüre, wenn sie mit dem Zeug in Berührung kamen.

Tal überlegte. In ihrer alchemistischen Ausbildung war sie mit vielen, im Dunkeln leuchtenden Stoffen in berührung gekommen. Doch die meisten von ihnen kamen nicht in ihrer leuchtenden Form in der Natur vor. Man musste sie mit komplizierten Vorgängen verändern und in den meisten Fällen waren dies gefährliche Prozeduren. Eine solche Menge strahlenden Materials wie hier, hatte sie noch nie gesehen. Sie schulterte den Chaosschild und spürte sein Ziehen. So war alles Dasein, alles Sein, Belebtes und Unbelebtes. Die Dinge standen in Relation zueinander. Dieser Schild drückte sie in die Knie und vergiftete ihren Geist, aber er würde sie auch beschützen. Schützte der strahlende Burggraben die Bewohner von Raugnith auch oder verdarb er nur ihre Kinder?

Am Graben entlang ging es zu einer breiten Treppe, auf deren Stufen viele Quink saßen und sich ausruhten. Als die Fremden kamen, standen sie auf, um nicht tatenlos auszusehen. Sie beugten die Köpfe und klackten dann mit ihren künstlichen Kiefern. Wie üblich ignorierte Kyon die Quink, aber Tal hatte sich auf dieser Reise verändert. Immer mehr verstand sie die Haltung ihrer Eltern. Es gab überhaupt kein Besser, Schlechter, Edler oder Wertloser – es gab nur Leben und Macht. Nur die Macht unterschied die Smavari von Wesen wie den Quink oder den Nyghs. Gäbe man den Quink Feuerlanzen und entzöge diese Mittel den Smavari, würde es nicht lange dauern, und die kleinen Amphibien würden die Macht an sich reißen. Was würde den Elt dann ihr reines Blut nutzen und vor allem, welches reine Blut? Immer mehr erkannte Tal, dass die alte Geschichte von dem Asen, der den Nugai bei der Erschaffung ihrer Kinder, den Smavari, ins Handwerk pfuschte. Es gab keinen Zweifel: auch die Smavari waren Tiere, oder trugen zumindest deren Erbe in ihren elitären Leibern.

Am Ende der Treppe gab es eine sehr hohe und für einen, für einen Festungseingang verhältnismäßig schmalen Durchgang. Ein Riese hatte die Torflügel ausgehängt und davon getragen und so gab es kein Hindernis Raugnith zu betreten. Im Inneren der Burg unter dem Stein traten die Gäste in einen kleinen Dom, dessen Rückseite direkt in einen bedeutend größeren mündete. Die Decke des ersten Gewölbes war schon über zwanzig Meter Hoch und es gab keine weiteren Stockwerke. Der zweite Dom jedoch maß gut und gern dreißig Meter in der Höhe und wies fünf, über eine vielzahl von Treppen erreichbare Balustraden auf, in denen sich die nach vorne offenen Räumlichkeiten befanden. Es gab eine Schmiede, Kaschemmen, ein Alchemistenlabor, ein Lusthaus – welches jedoch leer zu stehen schien – eine Wachstube, ebenfalls leer und eine Unzahl von Unterkünften. Alle Räume hatten zum Hauptdoom hin keine Wände und wurden bestenfalls mit Vorhängen blickdicht gehalten. So war es den Abenteurern ein Leichtes, die Kaschemme herauszudeuten, in der sich neben einer Anzahl von Smavari aufhielt. 

Kurzerhand entließ Kyon ihren Führer – der froh war überlebt zu haben – und deutete auf die Kaschemme als er sagte: »Dahin gehts.«

Die anderen hatten nichts einzuwenden und so ging es mehrere Treppen zur ersten und schließlich zweiten Balustrade hinauf. Oben angekommen war es gar nicht so einfach die Kaschemme wiederzufinden und sie wären beinahe im Getümmel der Arbeiter daran vorbei gegangen. Doch Kyon hatte aufgepasst und bog im letzten Moment ab. Er trat ein und fragte einen der Quink wie man die Kaschemme nannte und dieser sagte, es handle sich um Lady Tayth Nyarns Trinkhalle. Eine Trinkhalle also, ein gehobener Ort für ritterliche Krieger. Kyon lachte.

Dennoch sah er sich nach der Besitzerin um und als er eine in rot gekleidete Smavari im hinteren Bereich des Hauses sah, nickte er ihr zu. Dann wandte er sich dem Ende der Halle zu, wo die Smavari an einem einzelnen Tisch beisammen saßen. 

Als sich die Fremden dem Tisch näherten blickten die Smavari erstaunt auf. Man hatte es offenbar unterlassen sie über die Ankunft eines Schiffes zu informieren und entsprechend überrascht sahen sie nun aus.

Eine schöne Frau in einem weißen Gewand und ebenso weißer Rüstung nickte den Neuankömmlingen freundlich entgegen und stellte sich und die anderen Kriegerinnen und Krieger vor. Sie erklärte, dass es keine Herrin der Wacht hier gäbe und dass man sich dieses Amt daher teile. Kyon war verwirrt, aber Veey Aknaa yr Noraiydt, so der Name der Sprecherin, erläuterte freundlich, der hiesige Chayil`im, Faanthir dan Irdoraiys, über alle Meisterämter aus und brauche keine Offiziere.

Kyon stellte sich als Slyn und danach seine Mitstreiter vor und fragte dann, warum es hier einen Chayil`im, also einen König gab. Veey zuckte mit den Schultern und sagte: »Raugnith hatte schon immer einen Chayil`im und so wird es bis in alle Ewigkeiten bleiben.

Kyon wollte wissen, ob der Machthaber von Neuankömmlingen besucht werden wollte, aber die Kriegsmaid winkte ab. Faanthir sei zwar ein freundlicher Herrscher, aber ging schon freiwillig zu einem Chayil`im, wenn es dazu keine Veranlassung gab? Da gab ihr der Barde recht und fragte ob er und seine Leute am Tisch noch Platz fänden. Ein junger Krieger, mit unglaublich breitem Kreuz und einem starken Backenbart rümpfte die Nase und sah zu Ughtred und Odugme hinüber. Veey fragte, was für wesen die Beiden seien und Kyon beantwortete ihr die Frage.

»Das ist also ein Phani«, fragte sie Odugme und Ughtred antwortete für den großen Mann: »Sein name ist Odugme.«

Die Silberwölfin ging in die Hocke, womit sie sowohl mit Ughtred, als auch mit Odugmes goldenem Penis auf Augenhöhe war.

»Warum ist sein Glied aus Gold?«

»Schnipp, schnapp«, machte der Nygh, aber Kyon übertönte ihn und sagte: »Weilˋs optisch etwas her macht.«

Veey erhob sich und berührte zuerst mit spitzen Fingern den künstlichen Penis und dann Odugmes tief schwarze Haut.

»Jede sollte einen haben«, sagte sie und deutete dabei auf das untere Ende des Tisches.

Einer der Männer fragte Kyon: »Ist das eine Laute?«

Tal himmelte und atmete tief durch, aber hier war es höchstwahrscheinlich der beste Weg sich mit den Einheimischen anzufreunden, um in Erfahrung zu bringen, wo sich der Zugang zum Tiefenfried der Festung befand. Das Tagebuch beschrieb zwar den Nutzen des Zahnrades, aber es gab keine konkreten Angaben, wie man zum eigentlichen Tor fand. Es konnte sich überall hier in der Festung befinden.

Kyon öffnete die Lederhülle der Laute und beförderte das hochwertige Instrument zu Tage. Er strich über zwei der Seiten und ließ die ersten, seltsam melancholischen Töne erklimmen. Alle sahen ihn gebannt an. Dann begann er zu spielen und es war jedem der Anwesenden anzusehen, wie ausgehungert diese Gemeinde nach neuem Blut, Tanz und Geschichten war.

Es dauerte nicht lange, da füllte sich die Trinkhalle und die Stimmung wurde immer ausgelassener. Selbst Ughtred und Odugme wurden in den Reigen aus Musik, Tanz, Sex und Völlerei mit einbezogen und nur Tal hielt sich zurück. Als dies jedoch die Schöne Veey bemerkte, trat sie zu der Doppelmondhexe heran, riss ihren Rock von ihrem Leib und rief: »Tanzt Frau, wer kennt das Morgen?«

Tal musterte sie eine Sekunde und wusste, dass es hier um mehr als nur das Morgen ging. Hier mussten Dinge in Erfahrung gebracht werden. So stand sie auf, lächelte grimmig und stieg auf einen der Tisch, wo sie beherzt den eigenen Rock fallen ließ. »Gelbwein, bringt mir Gelbwein!«, rief sie und tat es Weey gleich, die zu ihr gestiegen war und sich im Tanze wiegend weiter auszog.

 

Viel später – wahrscheinlich am nächsten Tage, oder in der Nacht, wer konnte dies nach einer smavarischen Zeche sagen? – hockten die Vier in einer Kammer und berieten sich. Es galt herauszufinden, wo der Tiefenfried seinen Zugang hatte und wie man diesen erreichte. Ughtred hatte einen der Quinkarbeiter danach gefragt und nur erfahren, dass es streng verboten war, ihn zu betreten. Es gab keine Ausnahmen.

»Müssen wir es eben heimlich machen«, sagte Kyon.

Tal erwiderte, dass dies nicht ginge, aber Kyon deutete nur mit einem Zeigefinger auf Raguels Speer, der an einer der Zimmerwände lehnte.

»Ich frage zuerst einmal, wo es ist«, sagte er.

Er wollte schon aufstehen, aber Ughtred kam ihm zuvor: »Es ist auf der dritten Balustrade in der Mitte. Da gibt es einen Durchgang in Richtung der Gemächer des Königs und eben auch den Eingang zum Tiefenfried. Hat mir der Arbeiter gesagt.«

Kyon nickte und erwiderte: »Dann ist es also kein Geheimnis.«

»Nein, es ist nur verboten, wie gesagt«, knurrte der Nygh.

Tal sagte: »Was noch?« Sie meinte Ughtred, denn sie kannte ihn mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass er noch mehr herausgefunden hatte. Warum zierte sich der kleine Mann nur immer? Er war klug und machte oft gute Vorschläge.

Der Angesprochene zögerte, doch als Kyon mit den Augen rollte sagte er: »Es gibt natürlich eine Wachkammer. Die Silberwölfe, die wir gestern kennengelernt haben wachen dort. Sie wechseln sich sicher ab und wenn ich es richtig verstanden habe sind sie immer wenigsten zu viert in der Wacht.«

Tal lachte. »Gift!«, sagte sie gedehnt und machte eine Grimasse, als würde sie einen grausamen Tod sterben. Dann fiel ihr Kopf auf die Tischplatte. Dabei war ihre Performance nicht einmal schlecht, aber die anderen fanden es nicht so witzig wie sie.

»Klar«, sagte Kyon. »Wir feiern erneut und warten bis zum Wachwechsel. Dann tun wir so, als wollten wir uns zurückziehen und fangen die Wachen auf dem Weg zum Wachwechsel ab. Wir geben ihnen einen Schlaftrunk und warten bis die anderen vorübergezogen sind. Es muss halt zeitlich passen. Sie sollten erst in der Wachkammer einschlafen. Schafft ihr das oder seid ihr wirklich tot?«

Er stupste Tal grob in die Seite und diese schrie auf und gab ihm einen Knuff gegen den Oberarm. 

 

Ughtred beobachtete die Treppe zum dritten Plateau. Er hockte auf einem Absatz zur nächten Ebene, hatte einen Humpen Gerstensaft auf sein linkes Knie gestützt und rieb sich mit der Rechten über die Stirn. Ihm gefiel die Sache nicht, aber welche Sache hatte ihm im Zusammenhang mit den Silberwölfen schon gefallen. Die mussten ja besser wissen, wie schlimm es war, wenn man sich gegenseitig vergiftete. Seltsam, in all der Zeit hier in Kisadmur, hatte er noch nie von einer Hinrichtung gehört. Sie töteten einander nicht, weil sie Angst vor den Geistern der Toten hatten. Sie konnten die grausamsten Experimente an Draiyn oder Quink vornehmen – und wahrscheinlich würden sie auch vor seinen Leuten nicht zurückschrecken – aber untereinander gab es keine Kriege oder Kämpfe um Leben und Tod. Er verstand das durchaus. Er hatte sie gesehen, die lebenden Toten. Und Tal hatte ihm erklärt, dass diese Wesen noch harmlos waren. Sie waren Gefangene ihrer Leiber, wirkliche Geister, waren offenbar durch nichts gebunden und galten als die schlimmste Bürde smavarischen Seins.

Er betrachtete die Architektur der Festung und wunderte sich über ihren Aufbau. Ganz eindeutig machte es den Silberwölfen nichts aus, ganz und gar ohne Privatsphäre auszukommen. Er kannte das ja schon von seinen beiden Wölfchen. Sie stritten sich, bissen sich gegenseitig und plötzlich schlug die Stimmung um und schon fielen sie übereinander her als wären sie korezuulische Waldhasen. Meistens war es in solchen Momenten zu spät, um auch nur wegzusehen. Er schüttelte den Kopf, musste dann aber lächeln. Sie waren wie Kinder – erwachsene und wirklich böse Kinder.

Er sah auf, als eine Gruppe von vier Silberwölfen in Rüstungen und Waffen am oberen Ende der Treppe erschienen. Sie sahen müde aus und er wusste, dass dies nur bedeuten konnte, dass sie wenigstens vier Stunden Wache gehalten hatte – am Stück wahrscheinlich! Wieder schüttelte er grinsend den Kopf. Wahrscheinlich würden sie nun eine viele Tage und Nächste andauernde Ruhezeit und viele aufmunternde Gespräche benötigen. Ein Wächter von Dranought war oft mehrere Tage im Dienst und wäre dabei weder eingeschlafen, noch hätte er sich beklagt. Einen Weg – oder wie hier einen Raum – im Auge zu behalten, war ja nicht mit dem Fällen von Bäumen oder dem Errichten einer Mauer zu vergleichen. Meist gab man die Wachen an eher ältere Leute ab, damit diese sich gebraucht fühlten. Ob er das den Silberwölfen vermitteln könnte? Wahrscheinlich eher nicht.

Er stand auf und sprang die Treppe hinunter. Es war so weit. So schnell er konnte rannte er zur Trinkhalle zurück und als er ankam wünschte er, es nicht getan zu haben. Ein anderer Barde hatte die Leier übernommen, aber Kyon war dennoch beschäftigt. Er befand sich zwischen einer großen schlanken Frau und einem kräftigen Mann und Ughtred schlug die Augen nieder, um nicht allzu genau sehen zu müssen, womit die drei beschäftigt waren. Er versuchte Tal zu finden und bereute auch dies. Sie lag auf einem der Tische und Odugme rasierte ihren Intimbereich, während sich die Kriegerin namens Veey sich mit der Hexe beriet und dabei an dem goldenen Glied des Phani herumspielte. 

Das war dann doch zuviel des Guten. Er pfiff zwischen seinen Fingern hindurch und warf seinen Krug nach Kyon. Leider verfehlte er, aber der Rest des Gerstensaftes spritzte dennoch auf die Silberwölfe und sie ließen lachend voneinander ab. Kyon blickte sich um und erstaunlicher Weiße verstand er was die Stunde geschlagen hatte. Schnell raffte er seine Hose auf und eilte zu Tal, gab Odugme einen Klaps, worauf dieser Tal beinahe geschnitten hätte und böse grunzte. Tal sah auf und wollte schimpfen, aber Kyon deutete auf den Nygh.

Beinahe im selben Moment erhoben sich fünf Kriegerinnen und Krieger und machten jetzt schon einen erschöpften Eindruck. Ughtred war zufrieden. Es war klar, dass die Wache die Andere nicht direkt ablösen würde. Subordination war ein Grundpfeiler der smavarischen Kriegskunst. Er lachte.

Unterdessen hatte Kyon seinen Arm um Tal gelegt und deutete den anderen an, jetzt mit ihre allein sein zu wollen – eigentlich ein unglaubwürdiges Konzept. Dennoch scherte sich keiner um die Beiden und es wurde in jederlei Hinsicht kräftig weiter gefeiert.

Es war natürlich nicht schwer die Ablösung einzuholen. Tal sprach sie lallend an und hielt ihnen einen Krig hin. Ob man anderenorts weiterzufeiern gedachte, fragte sie und zeigte dabei ihre angeschwollene Oberweite. Doch sie hatte sich den Schild auf den Rücken gehängt und obwohl sie durch hartes Training und gefundene Artefakte an Kraft zugenommen hatte, brachte sie das Chaos immer auf den Boden der Tatsachen zurück.

Die Vier nahmen den Gelbwein fröhlich an und beteuerten, dass sie ihn brauchen könnten und unten in der Wachkammer genießen wollten. Tal versuchte sie dazu zu bewegen hier und jetzt zu trinken, aber sie hatten es offenbar eilig. Zu sehr zu spät zu kommen schien nun doch nicht opportun zu sein.

Vorsichtig warteten die Abenteurer, bis die Wachablösung die Hälfte der Treppe erklommen hatten und taten so, als unterhielten sie sich über hoch brisante Wichtigkeiten. Dann setzten sie sich ebenfalls in Bewegung und folgten den anderen. Der Weg führte sie, wie beschrieben, durch einen Steinkorridor mit hohen Säulen und Wandverzierungen. Es gab dutzende von Durchgängen und Türen, die zeigten, dass Raugnith durchaus Räumlichkeiten mit Privatsphäre aufwies. Mehrfach unterbrachen kleine Plätze den Gang, doch offenbar hatte Kyons Spiel die meisten Bewohner dieses Teils der Festung in die Trinkhalle gelockt. Bis auf einige Quink, die ihren Arbeiten nachgingen und ihnen ohne große Neugierde hinterherblickten, stießen sie auf keine Hindernisse. Schließlich gelangten sie an eine Art Brücke, die über die Öffnung einer Wendeltreppe führte und hörten von unten die Stimmen der Wache. Sie der Weg hier oben führte durch ein großes, offenes Tor, welches in eine Art Thronsaal führte. Auch hier regte sich nichts, aber es hieß ja, dass sich hier die Gemächer des Fürsten befinden sollten und diesem wollte man auf keinen Fall begegnen.

Schnell und so leise es mit der Ausrüstung möglich war polterten sie die breite, aber auch recht steile Treppe hinab. Odugme hatte seine liebe Mühe den Sarg nicht abgleiten zu lassen, aber Ughtred stellte erneut seine Stärke zur Schau und half dem großen Mann.

Kyon, der voraus gegangen war, blieb abrupt stehen und Tal hätte ihn beinahe mit dem Speer aufgespießt. Sie wollte schon schimpfen, musste dann aber lachen, als er sich umdrehte und genervt die Lieder hob. Er machte sie nach. Sie stupste ihn mit der Speerspitze, um ihn dazu zu bewegen weiter zu gehen, aber er machte eine unwirsch Handbewegung und flüsterte: »Sie machen Pause.«

»Hier auf der Treppe?«, fragte Ughtred, der beinahe den Sarg hätte fallen lassen. Seiner Stimme war zu entnehmen, was er von der smavarischen Arbeitsmoral hielt.

Kyon setzte sich auf die Stufe auf der er eben noch gestanden hatte und sagte: »Es ist weit und steil. Hätte man hier nicht besser einen Vortex zum Einsatz gebracht?«

Tal setzte sich neben ihn und antwortete: »Und einen Quink mit einer Bettpfanne. Ich müsste mal für kleine Doppelmondhexen.«

Ughtred schüttelte den Kopf und stellte den Sarg hochkant ab, um Schlimmeres zu verhindern und machte Odugme ein Zeichen, dass dieser sich ebenfalls ausruhen sollte. 

Zum Glück dauerte die Ruhepause nicht allzulange, denn die Steinstufen waren hart und unbequem – eine Tatsache, die zweifelsfrei der Grund für die kurze Rast war. Als es weiter ging staunten die vier Abenteurer. Die Treppe war so lange, dass sogar Ughtred sich irgendwann wünschte, die einstigen Herrscher der Festung hätten tatsächlich einen Vortex einbauen lassen. Wie auch immer, irgendwann verhallten einige Umdrehungen tiefer die Schritte der Wache und man kam erneut zum Halten. Nun hieß es warten und lauschen. Tal hätte in den Astralraum gleiten können, um zu sehen was die Wächter taten, aber die Angst vor Raugniths Geistern war allgegenwärtig für die Silberwölfe und so entschied man sich, dieses Wagnis auszulassen. Stattdessen schlich Ughtred auf leisen Sohlen hinunter.

Es dauerte nicht lange, da hatte sich der Nygh überzeugt, dass aus der Wachkammer kein Laut mehr drang. Sofort wagte er sich weiter vor und lugte am Fuße der Treppe um den hier abgewinkelten Gang. Das erste, was er von den Wächtern zu Sehen bekam, war ein Fuß. Direkt am Eingang des kleinen Raumes lag einer der Silberwölfe auf dem Bauch. Einen Augenblick hatte Ughtred angst, die Hexe hätte die ahnungslosen Wächter vergiftet, aber dann hörte er ein Stöhnen aus dem Mund des Besinnungslosen. Er blickte um die Ecke und sah die anderen Kriegerinnen und Krieger. Zwei hatten es zu der niedrigen Bank geschafft und klagen lang ausgestreckt danieder. Ein weiterer war über dem Tisch zusammengesunken. 

»Es hat funktioniert. Sie schlafen«, rief er gerade so laut, dass die anderen ihn oben auf der Treppe hören konnten. Schnell kamen sie herunter und versuchten die Lage einzuschätzen. Es gab eine einzige Tür, die auf der anderen Seite des Treppenhauses die Wachkammer mit dem Tiefenfried verband. Ughtred besah sich das Schloss und Kyon begann die Schlafenden zu durchsuchen. Leider fand er keinen Schlüssel und sagte darum zu Ughtred: »Wie sieht es aus, Herr Dieb?«

Ughtred sah ihn an und hob die Augenbrauen. Dann sagte er: »Gut sieht das aus.«

»Na dann hopp hopp, die werden nicht die ganze Nacht schlafen.

Ughtred versuchte zu erfassen, ob gerade Tag oder Nacht war und packte dabei sein Werkzeug aus. Er bemerkte dabei, dass eine gewisse Nervosität von ihm Besitz ergriffen hatte. Natürlich ging es dabei keineswegs um diese Schloss hier. Er würde nur eione Minute brauchen es zu öffnen, aber was würde er auf der anderen Seite vorfinden? Drache, Drache, Drache, Drache – immer wieder dieses Wort in seinem Kopf. Er kniff die Augen zusammen und steckte einen Metallstift in das Schlüsselloch. Er zählte dabei die Sekunden. Schnell und effizient erfühlte er die Funktion des Schlosses und drückte mit einem anderen Werkzeug die winzigen Schnapper in seinem Inneren aus dem Weg. Dreiundzwanzig Sekunden – er atmete auf. »Offen«, schnaufte er.

Ohne nachzudenken öffnete Kyon die Tür und blickte in Augen eines Quink. Der breite Kerl trug eine erstaunlich wertige Rüstung, einen schweren Helm und zwei gefährliche Äxte, aber das schlimmste an ihm war, dass er nicht allein war.

Ohne weiteres Zögern ließ er den Bogen und einen Pfeil in seinen Händen erscheinen, machte einen schnellen Schritt zurück und schoss. Hinter sich hörte er, wie der Chaosschild zu Boden polterte und hoffte auf so wenig wie möglich kollateralschaden. Axtschwingend und knurrend kam ein Pulk von gerüsteten Killerquink auf ihn zu. Der Getroffene ignorierte den aus der Gelenköffnung seiner Rüstung ragenden Pfeil und Kyon schaffte es im letzten Moment seinem Axthieb auszuweichen. Dann sprang Ughtred an ihm vorbei und versenkte sein Bein im Schädel des Angreifers. Der Schlag erfolgte mit solcher Wucht, dass der Helm des Mannes in Stücken durch die Kammer flog und seine Kameraden traf. Blut erfüllte die Luft als der Nygh zu einem zweiten Schlag ausholte. Dann schoss der Speer des Raguel in die Kammer und der schrille Kriegsschrei der Hexe ließ Kyon das Blut in den Adern gerinnen. Er ließ weitere Pfeile über die Sehne gegen, aber nichts konnte das Wüten der Furie mit ihrem nach Blut lechzendem Speer übertreffen. Binnen weniger Sekunden hatte sich der Raum in eine Schlachtkammer verwandelt. Blut und Gedärm machten den Boden glitschig und der Gestank von frischem Kot raubte den Siegern die Sinne. Sie beeilten sich über die noch zuckenden Toten zu steigen, begierig nach dem Ende des Gemetzels und frischer Luft. Doch die Zeit drängte. Kaum war der Kampfeslärm verklungen, hob Ughtred eine blutige Hand. Kyon spitzte die Ohren und gab mit einem knappen Nicken zu verstehen, dass sich der Nygh nicht täuschte. Da kamen weitere Wachen die lange Treppe herunter. Ughtred untersuchte die Tür und musste einen der toten Quink verschieben, um sie schließen zu können. Dann betätigte er die drei auf der Innenseite angebrachten Riegel.

»Die Tür wird sie lange aufhalten. Sie wurde extra dafür gemacht, Angreifer von außen abzuhalten. Trotzdem sollten wir keine Zeit verschwenden«, sagte er und hob seine Axt vom Boden auf.

Die Kammer war sehr schlicht eingerichtet. Es gab Hochbetten und einen einfachen Tisch und Hocker für die Quinkwächter. In einem Regal standen haltbare Speisen. Der nun verschlossenen Tür gegenüber, befand sich genau die gleiche Vorrichtung. Eine Tür, die von der anderen Seite verschlossen werden konnte. Zu Ughtreds Glück, war diese Tür jedoch mit einem Schlüsselloch versehen und konnte so, von dieser Seite in Angriff genommen werden. Der Nygh versuchte den Blutgeruch zu ignorieren und beförderte seine Werkzeuge zutage. Mit geschickten Fingern machte er sich an dem Schlüsselloch zu schaffen und brauchte, trotz der Ablenkung seitens Kyon, der mehrmals drängte, nur wenige Sekunden das Hindernis zu neutralisieren.

Ein kurzer Gang führte zu einer erneuten Treppe und diese stellte sich als noch länger als die Erste heraus. Kyon fluchte, als er neben Tal hinunter blickte und war versucht ihr einen kleinen Tritt zu verpassen. Er wusste nicht genau, warum sie ihm so auf die Nerven ging, aber andererseits schien dies, zumindest in seiner Familie, normal zu sein. War dies der Grund gewesen, warum sein Vater es vorgezogen hatte von der Magensäure eines Drachen verdampft zu werden, als ein ruhiges Familienleben in Shishney zu verbringen? Er schüttelte den Kopf und spuckte durch den Mittelschacht der Wendeltreppe, als könne er so besser ihre Tiefe ermitteln. Tal sah zu ihm hin und er machte eine herrliche Handbewegung hinunter. Sie begann mit dem Abstieg, vergaß dabei aber nicht mit ihrem Hintern zu wackeln. Ughtred, der das Ganze wie immer zu ignorieren versuchte, rollte mit den Augen.

Der Abstieg war grausam und dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Sie mussten mehrere Male anhalten und auf den Stufen rasten und nach einer Weile war es derart dunkel, dass sie sogar improvisierte Fackel anzündeten. Als sie schließlich die letzte Stufe erreicht hatten, wandte sich Tal dieser zu und stach mit dem Speer nach dem alten Stein. Ein Funke stob auf, als wolle die Treppe sagen: »Mehr hast du nichts zu bieten, törichtes Weib?«

Ughtred hob die Fackel, die er aus Kleidungsstücken, Pech aus dem Lager der Wachen und einem Axtgriff gemacht hatte. Die Treppe endete in einem finsteren Gelass mit mehreren Ausgängen. Wohin sollten sie sich wenden? Er besah sich den Boden, aber nach all der Zeit der Einsamkeit, hatte der Keller jegliche Spuren versanden lassen. Es war, als hätte nie ein lebendes Wesen diese Tiefe betreten. Weder gab es Spuren, noch irgendwelche Gegenstände, die den Zweck des Raumes verraten hätten. Alles was der Keller zu sagen hatte, war zur Sprache der Einsamkeit geworden.

Kyon und Tal hatten sich auf den staubigen Boden gesetzt. Es war ihnen anzusehen, dass sie unbedingt eine weitere Rast brauchten. Ughtred indess, ging zu einem der Durchgänge auf der linken Seite des Gelassen. Ein düsterer Gang führte in einen weiteren Raum. Er betrat ihn und schreckte zurück. Hatte sich da etwas bewegt? Er hatte keine Ahnung wie lange untote Silberwölfe weiter existierten, wenn sie sich unter Verschluss befanden. Auf dem Boden lagen mehrere Leichen. Sie waren weitgehend skeletiert. Wenigstens fünf Personen hatten hier ihr Leben ausgehaucht. Zwei von ihnen kauerten an einer der Wände. Ihre Knochen waren noch von einer dünnen, du hartem Leder gewordenen Haut überzogen. Nichts rührte sich. Ughtred untersuchte die Toten vorsichtig ohne etwas zu berühren, fand aber nichts Brauchbares. Auch hier konnte er den Zweck des Raumes nicht bestimmen. Auch hier gab es mehrere Ausgänge, was die Vielzahl der möglichen Wege nur noch chaotischer machte.

Er rieb sich mit den Fingern über die Stirn und flüsterte einen korezuulischen Totengruß. Dann ging er müde zu den anderen beiden zurück. Er berichtete leise von seiner Entdeckung und äußerte seine Vermutung, dass wohl alle hier unten eingesperrt worden waren und früher oder später Elend verhungerten. Die Sache mit dem Vortex wurde aus seiner Sicht immer unsicherer.

Tal gab zu bedenken, dass es sein konnte, dass man das Zahnrad benötigte, um den Vortex zu aktivieren und dass die Flüchtenden damals unter Umständen einfach keine Chance gehabt hatten.

Aber warum dann das Tor verschließen und das Zahnrad beschädigen, wollte Kyon wissen. Vielleicht ein Fehler. Im Chaos des Angriffes hatte man sicher sehr fahrig gehandelt. Vielleicht war es tatsächlich ein Versehen gewesen.

»Wie auch immer, wir müssen den Vortex zuerst einmal finden, bevor wir ihn testen können«, knurrte Ughtred. Es war ihm anzusehen, dass er keine überflüssige Sekunde in diesem Grab verbringen wollte.

So machten sie sich auf und durchsuchten gemeinsam die Gewölbe unter Raugnith. Bald mussten sie erkennen, wie groß das unterirdische Areal der Festung war. Stunde um Stunde nahmen sie falsche Wege, überquerten sinnlos Brücken über noch tiefere Keller, durch forsteten Räume mit sonderbaren Interiör und fanden unzählige weitere Mumien längst verstorbener Festungsbewohner. Am Ende wussten sie nicht, wie viel Zeit vergangen war, doch als Ughtred eine breite Treppe zu dem bisher größten Gewölbe betrat, war ihm plötzlich klar, den richtigen Weg gefunden zu haben. Er schnalzte mit der Zunge und unterbrach die wieder einmal streitenden Silberwölfe.

Wütend sah Kyon zu ihm herüber, aber im selben Moment hob auch Tal in einer warnenden Geste die Hand. Doch es war zu spät. Ein dünner Strich erschien am Hals des Phani und dann spritzte Blut aus der Wunde. Etwas ganz und gar Unsichtbares hatte ihn angegriffen und eindeutig schwer verletzt. Gurgelnd griff er sich an den Hals und ging zu Boden.

Im selben Moment entstand mitten in der Luft ein Feuerball und schoss auf Kyon und Ughtred zu. Der Barde hatte nicht einmal Zeit seinen Bogen zu ziehen, sprang zur Seite, wurde aber dennoch getroffen. Brennend und schreiend rollte er die Treppe hinunter und wälzte sich hin und her. Ughtred versuchte ihn mit seinem eigenen Mantel zu löschen. Tal hob den schweren Schild und polterte nun ebenfalls die Treppe hinab. Wieder entzündete sich die Luft und dieses Mal schoss das brennende Element auf die junge Hexe zu. Trotz ihrer Sorge um die Freunde stahl sich ein grimmiges Lächeln auf ihre Lippen. Sie duckte sich hinter den Schild, ließ das Feuer an seinem unheiligen Wüten abgleiten, sprang dann auf seine Kante und stach mit dem langen Speer in die Luft, aus der sich das Feuer gebildet hatte. Sie streifte etwas und ein Röcheln ging durch den finsteren Keller.

Dann blitzte graues, verdorbenes Fleisch vor ihr auf und glitt durch die Luft aus ihrer Reichweite. Es war einer der Toten. Ein mächtiges Wesen, halb Geist, halb wandelnde Leiche und ganz zweifelsfrei ein Lych, ein Zauberer aus dem Totenreich.

Das Ding zischte und schien verwundert zu sein. Seine toten Augen schienen den Keller mit einem rötlichen Leuchten zu erfüllen. Dann war seine Stimme in den Köpfen seiner vermeintlichen Opfer. Es faselte vom Tod und dessen Vorzügen und wie er, Zuytolg bor Zuruiyk Bortulg, der einstige Kammerherr von Raugnith, seinen Frieden mit ihm geschlossen hätte. Der Tod sei für alle Lebenden die bessere Alternative. Er bedeute Freiheit, Friede und Glück.

Aus Kyons Richtung ertönte ein gewohntes Klacken und dann zischten zwei Pfeile durch die Luft und trafen den verfaulten Leib des Untoten Mittschiffs. Das Ding zischte erneut und krümmte sich. Dann verschwand er im Nichts und erschien unmittelbar neben Kyon. Er fuchtelte mit einer winzigen Ritualklingen durch die Luft, doch Tal hatte den Schild fallen lassen und war zur Stelle. Sie rammte dem Lych Raguels Speer in die Seite, hob den dürren Leib in den Luft und schmetterte ihn auf den Kellerboden. »Deine Zeit ist vorüber Totenzauberer«, schrie sie das Ding an, zog den Speer zurück und rammte ihn dem Lych in den Schädel.

Der Speer entfesselte seine elementaren Kräfte und ließ die morschen Knochen des Monsters in einem Funkenregen durch die Dunkelheit des Gewölbes schießen. Der Geist des Lych schrie und tobte, doch als die Reste seiner sterblichen Teile vergingen, verlor er denn Halt und glitt in die Anderwelt hinüber. Tal schrie vor Erleichterung und Zorn. Dann trat sie die verfaulenden Reste des Lych von der Speerklinge, ließ die Waffe klappernd zu Boden fallen und stürzte zu Odugme. Aus dem Augenwinkel sah sie Ughtred neben Kyon kauern, aber der Barde würde warten müssen. Odugmes Verletzung war tödlich und wenn sie nicht sofort handeln würde, wäre dieser verfluchte Keller sein Ende.

Mit fiebrigen Fingern beförderte die eins der Medpacks aus der Silberwacht zutage und öffnete eine der darin befestigten Patronen. Vorsichtig strich sie den schwarzen Inhalt des Dings auf die stark blutende Wunde am Hals des Nyghs. Dann gab sie ihm einen Stasetropfen und begann das winzige Besteck, weiches sie für die Operation an den Gefäßen benötigen würde zu aktivieren. Wie metallene Insektenbeine entfalteten sich die kleinen Klingen und Zangen. Dann spreizte sie die Wunde und begann mit ihrer Arbeit.

Stunden verging in dem nun stillen Gewölbe. Kyons Verletzungen waren nicht annähernd so schlimm wie die von Odugme, aber der stöhnte laut, als Ughtred Brandsalbe auf die Wunden auftrug. Später versorgte Tal auch Kyons Verletzungen und der Barde machte ihr Vorwürfe, weil er Schmerzen leiden musste, wärend der blöde Phani friedlich schlafen durfte. Die Hexe schlug vor, ihm ebenfalls die Kehle durchzuschneiden und fuchtelte mit ihrer winzigen Doppelklinge vor seinem Gesicht herum. Kyon verzog wütend das Gesicht, aber dann drücke sie ihm schnell einen Kuss auf die Lippen, stand auf und ging einige Schritte von ihm weg. Sie musste ihren Kopf klären. Verärgert trat sie gegen den Schild und setzte sich dann auf den Sockel einer der Gewölbestützen. Allein die Zeit, die Odugme in Stase verbleiben würde, raubten ihre den Verstand. Das Genörgel des Sliyn belustigte sie da eher, aber so richtig würde sie hier unten auf den harten Kellersteinen auch nichts anfangen können. Sie spuckte in hohem Bogen aus und erinnerte sich an die Worte ihrer Mentorin Akkatha. »Wenn die Zeit selbst eure Gedanken beherrscht, nehmt euch selbst aus ihr heraus. Der Geist ist frei von Zwängen wie Zeit und Schmerz. Versenkt euch im Jenseits und vergesst die Fesseln des Diesseits.«

Sie atmete tief ein, verknotete ihre Glieder zu einer bequemen Position und schlief ein. 

So vergingen lange Stunden auf dem unbequemen Kellersteinen. Keiner der drei hätte später genau sagen können, wie lange sie im Tiefenfried unter der Festung gelagert hatten. Kyon beschwerte sich, Tal ignorierte ihn und Ughtred versuchte die Zeit zu nutzen. So war es immer. Irgendwie schafften sie es, die Zeit die Odugme zur Regeneration benötigte zu überbrücken.

Irgendwann untersuchten Tal und Ughtred das finstere Gewölbe genauer. An seiner, dem Eingang gegenüberliegenden Wand, gab es eine breite Empore mit mehreren Stufen. Von hier kam das einzige Licht hier unten im Tiefenfried. Links und rechts neben einem steinernen Tron standen Feuerbecken, in denen orangefarbene kugeln von oben nach unten abbrannten, ohne sich dabei aufzuzehren. Ihrer Licht reichte dabei gerade einmal, den Steinstuhl und einen kleinen Teil der Empore zu erhellen. Tal mutmaßte, dass sich die Energie der Zauberfeuer ihrem Ende zuneigte und erklärte sie für ungefährlich. Ughtred, der längst entschieden hatte keinen der Teufeleien der Silberwölfe über den Weg zu trauern hielt sich von ihnen fern.

Von der Empore aus, war in einer der Nischen in den Wänden ein schmaler Durchgang zu erkennen. Das Mauerwerk war so geschickt angeordnet und farblich angepasst, dass man in der Dunkelheit den besagten Durchgang wirklich nur aus wenigen Blickwinkeln wahrzunehmen vermochte.

Gemeinsam und so leise wie möglich näherten sie sich der Öffnung und lauschten, doch die Stille hatten sich des Tiefenfrieds bemächtigt. Es war, als hätten sie, die Eindringlinge, mit dem Lych auch jedes Geräusch hier unten zum Verstummen gebracht.

Leise sage Tal, sie wolle dem großen Sliyn nicht vorgreifen und so gingen sie zu dessen und Odugmes Krankenlager zurück. Wie vermutet, wollte der Barde im Augenblick nichts von dem Durchgang wissen, aber etwas später stand er auf, streckte die steifen Glieder und machte Anstalten, sich die Sache selbst anzuschauen. Natürlich begleiteten Tal und Ughtred ihn in angemessener Entfernung.

Schon in dem schmalen, durch eine geschickt in den Wänden eingebrachte Biegung verborgenen Korridor, der aus der großen Halle führte, war das Wummern des Vortex zu hören. Unheimlich tanzten violette Lichter über die Wände und ließen keine Interpretationsmöglichkeit. Hier unten befand sich der Spiegelturm des Kellerfriedens und hier unten, würde sich das Schicksal der Abenteurer erfüllen. Sie gingen langsam den Tunnel entlang und empfanden wieder einmal das Schleifen des Sarges und der daran befestigten Ketten als unerträglich.

Die Vortexkammer hatte einen rautenförmigen Querschnitt und war, bis auf den Spiegelturm leer. Das Ding war mehr als drei Meter hoch und strahlte matte violette Energie aus. Er schien funktionsfähig zu sein, doch er war blockiert. Oben befand sich ein Ring in dessen Mitte wiederum eine Achse hervorlugte. Ughtred deutete darauf und sagte: »Das muss es sein!«

Kyon nickte gequält, weil er das, was als nächstes kommen würde verabscheute. Doch dann stellte er sich vor den runenverzierten Turm und gab Ughtred zu verstehen, dass er breit war, ihn in die Höhe zu heben. Der Nygh grinste breit und kletterte auf den Rücken des Silberwolfes. Kyon wankte, aber Ughtred war ein geschickter Kletterer und schaffte es sich aufrecht auf die Schultern des Barden zu stellen. Dann steckte er das Zahnrad auf die Achse und erschrak fast, als es zuerst mit einem satten Klacken einrastete und sich dann langsam zu drehen begann. Er wollte herunter, aber Kyon verstand seine Bewegung nicht richtig und dann explodierten die Vortexöffnungen in den Raum und sie vielen beide schreiend zu Boden.

Drei Violette, armdicke Blitze schossen aus dem Spiegelturm zu drei Positionen an den Wänden und bauten die Öffnungen durch die die dünne Membran der Realität, hinüber zur Anderwelt auf. Wabernd tauchten sie alles in Fuchsia Farben es Zucken und violettes Licht. Der Ganze Raum schien sich zu verändern, wurde transparenter und schien nicht mehr Teil dieser Welt zu sein. Die drei Besucher erhielten einen Eindruck von der festigkeit der Realität und empfanden sonderbare Eindrücke kosmischer Ungereimtheiten. Doch dann beruhigte sich das Realitätschaos ein wenig und Tal deutete auf Kyon, als sie sagte: »Das Tagebuch, holt hes hervor! Wir dürfen jetzt keinen Fehler machen.«

Kyon erwiderte: »Ich dachte wir hätten uns schon entschieden.«

Ughtred, der befürchtete, es würde wieder einmal zu einem Streit kommen, sagte beschwichtigend: »Ich habe es noch nicht ganz verstanden und würde es gerne noch einmal durchgehen Herr Barde.« Er neigte dazu der Hexe Recht zu geben, da er ihre Launen noch schlechter einordnen konnte als die des Sliyn.

Aber dann sagte Kyon in erstaunlich ruhigem Ton: »Und was ist mit dem Dicken?«

Tal legte den Kopf schief, wie ein Wolf, der nicht verstand, warum ein Erdhörnchen in einem Loch verschwand und im nächsten Moment aus einem anderen wieder auftauchte. Sie wollte etwas sagen, aber Kyon hob die Hand und kam ihr damit zuvor. Er sagte: »Er geht uns hier unten ein, wenn wir ihn zurücklassen.«

»Der dicke«, murmelte Tal genervt, die stolz auf die athletische Figur ihres Phani war. Wieder wollte sie loslegen, aber diesmal kam ihr Ughtred zuvor: »Der Dürre hat Recht Frau Hexe. Wenn wir Odugme hier unten lassen, könnten sich seine Verletzungen verschlimmern. Wir sollten zumindest hierbleiben, bis es ihm wieder gut geht.«

Tal legte den Kopf erneut schräg, weil sie nicht verstanden hatte, wen Ughtred mit dem ›Dürren‹ gemeint hatte, aber Kyon sagte verärgert: »Genau Stumpen, wir hocken hier in der Finsternis und warten eine Jahreszeit, bis sich der Schwanzlose wieder in der Lage sieht seine Aufgaben zu verrichten.

Da platzte Tal die Hutschnur. Sie richtete sich auf und keifte: »Blödes Pack, mein Phani wird hier unten nicht eingehen! Wir machen es ganz anders. Wir gehen nach Angaworth zu meiner Mutter meines Vaters! Basta!«

Kyon und Ughtred sahen sie mit großen Augen an. Doch die Hexe hatte sich schon abgewandt und auf den Weg zur großen Halle gemacht. 

Später unterhielten sie sich im Schein eines ihrer Feuerzeuge über Tals Idee, doch weder Ughtred noch Kyon hatten dabei das Gefühl, etwas an ihrer Entscheidung ändern zu können. Hinzu kam, dass sie wahrscheinlich Recht hatte. Sie waren alle angeschlagen und Odugmes Zustand konnte nur als äußerst bedenklich beschrieben werden. Man könnte ihn für einen längeren Zeitraum in Stase versetzen, aber eine solche Maßnahme würde ihn kaum heilen und wer sagte überhaupt, dass diese Unternehmung in drei Tagen erledigt sein müsse? Zu dritt redeten sie sich den Ausflug nach Angaworth schön und am Ende hatten sie alle drei das Gefühl, die jeweils anderen überredet zu haben, der einzig richtigen Entscheidung beizupflichten. Zufrieden ruhten sie sich noch eine Stunde aus und begannen danach wortlos ihre Ausrüstung zu packen. Sie hatten beschlossen nur das Nötigste mit zu nehmen, da sie ja ohnehin wiederkehren würden.

Ughtred hatte zwischenzeitlich viele Städte der Silberwölfe gesehen, konnte sich aber deren größte Ansiedlung nicht noch prächtiger und seltsamer vorstellen, wie er es von Shishney gewohnt war. Was sollte noch drastischer sein als der Silberhafen mit seinen fliegenden Schiffen oder der unglaublichen Festung im Begr, die bis zu den obersten Zinnen des Gebirges reichte? Er hatte von den Wundern Angaworths gelesen, aber er hatte viele der Beschreibungen nicht verstanden. Unräume, so viel war ihm seit seiner Reise mit den Silberwölfen klar, waren Räume oder ganze Häuser, die sich auf der anderen Seite der Membran in der Anderwelt befanden. Er hatte das mit eigenen Augen in Raguels Grab gesehen und vor allem gespürt. Wer einmal durch die Membran gegangen ist, vergisst dieses Erlebnis niemals. In den Schriften der Wissenswahrer seiner Heimat allerdings, war von ganzen Straßenzügen oder Stadtvierteln in der Anderwelt die Rede. Konnte das sein? War es möglich, dass die Silberwölfe derart verrückt waren, dass sie derart große Areale in die Zwischenwelt verschoben und sich dann auch noch dauerhaft dort aufhielten? Er fragte Tal und sie nickte. Sie sprach leise und sagte, dass sie als Welpen Angaworths gesehen habe, sich jedoch kaum erinnern können. Wunder hingegen waren für sie an der Tagesordnung und Straßen, die ich in der Anderwelt befanden empfand sie nicht sonderlich spektakulär. Für sie, war der Konflikt zwischen ihren Eltern und der Vatermutter weit problematischer. Wie würde die alte Wölfin reagieren? Vor allem jetzt, wo sie, Tal, angefangen hatte, die Beweggründe ihrer Eltern zu begreifen. Yvatlan ven Arudsel war eine ebenso durchtriebene, wie auch typisch smavarische Frau. Sie hatte ein Gespür für Empfindungen und Schwächen und würde zweifelsfrei sofort erkennen, dass Tal begonnen hatte sich ihrem Vater zu nähern; was zwangsläufig einer Entfernung zur Großmutter bedeuten musste. Einst hatte sie auf Yvatlans Schoß gesessen und mit den Zähnen nach den Kordeln ihrer Bluse geschnappt. Würde sich die Vatermutter daran erinnern? Tal war sehr skeptisch. Und dann waren da ja noch ihre Begleiter. Kyon würde sie als Sliyn gerade so akzeptieren. Sie hielt sich an die Regeln und würde ihn beherbergen. Allerdings war sich Tal sicher, dass die Wölfin sich kaum auf die Allüren des Barden einlassen würde. Mit Odugmes würde sie sicher kein Problem haben, solange man den großen Mann wie einen Sklaven behandelte. Aber Ughtred, das war etwas ganz anderes. Nyghs waren keine Sklavenrasse der Smavari. Ughtred selbst würde sich mit Sicherheit nicht wie ein Untergebener verhalten. Er war zurückhaltend und ruhig, aber eben kein Sklave. Wie würde Yvatlan auf ein Wesen einer anderen Spezies reagieren, dass sich nicht der smavarischen Hoheit unterwarf? Sie schüttelte den Kopf und begann über die Regeln zu sprechen. Sie beschrieb Yvatlan ven Arudsel als einfache, wenn auch begüterten Frau, die keine anderen Meinungen außer ihren eigenen gelten ließ. Sie bat Kyon, sich zurückhaltend zu benehmen und seinen Status als Sliyn nicht zu überspannen. Ihre Vatermutter würde jede Hochnäsigkeit mit maximaler Ablehnung bestrafen und was dies bedeutete, musste sie nicht erst erklären. Gerade smavarische Frauen waren alles zimperlich, wenn sie sich übergangen fühlten. 

An Ughtred gewandt sagte sie: »Na ja, ihr kennt euch ja jetzt ein wenig mit den smavarischen Sitten aus und wisst wie unsere Leute anderen Völkern begegnen. Wenn wir im Anwesen meiner Vatermutter Yvatlan ven Arudsel sind, müsst ihr vornehme Zurückhaltung üben.«

Ughtred sah sie an und rieb sich dann über die Stirn. Dann fuhr er gedankenverloren das Zeichen der Wölfin in seiner Haut nach. »Am einfachsten wäre es wohl, wenn ich mich als euer kleiner Sklave ausgeben würde nicht wahr?«

Sie sah ihn an. Dann rollten ihre Augen nach innen und sie sah das zarte weiße Gesicht ihrer Mutter. Als Welpen hatte sie in den Armen ihrer Mutter gelegen und stets waren Schmetterlinge um sie herum geflattert. Güte, es sei die Güte, die kleiner, schwache Wesen anziehen. Dies und noch mehr hatte ihre Mutter einst zu ihr gesagt. Damals hatte Tal nach den Schmetterlingen geschnappt. Später hatte sie über ihre Mutter und ihren Vater gelacht. Doch heute, sah sie die Welt aus anderen Augen.

Sie blickte in die kleine Flamme auf dem Boden und sagte: »Nein, das wird nicht geschehen. Ihr seid kein Sklave und wir werden euch als unseren Wegbegleiter und Freund vorstellen.«

Kyon sah auf und spuckte in die Dunkelheit jenseits des Feuerkreises, doch Tal ignorierte ihn.  »Es genügt, wenn ihr sie nicht direkt ansprecht. Sie würde euch ohnehin zu nichts nützen sein.«

Ughtred nickte. Es war nicht klar, wie er auf Tals Ansprache reagierte. Er sagte einfach nichts. Tal zuckte mit den Schultern und holte ein Stück Trockenfleisch aus ihrer Tasche. Sie war nervös und versuchte dies mit dieser einfachen Geste zu überspielen, doch als sie bemerkte, dass die beiden anderen sie anstarrten, würgte sie den Streifen als Ganzes herunter und wandte sich ab.

Nach einer Weile erhob sie sich jedoch und erklärte, dass es keinen Grund gäbe, länger hier unten in diesem stinkenden Keller zu sitzen. Kyon und Ughtred standen wortlos auf. Sie hatten ohnehin nur darauf gewartet, dass die Doppelmondhexe bereit war. 

Der Vortex nach Angaworth befand sich laut Tagebuch im Süden. Niemand sprach aus was er dachte, doch es war eindeutig, dass die drei Abenteurer alles anderer als sicher über den Wahrheitsgehalt von Lonkaiyths Schriften waren. Vorsichtig streckte Kyon eine Hand aus und ließ die züngelnde Energie um seine Finger spielen. Fuchsjafarben krochen die Lichtbögen über seine Haut, machten sie transparent und ließen seine Knochen durchscheinen. Er wandte sich zu Tal und Ughtred um und zeigte seine Wolfszähne und kurz war die Werwölfin in seinem Schädel zu erkennen. Er grinste böse und machte einen entschlossenen Schritt in die ANderwelt hinüber. Für die Verbliebenen wirkte es, als zehnten die bunten Lichtbögen den Leib des Smavari auf. Tal sah zu Ughtred herunter und nickte ihm zu, aber es war dem Nygh anzusehen, dass er mehr als beunruhigt war. Dennoch griff er in die Lichter und ließ sich wortlos von den Anderweltkräften des Vortex verschlingen. Er erlebte dieses kosmische Ereignis bei vollem Bewusstsein. Zuerst zog ihm der Vortex den Boden unter den Füßen weg und er hatte das Gefühl aus der Welt gerissen zu werden. Fallend versuchte er sich zu orientieren und hörte die Angstschreie seines anderen Ichs, welches über ihm durch die Unendlichkeit glitt. Er war allein, dann lief er. Laufen bedeutete voran zu kommen. Sein ganzes Leben war er gelaufen, um von einem Ort zum nächsten zu gelangen, also tat er nun Instinkttief dasselbe. Wie in der Wüste von Draiyn Andiled dachte er sich laufend und kam so voran. Dann war es auch schon zuende und er stürzte zurück in die Realität. Er hatte Bewegungen gesehen, grau in violettem Licht, doch gerade, als sich diese Schemen seiner bemächtigen wollten, öffnete sich vor ihm die Dunkelheit und er stürzte zu Boden. Dies passierte leider im wahrsten Sinne des Wortes. Wie auch immer der Zielpunkt in Angaworth etabliert worden war, zwischenzeitlich musste es bauliche Veränderungen gegeben haben. Als Ughtred in einer Höhe von fast drei Metern durch die Membran brach und sich die Schwerkraft der Tiba Fe seiner bemächtigte fiel er wie ein Stein zu Boden und sah unter sich gerade noch den Barden, der sich den Kopf rieb. Schnell wie eine Giebelkatze drehte er sich in der Luft und kam auf allen Vieren am Boden auf. Er prellte sich zwar ein Handgelenk, hatte aber immerhin Kyon verfehlt und Schlimmeres vermieden. Ohne zu zögern drehte er sich um und breitete die Arme aus und diese Geste kam keine Sekunde zu früh. Schon brach Tal aus der Anderwelt und stürzte auf ihn zu. Sie hatte sich zum Glück für eine leichte Ausrüstung entschieden und trug nur eins ihrer sündhaft luftigen Kleidchen. Als sie in seinen starken Armen landete machte sie ein quiekendes Geräusch und zappelte wie ein Welpe, bis er sie zu Boden ließ. Ohne einen Dank schüttelte sie sich und sagte: »Wo sind wir denn nun wieder gelandet?«

Kyon deutete auf eine Beule an seinem Kopf und verzog schmerzhaft das Gesicht als er versuchte aufzustehen. Er war weit angeschlagener, als er es sich anmerken lassen wollte. Tal und Ughtred sahen ihm an, dass er unter Schmerzen litt und sie wussten beide, dass er damit nicht wirklich gut umgehen konnte. Er hatte andere Stärken.

Ughtred versuchte etwas zu erkennen. Sie befanden sich in einem Keller, der dem Tiefenfried Raugniths gar nicht unähnlich war. Aber andererseits, die Festung war von den Silberwölfen erbaut worden und dies hier war die Hauptstadt der kisadmurischen Silberwölfe. Warum sollten die Keller hier anders sein als weiter nördlich?

Er hatte sein Feuerzeug entzündet und deutete den düsteren Koridor hinunter. Es gab zwei Richtungen, aber auf der Seite auf die er zeigte, befand sich eine schwere Holztür. Vielleicht hatten sie Glück und der Ausgang des Kellers war ganz nahe.

Tal hob, Kyon imitierend, eine Hand und sagte leise: »Ich sehe Mal nach. Aber schon die Finger bei euch lassen ihr Molche.«

Dann ließ sie sich zu Boden sinken, verknotete ihre Glieder und glitt aus ihrem Leib. Sie sah noch wie Ughtred den Kopf schüttelte, doch dann wurde ihre Essenz eins mit dem Astralraum und sie ließ sich in Richtung der Tür fallen. Im Äthers konnte sie mehr der Struktur des Kellers erkennen. Es gab unzählige weitere Räume. Schnell durchmaß sie einige davon, fand einen zentralen Raum, in dessen Mitte ein Troll oder etwas vergleichbares angekettet war, aber ansonsten nichts weiter interessantes. Dieser Keller scheint unbenutzt zu sein. Doch als sie den Kopf durch einen der nahegelegenen Torflügel schob, zog sie ihn ruckhaft zurück. Auf der anderen Seite hatte sie ganz kurz ein gleißendes Leuchten wahrgenommen und dann eine Bewegung. Hier unten war doch etwas. Es war klein und hatte die Kontur eines Sackes. Ein langes, haariges Ärmchen schien ihm als einziges Fortbewegungsmittel zu dienen und sie war sich sicher, eine lederne Maske erkannt zu haben. Smavari verbannten ihre Maskenmännlein gerne in ansonsten verlassene Keller. Dies bestrafte einerseits die garstigen kleinen Kreaturen und schreckte eventuelle Eindringlinge ab.

So schnell sie konnte ließ sich sich durch die Wände in einen der Nebenräume ziehen und fand dabei mehr zufällig eine Wendeltreppe nach oben. Sie wusste, dass das Wesen sie ebenfalls wahrgenommen haben musste. Im Gestein schwebend überlegte sie fieberhaft, wie sie mit der Sache umgehen sollte. Maskenmännlein waren gefährlich. Sie verfügten oft über schreckliche psionische Kräfte und konnten darüber hinaus in geistigem Kontakt mit ihren Herren stehen. Es würde Alarm schlagen oder sie wenigstens erpressen. Diese Möglichkeit erschien der Hexe sinnvoller. Schnell ließ sie sich zurück in ihren Körper stürzen.

Als sie ihre Augen öffnete hatte sich Kyon gerade der Tür zugewandt und das bekannte Klacken seines Bogens, der in seine Hand geflogen war, bezeugte seine Nervosität. Schnell hob sie einen FInger vor ihre Lippen und nickte. Ja, da war etwas auf der anderen Seite und ja, es war gefährlich. Neben ihnen zog Ughtred lautlos seine Axt aus dem Gürtel und positionierte sich vorsichtig zwischen der Tür und dem Phani. Sie hatten ihn auf eine der Decken gelegt und ihn mittels Spinnenseilen hinter sich her gezogen. Er lag immer noch in Stase und wäre für jede Art von Angreifer ein leichtes Opfer gewesen. Ughtred ging in die Hocke und schwieg.

Fast zu spät kam Tal die Idee, mit den beiden in geistigen Kontakt zu treten. Sie hatte diese Disziplinen mehrere Male geübt und sie als äußerst leicht empfunden, doch jetzt, da es schnell gehen musste und wie so oft um Leben und Tod gehen könnte war sie zu nervös um die feinstofflichen Fäden in Einklang zu bringen. Fahrig griff sie in den Astralraum und wob die Stränge zu einer Form. Sie tastete nach Kyons Geist und frohlockte innerlich, als er in ihrem Kopf mit einer abfälligen Bemerkung antwortete. Sofort tat sie es mit Ughtred ebenso, doch dieser wehrte ihr Eindringen zuerst ab. Sie wandte sich ihm zu und deutete mit einem ihrer langen Finger an ihre Stirn und dann auf ihn. Er sah erschrocken aus, schüttelte den Kopf, doch dann rieb er sich mit der freien Hand über die Stirn und ließ sie ein.

›Ein Maskenmännlein wahrscheinlich‹, dachte sie. ›Hat mich wahrgenommen. Wird wahrscheinlich hier unten gehalten, um Eindringlinge auszurufen oder gar selbst auszuschalten. Aber wir sind drei und wir haben die Mittel es zu besiegen, wenn es zu einem Kampf kommen sollte.‹

Kyon verzog das Gesicht und wollte etwas sagen, als er sah, wie Ughtred blitzschnell eine seiner Wurfäxte zog und an ihm vorbei in Richtung der Tür schleuderte.

»Verflucht«, murmelte der Barde, drehte sich und schickte einen Pfeil hinter der Axt des Nyghs her.

Tatsächlich hatte sich die Tür einen Spalt geöffnet, doch beide Waffen fraßen sich zu hoch ins Holz. Das Ding kroch flach auf dem Boden. Es war ein schmutziger Sack, aus dem ein dürrer, Spinnenhaariger Arm reichte. Mit fahrigen Bewegungen kroch es in den Kellerraum.

Da Stand Tal auf und rief: »Wächter des Kellers, ich beschwöre dich. Halte ein und höre unsere Worte!« Dabei hob sie drohend Raguels Speer vor sich und blitzte mit den Augen.

»Hier steht …«, sie unterbach sich und blickte hinter sich zu Kyon, der auf dem Boden kauerte. Es war ihm anzusehen, dass er unter den Verbrennungen litt und Probleme haben würde, hier an einem Kampf teilzunehmen. »Hier kauert Kyon. Nein, Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor. Und dies ist Meister Ughtred, aus dem fernen Korezuul. Ich selbst bin Yt`Talan ven Arudsel, Doppelmondhexe und Nachfahrin der Vatermutter Lady Yvatlan ven Arudsel. Wir bereisen Angaworths auf einer Queste und gedenken uns im Hause derer von Arudsel auszuruhen. Stehst du uns im Wege? Willst du dein Dasein hier beenden und in der Anderwelt vergehen oder beugst du dich vor unserer Gewalt? Wir haben weit schlimmeren den Tod gebracht als dir, Wicht.«

Es war ersichtlich, dass der Unhold sich ordnungsgemäß bedroht fühlte. Er wich ein wenig zur Tür zurück und dann ertönte sein Zetern: »Jaaaaa, aber, me8n Meiiiisteeeer, wird mich unter Quaaaalen daniederstrecken. Das wird sicher erfreulich, doch auch kuuuurz.«

»Wenn der Zorn des Sliyn hier dich trifft, geht alles noch viel schneller und verabschiede dich schon einmal von deiner Seele, den dieser hier …« Sie deutete auf Ughtred, »… ist ein schrecklicher Seelendieb aus dem Reich der Geisterwälder.

Ughtred rieb sich kommentarlos über die Stirn und versuchte wie ein Seelendieb zu wirken. Das Wesen indess lugte mit seiner ledernen Maske aus dem Jutesack heraus, in dem es offenbar gefangen war. Die Maske hatte auf einer Seite eine große und auf der anderen zwei etwas kleinere Sichtöffnungen, die mit schmierigen Gläsern versehen waren. Es versuchte offensichtlich zu verstehen, was hier unten vor sich ging. Wahrscheinlich kam es alles andere als oft vor, dass Fremde durch sein Refugium schlichen. Es wusste garantiert nicht einmal von dem Vortex. Wie auch? Er war ja seit tausenden von Jahreszeiten inaktiv gewesen. 

»Was jetzt? Ein schneller und langweiliges Ende, oder eine sinnvolle Bestrafung, weil du uns nicht aufhalten konntest? Was soll es sein?« Tal stemmte bei diesen Worten ihre freie Faust in die Hüfte. Das Ding wedelte mit deinem Ärmchen und nickte ergeben. Dann zog es sich durch den Eingang zurück.

»Wendeltreppe«, sagte die Hexe und deutete auf den Ausgang mit den beiden Holzflügeln. Kyon erhob sich schwerfällig und Ughtred hob den Teil der Ausrüstung vom Boden auf, den er tragen konnte, während er den Phani hinter sich herzog. Jetzt war er der Sklave. Vielleicht sollte man einen Sark basteln und Odugme darin durch die ganze Tiba Fe ziehen. Das würde zumindest die Außenwirkung ihrer kleinen Unternehmung im Lot halten. Am schlimmsten war, dass er auch noch ein schlechtes Gewissen hatte, weil er Kyon nicht stützen konnte. Was was das nur mit den Silberwölfen? Wie machten sie es, sich alles und jeden zum Untertan zu machen?

 

Sie brauchten nur eine halbe Stunde, den Keller zu verlassen. Weit und breit gab es in diesem Teil der Stadt außer einigen entkommen Quinksklaven oder Hobgoblins keine Bewohner. Als sie ins Freie traten, erstreckte sich vor ihnen eine lange Straße von Links nach Rechts. Den Gebäuden, die zum Teil in die Felsenflanke des Gebirges gebaut waren gegenüber, befanden sich weitere Strukturen, vor denen sich Quink mittels Feuertonnen ihr Abendessen brieten. Die Umgebung sah ährmlich aus und überall auf dem Boden waren Müll und unrat verstreut. Ughtred versuchte dieses Bild mit Shishneys Reinlichkeit und Prunk in Einklang zu bringen, als Kyon seine Aufmerksam mit einem brüsken Rempler nach links dirigierte. Da gingen dem Nygh fast die Augen über. Die Straße führte auf eine Schlucht zu, wo sie über eine Brücke führte und danach wiederum in einen riesigen Platz vor einer Art in das Gestein des Gebirges Getriebe es Stadttor mündete. Ab der Stele, an der die Straße zur Brücke wurde, war sie von gebogenen Lampen beleuchtet, welche sich über den Bogen der Konstruktion bis hin zu dem Tor in die Lüfte erhoben. Der Stadtteil in dem sie sich befanden, musste eine Art vorgelagertes Viertel der niedrigsten Arbeiter sein. Die Brücke hingegen, führte über diese gigantische Schlucht zum Haupteingang von Angaworths, der Hauptstadt von Kisadmur.

Alle hier schien zu leuchten und sich auf eine merkwürdige, unreales Art zu bewegen. Auf der Straße brachten Quink Rohstoffe in die Stadt und zwischen ihren Karren und Schlitten bewegten sich moderne Transportdroiden und von fantastischen Tieren gezogene Kutschen. Das Tor, oder besser sein sich nach oben verjüngender Sturz, war gigantisch. Ughtred hätte das Material, aus dem es geschaffen war nicht benennen können und war sich nicht einmal sicher welche Farbe es hatte. Gerade waren die Tagesgeschwister am untergehen, da wechselte die Fassade und die Brückenbögen zu einem tiefen Dunkelgrün, doch im nächsten Moment schienen wieder Rottöne vorzuherrschen. In den Torflügeln und den Wänden links und rechts davon befanden sich Nie schön, in denen er glaubte Silberwölfe sitzen zu sehen. Kyon, darauf angesprochen nickte und erklärte, dass dies Torwächter seinen. Sie hätten ihr körperliches Dasein aufgegeben und verbrächten den Rest der Unendlichkeit in der Funktion die Torflügel mittels geistiger Energien zu öffnen und zu schließen. Auf seine Frage wie sie schliefen und sich entleerten, bekam er keine Antwort. 

Tal hob eine Hand, doch als sie damit nicht das gewünschte Ergebniss erzielte, nahm sie den Daumen und Zeigefinger ihrer freien Hand in den Mund er ließ einen schrillen Pfiff erschallen. Ughtred und Kyon erschraken und der Silberwolf sah sich um, wie ein gescholtener Welpe. Doch kurz darauf hielt einer von den Transportdroiden und ließ die Rampe seiner Kabine aufklappen. Es handelte sich um ein seltsames Ding, halb künstlicher Lope, halb humaner Oberkörper, dort wo der Hintern des Tieres hätte sein sollen. Anstelle eines Rückens befand sich an der Oberseite des Vehikels eine enge Kabine, in der allerdings dennoch drei der Abenteurer platz fanden. Odugme hingegen wurde auf eine Ladefläche zwischen den fünf Beinen des künstlichen Wesens gelegt. Ughtred hatte Angst, die Fahrt könne den Freund weiter verletzen, aber Tal beteuerte, dass diese Art von Droiden ihr Handwerk verstanden und eine einmal in Auftrag gegebene Last niemals beschädigt würde. Außer natürlich ein anderes Fahrzeug würde den Droiden rammen. Oder die Brücke würde einstürzen. Oder ein Amytor … Ughtred hob warnend die Hand und Tal wandte sich dem Droiden zu. Er hatte ein echtes Gesicht, nur schmale Augensensoren und etwas, dass wie ein Sehschlitz in einem altertümlichen Helm aussah. Sie erklärte, wohin die Reise gehen sollte und da der Fährmann das Anwesen derer von Arudsel kannte, stand dem Einzug nach Angaworth nichts mehr im Wege.

Ughtred machte ein bedenklich es Gesicht.

»Was los?«, fragte Tal in saloppen Ton und wischte sich eine Strähne ihres zwischenzeitlich wieder länger gewordenen Haares aus den Augen.

Der Nygh blickte zu der Brücke hinüber und wollte etwas sagen, aber sie kam ihm zuvor: »Keine Angst, die Brücke wird nicht einstürzen und Amytoren gibt es hier auch nicht. Die Stadt wird gut bewacht.«

Er rollte mit den Augen und erwiderte: »Genau das macht mir Sorgen. Werden sie uns nicht kontrollieren? Wird man nicht wissen wollen, was wir hier machen?«

Sie lachte. »Ich besuche meine Vatermutter?!«

»Und ich?«

»Ihr seid mein Freund und ich stelle meine Freunde gerne meiner Familie vor.« Sie stockte. Tatsächlich, hatte sie noch niemals einen Freund einem Mitglied ihrer Familie vorgestellt. Northrian hatte ihr Kyon vorgestellt, aber nie umgekehrt. Sie hatte sich so lange für ihre Eltern geschämt und hätte nie in Erwägung gezogen, jemanden mit zu ihnen zu bringen. Bei ihrer Vatermutter war es im Grunde fast noch schlimmer. Sie befürchtete, niemanden auf der Tiba Fe zu kennen, der es aus der Sicht der alten Dame wert gewesen wäre, ihn ihr vorzustellen.

Sie räusperte sich und sagte: »Macht euch keine Sorgen. Wir Smavari sind ein freundliches Volk und mögen Gäste.«

Ughtred schüttelte den Kopf und gab es auf. Er blickte die Schlucht entlang und bewunderte die vielen kleineren Landhäuser, die hier in zum Teil irrwitziger Bauweise in den Fels gestellt worden waren. Wie machten die Verrückten das nur? Dranought war ebenfalls in eine Steilwand geschlagen worden, aber die Unterkünfte befanden sich innerhalb des Gebirges. Es war ja eher kein Problem Gebäudestruktueren in einen Fels zu schlagen. Hier aber, wuchsen Türme, Mauerwerk und zum Teil ganz und gar freistehende Zimmerfluchten aus dem Berg und ragten weit über die Schlucht hinaus. Einige der Bauwerke schienen gar den Fels nur zu berühren und schwebten über der Schlucht. Erneut schüttelte er den Kopf und nahm die Wunder von Angaworth in sich auf.

Als der Droide das gigantische Tor erreichte, wurde offensichtlich, dass einen Spalt weit offen stand. Dieser Spalt, maß wenigstens fünfzehn Schritte und war über zehn Mann hoch. Dahinter befand sich ein kleiner Platz, auf dem es sich viele Quink bequem gemacht hatten. Eine lange Schlange von ihnen wartete, ins Inner der Stadt vorgelassen zu werden. Hinter dem Platz gab es eine noch viel größere Fläche, und dahinter noch eine. Die beiden Letzteren waren teilweise überdacht. Gewaltige Steinbögen bildeten ein riesiges Gewölbe und schützen die großen Plätze vor dem, für die Silberwölfe gefährlichen Einfluss der Tagesschwestern.

Überall bewegten sich Quink, Droiden, Smavari und andere Wesen, deren Herkunft und Art zum Teil schwer zu bestimmen war. Ebenfalls war es unmöglich, auch nur zu schätzen, was all die Leute hier taten oder vorhatten. An den Rändern der Plätze befanden sich, ähnlich wie in Raugnith, nur bedeutend größer und weitreichender, eine Vielzahl von Trinkhallen, Sudhäusern und anderen Etablissements. Hinter den Plätzen erstreckte sich eine Welt der Wohnstrukturen, die ebenso fantastisch war, wie die Brücke und das Tor Angaworths.

Die drei ließen bei einem offenen Sudhaus anhalten, um sich zu beraten, aber nach kurzer Zeit stellte sich heraus, dass es nichts zu Beraten zu geben schien. Sie waren nun hier und der Gnade von Tals Vatermutter unterworfen. Was sollten sie tun, ein Gastgeschenk mitbringen? Kyon kannte die Frau nicht, aber er wusste wie diese Wesen waren. Versuchte man sich unehrlich einzuschleimen, war man auf Gedeih und Verderb verloren. Da würde er es lieber mit seinem angeborenen Charme versuchen. Ughtreds und Odugmes Zukunft hingegen sah er im Argen.

Tal winkte ab. Ihre Großmutter sei eine nette alte Dame und würde sie herzlich empfangen. Der Miesepetersliyn würde schon sehen. Seltsamerweise schienen sie ihre eigenen Worte jedoch auch nur wenig zu beruhigen. Es war zu lange her, um Frau Arudsel noch richtig einschätzen zu können. Außerdem konnte alles Mögliche passieren. Grüne Wölfin, Nyghhass oder Phanineid waren da noch die geringsten Sorgen über die sie auf der Fahrt nachgedacht hatte. Andererseits war sie eine Doppelmondhexe und Kyon ein Sliyn. Das musste einfach reichen. Yvatlan war nicht einmal eine Ayn. Aber sie war Yvatlan. Tal schwieg und deutete auf den Lastdroiden. Was würde es bringen Zeit zu schinden? Sie hatten den verrückten Riesen besiegt und den Speer an ihrer Seite. Was konnte schon schief gehen?

 

»Lady Yvatlan ven Arudsel ist leider unpässlich, doch sie bittet die Gastfreundschaft des Hauses anzunehmen und freut sich schon auf ein Wiedersehen mit der Tochter ihres geliebten Sohnes.« Der Hofmeister des Anwesens hatte nicht nachgefragt. Er war ein älterer, schmaler Quink mit einem schwarzen Anzug aus Hirschleder. Sein Kinn war erstaunlich lang und berührte beim Sprechen seine Brust. Als sich die Tür des Anwesens geöffnet  hatte, stand er schon dahinter. Eine weiträumige Einfahrt trennte die äußere Mauer vom eher trutzigen Haupthaus. Der Quink hatte ohne zu zögern gesprochen und machte damit klar, dass man die Besucherin und Besucher erwartet hatte. Dies war nicht eben ungewöhnlich, wie Tal und Kyon wussten. Gerade ältere smavarische Damen konsultierten häufig Hellseher, wenn sie das Gefühl hatten, etwas in der Eintönigkeit ihres endlosen Daseins würde in Kürze ins Wanken geraten. Zweifelsfrei hatte Yvatlan genau dies getan und sich vorhersagen lassen, wer sie in Kürze besuchen würde. Was genau sie jedoch wusste, stand in den Sternen. Tal blickte Kyon an, hob die Schultern und sagte: »Hofmeister, veranlassen den Transport meines Phani in meine Gemächer. Er ist verwundet und benötigt einen Heiler.«

Kyon sah sie böse an.

»Ja, und, er hier, Kyon, nein, Sliyn Kyon, er ist auch verwundert, äh verwundet und braucht auch einen Heiler. Dringend das Ganze.«

Sie sah zu Ughtred hinunter, doch dieser winkte nur ab,

Der Quink sagte trocken: »Es wurde sich gekümmert. Der Droide kann den Phani hereinbringen. Wen die Dame und die Herrschaften mir folgen wollen, die Zimmer und Erfrischungen warten.«

Vom restlichen Aufenthalt in der großen Stadt ist nicht allzuviel zu berichten.Lady Yvatlan ven Arudsel empfing natürlich einige Stunden später die Tochter ihres Sohnes. Wie erwartet hatte sie selbst sich nicht verändert, doch für Tal sah dies natürlich ganz anders aus und wo die Dame früher mit der Haltung der jungen Frau noch zufrieden gestrichelt hatte, ließ sie nun unverhüllt durchblicken, dass sie keine Kollaboration mit dem abtrünnigen und sturren Sohn duldete. Wo käme man da hin? Smavari lebten nicht mit ihren Sklavenrassen zusammen und ja, der Sliyn (der im Übrigen nicht zu dieser Besprechung geladen war) könne selbstverständlich des Regenerationsbett des Hauses nutzen, der große schwarze Mann hingegen natürlich nicht. Tal versuchte es mit Bitten und Verärgerung, doch die Hausherrin blieb stur. Seelenruhig erklärte sie der Sohnestochter, wie lieb sie einst gewesen war und das sie sich nun schämen sollte, die smavarischen Werte mit ihren viel zu flachen Schuhen zu treten. Ja, die Tage könne man den Sliyn empfangen und nein, der Phani dürfen nicht ins Regenerationsbett. Und der Wicht (sie sprach von Ughtred) brauche so etwas ja nicht, da er ganz und gar astrahl sei und sich jederzeit selbst regenerieren könne. Sie unterhielt sich sogar einige Momente mit dem Nygh, ging aber auf dessen Aussage, ein ganz normales Wesen zu sein nicht ein. Abfällig stufte sie ihn ebenfalls als, wenn auch interessanten, Diener des Sliyn oder Tals ein. Über North wurde nicht gesprochen und Tal fragte sich später warum. Vielleicht hatte Yvatlan diese Gedanken abgeblockt. Dies war ihre geistige Kraft. Jedes einzelne Mal, wenn Tal versuchte verbal auf sie einzuwirken, wischte die alte Dame die Argumente aus der Luft und ließ sie in der Anderwelt verschwinden. Weder kam sie mit Härte noch mit offensichtlicher Ablehnung daher. Sie wischte einfach nur und Tal redete über das Wetter.

Zu besagtem Treffen mit Kyon kam es nicht. Der Termin wurde kurz vorher von dem Quink mit dem steifen Anzug verschoben. Die Lady sei unpässlich und man würde einen neuen Termin vereinbaren. So ging es mehrere Male und am Ende hatte man das Gefühl, selbst der Grund für die Verschiebung zu sein. Schließlich war man es leid und konzentrierte sich auf die Erholung und die Stadt. Kyon hatte immerhin besagtes Regenerationsbett konsultiert und fühlte sich wie neu geboren. Gemeinsam mit Ughtred zog er von Kaschemmen zu Lusthaus und versuchte den Nygh zu verderben, aber Ughtred war eine harte Nuss und es würde schon wenigstens ein oder zwei weitere Abenteuer brauchen, ihm die Seele zu verkehren. Was nicht war konnte ja noch kommen.

Im Übrigen lernte der Nygh bei einem dieser Besuche einer Kaschemme im Zentrum von Angaworths Iselwig kennen. Genauer gesagt, lernte sie ihn kennen. Sie sah ihn den Schankraum betreten, versteckte sich jedoch. Warum war ihr nicht einmal klar. Natürlich hatte sie seit langer Zeit keinen anderen Nygh mehr zu Gesicht bekommen und hätte jeden Grund gehabt auf ihn zuzustürzen und ihn zu umarmen, aber das Leben unter den Silberwölfen hatte sie genau wie Ughtred auch, verändert. Sie war vorsichtig geworden und nahm Abstand von Konzepten wie Zuneigung und Glück. 

Wer sich nun fragt, wer Iselwig überhaupt war, muss sich leider gedulden, bis diese Geschichte fortgesetzt wird (Anmerkung des Autors).

Schließlich bestädigte der Quinkheiler des Hauses Odugmes Genesung und somit gab es keinen Grund mehr, länger in Angaworth zu verweilen. Kyon brachte Gründe vor. Freude, Befriedigung, Ruhe, Kreativität und all solche Dinge konnten jedoch Tal nicht überzeugen die wunderbare Tristesse von raugniths Kellern weiter zu meiden. Außerdem wartete das Abenteuer in Form einer urgewaltigen Bestie auf sie. Was hatte da Angaworths schon entgegen zu setzen.

Der Ausflug der grünen Wölfin in Kyons Leib wurde hier absichtlich ausgelassen. Es wäre kaum hilfreich seinen Charakter weiter mit dem Tod Unschuldiger Kindlein oder anderen Unschönheiten zu belasten. Das schafft er mit etwas Mühe früher oder später sicher ganz allein. Nur soviel sei gesagt: Er war blutig – der Ausflug.

 

Niemand hinderte die Abenteurer daran die Anlage vor Angaworth zu betreten und nicht einmal das Maskenmännlein stellte sich ihnen in den Weg. Der Vortex hatte sich nicht verändert. Sein Flackern begrüßte die Abenteurer und Ughtred stöhnte leise, wurde aber von Odugmes riesiger Hand auf der Schulter getröstet. Der Phani hatte weitere Narben davongetragen und würde auf dem Markt von Shishney sicher nicht mehr viel bringen, aber er war gesund und an Erfahrung reicher. 

Der Rückweg nach Raugnith schien schneller vonstatten zu gehen als die Reise nach Angaworth. Dies lag aber vor allem an der Routine. Man rannte nicht durch die Zwischenwelt. Man wollte sich bewegen. Es war wie Tals Astralwanderung. Man ließ sich ans Ende des Tunnels fallen. Ughtred hatte den Bogen fast heraus, als die Reise auch schon endete und er auf den dunklen Steinboden des Spiegelturmzimmers prallte. Kyon, der vor ihm gegangen war, hatte einen leichtfüßigen Hopser gemacht und sich mit einladender Geste vor dem Nygh aufgebaut. Als begrüße er den Freund in einer neuen Unterkunft verneigte er sich demonstrative und benotete dann mit seinen Fingern Ughtreds Sturz. Dieser rappelte sich auf und wollte dem Barden schon seinen nackten Hintern präsentieren, aber da kam auch schon Tal aus der Zwischenwelt und so verkniff sich Ughtred diese freundliche Geste.

Es war soweit. Die Stunde der Wahrheit hatte geschlagen. Kyon hob und senkte die Schultern, wandte sich der nächsten Öffnung im Gefüge der Anderwelt zu und schüttelte dabei den Kopf. Es war ihm anzusehen, dass er selbst nicht nachvollziehen konnte, warum er all dies hier tat. Dann streckte er eine Hand aus, ließ die Lichtbögen mit dem Stoff seines Hemdes spielen und verschwand im Nichts. Ughtred rieb sich die Stirn und folgte dem Barden. Tal wandte sich zu Odugme um und machte ihm ein Zeichen, den Sarg stehen zu lassen. Sie ging neben der ramponierten Kiste in die Hocke und legte eine Hand auf das Holz, als sie flüsterte: »Diesmal nicht mein Bruder.« Dann deutete sie auf den Vortex und Odugme schlurfte den anderen beiden hinterher.

 

Daragros Feueresse

Hustend versuchte Kyon sich zu orientieren. Dann nutzte er den ersten Atem um zu fluchen und bereute es sofort. Er blinzelte und machte schnell Platz für die anderen. Seine Knie taten ihm weh, denn er war aus der Anderwelt auf scharfkantige Steine geprallt. Hinter ihm war das Schnaufen des Nyghs zu hören. Er blickte sich um und sah, wie Ughtred mit den Füßen voran auf dem Boden der Höhle aufkam und ein Stück an Kyon vorbei schlitterte. Dann ging er in die Hocke und Kyon fragte sich, warum ihm selbst dies nicht gelungen war. Offenbar machte dem Nygh nicht einmal das Fehlen der Atemluft etwas aus. Der kleine Mann deutete auf Kyons Halstuch und sagte mit seinem unerträglichen Akzent: »Ihr solltet drauf Pissen, Herr Silberwolf. Ein mit Urin getränktes Tuch vor dem Gesicht filtert die Giftstoffen aus dem Rauch den ihr einatmet.«

Dann riss er sich ein Stück Stoff aus dem Unterhemd und tat genau, was er Kyon vorgeschlagen hatte. Der Barde schüttelte angewidert den Kopf. Und da wagte sich dieser Stumpen, seine Taten als pervers zu betiteln. Pisse im Gesicht, ging es perverser? Doch dann blieb ihm erneut die Luft weg und so ging er kurzerhand auf den Vorschlag des Nyghs ein. 

Tal und Odugme waren ebenfalls aus dem fuchsiafarbenen Licht des Vortex geschlittert. Sie husteten und Kyon erklärte sein Handeln und tat so, als ob es seine Idee gewesen wäre. Tal riss ein Stück ihres Überrocks herunter und gab es Odugme und nutzte ihr eigenes Halstuch für sich selbst.

Die Höhle hatte etwas von Grund auf Bedrohliches. Es war nicht das Gefühl beobachtet zu werden oder sich im Revier eines Raubtieres zu befinden. Es waren die Elemente selbst. Es stank nach Schwefel und anderen Chemikalien und die Luft war viel zu heiß und von beißendem Qualm erfüllt. Immer wieder ging ein Rumpeln durch den Berg, als wolle der Vulkan die Besucher nie vergessen lassen, dass er nur ein Nickerchen machte und jederzeit bereit war zu erwachen und sie in glühender Lava aus seinem Magen zu würgen.

Kyon richtete sich auf, stieß sich den Kopf an einer Felskante und fluchte. Das Tuch dämpfte jedoch seine Worte. Er rieb sich den Kopf und deutete auf eine schmale Öffnung. Außer dem Vortex gab es hier nichts Auffälliges. Es gab kein Zeichen, dass jemals vor ihnen jemand hier gewesen war. Dennoch ließ er seinen Bogen so langsam wie möglich in seine Hand gleiten und legte locker einen Pfeil auf die Sehne. Dann schlich er auf den Durchgang zu. Nach einigen Schritten gab es einen Knick, von dem Kyon schätzte, dass er in Richtung Norden führte, doch er war sich nicht sicher, denn er hatte hier unten die Orientierung verloren. Er wandte sich zu den anderen um, konnte sie aber im Qualm kaum erkennen. Er zwängte sich durch einen Tunnel mit kantiken Vorsprüngen und unebenem Boden. Dann kam er an eine Abzweigung. Er wählte ohne besseres Wissen den linken Durchgang und fand sich nach wenigen Schritten in einer kleinen Felsenkammer wieder, in der ihm zumindest das Atmen leichter fiel. Ughtred drängte sich an ihm vorbei und deutete auf eine Stelle im Fels.

»Seht Mal, da entweicht der Rauch. Es muss hier Risse in der Außenwand des Berges geben; eine Art Bruch«, sagte der Nygh und nahm das Tuch von seinem Gesicht um die bei Weitem bessere Luft einzuatmen.

Sofort taten die anderen es ihm gleich. Kyon fragte, ob das Geröll brüchig genug sei, um auch einen Fluchtweg darzustellen und Ughtred nahm einige Brocken auf und untersuchte sie. Dann zuckte er mit den Schultern und sagte: »Weiß nicht genau. Wir müssten eine Weile graben. Aber ja, besser als hier unten zu ersticken. Im Ernstfall müsste man es schaffen, hier ins Freie zu kommen. Allerdings weiß ja niemand, wie es da aussieht. Vielleicht würden wir in die Tiefe stürzen.«

Kyon verzog das Gesicht und murrte: »Witzig wie immer, der Herr Dieb. Kann er nicht einmal etwas Lustiges oder Erfreuliches sagen?«

»War doch erfreulich …«

»Was für ein Glück«, knurrte Kyon und schob sein Tuch zurecht.

Da es von hier aus nicht weiter zu gehen schien, machte er kehrt und ging zu der Abzweigung zurück. Als er an Odugme vorbei kam, konnte er trotz der Maske des Phani sehen, dass der große Mann Probleme mit der Nähe des Schildes hatte. Tal tat sich ebenfalls nicht gerade leicht damit, doch aus anderen gründen. Sie war stärker geworden, weit stärker als Kyon selbst, aber der Schild war äußerst schwer und zweifelsfrei nicht für die Schultern eine zierlichen Hexe geschmiedet worden.

»Hier entlang«, hüstelte er und verschwand im Dunst des zweiten Ganges. Hier erweitere sich der Durchgang bald zu einem komplexeren Höhlensystem. Auch die Luft schien hier zumindest ein bisschen atembarer zu sein. Kyon hob einen Stein auf und war ihn in den Raum. Er erwartete zwar keine Bewohner in diesem Inferno, aber er war vorsichtig geworden. Aus dem Tunnel wurde eine hohe Kavernen aus erkältet er Lava und Felsgestein. Es war gut zu erkennen, welch unglaubliche elementaren Kräfte hier gewütet haben müssen. 

Er schlich über den geröllübersähten Boden, versuchte möglichst keine Steine zu bewegen und erkannte wenigstens zwei weitere Durchgänge. Wieder entschied er sich dafür, zuerst den Linken zu testen und wurde mit einer unerwarteten Belohnung konfrontiert. Der Tunnel war Recht lang, endete aber in einer kleinen Kammer, in der zerbeulte Rüstungsteile und vor allem Knochen auf dem Boden lagen. Wenigstens zwei Smavari waren hier gestorben und die übrigen Gebeine ließen auf Quink und Hobgoblins schließen. Eine Abenteuergruppe wie die ihre, dachte Kyon, aber seltsamer weiße, verstärkte dies nicht seine Angst. Er überlegte und kam zu dem Schluss, dass es da offenbar nichts mehr zu verstärken gab. Kurz überlegte er, wie Ytˋtalan ihren Ängsten begegnete. Die Hexe schien sich jenseits jeglicher Realitäten zu bewegen. Oder lag dies gar nicht an ihrer Berufung? Er dachte an seine Mutter und schüttelte den Kopf. Es musste ja einen Grund geben, warum die meisten Festungen und Städte Kisadmurs von Frauen beherrscht wurden – und wohlgemerkt, im Reiche der Smavari herrschte das Recht des Stärkeren. Was sagte dies über das Gefälle zwischen Männern und Frauen aus? Natürlich hätte er sie mit einem gezielten Pfeil besiegen können, aber wie schnell würde sie eine ihrer todbringenden Kräfte aus dem Äther ziehen und ihn in eine schleimige Kröte verwandeln? 

Schnell schob er diese Gedanken in den Hintergrund und untersuchte das smavarische Skelett mit den am besten erhaltenen Rüstungsteilen. Weder gab es Waffen, noch sonstige Ausrüstungsstücke und auch Ressourcen fand er keine, aber plötzlich ertastete sein Geist ein neuronales Signal. Er erlaubte den Kontakt und schon erhob sich ein Shimwas aus dem Schmutz neben dem Skelett. Es war ein alter gravitorischer Shimwas und er schien in einwandfreiem Zustand zu sein. Der darin gebrannte Geist verband sich mit Kyon und begann langsam seine stärkende Wirkung zu entfalten, während das Gerät selbst seinen Platz neben dem anderen Externen Shimwas den Kyon besaß Stellung bezog. 

Zuerst überlegte Kyon, das Gerät zu verbergen. Er kannte Tal. Sie würde es für sich beanspruchen. Aber er hatte das Gefühl, dass es seine eigenen Kräfte besser unterstütze, als es an ihr wirken würde und außerdem konnte es ja auch nicht sein, dass sie stets alles Angriff, was er fand. Schließlich war er ein Sliyn. Schließlich bedeutete dies nichts und er musste wieder an ihre Hexenkräfte denken. Es ärgerte ihn und er entschied das Fundstück in jedem Fall zu verteidigen. Mutig wandte er sich um und machte eine wedelnde Handbewegung.

»Zurück, hier ist nichts und es geht nicht weiter.«

Ughtred, der alles mit angesehen hatte, nickte stumm und gehorchte. Er grinste grimmig, weil er zu wissen schien, was in dem Barden vor sich ging.

Tal sagte: »Was ist denn da?«

»Nichts, habe ich doch gesagt.«

»Was habt ihr denn da über eurer Schulter schweben? Das war doch eben noch nicht da oder?«

Er holte tief Luft, bereute es und murmelte: »Doch, doch, Frau Hexe, das war schon immer da. Ihr solltet euer Brille reinigen.« Und mit diesen Worten folgte er Ughtred und zwängte sich dabei harsch an Tal vorbei.

Sie drückte sich an die Wand und warf einen Blick in die Felsenkammer.

»Da sind Knochen am Boden. Sicher andere Abenteurer«, sagte sie mit quängelicher Stimme und Kyon wusste genau, was als nächstes kommen würde.

»Habt ihr da einen neuen Shimwas gefunden?«

Er rollte mit den Augen und erwiderte harsch: »Neeee, das ist ein sehr alter Shimwas, und er gehört jetzt neuerdings mir!«

Sie nickte und als er sich abgewandt hatte, streckte sie ihm die Zunge heraus. Doch er hörte ihr leises Flüstern in der heißen Luft: »Noch gehört er euch, noch.«

Der zweite Tunnel schließlich machte einen großen Bogen. Kyon, dessen Empfindsamkeit für solche Dinge nicht gerade geschult waren, spürte, wie sich die Temperatur bei jedem seiner Schritte hob. Seine Haut schien zusends auszutrocknen und das Tuch vor seinem Gesicht hatte seine Wirkung verloren. Er schwitzte wie ein Quink in der Wüste und löste das Tuch, um etwas besser atmen zu können; doch es gab kaum noch etwas zum Atmen.

»Es wird immer heißer«, sagte er überflüssiger Weiße, denn es war eindeutig, dass die Anderen seine Wahrnehmung teilten. Einzig Odugme schien die Hitze wenig auszumachen. Zwar rann ihm Schweiß über die riesige schwarze Brust, aber sein Metabolismus schien auf hohe Temperaturen eingestellt zu sein. Mit glänzender nackter Haut zwängte er sich an scharfkantigen Steinen vorbei und versuchte möglichst weit von dem Schild entfernt zu bleiben.

Neben der Temperatur, schien auch bei jedem Schritt den Kyon machte ein Geräusch an Macht zu gewinnen. Es knisterte und rauschte und dann war da noch etwas pulsierendes und mahlen des. Seine Nackenhaare stellten sich auf und er Begriff, was er hier hörte. Es musste der Magen des Berges sein, der sich mit dem Herzschlag der Bestie ein Duell lieferte. Wie waren sie nur hierher gekommen? Er verfluchte zum tausendsten Male seinen Vater und fragte sich, wie er nur so dumm gewesen sein konnte, diese Unternehmung in Angriff zu nehmen. Er war doch klug. Warum saß er dann nicht in einem der Lusthäuser in der Oberstadt von Shishney und ließ sich von einem der Helfer massieren? Warum?

Der Feuersee war unbeschreiblich. Aus dem Tunnel tretend, fanden sich die Abenteurer in einem riesigen, unüberschaubaren Felsendom wieder. Die Decke war an manchen Stellen dutzende von Metern hoch und im unebenen Boden gab es Löcher und Gruben, von ebensolcher Tiefe. Aus der Decke flossen Lavaströme, ergossen sich über den Boden und stürzten dann in die bodenlosen Tiefen hinunter. Alles hier war in Bewegung. Flüssiger Stein machte einen Großteil der schmalen Brücken über den schier endlosen Lavassee unpassierbar. Kyon versuchte sich einen Überblick zu verschaffen und zählte sechs Brücken, aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, mittels einer von ihnen auf die andere Seite des Doms zu gelangen. Doch offenbar, war dies die einzige Möglichkeit diese Unternehmung weiter zu führen. Wie beschrieb es sein Vater im Tagebuch?

 

Ist des Riesen Fluch erobert, kann nur die Hand des Wolfsvolks ihn bezwingen. Andre geben Leib, Geist und Leben. Und auch der Wolf soll Vorsicht walten lassen, denn laut und schlimm verdorben ist das Flüstern dieses Dings.

Doch zu welchem Zwecke? Nun dies zu beantworten fällt nicht schwer. Wer sie kennt wird wissen: die Feueresse des Daragros brennt das Fleisch von jedem Knochen.

Oh weh uns, denn an dieser Stelle gilt`s. Kein Zurück mehr und kein Zaudern, jetzt zeigt es sich wie Helden streiten. Ganz ohne Furcht geht`s hoch hinauf in der Bestie feuriges Bett. Hier liegt der Schlüssel zu uns noch verborgener Welt.

 

Er rieb sich den Schmutz aus den Tränen den Augen und wollte etwas sagen, aber Ughtred, der neben ihn getreten war, deutete auf eine Stelle in der Mitte des Infernos und rief gegen das Brüllen der Lavefälle an: »Da, seht ihr das? Da ist eine Art Steg. Wenn Tal den Schild über uns hält, können wir die Lava abhalten und auf die andere Seite gelangen.«

Kyon schüttelte den Kopf. Er konnte sich nicht vorstellen, diese elementaren Kräfte zu beeinflussen.

»Was ist mit der Außenwand. Seht dort, da fließt keine Lava herab.«

Der Nygh schüttelte mit dem Kopf und rief: »Da ist eine Lücke und kann von hier aus erkennen, dass die Steine locker sind. Was wie ein Weg aussieht ist eine Todesfalle. Wir müssten springen und zumindest ihr würdet das auf keinen Fall bewerkstelligen.«

Der Barde verzog das Gesicht. Es war einfach unmöglich. Das ganze Ding war unmöglich. Sie würden verbrennen und wenn sie wie durch ein Wunder doch die andere Seite erreichten, würden sie was tun? In die Schlafkammer eines Lugen eindringen und ihn bestehlen? Bei den Nugai, was hatte er sich bei diesem Irrssin gedacht?

Tal trat neben sie und ließ den Schild zu Boden fallen. Sie streckte sich und knöpfte ihren Überrocks auf. Dann löste sie die Schnallen ihrer leichten Lederrüstung bekannt sich auszuziehen. 

»Was wird das?«, fragte Kyon und schüttelte den Kopf. War sie jetzt ganz und gar verrückt geworden. Dachte sie etwa daran jetzt und hier ihre Triebe zu befriedigen?

Wortlos zog sie sich weiter aus. Ihre Haut glänzte vom Schweiß und war gerötet von der Hitze. Ihre Brüste hatten sich zusammengezogen und waren klein und hart. Ihr ganzer Körper hatte etwas Knabenhaftes, doch da war auch eine Ausstrahlung von zäher Stärke, die sie eckig und unnahbar wirken ließ. Sie bückte sich zu ihrer Tasche und holte einen großen Tiegel hervor. Dann begann sie sich mit der darin befindlichen Paste einzureiben. 

»Brandsalbe, wisst ihr noch?«

Ughtred nickte und begann sich ergeben ebenfalls auszuziehen. Er hätte den Hort ohnehin nicht gerüstet betreten. Er musste flink sein. Keine Rüstung seines oder sonst eines Volkes hatte etwas dem Zorn eines Drachen entgegenzusetzen. Ein Lendenschurz musste genügen. Er würde zumindest seine Würde waren. Doch hier unten und mit den Silberwölfen zählte diese Geste wahrscheinlich ausschließlich für ihn. 

Er wandte sich Odugme zu, um diesem zu zeigen wie er sich eincremen musste, aber die Hexe gebot ihm Einhalt. Sie sagte nüchtern: »Nein. Er wird nicht mit uns kommen!«

Ughtred sah den Phani an und nickte. Sie hatte Recht. Es gab hier nichts für den großen Mann zu tun oder zu finden. Auf der anderen Seite des Feuersees gab es nur den Tod. »Ja. Er bleibt besser hier«, sagte er und versuchte seinen Rücken mit der Salbe zu erreichen.

Tal langte nach seinem Kopf, drehte ihn, so dass er ihr den Rücken zuwenden musste und begann diesen mit Salbe zu bestreichen. Ughtred war dies eindeutig unangenehm. Die Art, wie die Silberwölfe mit Intimität umgingen war für ihn immer unangenehm. Doch was sollte er hier unten tun? Sich zieren und verbrennen? Sicher nicht.

Kyon hatte nun ebenfalls begonnen sich zu entkleiden. Er schüttelte dabei den Kopf, als wolle er immer wieder dieses Schicksal hinterfragen und dabei den toten Vater verfluchen, aber er handelte wie ein Droiden, effizient und ohne weitere Ausflüchte. Schließlich hatte er seine Vorderseite mit der Salbe bestrichen und bückte sich, damit Ughtred am Rücken weiter machen Konnte, aber Tal schob den Nygh brüsk zur Seite und übernahm selbst diese Arbeit. Er wollte dies eigentlich nicht. Zumindest zu einem großen Anteil gab Kyon ihr die Schuld für diese ganze Misere. Sie würde alles tun, um wieder in ihren scheiß Hexenzirkel aufgenommen zu werden. Sein Leben war in ihren Händen keinen Pfifferling wert. Er dachte an Northrian und den Shimwas in ihrem Panzerhandschuh. Verflucht seinen alle Hexen des smavarischen Reiches. Doch als sie ihre sitzen Finger auf seinen erhitzten Rücken legte und mit den Lippen nahe an seine Ohren kam beruhigte er sich ein wenig. Es war, als lege sich mit dem dünnen Film der Brandsalbe eine Schutzhaut über seine ganze Welt und isolieren ihn von dem brennenden Chaos der Feuerhöhle. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Leise flüsterte er: »Eure Mentorin hat sicher ihren Spaß, denkt ihr nicht?«

Sie biss ihn in ein Ohrläppchen und sagte: »Euer Vater hatte sicher seinen Spaß als er das Tagebuch schrieb.«

Er öffnete die Augen und versuchte etwas zu erkennen, aber es dauerte einen Moment, bis er sich wieder an den beißenden Qualm gewöhnt hatte. Vor ihm war Ughtred gerade dabei seinen Lendenschurz zu gürten und packte dann den Rest seiner Sachen zu einem ordentlichen Haufen zusammen und schnürte diesen mit seinem Waffengurt. Odugme kauerte neben ihm und half dabei. Der Phani sah besser aus, aber er hatte sich noch nicht ganz von der Verletzung, die der Lych ihm beigebracht hatte erholt.

»Den Dicken lassen wir hier oder?«, raunte Kyon und bog sich von ihr weg, als sie ihm mit ihren spitzen Nägeln in die Rippen kniff.

»Ich meine doch nur jetzt, nicht für immer«, schnaubte er.

Schließlich hatte sie ihre Arbeit verrichtet und stand auf. Nackt, dünn und seltsam erhaben, hob sich ihr Profil von den Feuersäulen und den glühenden Fällen ab. Sie deutete auf den Eingang des Feuerdoms und rif: »Odugme, du wirst hier zwischen diesem Durchgang und der nächsten Kammer auf uns warten und auf unsere Ausrüstung aufpassen. Nimm schon einmal Ughtreds Packen und bringe ihn dort hinein!«

Der Phani gehorchte ohne eine Regung. Es war dem riesigen schwarzen Mann nicht anzusehen, dass er darüber froh war, den Feuersee nicht überqueren zu müssen. Er wäre seiner Herrin ohne zu zögern auch in die Lava gefolgt. Nun aber hob er Ughtreds Gepäck auf und verschwand damit geduckt im Zugang des Feuerdoms. Der Nygh begann Tals überflüssige Ausrüstung zu schnüren und vermied es dabei zuzusehen wie sie sich an kleidete. Kyon hingegen blieb auf dem heißen Boden sitzen und beobachtete die Hexe. Erst als sie ihren Überrocks und das enge Oberteil zugeschnürt hatte begann er ebenfalls seine Ausrüstung zu trennen.

Einige Minuten später standen sie am Rande der schrecklichen Abgründe in deren Schlünde ein glühender Tod lauerte. Ughtred deutete erneut auf eine der Brücken und sagte: »Dort gibt es nur wenige Stellen, an denen uns die Lava von oben treffen könnte. Ihr müsst den Schild über unsere Köpfe halten. Das muss euer Vater gemeint haben Herr Barde.«

Tal hob testweiße den Schild hoch und versuchte ihn über ihrem Kopf zu balancieren. Vor einer viertel Jahreszeit wäre dies undenkbar gewesen. Sie wunderte sich selbst über die hinzugewonnen Stärke. Und dennoch war der Chaosschild zu schwer für sie. Die Helden der Frühzeit, ihre Stärke wurde hier verlangt. Sie konzentrierte sich und griff in die Anderwelt hinüber. Grimmig fingerte sie nach den Fäden ihres eigenen Leibes, verklebte hier einige die ansonsten lose durch den Äther flatterten und schuf an anderer Stelle feste Knoten. Sie sah ihre Muskeln in Form der Moleküle und richtete sie vorsichtig neu aus. Ein Ziehen der Schmerz ging durch ihren Leib, aber es war ein guter Schmerz, ein Schmerz der Stärke und der Hoffnung. Dann streckte sie sich und ließ die Psionik auf ihr Fleisch und ihre Knochen wirken. Ihre Muskeln spannten sich und nahmen dem Schild schließlich sein Gewicht. Sie streckte den Arm und hob den Schild zum ersten Mal mit nur einer Hand hoch über den Kopf. 

Ein grimmiges Grinsen spielte um Ughtreds Lippen und er nickte zufrieden. Kyon sah sie an und nickte ebenfalls. Aber es war ihm anzusehen, dass er nicht sicher war, ob das genügen würde. Der Schild war schwer, aber noch viel schwerer war der flüssige Stein, der von der Decke floss. Er äußerte seine Bedenken und Ughtred deutete auf eine der gefährlichen Stellen. »Wir müssen genau dort unter der Feuerblut hindurch. Nahe am Rand. Ihr müsst ihr helfen den Schild schräg zu halten. Wenn ihr zu gerade unter den Fluss der Lava geratet, wird euch das Gewicht erdrücken und wir werden verbrannt und von der Brücke in die Tiefe geschwemmt.«

Kyon machte ein genervtes Gesicht: »Schräg, geradem was soll der Unterschied sein?«

»Wenn ihr den Lavafluss nur ablenkt, wird das Gewicht des flüssigen Steins gerade so zu tragen sein. Außerdem wird dann der Flug uns beim richtigen Winkel des Schildes sogar vorantreiben. Wie gesagt, ansonsten sind wir Schlacke.«

Tal sagte: »Ihr müsst uns anleiten!«

Ughtred nickte und deutete erneut auf die Stelle die er für den Weg über den Feuersee ausgesucht hatte. Dann machte er einen ersten vorsichtigen Schritt auf die schmale Brücke. Das Gestein war locker und sofort brachen mehrere Brocken ab und stürzten in die Tiefe.

Er trat zurück und überließ Tal den Vortritt. Die Brücke würde halten. Er sagte es den anderen und Kyon sagte verdrossen: »Bezweifle ich keinen Moment. Und auf der anderen Seite werden uns Helferinnen und Helfer erwarten und die Eier massieren.«

Tal kicherte und trat mit dem Schild über dem Kopf auf die Brücke. Im selben Moment fiel ein glühendes Steinchen zwischen dem Rand des Schildes und ihrem Kopf hindurch und grub sich durch das Leder ihres Schulterharnischs. Sie schrie auf und taumelte zurück. Beinahe hätte sie den Schild losgelassen, doch sie biss die Zähne zusammen und holte nur eine Tinktur aus der Gürteltasche. Schnell öffnete sie das Gefäß mit den Zähnen und tröpfelte seinen Inhalt in die Wunde unter der Schulterplatte. Fluchend wartete sie auf die schmerzstillende Wirkung. »Fängt ja gut an«, fluchte sie, stand aber auf und fingerte nach dem Schild.

Nach einigen Schritten auf der Brücke war es Ughtred dessen Bart in Flammen stand. Funken hatten sich darin verfangen und das Weizenhaar entzündet. Kyon lachte und griff in die Flammen, um sie mit seinem Handschuh zu ersticken. Ughtred wand sich und nahm Staub vom Boden auf und rieb ihn sich in den noch glimmenden Bart. Da wurde auch Kyon von einem glühenden Brocken getroffen und wäre beinahe von der Brücke gestürzt. Wie sollte das nur gehen? Sie mussten jetzt schon unter den Schild. Sofort!

Tal strengte sich an und hob den Schild hoch und Ughtred schüttelte den Kopf. »Ja, ja, schräg, dann helft mir mal Herr Sliyn!«

Kyon kam nahe an sie heran und griff den Rand des Schildes. Zu zweit konnten sie ihn recht gut halten. Doch es war alles andere als beruhigend, die brennenden Steine auf das Metall prasseln zu hören. Dennoch kamen sie langsam voran und schließlich erreichten sie den ersten Lavastrom. Die Luft war kaum noch atembar und derart heiß, dass sich die feinen Hährchen der drei Abenteurer kräuselten.

»Vorsichtig jetzt«, knurrte Ughtred und versuchte genau in der Mitte des Schildes zu bleiben. »Haltet den Schild so schräg wie eben möglich!«

Tal und Kyon zitterten vor Anstrengung und der Barde fluchte immer wieder laut, wenn winzige glühende Steinchen seine Finger trafen, die am Außenrand über den Schild ragten. Dann war es soweit. Tal schob den Schild mit einem Ruck unter den Strom und stöhnte, als das Gewicht des flüssigen Steins sie zu Boden zu drücken drohte. Kyon schrie und verbrannte sich die Hände und Ughtred streckte sich, um so gut wie möglich zu helfen. Doch der Schilf griff nach seinem Geist und ihm drehte sich der Magen herum.

»Schnell, wir müssen durch«, schrie der Nygh und drückte Tal am Hintern über die Brücke. Er spürte, dass sie am Rande ihrer Kräfte war und drohte zusammen zu brechen. Über ihnen zischte der flüssige Stein und drohte sie zu Asche zu verbrennen. Ughtred schob und Tal und Kyon versuchten den Schild so schräg wie eben möglich zu halten, ohne dabei die Lava zu ihnen durch zu lassen. Dann kippte das Ganze, aber nicht, weil den Silberwölfen die Kraft versagte, sondern weil sie den Strohm passiert hatten und plötzlich das Gegengewicht wegfiel. Scheppernd stürzte Tal mit dem Schild vornüber und Kyon stolperte ebenfalls und glitt über den Rand der Brücke. Eine Sekunde stürzte er auf das Inferno zu und sah sich brennend zu den Monden aufsteigen, doch da packte die starke Faust des Nyghs seinen Kragen und stoppte seinen Sturz mitten in der Luft.Unter unglaublichen Anstrengungen hob er den Barden auf die Brücke zurück, glitt aus und fiel entkräftet auf den Geretteten.

Doch es blieb keine Zeit zur Ruhe. Glühende Steinchen regnete auf die Drei herunter und verbrannt ihnen Rüstung, Kleidung und Haut. Tal schrie vor Zorn und hob den Schild wieder hoch. Das Prasseln der Steinchen war ebenso nervenzermürbend wie das Surren und Kreischen des Schildes. 

»Weiter«, zischte sie und kam wackelig auf die Beine. Sie deutete auf Kyon, dessen Hände Brandflecken aufwiesen und zischte: »Ughtred, ihr müsst ihm helfen. Da kommt noch ein schmaler Lavafall. Ich werde ihn alleine halten.« Bei diesen Worten blickte sie zu dem Schild hinauf und konzentrierte sich auf ihre psionischen Kräfte. Erneut wob sie eine Veränderung der Realität und stärkte damit ihre Knochen und Muskeln. Ihr Gesicht wurde zu einer Maske des Schmerzes und Ughtred sah sie als alte, zornige Frau. Dan drückte sie den Schild hoch über ihren Kopf und ging auf das nächste Hindernis zu.

Ughtred hätte später nicht mehr sagen können, wie lange sie gebraucht hatten, den Feuersee zu überwinden. Er lag auf dem Rücken auf einem schmalen Absatz und blickte auf die Funken, die keine drei Meter von seinen Füßen entfernt von der Decke regneten. Er atmete einige Male tief aus und ein und hustete, denn auch auf dieser Seite des Infernos gab es keine frische Atemluft. Dann erhob er sich auf den Hintern und sah zu Kyon herunter, der unmittelbar neben ihm lag. Er klopfte auf die Flammen am Rock des Barden und zog ihn noch ein Stück weiter von der Bruchkante des Feuersees weg. Tal hatte sich hingekniet und begonnen das Verbandszeug zurecht zu legen. Die Brandwunde in ihrer Schulter schmerzte. Sie beträufelte sie mit einem Schmerzmittel und wandte sich dann den anderen zu. Kyons Hände mussten behandelt werden. Sie würden sie brauchen. Ohne Hände kein Bogen und ohne Bogen würden sie den verrückten Plan den Drachen abzulenken kaum umsetzen können.

Kyon stöhnte, als die Hexe seine Brandwunden mit Salbe bestrich und an einigen Stellen eingebrannte Steinchen entfernte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie alle Wunden versorgt hatte. Allen dreien fiel das Atmen schwer, doch sie mussten durchhalten. Keiner sagte etwas. Allein die Vorstellung des Rückweges war unaussprechlich. Nur die Tatsache des Drachen an sich, ließ sie nicht weiter daran denken, denn angesichts etwas derart schrecklichen, würde auch der Rückweg über den Feuersee zu etwas alltäglichen werden. Wenn sich zufällig ihre Blicke trafen, konnte jeder un den Augen des jeweils anderen die allgegenwärtige Frage erkennen: ›Was tun wir hier und wie wird dies ausgehen?‹

Schließlich war es Kyon, der sich aufrichtete und dem Inferno den Rücken zuwandte. »Es ist soweit. Lasst uns einen Luren aufwecken!«

Ohne widerrede rappelten sich Tal und Ughtred auf. Sie machten einen zerzausten Eindruck, aber ihre Haltung war die entschlossener Helden. Kyon nickte. Sie hatten sich alle drei verändert. Es war an der Zeit. Wenn nicht jetzt, dann niemals. Er würde den Traum seines Vaters erfüllen.

Entschlossen ließ er den Bogen in seine Hand gleiten und griff nach dem ersten Pfeil. Ughtred indessen war unbewaffnet und zog seinen Lendenschurz fest. Sein Hemd Zug er aus und ließ es zu Boden gleiten. Sie sahen zu Tal hinüber, die ihren Schultergurt festzurrte und die Zähne zusammen biss. Sie hatte starke Schmerzen, doch der Schild und der Speer machten sie stark. Sie streckte sich und pochte mit dem Speer Schaft auf den Boden: »Gegen den Drachen!«

 

Vom Rande des Feuersees führte ein gebundener Tunnel zur Schlafkammer des Lugen. Hier auf dieser Seite war sowohl sein Herzschlag, als auch sein Atmen zu hören und zu spüren. Heiße Luft erzeugte einmal eine Wand, die Eindringlinge am vorankommen hinderte und kurz darauf, zog sie an ihnen und bezeugte die Ungeheuerlichkeit ihres Hierseins. Der Tunnel war lang, oder kurz, weder die beiden Silberwölfe, noch der Nygh hätte die Zeit bestimmen können. Doch plötzlich blieb Ughtred abrupt stehen und deutete auf die linke Seite der Wand. Ein gleißendes grün-blause Glasobjekt war hier in den Fels gedrungen, schien aber nicht mit dem Gestein verschmolzen zu sein. Tal und Kyon wollten schon weiter gehen, doch plötzlich verspürte die Hexe ein seltsames Ziehen. Sie sah ihre Vision von dem Glasding. War es das?

Sie deutete mit dem Speer auf das Glas und rief Ughtred zu: »Was genau ist das? Ich glaube ich habe davon geträumt.«

Der Nygh zuckte mit den Schultern, sagte dann aber: »Es hat die Form eines riesigen Kristalls. Fast wirkt es wie ein Zahn.«

Kyon lachte und sagte: »Vielleicht hat der Luge einen verloren.«

»Das könnte es tatsächlich sein«, stimmte der Nygh zu und sag Tal an.

Sie sagte: »Das Ding ist mit meinem Schicksal verbunden. Ich glaube es ist mit aller Schicksal verbunden. Schlagt es aus dem Stein Herr Dieb. Wir nehmen es mit uns!«

Ughtred wollte schon erklären, dass es viele Tage und Nächte dauern könnte, biss sie das Material um den Kristall genügend geschwächt hätten, aber er sah im Blick der Hexe, dass sie nicht übertrieben hatte, als sie aller Schicksal sagte. Er ließ sich von Kyon ein Messer geben und versuchte sich an dem Gestein, welches sich sofort und ohne Probleme löste. Fassungslos sah er mit an, wie sich das mannslangen Ding mehr oder weniger von selbst aus dem Fels löste. Jeder seiner Schläge ließ Gesteinsbrocken herabfallen und binnen kurzer Zeit war der vermeintliche Zahn befreit und wäre beinahe zu Boden gestürzt. Instinktiv griff Ughtred danach und hätte nicht erstaunter sein können. Das riesige Ding schien nichts zu wiegen. Es war leicht wie die Luft und er konnte es ohne Anstrengung auf seiner Handfläche balancieren. 

»Große Mutter, welche Wunder schenkst du uns noch?«, murmelte er und drehte sich mit dem glimmenden Glas zu den anderen um. Tal wollteihre Hand ausstrecken, aber da erkannt er sie, dass der Zahn sie nicht erhören würde. Sie sah erneut ihre Vision. Der Nygh musste ihn tragen, nur ihn würde er akzeptierten. 

»Legt ihn einfach hier auf den Boden. Wir nehmen ihn auf, wenn wir fliehen.«

Ughtred nickte stumm und drehte das Ding in der Luft. Es war so sonderbar, etwas derart großes ohne Mühe heben zu können. Dann ließ er es vorsichtig zu Boden gleiten.

 

Die Drachenhöhle hatte gigantische Ausmaße. Sie musste über siebzig Schritte im Durchmesser haben und war nach oben hin offen. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Teil des Vulkans, der vor langer Zeit ausgebrochen war, denn alles hier unten war Schwarz und von erkalteter Schlagge überzogen. Die Wände wirkten, als wären sie von knotigen schwarzen Narbengeschwüren übersät. In der heißen Luft konnt nichts und niemand auf Dauer überleben. Kyon prallte direkt vor den giftigen Dämpfen des Drachenmodems und der Schwefelluft zurück. Er konnte nur vom Eingang aus agieren. Tal, von den Chaoskräften des Schildes geschützt machte die ersten Schritte in das Lager der Bestie hinein und erstarrte. Etwa in der Mitte der riesigen Höhle lag der Luge. Was sie zuerst für einen gigantischen Lavabrocken gehalten hatte, regte sich im Schlaf und ließ ihre schlimmsten Alpträume wahr werden. Das Monstrum war gut und gerne dreißig Meter hoch und musste von seinem Dornenübersätzen Kopf bis zur Schwanzspitze die selben Ausmaße wie seine Schlafkammer haben. Sein Odem stank nach giftiger Galle und verbranntem Fleisch. Die Haut war rissig und großteils mit Schuppen bedeckt, die fast so groß wie der Chaosschild waren. Dieses Monster war älter als ihre eigene Spezies und würde noch hier sein, wenn die Smavari längst den Weg alles Vergänglichen gegangen waren. Wie sollten sie es nur besiegen?

Doch dann sah sie den Nygh, der seitlich in die Höhle huschte und richtete den Schild gegen den Drachen aus. Sie mussten ihn nicht besiegen. Es würde reichen ihn abzulenken. So hatte es Kyons Vater in seinem Tagebuch beschrieben und so würde es geschehen. Ohne weiteres Zögern machte sie den ersten Schritt auf den Schlafplatz des Titanen zu und stolperte über einen Lavabrocken.

Ughtred erschrak und blickte zu ihr herüber. Dann sahen sie beide kurz zu Kyon zurück und sahen, wie dieser die Sehne seines Kriegsbogens durchzog und den Pfeil in die flirrende Luft entließ. Gebannt und ohne die Wahl etwas anderes zu tun folgten Tals und Ughtreds Blicken dem Pfeil und beiden stockte der Atem, als sie mitansehen mussten, wie das winzige Ding sich in eines der nun geöffneten Augen des Monsters grub!

Ughtred, dem zumindest die giftige Luft nicht schadete, spurtete los. Noch war der Drache nicht wirklich wach. Es sah aus, als würde es eine Weile dauern, bis er in der Lage war klarer zu denken. Diese Zeit musste er nutzen. Er rannte, sprang über Lavabrocken und rutschte unter umgefallen hindurch. Nur einmal sah er zurück. Tal war auf das Monstrum zugestürmt. Sie würde sterben. Mit hoch erhobenem Schild und vorgestrecktem Speer prallte sie gegen den Schwanz des Drachens. Sie stieß zu und entließ die gewaltige Kraft von Raguels Klinge. Mit einem Donnern drang der Speer zwischen zwei Schuppen in die dicke Haut des Monsters und verursachte einen erstaunlich großen Riss. Dunkles, sich entzünden des Drachenblut quoll hervor und die Bestie öffnete verschlafen das Maul und gab ein Gähnen von sich. Doch da schwirrten schon weitere Pfeile von Kyons Sehne und trafen in das sich träge bewegende Auge.

Langsam blinzelte der Drache und es war ihm anzumerken, dass er versuchte zu erwachen und zu begreifen, was hier vor sich ging. Wie viele Millenien hatte er hier in der Glut des Vulkans geschlafen und Drachenträume geträumt? Bitte zuvor ist ein Wesen bis zu ihm vorgedrungen, nie hatte etwas anderes als kosmische Vorgänge seinen Schlaf gestört. Er hatte von verglühenden Sonnen geträumt. Nun waren Flöhe dabei ihn zu wecken. Träge entfaltete er einen seiner turmhohen Flügel und streifte dabei den Chaosschild. Kreischend gab das Artefakt die Energie, die seine Trägerin augenblicklich getötet hätte zurück und grub nach den Gedanken der Bestie. 

Tal stürzte, konnte sich jedoch sofort wieder aufrappeln. Sie spürte den Konflikt zwischen dem Schild und der unheiligen Gedankenwelt des Drachen. Sie musste diese zusätzliche Ablenkung nutzen. Mit einem gewaltigen Sprung stieß sie sich vom Boden ab und flog, Schild und Speer voran auf die Flanke des Monsters zu. Erst im letzten Moment riss sie den Schild zur Seite und stieß zu.

Wieder drang der Speer durch die faltige Haut des riesigen Wesens und trank sein Blut. Der Drache wälzte sich auf die Seite und hätte dabei Tal beinahe mit einem seiner Hinterbeinen wie ein lustiges Insekt zermalmt.

Pfeile Flogen und Speerstöße drangsalierten den Drachen und zogen dessen Aufmerksamkeit auf sich. Unterdessen tat Ughtred das Einzige, was er noch tun konnte. Er rannte, rannte um sein Leben, um das seiner Freunde und um den Traum des Abenteurers. Es vergingen nur Sekunden, doch es war Zeit genug, die Bewegungen des abstrus großen Drachen zu sehen und sich Gedanken über sein Hierseins zu machen. Er war nicht der Sohn des Abenteurers, aber die Silberwölfe hatten seinem Vater das Leben gerettet und allein für diese Tat würde er für immer an sie und ihr Schicksal gebunden sein. Er tat es aus Freundschaft und weil auch er Feuer gefangen hatte. Welche Welt hätte er sonst gelebt? Ein Leben als Sammler oder Schafhirte im Geisterwald? Er hatte Riesen besiegt, gegen Untote gekämpft und war in der Zitadelle der Silberwölfe in das Grab des Mächtigsten Kriegers der Welt eingedrungen und hatte dafür gesorgt, dass seine Freundin den Speer des Helden an sich nehmen konnt. 

Er rannte und rutschte unter einem Felsen hindurch. Über ihm schwirrten wie das Segel eines smavarischen Kriegsschiffes ein Flügel des Monsters durch die Höhle und streifte dabei die Lavawand. Brocken fielen zu Boden und drohten ihn zu erschlagen.

Er rannte und sprang über einen Riss im Boden, der entstanden war, als die Hexe ihren Speer in die Seite des Drachen gestochen und dieser mit seinen Krallen den Stein malträtiert hatte.

Er rannte und machte einen letzten Satz, als er vor sich die Öffnung zum Hort gewahrte und hinter sich das saugende Geräusch hörte, welches anzeigte, dass der Drache erwachte und Luft in seine infernalen Lungen sog.

Dann war um ihn Leichtigkeit, Verdreht heißt, Farben und das chaotische Durcheinander einer durch die dauernde Anwesenheit des Lugen verdrehten Realität. Die Zähne Luft war erfüllt vom Glanz goldener Kostbarkeiten und dem Schein unzähliger Edelsteinen. Dutzende von Artefakten sogen gierig an seiner Seele. Sie waren ausgehungert und hätten sich an jeden gebunden, der sie aus dem Hort befreit hätte. Machtringe sehnten sich nach der Kontrolle schwacher Seelen, Heldenschwerter dürsteten nach Blut und kostbare Diademe versprachen Lust, Liebe und ewiges Glück. All dies drang in Ughtreds Geist und versuchte ihn für sich einzunehmen, doch der Meisterdieb war kein Mann, den Versprechen locken konnten. Er kam zum Stillstand und lauschte dem Wüten der Bestie hinter sich. Mit einem schnellen Blick suchte er den Schatzhaufen nach der goldenen Zange ab und nur er war in der Lager, dieses Werkzeug von den anderen Reichtümern zu unterscheiden. Da lag sie. Zwischen einen Ringen, aus Steinen gezogenen Königsschwertern und allmächtigen Schlangendiademen lag eine schmale Zange aus purem Gold. Ughtred griff zu, steckte das Werkzeug unter sein Wambst und wandte sich ungeachtet aller Schätze dem Drachen zu.

Draußen erwachte das unheilige Tier. Tal merkte es im letzten Moment. Es waren die Augen. Feurig rot, begannen sie sich in dem Moment zu klären, als jemand den Hort betrat und dieses Klären war der Beginn der Hölle. Der durch die Unendlichkeit des Kosmos streifende Gedankenwelt des Drachen kehrte binnen Sekunden zur Tiba Fe zurück. Sie waren auf anderen Welten, bedienten sich anderer Körper, entdeckten, lernten, zerstörten und verdammten. Nun aber, wurden sie bei ihrem physikalischen Leib gebraucht, denn sie waren in seine Schlafkammer gedrungen: Diebe!

Da erwachte der Drache und wie er es immer tat, holte er Luft und übergoss seine Welt mit dem alles reinigenden Inhalt seiner gewaltigen Lungen. Flüssiges Feuer prallte gegen harten Fels, wurde umgeleitet und schoss wie gleisende Gischt nach oben, nur um die Luft erfüllend wieder über dem Drachen zusammen zu brechen. Dies würde keiner der Eindringlinge überleben. Wieder und wieder kotzte die Bestie große Massen glühender Galle in die Luft, wo sie sich entzündete und alles und jeden in die infernale Realität des Lugen zog. Doch es war niemand mehr hier!

Tal hatte sich umgedreht und war gerannt. Sie hatte den schweren Schild fahren lassen und nur Raguels Speer mit sich genommen. So schnell ihre starken Beine sie trugen war sie auf Kyon zugerannt und dieser hatte ebenfalls die Zeichen der Zeit verstanden. Stolpernd, schlitternd und sich überschlagend hatten sie den für den Drachen zu engen Tunnel erreicht und rannten auf den Feuersee zu. Wie sie die Lavafälle überleben sollten, konnten sie nicht planen. Kyon hatte nicht einmal realisiert, dass der Schild die Höhle nicht verlassen hatte, doch selbst wenn Tal ihn mit sich genommen hätte, ohne den Nygh, hätten sie niemals die Kraft aufgebracht, ihn zu halten. Und Ughtred war nicht da. Wie auch? Über diesen Rückweg hatte nichts im Tagebuch gestanden. Was hatten sie sich nur gedacht? Es hätte ja sein können, dass der Drache sich mit Speeren und Pfeilen wecken ließ und sich danach wie eine Brave Giebelkatze zusammenrollte und wieder einschlief. Sie erreichten den Feuersee und schlitterten beide auf der linken Seite neben dem Stollen auf den Boden. Sie atmeten Feuer und versuchten einfach nur zu überleben. Hinter ihnen herrschte das Inferno höllischen Zorns.

 

Ughtred späte aus der Öffnung des Hortes und konnte gerade noch schnell genug den Kopf zurückziehen, als die turmhohen Stirn des Drachen seine Sicht verdeckte. Dann blies der Odem des Schreckens in die Kammer und hätte jedes andere Lebewesen binnen Sekunden vergiftet. Nur die besondere Immunität gegenüber Giften und Krankheiten der Nyghs rettete den Meisterdieb vor diesem Schicksal. Er presste sich an die Wand und hielt den Atem an. Dann hörte er das wütende Schnauben in der großen Kammer und die Einschläge vom Schwanz und den Flügeln. Der Luge wand sich mehrmals hin und her, riss Brocken aus den Wänden und verursachte durch sein Getrampel tiefe Risse im Boden des Berges. Dann schien er es selbst nicht mehr auszuhalten und machte sich daran, an der Innenwand des Vulkans nach oben zu klettern. Meterlange Krallen gruben sich in das Gestein und ließen Felsbrocken zu Boden donnern. Schließlich brach eine der Wände und stürzte hinunter. Tonnenschweres Gestein durchbrach den Höhlenboden und entließ die darunter schlummernde Lava. Ughtred sah sich seinem Tod gegenüber. Er musste handeln, jetzt sofort. Er drückte die Zange gegen seinen Bauch und rannte los. Wieder sprang er über Hindernisse – die nun jedoch in Flammen standen und hoch giftige Gase absonderten. Er rannte wie zuvor, doch diesmal in der Gewissheit zu überleben. Er wusste es einfach. Der Drache hätte Feuer in seinen Hort speien können, er hätte in der Schlafkammer warten oder zumindest zurückkehren können, aber nichts davon war geschehen. Stattdessen waren die trägen, wenn auch zornigen Flügelschläge der Schuppenbestie hoch über dem Gebirge zu hören. Das Monster hatte beschlossen draußen zu wüten und nach den Eindringlingen zu suchen, was bedeutete, dass es nichts von dem Vortex wusste. Sie würden überleben. Sie würden diesen Ort schneller hinter sich lassen, als der Luge es begreifen konnte.

 

Am Rande des Feuersees kauerten die Hexe und der Barde und bangten um ihr Leben. Über ihnen tobte der Luge und tief unter ihnen erwachte der Vulkan. Tal klammerte sich an Kyon und war im Begriff jede Hoffnung zu verlieren. Da rutschte Ughtred neben den beiden aus dem Tunnel.

Er atmete schnell und rief: »Seht doch ihr Narren! Der See hat Schräglage. Die Wand ist eingedrückt und der Boden sackt weg. Die Lavaströme werden gleich nicht mehr auf die Brücken strömen. Macht euch bereit!«

Im selben Moment brach tatsächlich ein großes Stück der Wand ein, stürzte auf mehrere der Brücken und riess sie in die Tiefe. Gleichzeitig gab es einen lauten Krach und die restliche Scholle geriet wie der Nygh es vorher gesagt hatte in Schräglage.

»Jetzt!«, brüllte Ughtred und wedelte mit dem schwerelosen gläsernen Zahn des Drachen. Er hatte ihn aufgegriffen und mitgenommen, denn er vertraute seiner Hexe.

Schneller als sie es selbst für möglich gehalten hatten waren Tal und Kyon auf den Beinen und stürzten voran. Es war nur noch eine halbwegs begehbare Brücke übrig und selbst hier war ein Riss entstanden, der einen mehrere Schritte weiten Sprung erfordern würde. Tal fasste Kyon bei der Hand und mobilisierte erneut alle Kräfte, die der Äthers für sie zugänglich machte. Dann sprang sie, den Speer voran in der einen Hand und Kyons in der anderen, mit einem übernatürlichen Satz über den infernalen Abgrund. Ughtred schrie und sprang ebenfalls und schaffte die Distanz mit der geschmeidigkeit seiner Art. Wie eine Raubkatze landete er auf allen Vieren, ließ den Zahn eine Sekunde vor sich durch die Luft schweben, packte aber sofort wieder zu und rannte weiter. 

»Schnell, er bricht aus!«, rief er gegen das brüllen des Berges an.

Tal rief nach Odugme. »Lauf, lauf in den Vortex! Sofort!« Und tatsächlich, als die drei selbst in die Vortexkammer gelangten, sahen sie gerade noch, wie der Phani, den Befehl befolgend tapfer in das wabernde Fuchsia der Membran eintauchte. Dann folgten sie in einem wilden Knäuel und ließen Daragros Feueresse und den Zorn des Lugen hinter sich zurück.

 

Zurück in Raugnith

Kyon löste seinen verschmorten Mantel aus einer Brandwunde und Tal schlug ihm, wie eine Mutter die das Kind schließlich vor dem Herd gewarnt hatte, auf die Finger. Dann beugte sie sich liebevoll über ihn und berührte mit ihrem Ausschnitt sein Gesicht, während sie nach dem hinter ihm liegenden Medpacks langte. Kyon fluchte leise, beließ es aber dabei.

Auch Ughtred hatte Brandwunden abbekommen, wartete aber, bis die Hexe sich um den Barden gekümmert hatte. Er schüttelte den Kopf, bei dem Gehabe der beiden und löste sein Oberteil, um die Zange zu befreien. Sie war aus Gold und damit viel zu weich, um als echtes Werkzeug durchzugehen.

Mit verdrehten Kopf schielte er nach dem Turm über ihm und versuchte einzuschätzen wo man sie ansetzen müsste. Da war das Zahnrad und in dessen Zentrum die Achse. Die Zange hatte zwei Finger, die ohne Zweifel in zwei Öffnungen in der Achse passen würden. Er fragte sich als Sohn eines Schmiedes, warum eine Zange und kein Schlüssel, aber vielleicht gab es verschiedene Achsen mit unterschiedlichen Durchmessern. Andererseits hatten die Silberwölfe das ganze Ding ersonnen und bei ihnen musste beim besten Willen überhaupt nichts Sinn machen.

Kyon stöhnte und schob Tal mit einer groben Bewegung von seinem Schoß. Sie streckte ihm wie üblich die Zunge heraus und kümmerte sich um ihre eigenen Wunden. Ughtred war erstaunt, wie hart dieses Wesen im Nehmen war. Die Brandwunde in ihrem Schlüsselbein  hatte den Durchmesser einer Kinderhand und müsste höllische Schmerzen verursachen und dennoch dachte die Hexe an nichts anderes als ihre infantilen Leckereien. Demonstrativ entfernte sie ihr Oberteil, stellte ihre Brüste zur Schau und begann dann die Wunde zu reinigen. Zur Krönung des Ganzen verbog sie den geschmeidigen Hals wie ein Wolf und leckte die Wundränder sauber.

Kyon jedoch war ebenfalls ein Meister in diesem Spiel. Anstelle ihr wieder einmal zu verfallen – man bedenke, sie waren gerade erst einem Drachen entkommen – sagte er mit seiner üblichen genervten Stimme: »Angaworths!«

Tal sah auf und konterte: »Bildet einen Satz Herr Sliyn!«

Ughtred mischte sich ein und sagte: »Er meint, der Vortex könnte uns erneut nach Angaworth bringen und wir hätten die Möglichkeit uns zu kurieren.«

Kyon nickte und stellte den Nygh mit einer Handbewegung auf ein Podest. Gleichzeitig degradierte er damit die Hexe zu kindisch er Blödheit.

Tal sagte: »Na die werden sich freuen …«

 

»Und wie genau seid ihr in den Keller der Struktur in der vorgeschobenen Siedlung gelangt? Dort unten herrscht ewige Dunkelheit und wilde Bestien und Schlimmeres wachen über diesen Ort.« Der Mann vor Kyon Trug ein Tuch vor dem Mund und eine Lederrüstung, die ihn als Mitglied einer Wache auswies. Bisher hatte er sich nicht vorgestellt, aber nun sagte er: »Ich bin Sliyn Farylaiyd Murouniy, Herr der Turmwache von Angaworths und ich will verstehen, was hier vor sich geht.«

Man hatte Kyon mit gespreizten Beinen auf einen Holzschemel gebunden und verhörte ihn nun seit geraumer Zeit. Anfangs war es dem Krieger noch um den Vorgang an sich gegangen, aber je mehr Wahrheit Kyon von sich gab, umso vertrackter wurde die Lage des Wächters. 

Kyon atmete tief ein und sagte: »Vortex. Einfach so und einfach durch. Wolt ihr dies eurer Obrigkeit berichten? Oder lasst ihr uns – die wir ein ehrwürdiger Sliyn und eine Doppelmondhexe von Shishney sind – nicht besser einfach unserer Wege gehen?«

 Farylaiyd, der Herr der Wache, blickte zu Boden. Dann murrte er: »Und da kann jederzeit wieder jemand rein?«

Kyon schüttelte den Kopf. »Wie gesagt, wenn wir uns hier in der wudnerbaren Hauptstadt ohne weiter aufzufallen ausgeruht haben, werden wir durch den Vortex zurückgehen, wo wir her kamen. Dann werden wir ihn auf der anderen Seite umlenken. Fertig. Euer Problem ist gelöst. Unsere leider nicht. Wie gerne würde ich mit euch tauschen, aber das Wachthandwerk liegt mir leider nicht.«

Kyon sagte all dies ohne Spur jeglichen Humors und der Wächter nahm es ganau so auf.

»Ihr schließt den Vortex auf der anderen Seite?«

»Wir lenken ihn in eine andere Richtung.«

»Irreversibel?«

»Denke schon.«

»Also gut. Wehe ich höre von euch während eures Aufenthaltes hier!«

Kyon zeigte seine Wolfszähne und murrte: »Wir sind zu müde, um Ärger zu machen.«

Dann war alles wie bei ihrem ersten Besuch in der Hauptstadt. Oder auch nicht. Zwar behielt es sich Tal vor, sich in den Gemächern der Vatermutter auszuruhen und sich ausgiebig ihrer Genesung und anderen schönen Dingen zu widmen, doch diesmal begleitete Ughtred Kyon bei seinen Streifzügen durch die riesige, ganz und gar verrückte Stadt. Kaum hatten sie sich ein wenig erholt, besuchten sie Jahrmärkte, die Schmieden der Kellerstadt und den sich drehenden Friedhof. Ughtred nahm alle Eindrücke der Silberwolfwelt in sich auf und hatte begriffen, längst ein Teil von ihr geworden zu sein. Kyon lachte nur.

Mehrere Tage und vor allem Nächte gingen über die Hauptstadt Kisadmurs und nahmen den Helden ihre Lasten. Wunden wurden in Regenerationswannen negiert, Erschöpfungszustände von Helfern und Helferinnen aus den Muskeln massiert und vor allem die Geistige Anspannung hatte hier kaum eine Chance sich weiter auszubreiten. Angaworth war ein Ort der Absonderlichkeiten und saugte Anspannung in sich auf.

Kyon spielte ein halbes Dutzend Mal auf und es gelang ihm sogar einen Hit zu landen. Es dauerte nicht lange, da fiff jede Frau und jeder Mann die Melodie des Liedes über den Barden mit dem Kriegsbogen und seiner tölpelhaften Hexe. Zum Glück gelang es dem Liedchen nicht bis zu besagter Hexe vorzudringen – zumindest noch nicht.

Der Barde versuchte weitere Lieder zu etablieren, schaffte es aber nur noch auf die niederen Ränge. Er würde in Angaworth ein One-Hit-Wonder bleiben, aber wer konnte dies schon von sich behaupten? Außerdem hatten Barden mit diesem Schicksal häufig einen tiefgründigen Ruf. Er ließ sich noch einige Male im Zusammenhang mit Drogen aus Kaschemmen werfen und täuschte schließlich einen Selbstmord vor. Damit war er eine Legende.

 

Der Aufbruch zurück nach Raugnith fiel ihnen diesmal deutlich schwerer. Tal Vermisste die Leiche ihres Bruders. Der Sarg stand in der Katakombe des Vortexturmes. Sie hatten ihn dort zurück gelassen, um Odugme zu schonen und weniger Aufsehen zu erregen. Hatte im Grunde nichts gebracht und nun wollte sie zu ihm zurück. Dennoch hielten auch sie die Annehmlichkeiten der großen Stadt zurück. Selbst Ughtred schien sich in Angaworth wohl zu fühlen. Sie hatte ihn kaum gesehen und nun, da sie in den Gewölben vor dem fuchsiafarbenen Durchgang standen machte er nicht unbedingt einen abenteuerlichen Eindruck. Kyon darüber hinaus fehlte, beziehungsweise kam zu spät. Tal wollte schon umkehren und ihn an seinen Ohren in diese Geschichte zurückziehen, da hob Ughtred die Hand und deutete in die Dunkelheit der Kellerfluchten. Leicht torkelnd und mit schlecht gepackter Ausrüstung erschien der Barde und hob seine Faust zu dem wohlbekannten Befehl. Tal zeigte ihm ihren Hintern und ging genervt durch das Anderwelttor.

In Raughnit hatte sich nichts verändert, aber was hätte sich auch verändern sollen? Seit Äonen hatte außer ihnen und dem schwachsinnigen Lych niemand diesen Ort betreten. Tal ging zu Northrians Sarg und setzte sich darauf. Eine seltsame Müdigkeit hatte sich ihrer bemächtigt. Sie legte sich mit dem Oberkörper auf das zerschrammte Holz und Odugme legte eine dünne Decke aus ihrer Ausrüstung über ihre Schultern.

Unterdessen untersuchte Ughtred erneut die Zange und den Turm. Er reichte natürlich nicht dort hoch und überlegte, wie er es machen sollte ohne sich an den Silberwolf wenden zu müssen. Er ging zu Odugme und verushcte zu erklähren, dass er an die Achse des Turmes heran musste und deutete dabei nach oben. Der Phani schien Angst zu haben und verstand vor allem nicht, was man von ihm erwartete. Ughtred gab auf und wandte sich dem Barden zu. Wieder erklärte er, was er vorhatte und nun stellte sich auch Kyon dumm. Natürlich hatte er mitbekommen wie der erste Versuch bei dem Phani verlaufen war und machte sich nun einen Spaß daraus den Nygh ein zweites Mal auflaufen zu lassen. Da baute sich Ughtred breitbeinig vor ihm auf und deutete auf den Turm.

Kyon stand auf und ließ mit zwei knappen Bewegungen des Kopfes seinen Nacken knacken. Er überlegte, wie er aus dieser Nummer herauskommen könnte ohne seine Würde zu verlieren aber es scheint keinen Ausweg zu geben. Also beugte er vorsichtig das Knie und ließ den Dieb auf seine Schultern steigen. Würdelos, würdelos, würdelos … aber auch irgendwie lustig. Er stand auf und hatte Schwierigkeiten den Nygh nach oben zu heben. Tal hätte das sicher leichter vollbracht. Konnte die elende Blindschleichen eigentlich alles besser als er? Sie sah nicht gut und trug diese bescheuerte Brille, aber darüber hinaus war sie eine Naturgewalt, die er nicht gegen sich stehen haben wollte. Hätte sie nicht wenigstens körperlich schwächer als er sein können? Was half es ihm, wenn er einem Kleinstamytoren die Fühler wegschießen konnte, wenn er nicht einmal in der Lage war diesem dünnen Mädchen den Arsch zu versohlen? Auch wenn sie es miteinander trieben hatte stets sie die Oberhand. Sie war bestimmt doppelt so stark wie er. Wenn er bei einem Mann lag, war ihm dies ganz egal – im Gegenteil, er liebte es sich von starken Armen verwöhnen zu lassen. Aber doch nicht bei der Zauberschnecken!?

Er versuchte sich zu konzentrieren und gelobte, seinen Körper zu stärken. Er war ja noch jung und jetzt wo er auf dem Weg war, einer der größten Abenteurer aller Zeiten zu werden, würde es ihm sicher nicht schwer fallen, entsprechende Artefakte an sich zu binden. Bald würden Shimwas um ihn herum schwirren und ihn zu einem Raguel dieser Zeit machen.

»Passt doch auf Mann«, knurrte Ughtred über ihm, als er ihn beinahe fallen gelassen hätte.

 

Vorsichtig berührte Ughtred die Achse und das Zahnrad. Weder das eine, noch das andere ließ sich von Hand bewegen. Er hatte schwierigkeiten sich zu konzentrieren. Die Lichtblitze des Vortex erhellten zwar den Raum, zeichneten aber auch unheilvolle, tentakelbewehrte Schatten an die schmutzigen Wände. Die Grauen Wächter des Dazwischen waren hier überall und tasteten blind nach einem Durchgang zur Realität, um sich an den Seelen der Echten zu laben. 

Nervös fummelte er die goldene Zange aus seinem Gürtel und versuchte mit ihr die Achse zu greifen. Wenn der schwachsinnige Silberwolf doch nur stillhalten würde. Erneut fuhr er Kyon an und forderte Konzentration.

Dann gelang es. Er packte die Vertiefungen mit den Fingern der Zange und das Werkzeug rastete ein. Vorsichtig versuchte er es zu bewegen und tatsächlich, die Achse schien sich nun drehen zu lassen. Nach rechts? Oder nach Links? Wie weit?

»Es geht. Ich kann sie drehen! Was jetzt?«

Ughtred tat sich schwer mit dem Tagebuch des alten Abenteurers. Er verstand dessen Worte nicht und hatte auch das seltsame Gefühl, sich jedes Mal selbst zu schaden, wenn er es versuchte.

Kyon trat von einem Bein auf das andere und hätte den Meisterdieb beinahe erneut fallen gelassen. Dieser fluchte laut und weckte damit die eingeschlafene Hexe auf. Auch gut.

Als Tal die Augen öffnete rief Ughtred ihr zu: »Die Zange pass! Was nun? In welche Richtung soll ich drehen?

Tal hob die Hand und wollte sich von Kyon den Kristall seines Vaters geben lassen, erinnerte sich aber daran, dass sie ihn längst an sich genommen hatte. Sie kramte ihn aus ihrer Gürteltasche und aktivierte ihn.

Die seltsam gehaltvollen Glyphen aus der smavarischen Scherbenschrift erschienen vor ihrem Gesicht. Sie ließ die Zeichen nach oben wandern und suchte nach dem Eintrag mit der Zange.

 

›Aus des Drachen Hort die alte Zange ist zu bergen. Endlich fliehen aus der Bestie Reich, zurück durch die Anderwelt. Und dann mit der goldnen Zange schnell die Richtungen des Tores in ihr Gegenteil verkehren. Nun gibt es Nord, Südwest und Südost und wieder stellt sich die Frage nach dem rechten Weg. Nur einer kann nach Granband gehen, dieser eine Ort, die Karte fehlen lässt. Drei Möglichkeiten, zwei sind falsch und keine Schrift ist noch zur Hand dies Rätsel mir zu lösen. Es bleibt nur einen nach dem anderen zu gehn und zu hoffen so vom Glück gesegnet zu sein, gleich das Rechte mir zu wählen. Hier sei gesagt, es ist gefährlich nicht zu wissen wo der Fuß hintritt, denn viele Wege führen von der Tiba Fe zu Orten, die noch finsterer sind, als alle die ich bisher besuchte.‹

 

Sie blinzelte und versuchte den Hinweis in diesen Worten zu finden. Waren da Richtungen oder gar Zahlen zwischen den Zeilen verborgen? Sie laß den Text rückwärts und dann noch einmal laut, kann aber zu keinem Ergebniss. Dann konzentrierte sie sich auf die feinstoffliche Welt und versuchte hier einen Zusammenhang zu erkennen, doch auch auf diesem Weg erschloss sich ihr das Rätsel nicht. 

Ughtred sagte: »Da ist eine winzige Einteilung auf der Achse. Es ist möglich elf oder zwölf Schritte zu drehen. Es sollte also einen Zahlenhinweis geben.«

»Geht das etwas schneller?«, knurrte Kyon dessen Rücken schmerzte, weil er nach wie vor einen Nygh auf den Schultern trug. »Hab von Anfang an gewusst, dass es keinen Unterschied zwischen Nyghs und anderen Plagegeistern gibt«, murmelte er verdrossen.

Unterdessen durchforstete Tal noch einmal das Tagebuch. Es endete mit einem grotesk fröhlichen ›Leshydro‹, der ultimativen Grußformel der smavarischen Gesellschaft. Und dann? Dann kam ein kryptisches Postskriptum.

 

›Postskriptum: Lange suchte ich nach Zahl und Richtung, doch keinen Hinweis fand ich, in der Meister Schriften. Bis – ja bis ich las, Buch acht, im Abschnitt zwölf der Dimensionenbrecher Schwüre:

 Drei, vier, sechs und neun

wird keiner jeh bereun

Die Geraden gehen rechts

die andern gegenüber

Und dann der Summe Hälfte

in ihre Richtung wieder‹

 

Hier endete das Tagebuch endgültig. Tal lass den Reim mit passend kindlich verstellter Stimme laut vor. 

Sofort kommt konterte Kyon genervt: »Drei nach links, vier und sechs nach rechts, dann nein und elf nach links. Hopp, hopp Herr Dieb!«

»Wieso elf«, fragte Tal. Zahlen waren nicht ihre Stärke.

»Weil drei und vier und sechs und neun durch zwei halt elf ergibt Frau Hexe.«

Sie wollte den Kristall nach ihm werfen, hielt sich aber zurück.. Er war schließlich schön. Also der Kristall. Na ja und Kyon auch. Stattdessen streckte sie ihm nur die Zunge heraus und stand auf. Wenn die beiden Blödmänner nicht langsam in die Gänge kämen, wieder sie sich der Sache annehmen müssen. 

Ughtred drehte die Zange auf die genannten Zahlen, aber nichts geschah. »Drei nach links, mache ich doch«, sagte er. 

Tal schüttelte den Kopf und antwortete Schulmeisterhaft: »Wenn ihre oben nach dort dreht, ist das aber unten rechts.«

Der Nygh schüttelte den Kopf und versuchte es noch einmal in den entgegengesetzten Richtungen. Warum mussten Silberwölfe nur alles anders herum machen? 

Er ließ die Skala die letzten Klicks um elf Striche rotieren und da rastete die Achse mit einem satten Klacken ein und das Zahnrad begann sich langsam zu drehen. Im selben Moment kam auch in den ganzen Turm Bewegung. Er drehte sich auf seinem Sockel nach links und die violetten und fuchsiafarbenen Lichtbögen wanderten schreiend und laut knisternd an den Wänden entlang. Es war deutlich zu erkennen, wie sie die Membran des Dazwischen zerschnitten und die alten Wunden sich langsam schlossen.

Dann rastete das Zahnrad ein und die drei Lichtblitze zeigten auf die genau gegenüber liegenden Wände der vorherigen Konstellation, doch den Tal war sofort klar, dass hier etwas nicht stimmte. Das Portal, welchem Kyon am nächsten stand, flackerte seltsam und etwas Halbreales schon daraus hervor zu ragen. Es schien eine Art Struktur aus dunkelgrünem Metall zu sein und es schien sich dort wo es sich zumindest zur Hälfte befand in rasender Geschwindigkeit zu bewegen. Lichter wechselten sich in stotterndem Stakato ab und machten es unmöglich die Situation genauer zu bestimmen. 

Erschrocken musste Tal mit ansehen, wie Kyon einen Schritt auf diesen Vortex zumachte und schließlich sogar seine Hand danach ausstreckte. Sie wollte ihn mir einem Ruf zurückfahren, aber dann erkannte sie die Vision die er ihre beschrieben hatte. Ein Tunnel, Lichter, ein Mann und dieses fremdartige Wort ›Prag‹.

Kyon sah sie wankende Gestalt in dem halb realen Fahrzeug, denn um ein solches musste es sich bei der Struktur handeln. Entschlossen machte er einen Schritt in das Chaos hinein, steckte den Arm aus und griff mit der Hand nach der Gestalt. Er reichte an der Hand die er gefasst hatte und zog das Wesen in seine Realität herüber. Die Anderwelt krachte und dir Lichtblitze verwandelten den ganzen Raum in ein Chaos auf violetten Explosionen. Dann schloss sich der Vortex, doch die Struktur blieb nach wie vor zur Hälfte im Hier und zur anderen im Dazwischen hängen und blockierte diesen Weg für immer. 

Kyon, Tal, Ughtred und sogar Odugme starrten das Wesen an, dass Kyon aus der Anderwelt gezogen hatte. Es war zweifellos Ende Art Mann. Um etwa drei Kopf größer als ein Nygh war er immer noch viel kleiner als die beiden Smavari. Er war schmal, aber nicht so grazil wie die Silberwölfe und seiner Haltung fehlte jegliche Stärke. Anstelle eines Gewandes oder einer Rüstung trug er eine Art zweite Haut aus schwarzem Stoff, die seinen Auftritt noch weicher und irgendwie lächerlich machte. Sein Gesicht war bleich, ohne die Vornehmheit der Eltwesen und obwohl er generell über die selben Organe wie diese zu verfügen schien, verunzierde ein Streifen dünnen Gesichtshaares seine ohnehin irgendwie wässrige Ausstrahlung noch mehr. 

Zitternd war er zu Boden gegangen und starrte nun zu Kyon auf. Er hob abwehrend die Hände, bildete mit seinen Fingern ein Kreutz und gab ein seltsames und unverständliches Gebrabbel von sich.

Kyon verhielt sich für seine Verhältnisse erstaunlich einfühlsam und machte eine aus seiner Sicht beruhigende Geste, aber die Vortexblitze und der Kraft der nicht heilenden Membran bei der halbrealen Struktur machten die Kommunikation nicht gerade einfacher. Das Wesen hatte eindeutig Angst und selbst Kyon schien dies zu verstehen. Wo auch immer es ursprünglich herkam, es musste Schlimmes erlebt haben, denn der Fluch der Halbrealität war sicher alles anderer als angenehm. Welchen kosmischen Schrecken musste der hässliche kleine Mann ausgesetzt gewesen sein? Kyon war sein Mitleid deutlich anzusehen. 

Vielleicht war dies der Umstand, der den Fremden dann doch zumindest ein wenig beruhigte. Tal kniete sich vor ihm hin und deutete auf Kyon und nannte dessen Namen. Dann stellte sie sich und die anderen beiden vor. Aufmunternd deutete sie auf ihn und machte ein fragendes Gesicht.

Er sagte: »Upíre? Bůh mi žehnej, nezabíjej mě. Nosferatu?«

Tal verstand kein Wort und griff ohne zu zögern in das Feinstofflich, um Zugang zu seinem Geist zu erlangen. Es war gar nicht schwer. Der Widerstand dieser Spezies war gering und es schien ihr, als würde sie sich ihm verständlich machen. Doch in dem Moment, wo sie den geistigen Kontakt erzwungen hatte, geriet der kleine Kerl in Panik. Er schrie wirres Zeug und zappelte mit den Beinen und versuchte von ihr weg zu kriechen. Sie musste lachen und entließ ihn aus ihren Geisteskräften. Er beruhigte sich bald.

Dann versuchte es Kyon noch einmal mit ihm zu sprechen und als dies ebenfalls keinen Erfolg zeigte, baten die Silberwölfe Ughtred sein Bestes zu geben. Doch leider schien der kleine Mann auch die Sprache der Nygh nicht zu verstehen und außerdem schien ihm Ughtred fast noch mehr Angst zu bereiten als die Silberwölfe. Tal dachte kurz über Odugmes seltsame Sprache nach, aber dann erinnerte sie sich, dass der Phani ja gar nicht richtig sprechen konnte. Sie hatte sich mittlerweile so daran gewöhnt ihn mit ihren geistigen Kräften anzusprechen, dass sie sein reales Stummsein vergessen hatte.

Gerade als sie aufgeben wollten und schon darüber nachdachten, was sie mit dem seltsamen Männlein machen sollten, sagte dieses mit erstickt er Stimme: »Franz …«

Tal strahlte und deutete erneut auf sich und sagte: »Tal!«

Er wiederholte vorsichtig: »Taaal.«

»Mit kurzem ›A‹ wie in Yˋtalan oder ›Tannenbaum‹. Du scheinst uns ja doch ein wenig zu verstehen.«

Und dann sagte Franz: »Verstehen!?«

Natürlich sprach jedes Wesen im Universum Smavarisch, oder war in der Lage die smavarische Sprache zu erlernen, handelte es sich doch um die älteste und tollste Sprache überhaupt. So zumindest sah es Tal. 

»Wie bist du in den Vortex geraten?«, wollte Kyon wissen und versuchte dabei so ungefährlich wie möglich zu klingen.

»Bist du …«, sagte Franz.

Kyon schüttelte den Kopf und überließ den Spinner Tal. Ja, er hatte ihn gerettet und nun ein Vorrecht auf seine Sklavendienste, aber wer wollte schon einen Sklaven, der noch hässlicher als die Quink aussah? Wobei … Mit etwas anderer Kleidung und einem Rasiermesser für das Gesichtshaar – konnte ein Wesen hässlicher als ein Quink sein? Er winkte ab und beließ es dabei. Die Hexe sollte ihr Ding mit ihm machen. Sie würde mit ihrem ausgeprägten Helfersyndrom ohnehin nicht von dem Kleinen abhalten. Schließlich hatte sie ihnen auch den Stumpen eingebrockt. Er sah zu Ughtred hinüber, dem ähnliche Gedanken durch den Kopf zu gehen schienen.

Tal indess unterhielt sich rege mit ihrem neuen Haustier und es war eindeutig, das Franz zwar nichts verstand, aber offenbar erstaunlich schnell smavarische Wörter lernte. Na und? Kyon konnte es egal sein.

Das Wesen namens Franz wiederholte erstaunlich gut das Gehörte. Es waren keine konkreten, verständliche Aussagen, bloß unzusammenhängende Worte, doch Tal spürte, dass der fremdartige kleine Mann mit den hässlichen runden Ohren schneller lernte als jedes Tier das sie kannte. Schließlich schien er auch zu begreifen, dass sie ihn nicht fressen würden. Zumindest nicht in nächster Zeit. Sie überlegte, ob Kyons Vision von ihm ihnen nicht sogar in irgend einer Weißen geholfen hatte. Wenn Franz nicht mit seinem seltsamen Fahrzeug in diesem Vortex gesteckt hätte, wären sie vielleicht hindurch gegangen. Im Tagebuch gab es nur noch einen Hinweis auf das richtige Tor, nämlich ein ›X‹ oder ein Kreuz, welches in der Vorstellung der Smavari eher ein verbietendes und ablehnendes Zeichen darstellte. Tal hatte tatsächlich am Boden der Kammer ein entsprechendes Zeichen gefunden und damit diesen Durchgang ad acta gelegt. Der halb geöffnete Vortex aus dem sie Franz gerettet hatten schloss sich ebenfalls aus. Also blieb nur noch einer und dies machte die Situation natürlich einfacher. Lonkaiyth hatte sicher nichts von Franz gewusst und hätte somit eine fünfzig prozentige Chance gehabt, den falschen Durchgang zu wählen. Sie versuchte sich die Herkunft von Franz vorzustellen, hatte aber zu wenige Hinweise. Fahrzeuge in Form von Tunneln, die durch Tunnel rasten und dabei rumpelnd Lichtblitze ausstießen. Männlein mit dünnen Stoffanzügen ohne jeden Schmuck. Dies schien ihr schon sehr fantastisch und ganz sicher nicht erstrebenswert.

»Es bleibt nur ein Durchgang. Wir haben den Weg nach Grandband gefunden«, sprach sie ihre Gedanken aus.

Kyon nickte. Er hatte das ›X‹ auch gesehen und hatte keine Gegenargumente.

Ughtred deutete auf den Fremden und sagte: »Was machen wir mit dem hier?«

»Dem hier …?«, wiederholte der Betroffene.

Kyon zuckte mit den Schultern. Ehe er irgend etwas anstellt, nehmen wir ihn lieber mit. Wir haben ihn gerettet. Er gehört jetzt uns!«

Ughtred rollte mit den Augen und rieb sich dann mit der Hand über die Stirn. Er überlegte, aber im Grund hatte Kyon natürlich Recht. Was würde es nützen den Mann hier zu  lassen? Die Lichtblitze und die Kellergewölbe waren nicht gerade eine beruhigende Umgebung. Er wusste nicht wie er sich den Ort, an dem sich die Perle befand vorzustellen hatte, aber wirklich schlimmer als hier, würde es sicher nicht werden.

 

Grandband

Der Vortex blitzte und gab knallende und kratzende Geräusche von sich und es war den beiden Silberwölfen anzusehen, dass sie unsicher waren, ob er überhaupt richtig funktionieren würde. Die Halbrealität des anderen Durchgangs wirkte sich auf das gesamte Gefüge des Dazwischens aus und verursachte starke Indifferenzen. Was, wenn dieser Fehler in der Realität sich auf die ganze Tiba Fe auswirkte? Wäre es nicht besser, das Zahnrad wieder auf die ursprüngliche Einstellung zu drehen und das Ganze zu vergessen?

Ughtred ging diesmal als erster. Er machte einen beherzten Schritt in die Anderwelt und fühlte sich fallen. Er lief und fiel und trieb durch tanzende Lichter. Um ihn herum umschmeichelten ihn die allgegenwärtige Anwesenheit der Grauen Wächter. Diese gigantischen, offenbar nur aus Schleim und Tentakeln bestehenden Halbwesen trieben auf der anderen Seite des Vortextunnels durch das Plasma des Dazwischen und versuchten träge die Membran zu durchdringen, doch der Vortex hielt. Hinter ihm glitt Tal durch den Äther. Sie hatte sich erneut von ihrem Bruder verabschiedet und Odugme befohlen den Sarg in Raugnith stehen zu lassen. Sie wusste, dass diese Reise anders sein würde. Ein kurzer Abstecher von Shishney nach Angaworth oder einem anderen unmittelbar in der Nähe befindlichen Ort war eine Sache, aber ein Sprung von einer Welt zu einer anderen, würden ihre Geister nicht so einfach verkraften. Sie hatte versucht, sich mental auf die Reise durch den Kosmos vorzubereiten, doch so etwas war leichter gesagt, als getan. Ihre Lehrerin für Vortexreisen hatte die Tiba Fe selbst noch nie verlassen und konnte bestenfalls auf einer theoretischen Ebene dozieren. Jetzt und hier die Heimatwelt hinter sich zu lassen und in die Tiefen des Universums einzutauchen, von allem losgelöst zwischen Sonnen und Sternenstaub durch das Nichts zu wandern, dass war schon etwas anderes, als es beschrieben zu bekommen.

Sie versuchte Ughtred vor sich zu erkennen. Wie musste es ihm gehen, wenn sie schon Probleme hatte ihren Geist, ihre Essenz und ihren Körper in einem Stück durch den Vortextunnel zu bewegen? Er hatte zweifellos diesem Ziehen der Welten, diesem Ungleichgewicht der Realitäten noch weniger entgegen zu setzen als sie. Seltsamer weiße machte sie sich um Kyon weniger Gedanken. Er war derart in sich gefestigt, dass er nicht den Eindruck vermittelte mit einem Vortextunnel Probleme zu haben. Vielleicht war es die Werwölfin in ihm, die ihn solchen Dingen gegenüber immun machte. Realitätsverschiebungen wie solche Besessenheiten suchten im Universum ihresgleichen. Was war schon ein Vortex gegen die Doppelexistenz an ein und dem selben Ort?

Dann waren da noch Odugme und dieses Franzding. Ihr Phani machte ihr am meisten Sorgen. Sein Geist war bedeutend schwächer als der eines Eltwesen oder eines Nyghs. Würde er es unbeschadet überstehen? Nicht auszudenken, wenn er den Grauen Wächtern zum Opfer fallen würde. Eine Berührung der Membran, ein winziger Riss und es gab kein Entkommen. Sie würden seinen Geist und seine Seele schlürfen und seinen Leib der ewigen Transformation im nicht realen Raum überlassen – für immer und immer. Frank hingegen schien dies ja schon zu kennen und außerdem war er kein Phani und daher nicht so viel wert. Natürlich wäre es lustig, ihn ihrer Mentorin vorstellen zu können. Sicher hatte noch niemand auf der Tiba Fe eins wie ihn zu gesicht bekommen. Er war zwar hässlich aber zumindest auch kurios und man könnte sicher viele Erkenntnisse über seine Herkunft herausfinden.

Lichter Tanzten vor ihren Augen und graue Schemen schrammten mit einem gummiartigen Geräusch an der Membran entlang. Sie konnte nicht erkennen, wohin der Weg führte. Da war kein Licht am Ende des Tunnels, nur Schwingungen und sich überschlagende Eindrücke von Welten, denen der Vortextunnel auf ihrer Reise näherte und sich wieder entfernte. Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie durch das Dazwischen wanderte, denn hier verging weder Zeit noch entstand irgend ein Verlust. Hatte man Hunger, wenn man in den VOrtex eindrang, dann hatte man auch Hunger, wenn man ihn verließ. War man müde, so fühlte man sich am Ende der Reise ebenso müde. Es verging keine Zeit, es verging nichts. Man hätte aus äußerer Sicht eine Million Jahreszeiten im Tunnel verweilen können, man währe um keinen Tag gealtert. Draußen verging keine Zeit. Im Inneren verstand man die Zeit nicht mehr. 

Mitten in ihren Gedanken, sah sie vor sich das Blitzen der Realität und machte sich auf den Sturz bereit. Die Öffnung in Angaworth hatte sie gelehrt sich auf alles gefasst zu machen. Doch als sie an der Reihe des Austretens war, geschah dies sanft und ohne Geräusche. Sie rutschte auf sandigen Boden und musste sofort an Draiyn Andiled denken, doch ihre Umgebung war kühl. Sie versuchte zu atmen, doch die Luft war seltsam hart und schmeckte bitter wie abgestanden er Faltersud. Vor ihr stand Ughtred und hatte die Arme ausgebreitet um sie notfalls aufzufangen und diese Aufforderung konnte sie nicht ausschlagen. Sie glitt nach vorn und fiel dem kleinen Mann in die starken Armen. Mit einem Handgelenk an der Schläfe drehte sie sich auf den Rücken und gab ein laszieves Stöhnen von sich. Ughtred ließ sie auf den sandigen Boden fallen und schüttelte genervt den Kopf. Da sah sie, dass er gelitten hatte. Es war nicht seine Haut oder seine Haltung, es waren seine Augen. Sie hatten die kosmischen Schrecken der Unendlichkeit erblickt und diese waren nicht für Wesen wie ihn gemacht. Sie gehörten den Alten oder deren Kindern, aber nicht sterblichen Wesen wie den Nyghs und kein Sterblicher, sollte mit ihnen in Kontakt treten. Chaosschild, Riese, Drache und Vortex – dies waren Dinge, die sich nicht nur auf den Geist sterblicher Geschöpfe auswirkten, sondern auch auf ihre Seelen.

Sie stand auf und machte für den Nächsten Platz. Die Öffnung ins Dazwischen befand sich in der Ecke einer soliden Mauer. Suchend tanzten die violetten Lichtblitze des Vortex durch den großen Raum. Wo waren sie hier gelandet?

Der Boden der steinernen Kammer war eindeutig deutlich größer als die Decke. Einen Augenblick dachte sie, der Vortex hätte auch hier die Realität verbogen, aber die Erbauer dieses Gelassen schienen diese Form in voller Absicht erzeugt zu haben. Alle vier Wände strebten in einem Winkel der Decke zu und gaben dem Ganzen etwas zutiefst Fremdhaftes. Hinzu kamen schmale Schlitze, an der Decke, die wohl Fenster darstellen sollten, aber so hoch waren, dass man unmöglich durch sie hindurch sehen konnte. Es gab eine Öffnung im Raum, deren Zargen ebenfalls schräg standen. Draußen schien ein Gang diesen Raum mit weiteren zu verbinden. Der Boden hier und im Gang war von grauem Sand bedeckt und es war unmöglich zu sagen, ob dies eine Folge der Elemente und der Zeit oder der Wille der Erbauer des Gebäudes war. 

Da es weder Möbel, noch anderes Interieur gab, konnte auch der Nutzen der Kammer nicht bestimmt werden. Sie war groß genug, um als Lager zu dienen, aber es gab keine Hinweise auf Güter oder Abdrücke im Sand, die eine solche Vermutung bekräftigt hätten.

Da trat Kyon aus den Lichtblitzen und dicht hinter ihm stolperte Odugme hervor. Der Barde rutschte in den Sand, aber Odugme fiel und Tal stürzte sofort zu ihm. Sie schob seine Maske nach oben und besah sich seinen Zustand. Erschrocken wischte sie ihm mit dem Handballen das dicke Blut von der Wange, dass aus seinen Nasenflügeln getreten war. Seine Augen flackerten und er schnappte nach Luft. Was hatte er nur gesehen, was jagte ihn?

Später wusste sie nicht mehr wie lange es dauerte, bis sich alle von dem Weg zwischen den Sternen erholt hatten, doch irgendwann, kam Kyon zu ihr und legte seine Hand auf ihre Schultern. Es war ein seltsamer Moment des Trostes, denn sie selbst hatte ja kaum unter der Vortexreise gelitten. Er nickte ihr freundlich zu und deutete auf den merkwürdig schiefen Durchgang.

»Wir sollten zumindest die Umgebung erkunden«, sagte er ohne Grimm in der Stimme.

Ughtred sagte: »Kann mir mal jemand helfen?«

Mit seinem kleinen Bartspiegel in der Hand stand er unter einer der schmalen Fensteröffnungen. Tal trat zu ihm und hob ihn hoch. Die Öffnung war jedoch so schmal und so dicht an der Decke, dass er den Kopf noch so schräg legen konnte, sehen würde er so nichts. Also nahm er den Spiegel zu Hilfe und beschrieb, was er erblickte: »Da ist eine schroffe Steinlandschaft und eine riesige rote Sonne. Wir befinden uns wahrscheinlich auf einem Hügel, aber rings umher gibt es gezackte Gebirgsformationen. Wahrscheinlich ein Tal oder zumindest Eine Senke. Es gibt kaum Vegetation. Tiere sehe ich auch keine und Leute scheinen auch keine da zu sein.«

Er schwieg und Tal ließ in auf den sandigen Boden herunter.

Dann sagte er: »Wenigstens scheint es nicht heiß oder zu kalt zu sein. Die Luft hier drinnen atmet sich schwer, aber wir werden uns daran gewöhnen.«

Kyon stöhnte und sagte: »Ich habe das Gefühl, man hätte mir einen Phani auf den Rücken gebunden.«

Der Nygh antwortete: »Denke, das liegt an der unterschiedlichen Schwerkraft.«

»Was soll das sein?«, wollte der Barde wissen und Tal dozierte: »Es ist die psionische Anziehungskraft der Tiba Fee. Damit sorgt sie dafür, dass wir nicht von kosmischen Kräften in die Schwärze des Nachthimmels gezogen werden. Wir können froh sein, dass diese Welt uns ebenfalls bei sich hält.«

Ughtred wollte noch etwas sagen, behielt dann aber seine eigene Meinung zum Thema Schwerkraft für sich. Sie waren so fortschrittlich, auf ihre Art so weise, aber dann wieder hielten sie sich an kindlichen Vorstellungen fest, die jeder Nygh mit seinen ersten Holzspielzeugen und dem Eintritt ins Erwachsenenleben abgibt. 

»Auf geht's«, sagte er schließlich und hob seine Umhängetasche mit dem letzten Proviant, den sie noch hatten vom Boden auf.

Das Gebäude in dem sie sich befanden, schien eine Art Tempel oder zumindest etwas vergleichbares sein. Es war still und groß und strahlte eine seltsam zeitlose Stille aus. Von dem Raum, in dem sie angekommen waren, führte ein Gang mit vielen weiteren, türlosen Durchgängen auf eine breite Treppe und weiter in das Gebäude hinein. Kyon entschied, sich das Ganze zuerst anzusehen, da er sich ein Bild von den hier lebenden Gorden machen wollte.

Die Gorden – sie waren die Erzfeinde der Smavari. Sie waren groß, stärker als Arwölfe und schreckliche Berserker im Kampf. Gnade hatte man von diesen Bestien nicht zu erwarten. Außerdem waren sie Barbaren und sprachen keine den Smavari bekannte Sprache. Also sie sprachen kein Smavari. Eine andere Sprache war für einen Silberwolf kein Sprechen.

Er überlegte laut, wie man sich mit diesen Leuten unterhalten sollen, kam dann aber zu dem Schluss, dass seine Pfeile ja eine universelle Sprache darstellten. Tal gab zu bedenken, dass sie zumindest versuchen könnte, mittels Psionik zu kommunizieren und Ughtred war der Meinung, dass Freundlichkeit eine weit bessere und ebenso universelle Sprache darstellten als das Kriegshandwerk.

Kyon zuckte mit den Schultern und ließ seinen Bogen aufschnappen. Er deutete den Gang hinunter. Dann sagte er düster: »Seht ihr das? Da hinten ist die Decke des Gebäudes eingebrochen.«

Ughtred blinzelte und fragte dann: »Was ist denn das? Was steckt denn da im Boden? Gehört das zur Architektur?«

Aber die über fünfzehn Meter langen schwarzen Säulen die hier durch die Decke ragten und zum Teil den Boden durchdrungen hatten gehörten ganz sicher nicht zum normalen Interieur dieses Gebäudes.

»Das sind smavarische Torpedos aus geschwärztem Silber. Unsere Schiffe werfen sie in großer Zahl und von weit oben auf feindliche Städte ab, um sie unbewohnbar zu machen. Dabei geschieht meist weder den Bewohnern, noch deren Ressourcen etwas. Die brauchen wir ja, wegen ihnen ziehen wir in den Krieg«, sagte Kyon monoton.

Ughtred trat an eins der Dinger heran. Es ragte schräg aus der Decke und hatte sich mit unglaublicher Wucht in den Boden gebohrt. Sein Durchmesser Betrug wenigstens einen Meter und es musste gut und gerne zwanzig Meter lang sein. Oben und unten lief es einfach spitz zu. Die Oberfläche war raus und schwarz korrodiert. Er strich mit der Hand darüber.

»Warum Silber?«, wolte er wissen.

Kyon sagte mit einem Schulterzucken: »Weil es uns gefällt.«

»Aber ist es nicht schädlich für eure Gesundheit?«

»Wenn euch solch ein Ding auf den Kopf fällt, was denkt ihr? Ist es schädlich für eure Gesundheit?«, fragte Kyon sarkastisch und berührte den gigantischen Torpedo.

Er spürte das Bitzeln des Metalls an seinen Fingerkuppen. Seine Handschuhe ließen diesen Bereich frei. Dann leckte er sich über die Finger, als könne er das Gift so lösen. Stattdessen begann nun auch seine Zunge zu kitzeln. Er lächelte und dachte an die vielen Sexspielzeuge aus Silber, die er mit Northrian ausprobiert hatte. Dann zog die Wolke des Verlustes über seinen Geist und er wandte sich ab. Er hasste es, wenn der Stumben seine Tränen sah. Das hatte etwas Perverses, als sähe ihm ein Tier beim Kopulieren zu. 

Schließlich rief er: »Hier ist nichts. Der Tempel ist leer und wahrscheinlich unbenutzt. Wenn die Perle hier wäre, hätten wir sie sicher gespürt. Ein derart mächtiges Artefakt wird sich ganz sicher auf uns auswirken.«

Ughtred rieb sich über die Stirn und fragte: »Ja? Was soll es denn nun genau sein Herr Barde?«

Kyon ignorierte ihn und wandte sich der anderen Richtung des Tunnels zu, doch der Nygh war nicht gewillt das Thema sofort wieder fallen zu lassen. Er wandte sich an Tal und wiederholte die Frage.

Nun strich auch die Hexe über die geschwärzte Haut der schrecklichen Waffe. Sie überlegte einen Moment und sagte dann leise: »Es spielt kaum eine Rolle Herr Meisterdieb. Es ist ein Artefakt aus längst vergangener Zeit. Wenn wir es nicht erschaffen haben, stammt es aus den Schmieden der Kar-Wesen und was die Götter erschaffen, wirkt sich auf jeden von uns aus.«

»Haben sie auch die Lopen erschaffen?«, wollte der Nygh wissen.

»Ja, ganz sicher.«

»Und dann auch deren Scheiße oder?«

Tal sah zu ihm herunter und verzog das Gesicht, sagte dann aber wie zu einem störrischen Kind: »Ja Ughtred, auch das.«

»Und wie wirkt sich die auf uns aus?«

»Sie stinkt.«

Ughtred rieb sich erneut über die Stirn als er davonging und leise murmelte: »Genau!«

 

Kyon stand mit einem Fuß auf der Treppe und sah sich zwei Feuerbecken links und rechts der Stufen an. Die Dinger waren erloschen, aber er kannte die Machart dieser Becken. Sie waren eindeutig Smavarisch.

»Sind das Beutestücke?«, fragte Tal, der neben ihn getreten war. 

Kyon nickte und fuhr mit dem Finger über den Rand eines der Becken. Dann ging er langsam die viel zu tiefen Stufen hinauf.

Tal flüsterte leise: »Sie waren also auch bei uns …«

Oben angekommen ging der Barde in die Hocke. Es war Tag, schätzungsweise Mittag und das Gebäude schien sich tatsächlich auf einer Anhöhe zu befinden. Keine einhundert Schritte von ihm entfernt befand sich eine Siedlung aus seltsamen Strukturen. Er ging noch weiter in Deckung und gab den anderen ein Handzeichen, es ihm gleich zu tun. Wenn die Pferdemänner sie hier oben entdeckten, war ihr Fleisch keinen Faltersud mehr wert.

Die Gebäude dort unten gehörten sicher dem selben Kulturkreis wie jenes, in dem sie durch den Vortex gelandet waren an. Allerdings war der Tempel hier oben eckig, während unten in der Siedlung runde Formen vorherrschen. Die Häuser schienen alle in ihrem Grundriss nur ein Zimmer zu beherbergen, waren aber dafür fast alle mindestens drei oder gar vier Stockwerke hoch und hatten ein kuppelförmiges Dach. Türen gab es überhaupt keine und auch die Fensteröffnungen schienen nicht mit Glas oder wenigstens Leder geschützt zu sein. Kyon überlegte, wie schwer es sein musste, Sklaven dazu zu bringen, ein Haus rein zu halten, welches ständig geöffnet war. Dann dachte er an den sandigen Boden des Tempels. Barbaren eben, was wollte er von solchen Wesen erwarten? Wahrscheinlich kannten sie das Konzert häuslicher Reinlichkeit nicht einmal und hielten sich ihre Sklaven ausschließlich zum Vergnügen.

Ughtred legte sich flach auf den Boden und machte Odugme und dem Franzmann ein Zeichen, es ihm geich zu tun. Dann kroch er neben Kyon und Tal. Die beiden waren bis zum Rand des Hügels vorgedrungen und lagen nun ebenfalls flach auf dem Boden. Ihnen stand die Anspannung in die Gesichter geschrieben. Die Pferdemänner waren die Erzfeinde der Smavari und in eine ihrer Niederlassungen einzudringen war sicher ähnlich gefährlich, wie sich einem Drachenhort zu nähern. Ein grimmiges Lächeln stahl sich auf Ughtreds Lippen und er lächelte wirklich selten.

»Ich sehe viele Bewohner und nur zwei oder drei Wächter, aber selbst die Kinder, wenn die kleinen Kinder sind, tragen Waffen«, sagte Kyon verdrossen.

»Und die Perle?«, wollte Tal wissen.

Ughtred, der nun neben ihnen lag, sagte: »Was ist das für ein kleines Gebäude hier vorne?«

Er deutete auf den vermeintlichen Eingang des Dorfes, wo sich ein wenige Schritte großer Bau aus dunklen Steinen befand. 

Kyon zuckte mit den Schultern und murmelte: »Wenn da die Perle ist, warum dann keine Wachen?«

Tal sagte: »Ich seh mir das Mal an!« Und schon hatte sie sich auf den Rücken gedreht, ihre Augen geschlossen und ihren Körper verlassen. Aus dem Augenwinkel sah sie noch, wie Kyon an ihren Nippeln herumspielte, aber sie lachte nur im Äther und schoss den Hügel hinunter.

Im selben Momen – oder sogar schon Minuten, bevor sie die Idee hatte ihren Körper zu verlassen – begann der Sog. Es war übermächtig und zerrte an ihrer Essenz. Eben hatte sie noch eine klare Richtungsvorgabe, huschte den Hügel hinunter und versuchte sich an den Gebäuden zu orientieren und schon wurden die von ihr erschaffenen astralen Schwerkraftverhältnisse verfälscht. Sie wurde auf das kleine eckige Gebäude zugezogen. Wie ein Fisch an einer silbernen Angelschnur bewegte sie sich auf dieses unvermeindliche Schicksal zu. Sie wehrte sich, legte neue Schwerkraftpunkte fest, orientierte sich an der Allgewalt der hiesigen Sonne und dem Planetenkern, doch nichts auf dieser Welt hatte mehr Gewicht, als der Inhalt der kleinen kantigen Struktur. Sie raste einmal daran vorbei, schaffte es mit viel Geschwindigkeit dem unmittelbaren Sog zu entkommen und versuchte etwas über die Pferdemänner zu erfahren. Sie lebten hier. Es schien weder eine Wache, noch eine schwere Bewaffnung zu geben. Keins der Häuser hatte eine Tür. Dennoch war offenbar jeder, bis hinab zu den Kindern bewaffnet. Jetzt bei Tage schienen sie verschiedenen Gewerken nachzugehen, Sie waren eindeutig Jäger und ernährten sich von Wild. Nahe der Behausungen konnte sie auch kleine Beete erkennen, aber ansonsten gab es keine Anzeichen für Ackerbau. Auch fand sie weder eine Festung, noch ein Haus, dass wesentlich  größer als die anderen war und daher die Unterkunft eines Fürsten hätte sein können.

Ein letztes Mal gab sie dem Sog nach und ließ sich in Richtung des kleinen, einzig eckigen Gebäudes ziehen, doch kurz davor überwog ihre Angst und sie wehrte sich hineingezogen zu werden. Es kostete sie all ihre geistigen Kräfte dem Ziehen zu widerstehen und nur der Rückzug, entlang der goldenen Fangleine, die ihre Seele mit der Realität und ihrem Körper verband, rettete sie vor dieser unheiligen kosmischen Kraft.

Dann öffnete sie die Augen und sog scharf die stinkende Luft Granbands in ihre Lungen. Sie würgte und verpasste Kyon eine Ohrfeigen. Dieser grinste böse und legte dann fragen den Kopf schief.

»Sie scheinen keine Festung zu haben, ernähren sich offenbar von der Jagd und ich konnte keine Anführerstruktur erkennen. Wenn die Perle hier ist, dann eindeutig in dem kleinen Raum, aber Herr Sliyn, da stimmt etwas nicht.«

Er zuckte mit den Schultern, als wolle er sagen: ›Was hat denn bisher bei dieser verrückten Unternehmung gestimmt?‹

Einen Moment schwieg sie und sah Ughtred an. Dieser rieb sich die Stirn, als wüsste er, was sie gleich sagen würde.

»Da unten, in diesem winzigen Gemäuer, ist etwas episches. Ja, ich glaube sie ist da, aber ich befürchte, wir werden ihr nicht gewachsen sein!«

»Blödsinn«, murrte Kyon. »Ich bin nicht durch die Fänge eines scheiß Drachen gegangen, um mich dann hier von ein paar Pferdemännern in die Flucht schlagen zu lassen.«

»Das ist es nicht. Es sind nicht die Gorden. Es ist etwas übernatürlich starkes, dass an meiner Seele gezogen hat.«

Kyon deutete auf ihr Mieder und sagte: »Sicher habt ihr nur meine Hände auf eurem dürren Leib gespür Frau Hexe.«

Ughtred kniff sich in die Nasenwurzel und sagte verdrossen: »Herr Barde, ist dies die richtige Zeit für solche Leckereien?«

Kyon wollte eine Hand ausstrecken, aber Tal schlug mit dem Panzerhandschuh ihres Vaters danach und Kyon schrie schmerzhaft auf.

»Seid ihr verrückt geworden?«

»Kyon, da unten ist etwas zutiefst Verheerendes. Es ist fraglich, ob wir einen Gewinn aus seiner Entdeckung machen können«, versuchte sie es erneut.

Doch der Sliyn wurde immer trotziger. Er zog die Nase hoch und spuckte Rotz in den staubig grauen Wüstenstand.

»Ihr wolltet doch unbedingt den Spuren meines irren Vaters hinterher irren. Eure Akkatha lacht sich sicher ihr Höschen nass, wenn sie uns hier in ihrem Kristallspiegel zusieht. Was jetzt? Drehen wir um? Sagen wir, wir haben die Perle gefunden, aber sie war nichts für uns?«

Tal schluckte. Sie waren einen weiten We gegangen. Dennoch war ihr Gefühl eindeutig. Dieses Ding da unten bei den Gorden, war nichts gutes. Niemand würde hier erhoben weggehen. Sie hatte es gespürt. Die Pferdemänner wussten es. Sie schienen den Inhalt des kleinen Gebäudes nicht einmal zu beschützen. Es war vielmehr so, dass sie den Rest der Welt zu schützen schienen.

»Wir sehen sie uns an«, sagte sie.

»Und dann stecken wir sie ein und kehren als reiche Smavari nach Shishney zurück«, donnerte Kyon.

Tal schwieg, aber ihr Blick traf sich mit dem des Nyghs. Für ihn spielte der Reichtum und das Ende dieser Unternehmung ohnehin eine ganz andere Rolle als für sie und Kyon. Sie hatte mittlerweile verstanden was ihn trieb. Es war tatsächlich die Freundschaft und den Rest machte seine natürliche Neugierde und Abenteuerlust. Doch er würde niemals für Reichtum oder einen kuriosen Schatz in den Tod gehen.

Kyon deutete den Hügel hinunter und befahl: »Wir warten die Dämmerung ab und schleichen hinunter.«

Tal sagte ruhig: »Sie werden nachts die Wachen kaum abziehen.«

»Na und? Haben wir nicht einen Meisterdieb? Für was haben wir den Kerl all die Zeit mit uns geschleppt? Soll er noch sinnloser gewesen sein als der Sarg und die Gebeine eures toten Bruders?«

Tal kämpfte mit den Tränen. Also gut. Sollte er seinen Willen haben. Und ja, er hatte nicht unrecht. Ihre eigene Eitelkeit hatte sie hierher gebracht und ja, wahrscheinlich war es genau das, was ihre Mentorin Akkatha von ihr erwartete.

Ughtred legte ihr die Hand auf den Arm und sagte: »Er hat ja irgendwie recht. Ich machˋs.« Und damit stand er auf und ging einige Schritte an der Sichtgrenze des Hügels entlang, um sich ein besseres Bild von dem Areal machen zu können. Er würde in jedem Fall warten, bis dieser gigantische rote Glutball verschwunden wäre. 

»Hoffentlich gibt es überhaupt eine Nacht auf diesem öden Brocken«, murrte er und hob die Hand an die Stirn, um gegen das Licht besser sehen zu können. Es war nicht weit. Kaum mehr als zweihundert Schritte. Wenn es dunkel genug wäre, würde er den Hügel hinunter schleichen, in das kleine Gebäude, welches wie alle anderen keine Tür zu haben schien, eindringen und die blöde Perle klauen. Von den Gorden wusste er so gut wie nichts, aber es kümmerte sie zweifellos nicht, was andere über sie dachten, wenn sie Welten überfielen und alles was nicht niet- und nagelfest war mit sich nahmen. Davon zeugten zumindest die beiden Feuerbecken in dem Gebäude hinter ihm. Die Silberwölfe hatten sie ihnen mit Sicherheit nicht als Souvenirs mitgegeben.

Vorsichtig, um nicht gesehen zu werden, kam er zu den anderen zurück und setzte sich auf den Boden. Er erklärte seinen Plan und dass es wichtig sei, die Nacht abzuwarten. Dies musste er nicht zweimal sagen, denn Tal und Kyon taten sich ohnehin schwer mit dem Sonnenlicht. Nur der seltsame Fremdling fragte nach, auf was gewartet wurde und was als nächstes geschehen würde. Ughtred wunderte sich nicht schlecht, denn Franz lernte mit jeder verstreichen den Minute mehr der smavarischen Sprache. Das musste etwas psionisches sein, oder er kannte die Sprache schon und hatte sie nur vergessen. Vielleicht litt er an einer Art Gedankenverlust durch seine schrecklichen Erfahrungen im Zwischenraum. Vielleicht war er aber auch nur ein Meister rin Sachen Linguistik. Er selbst würde diese Sprache niemals akzentfrei und grammatikalisch korrekt sprechen können. Die Vielen Zischlaute und unzähligen Varianten das ›Y‹ auf möglichst seltsame Art einzuflechten und auszusprechen machten ihm dies unmöglich.

Sie redeten wenig und warteten einfach nur ab und es ergab sich, dass es viele Stunden dauerte, bis die rote Sonne Anstalten machte, sich zur Ruhe zu begeben. Die Tage hier mussten wenigstens doppelt oder gar drei Mal so lang wie die auf der Tiba Fe sein. Als der Glutball allerdings hinter dem Gebirge verschwunden war, wurde es binnen weniger Minuten stockdunkel und merklich kühler. 

Tal fröstelte und beäugte Kyons Mantel, doch es war wie immer Ughtred, der ihr seine Jacke anbot. Dann zuckte er mit den Schultern, rieb sich über die Stirn und machte sich für den Abstieg bereit. Ähnlich wie im Drachenhort, ließ er einen Großteil seiner Waffen und vor allem seine Rüstung zurück. Er wollte schnell rennen können und sich so leise wie möglich bewegen. Vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzend, ging er geduckt den Hügel hinunter und blieb immer dann stehen, wenn sich unten jemand bewegte. Die Pferdemänner hatten mit dem Untergehen ihrer Sonne die Straßen von Grandband verlassen und nur noch wenige von ihnen machten hier die Runde. Es sah nicht so aus, als würden die Übriggebliebenen Wache stehen oder einen bestimmten, der Nacht geschuldeten Beruf ausüben. Nur zwei oder drei von ihnen standen reglos an einer Art Stange an einer Hauswand. Sie könnten Wachen sein, dachte der Nygh, und versuchte sich möglichst so zu nähern, dass er ihrer Aufmerksamkeit entging.

Er erreichte ungesehen das erste Haus und duckte sich unter einem Fenster hindurch. Es gab tatsächlich weder Glas, noch andere Materialien, die man anderen Orts vor solche Öffnungen zu bringen bevorzugte. Die Pferdemänner mochten es offenbar luftig. 

Neugierig lugte er über das abgerundete Fensterbrett und sah zu, wie einer der Pferdemänner den Raum dahinter betrat. Der riesige Kerl nahm seinen gezackten Helm ab und gähnte laut. Sein Mund teilte sich nicht vertikal, wie es bei Nyghs und Silberwölfen der Fall war, sondern horizontal und erinnerte damit eher an einen großen Hundskopf mit ausladenden Lefzen. Sein Kiefer war mit einer Reihe äußerst starker Zähne bestückt, die in ihrer Anordnung an kein Tier erinnerten, welches Ughtred kannte. Auch hatten die Gorden offenbar zwei Daumen, einen auf jeder Seite des Mittelhandknochens und lange, äußerst kräftige Finger mit gebogenen Klauen. Der Mann – als er sich auszog gab es keinerlei Zweifel an dem geschlecht dieses Wesens – streckte sich und legte sich dann auf eine dünne Matte, wo er die Arme hinter dem Kopf verschränkte und auf etwas zu warten schien. Und tatsächlich betrat kurz drauf ein sehr kleiner Gorde mit zierlichen Gliedern den Raum. Der Große tat so, als sei ihm die Anwesenheit der Kleinen unwillkommen und knurrte wie ein Arlöwe. Die Kleine jedoch setzte sich neben ihn und als er die Hand nach ihr ausstreckte, biss sie ihn und der Mann lachte kehlig. Dann begann er leise in einer guturalen Sprache zu murmeln und die Kleine rollte sich neben ihm zusammen und hörte zu, bis sie einschlief.

Ughtred war fasziniert. Diese Wesen hatten Kinder und sie erzählten ihnen ganz eindeutig Geschichten. Sie schienen nicht im Mindesten die Monster zu sein, zu denen die alten Geschichten sie machen wollten. Oder täuschte er sich? Würde die kleine Pferdemännin ihn essen, wenn man ihr die Gelegenheit dazu gab?

Er schlich weite rund versuchte diese Gedanken zu vertreiben. Es brachte nichts, sich um solche Dinge Sorgen zu machen. Sie würden ihn nicht bemerken – er war der Meisterdieb!

Drei der runden Häuser musste er hinter sich bringen und einmal eine offene Stelle überbrücken, auf die einer der vermeintlichen Nachtwächter hätte sehen können, doch er war ein Schatten in der Dunkelheit und tatsächlich bemerkte ihn niemand. Dann hatte er den Platz erreicht und die Perle war in greifbarer Nähe. Er musste nur noch ungesehen in den kleinen Raum gelangen, der eindeutig ebenfalls nicht versperrt war.

So leise wie möglich schlich er sich näher. Das Gebäude glich der restlichen Ansiedlung zwar in seiner Beschaffenheit, aber es hatte architektonisch einen ganz anderen Stiel. Vor allem war es würfelförmig. Wo die anderen Häuser alle einen runden Grundriss aufwiesen, war dieses hier viereckig oder sogar quadratisch. Die Wohnhäuser waren mehrstöckig und hatten wiederum runde Kuppeldächer. Hier gab es ein Stockwerk und ein flaches Dach. Die Häuser hatten abgerundete Türöffnungen und Fenster – hier gab es einen geraden Eingang und zwei schmale, ebenfalls gerade Fensteröffnungen. Es war, als stamme es zumindest aus einer anderen Epoche oder war von einem anderen Volk der Pferdemänner errichtet worden. Nur der Baustoff schien der selbe zu sein. Es handelte sich um ein dunkles, eindeutig per Hand bearbeitetes Gestein.

Trotz der Dunkelheit konnte Ughtred die Einzelheiten seines Ziels erkennen. Große Brocken waren aus den Wänden gebrochen und nur notdürftig repariert worden. Das kleine Gebäude war eindeutig eine Art Schrein und er wurde nicht sonderlich fürsorglich instand gehalten. Jedes Haus der Nyghs wurde liebevoll gepflegt. Hier schien man eher Abstand zu halten.

Als er sich den Eingang näher ansah, entdeckte er davor eine große Menge sehr dünner Glasscherben. Er versuchte zu verstehen, ob der Schrein doch einst mit Fenster versehen war, aber die Scherben auf dem Boden waren winzig und schienen alle gebogen zu sein. Dann entdeckte er mehr oder weniger unzerbochene Glaskugeln zwischen den Scherben. Sie waren dunkel und schienen aus eben dem dünnen Glas zu bestehen. Etwas größer als ein Augapfel und zweifellos hohl, konnten sie kaum mehr als zwei, drei Krähenfedern wiegen. Wenn er die Menge der Scherben überschlug, mussten hier tausende zerbrochener Kugeln auf dem Boden verstreut zu liegen. Er rieb sich die Stirn und versuchte dies mit dem Gegenstand seines Hierseins in Zusammenhang zu bringen. Galskugeln, schwarze Perlen, machten die Pferdemänner Kopien des Artefaktes? Sah so die Schwarze Perle von Granband aus? Ärgerlich begriff er, dass die Scherben es nicht gerade leichter machen würden, den Schrein zu betreten. Es würde kaum möglich sein, nicht auf Glas zu treten und damit knirschende Geräusche zu verursachen. Vorsichtig trat er auf eine der Scherben und versuchte die entstehenden Laute so gering wie möglich zu halten. Er hielt inne und lauschte. Nichts geschah. In den Schatten geduckt wartete er viele Herzschläge und rechnete mit sich näher den Schritten, doch er blieb unbehelligt. Also gut, dachte er, es gilt.

So leise wie nur eben möglich schlich er Schritt für Schritt in das Chaos aus Scherben hinein und schließlich erreichte er die Öffnung des kleinen Kubus. Natürlich war klein relativ. Für ihn war die Türöffnung gigantisch, denn sie hätte drei Nyghs übereinander einlassen können, aber wie die Gebäude der Silberwölfe, war auch hier alles überdimensioniert und im Vergleich zu den Unterkünften der Pferdemänner war der Schrein wirklich klein. 

Ughtred lugte in die Dunkelheit. Es gab offenbar keinen Mond und auch die Sterne schienen die Welt der Gorden zu meiden. Doch Ughtreds Augen konnten dennoch gut genug sehen. Es gab nur einen einzigen Raum und hier war sie. Auf einem breiten, schwarzen Sockel, stand, ohne eine Halterung, als würde sie jeden Moment herunterrollen, die Schwarze Perle. Sie war deutlich größer als er erwartet hatte. Sie war so groß wie sein Kopf, tief schwarz und makellos. Wie eine echte Perle sah sie nicht aus. Es handelte sich eher um eine glatt geschliffene Steinkugel. Die Oberfläche war weder glänzend, noch matt und er hätte auch nicht sagen können, ob sie wirklich schwarz war. Sie schien eher das Licht zu schlucken und weiß kaum Reflexionen auf. Gerade wollte er nach ihr greifen, als er erschrak.

Hinter ihm räusperte sich jemand und dann intonierte er mit rauer Stimme einen guturalen Reim: 

»DOR GORAD ORG GORDUBAN NARID AR ARUNAD ORG

AD NERID MA GORD AR DORAM MAROD«

Er wandte sich um und da stand einer der Pferdemänner. Er trug eine Art Tunika und nur eine seiner Schultern wurde von einer Rüstungsberge aus rötlichem Metall geschützt. Sein Gesicht wurde von einem hier offenbar typischen Helm verhüllt, doch gerade als er ausgesprochen hatte, nahm er die Maske ab und entblößte seine kräftigen Kiefer. Er war eindeutig alt. Seine Wangen waren eingefallen und der Kiefer hatte an Kraft verloren. Die rötlichen Augen hatten etwas Ausgeblichen es und er schien müde zu sein und die Mähne, die bei den anderen Pferdemännern die breiten Schultern zierten waren grau und verfilzt.

Er wiederholte seinen Spruch und hob vorsichtig die Hand. 

Ughtred wollte nach der Perle greifen, da ertönte neben dem Alten ein ziehendes Geräusch. Ein zweiter Gorde trat in seinen Blickwinkel und dieser hatte eine Waffe auf seiner Schulter. Ughtred kannte die schrecklichen Feuerlanzen der Silberwölfe und Begriff, dass das Ding auf der Schulter des Kriegers eine Feuerwaffe sein musste. Es war gedrungener und hatte mehrere Rohre, während besagte Feuerlanzen schlank, lang und eleganter wirkten, aber er war sich sicher, die Gordenwaffe würde ähnlich verheerend wirken.

Er traf eine Entscheidung. So schnell er konnte wandte er sich der Perle zu und griff danach. Das Dinge würde schwer sein, aber er musste handeln. Jetzt oder nie. Doch der Pferdemann war schnell. Er riss die Waffe hoch und betätigte den Auslöser. Ein saugendes Geräusch erscholl und etwas Glühendes schoss durch die Dunkelheit in das kleine Gebäude hinein. Wäre Ughtred nicht ohnehin in Bewegung gewesen, der Kerl hätte ihn getroffen und zu einem glimmenden Stück Nyghfleisch verwandelt. Stattdessen rollte sich Ughtred ab, prallte gegen die Seitenwand des Raumes, rappelte sich auf und rannte auf die Pferdemännner zu. Diese, überrascht von der Wendung, versuchten ihn einzufangen, doch er war zu klein und viel zu flink. Der Alte hob abwehrend die Hände und ein weiterer, den Ughtred nicht hatte sehen können, weil er seitlich am Gebäude gestanden hatte, stolperte über seine eigenen Beine und viel dem mit der Waffe vor die Füße. Hinzu kam eine zierlicher Pferdemann, vielleicht eine Frau, die etwas rief und ebenfalls nach Ughtred griff, ihn jedoch wie die anderen verfehlte. 

Er rannte zwischen Beinen hindurch, machte einen Ausfallschritt und rettete sich, wie eine wilde Giebelkatze, in die Dunkelheit. Zuerst wollte er den Hügel hinauf laufen, doch dann dachte er an die Anderen und versuchte zumindest aus dem Lichtschein der immer meher werdenden Lampen neu hinzukommender Pferdemänner zu entkommen.

Oben an der Kante lagen Tal und Kyon nebeneinander und sahen dem Treiben zu. Genervt fragte Kyon: »Hat er sie wenigstens?«

»Ist doch jetzt egal. Die haben auf ihn geschossen. Wir müssen ihm helfen!«

Sie wollte aufstehen, aber Kyon legte ihr die Hand auf den Arm und schüttelte energisch den Kopf. Dann zischte er: »Nein, noch nicht. Der schafft das auch so. Wir haben noch Möglichkeiten.«

»Möglichkeiten? Ihr und eure Möglichkeiten könnt mir gestohlen bleiben. Ich muss ihm helfen!«

Sie wandte sich zu Odugme, der ein wenig weiter hinten kauerte und gab ihm den stummen Befehl, sich zum Eingang des vermeintlichen Tempels zurück zu ziehen und den kleinen Mann aus dem Zwischenreich mit sich zu nehmen, aber der Phani missverstand ihr Zeichen, stand auf und kam auf sie zu.

Sie versuchte ihn noch zu stoppen, als Kyon sie zischend auf den Fehler aufmerksam machte, aber es war zu spät. 

Von unten waren laute Gordenstimmen zu hören. Man hatte sie entdeckt!

Ergeben stand Kyon auf und wandte sich dem Dorf unter ihm zu. Es waren zwischenzeitlich sicher einhundert Gorden, die sich auf dem kleinen Platz versammelt hatten. Sie trugen Laternen und viele von ihnen hatten kurze Schwerter, Lanzen und schwere Feuerwaffen, die sie auf den Schultern trugen mitgebracht. Sie waren gerüstet und machten einen mehr als wehrhaften Eindruck.

Kyon schob sich die Haare aus der Stirn und murmelte: »Riesen, Drachen, Untote – was sind da ein paar bis an die Zähne bewaffnete Gorden? My Lady …« Er streckte Tal die Hand hin und half ihr aufzustehen.

Unterdessen hatten sich die Pferdemänner – und -frauen, denn es waren zweifellos Individuen beiderlei Geschlechts in dem Pulk aus Leuten vertreten – ein wenig beruhigt und viele von ihnen deuteten den Hügel hinauf. Einer von ihnen, ein wahrer Riese mit Pranken wie ein Werbär, war schon einige Meter aufgestiegen, gefolgt von einer Frau und dem Alten, der immer noch versuchte die Menge zu beruhigen und sich darum immer wieder umsah. Dann rief er etwas dem Riesen zu und dieser blieb stehen und es kam zu einer hitzigen Diskussion. Schließlich schien sich der Alte durchzusetzen, denn die Frau unterstütze ihn offenbar. Langsam kam er den Hügel herauf und der große Krieger und die Frau blieben einige Schritte hinter ihm.

Kyon streckte seine Hand aus und sein Bogen, der noch auf dem Boden gelegen hatte, schnellte hinein. Tal trat es dem Sliyn gleich und wollte Raguels Speer levitieren lassen, doch nichts geschah, also bückte sie sich kokett und hob ihn auf konventionelle Weiße auf.

Beruhigend hob der Alte die Arme und machte ein Zeichen, unbewaffnet zu sein. Nur was wollte er damit bezwecken? Unten wartete die Meute nur darauf sich auf die smavarischen Erzfeinde zu stürzen. Wollte er sich über sie lustig machen?

Kyon ließ einen Pfeil auf die Bogensehen schnellen, zielte aber nicht auf die Pferdemänner. Er hob die Hand und versuchte möglichst gelassen zu wirken. Ein Schuss aus einer der Energiewaffen und es wäre vorbei mit seiner Gelassenheit.

Der Alte winkte und wiederholte seinen Spruch und kam auf etwa zehn Schritte heran.

In diesem Moment erschien Ughtred hinter Tal und sagte außer Atem: »Sie haben Feuerwaffen.«

Tal zischte: »Ist uns aufgefallen.«

So standen sie zu fünft auf dem Hügelkamm und erwarteten das Urteil der Gorden. Doch was dann geschah, hatten sie nicht erwartet. Der Alte griff an seinen Gürtel und holte einen smavarischen Wissensspeicher hervor. Der Datenkristall erglomm in der Dunkelheit der Nacht und tauchte das seltsam längliche Gesicht des Alten in ein fahles grünes Licht. Als er nun wieder zu sprechen begann, waren seine Worte fast zu verstehen. Er sprach Smavarisch!

»Koin Loid! Nie Kamfen!« Es war ihm anzuhören, dass er es nicht gewohnt war diese Worte zu sprechen und seine Stimmbänder und sein andersartiger Mund machten ihm diese Aufgabe auch nicht leichter, doch der Datenkristall gab ihm die Worte vor und er intonierte sie so gut er es eben vermochte. Als er sie mehrmals wiederholt hatte, gingen sie ihm leichter von der Zunge und waren entsprechend besser zu verstehen: »Kein Leid! Nicht Kämpfen!«

Kyon wollte etwas erwidern, aber Tal trat vor und sagte: »Wir sind ebenfalls nicht für den Kampf hierher gekommen. Doch wir sind auf einer Queste und wir werden uns nicht abhalten lassen, diese zu erfüllen.«

Der Alte machte wieder seine beruhigende Handbewegung und deutete auf das Dorf unter ihm. Dann sagte er: »Grandband, sitzen, sprechen!?«

Sie sahen sich an. Tal legte Kyon die Hand auf den Arm mit dem Pfeil. Sie war es leid zu kämpfen. Der Tod machte ihe nichts aus, aber in der Tiefe ihres Herzens sehnte sie sich nach der Ruhe der elterlichen Umgebung. Nun verstand sie die traurigen Blicke ihrer Mutter und auch die wissenden des Vaters. Sie hatten beide gekämpft, Blut vergossen und zahllose Leben genommen. Dann hatten sie sich zurückgezogen und sie, Tal, hatte sie für Feiglinge und Langweiler gehalten. Was wäre daran, diese Wesen hier abzuschlachten oder bei dem Versuch dabei selbst ums Leben zu kommen? Wo wäre der Gewinn? Ihr Geist würde nicht zu einem Mond auffahren, um dort für immer mit Gleichgesinnten zu tanzen. Sie wusste nicht einmal, ob Srolldur – Gargog Tschurschn, der Alte sagte ihnen später, dass die Welt auf der sie sich befanden diesen Namen trug – überhaupt einen Mond hatte.

So ließ Kyon den Bogen sinken und auch Ughtred steckte seine glimmende Axt in den Gürtel und stemmte die Fäuste in die Hüften. Dabei sagte er: »Aber der Dicke da unten ballert nicht mehr mit seinen Feuerbolzen auf mich, das wir uns da verstanden haben!«

 

Die Bewohner der Siedlung hatten niedrige Schemel für die Gäste herbeigebracht und viele saßen nun um sie herum auf dem kleinen Platz in der unmittelbaren Nähe des Schreins der Schwarzen Perle von Granband. Gargog Tschurschn schien das Wort zu führen, aber die Frau, ihr Name lautete Schogatull schogHortsan, schien ihm in nichts nachzustehen. Im Gegenteil, er war wohl eine Art Ältester Berater, während sie als Kriegerin das Sagen zu haben schien. Auch der Riese unter den Gorden und zwei drei weitere Bewohner Granbands hatten sich in den engeren Kreis zu den vermeintlichen Feinden begeben. Keiner von ihnen verstand die Smavari, doch Schogatull übersetze mit Hilfe des Kristalls so gut er konnte.

Tal stellte sich und die anderen vor und verhaspelte sich wie immer bei dieser Aufgabe. Aber natürlich konnte sich ja ein Sliyn nicht selbst vorstellen. Bei Kyons genereller Wortkarg heißt, wäre dies ohnehin nicht möglich gewesen. Andererseits spielten ihre Ränge oder Hintergünde für die Pferdemänner auch wirklich keine Rollen. Sie waren Eindringlinge auf einer törichten Queste und mussten nun als Freund oder Feind eingestuft werden. Innerhalb der hiesigen Gesellschaft schien es zwar den Rat zu geben, der sich nun zusammengefunden hatte, aber die anderen Pferdemänner machten einen ebenso interessierten Eindruck wie jene im engeren Kreis und immer wieder kamen Zwischenfragen aus den hinteren Rängen, welche auch sofort und so gut wie möglich übersetzt wurden.

Natürlich wollten die Gorden wissen, ob mit einem Angriff seitens der Silberwölfe zu rechnen war. Doch falls sie Angst vor einem solchen Ereignis hatten, zeigten sie diese nicht im geringsten. Als Tal ihnen erklärte, dass außer ihnen niemand hierher unterwegs war, schienen sie ihnen darüber hinaus zu glauben. Es gab in Kriegsberichten Erzählungen über entkommene smavarische Folteropfer seitens der Gorden. Diese Leute hier schienen jedoch von ganz anderer Art zu sein.

Tatsächlich erklärte Schogatull ihnen schließlich den Grund für die generelle Lebenshaltung der Bewohner von Srolldur. Sie waren vor langer Zeit, vom gordischen Reich abgeschnitten worden. Irgend etwas an ihren Vortextoren schien nicht zu stimmen und so waren sie nicht länger in der Lage, mit der Gemeinschaft zu kommunizieren. Im Laufe der Generationen ohne Kriege und Überfälle veränderte sich das Wesen der Pferdemänner. Srolldur war eine stille, große Welt ohne wertvolle Ressourcen. Es war nicht schwer hier zu überleben, denn es gab genügend Wild zur Jagd und schmackhafte Pilze, die kleine Gemeinden ernähren konnten. Der Krieg hatte die Gorden von Srolldur vergessen und so hatten sie von ihm abgelassen. Auf die Frage hin, was es mit der Schwarzen Perle auf sich hatte, senkte Schogatull den länglichen Schädel. Er murmelte einige Sätze in seiner eigenen knurrenden Sprache, doch als er aufblickte war etwas wie ein mildes Lächeln auf seinen fremdartigen Zügen zui erkennen.

Er sagte etwas in die Menge und ein Raunen ging durch den Kreis. Dann übersetzte er seine eigenen Worte. Er hatte seinen Leuten gesagt, dass diese Gäste wissen wollen, was es mit dem Globus auf sich hatte. Viele der Pferdemänner gaben nun knurrende Laute von sich, die aber offenbar eine Art Lachen darstellten.

Doch es stellte sich schnell heraus, dass es sich bei diesem Lachen um eine Gefühlsregung der Resignation handelte. So berichtete der Alte von einer Zeit, lange bevor sein Volk die Welten des heutigen Gordischen Reiches bereist hatte. Zu dieser Zeit aber herrschten die Alten Wesen über die Welten und sie führten schreckliche Kriege untereinander. Vierzehn verschiedene Aspekte dieser Wesen gab es und die Wirren ihrer Konflikte waren unüberschaubar. Hier auf Srolldur Hausten Alte Wesen die Städtebauer waren. Doch ein anderer Aspekt, ihre Feinde, bereiste die Welten in gigantischen Gerätschaften und bekämpften alles und jeden mit scheußlichen Waffen. Tausende und abertausende der Globen kamen so zum Einsatz. Aus weiter höhe abgeworfen, landeten sie auch auf dieser Welt und löschten alles Leben, welches sie berührten in sekundenschnelle in Luft aus. Ja, dies sei die Kraft des Globus. Alles Leben, das mit ihm in Berührung kommt, ist nicht mehr. Es löst sich auf, wird desintegriert und nicht einmal seine Atome scheinen übrig zu bleiben.

Beid diesen Worten murmelten viele der Pferdemänner und der Alte übersetzte ihre Worte mit: »Und auch die Seelen der Aufgelösten fanden niemals heim!«

Dann wartete er einen Moment und sah die Fremden an. Kyon schüttelte still den Kopf, aber Tal sagte: »Die Perle löst Leute auf?«

Gargog nickte stumm und sagte dann: »Sie löst jegliches Leben auf. Egal ob Pflanze, Tier oder Frau und Mann, alles vergeht in ihrer Nähe.«

»Kann man sie mit einem Werkzeug, einer Zange oder so wegheben?«, wollte Ughtred wissen.

Der Alte schüttelte den Kopf und sagte: »Ein Kraftfeld hebt den Globus auf dem Sockel auf dem sie liegt. Es waren unsere Ahnen, die ihn hier sicherten.«

Tal fragte: »Wenn es tausende waren, wo sind die anderen hin? Sind es etwa die Scherben?«

Da erzählte der Alte weiter. Als die Feinde der Alten Wesen vergangen waren, schien man die Waffen neutralisiert zu haben. Denn sie wirkten wohl ebenfalls gegen ihre Erbauer. Doch diesen einen Globus, hatten sie wohl vergessen. Er lag lange Zeit hier unter dem Sand der Steppe verborgen, bis ihn vor vielen tausend Sonnenzyklen die Ahnen der Gorden fanden und den Schrein um ihn herum bauten.

Mit der Zeit entwickelte sich eine Art Kult um den alten schrecklichen Gegenstand. Junge Gorden bliesen Glaskugeln und warfen damit nach ihm. Es war eine Art Initialritus, der ihre Furchtlosigkeit vor der Allmacht der Alten Wesen versinnbildlichen. Doch niemals, berührte einer von ihnen das schreckliche Ding. Sie alle wussten genau, was dann passieren würde. Auflösung war das einzige Gesetz des Globus. Unterschritt man die Distanz eines Kopfes zu der Kugel, war man unaufhaltbar dem Nichts überantwortet.

Kyon hob den Kopf und starrte in den wolkenverhangen Himmel. Der gewaltige Glutball, der zweifellos Srolldurs einzige Sonne darstellte hatte seine überwältigende Masse an den Horizont verlagert und verwandelte nun die Landschaft in ein Chaos aus rotem Licht und wabernden Schatten. Der Barde holte Luft und rieb sich die Stirn, als wolle er Ughtred imitieren. Dann sagte er zuerst leise und wiederholte seine Worte direkt noch einmal etwas lauter: »Das kann nicht sein! Es kann einfach nicht sein bei den Nugai!«

Tal legte beruhigend eine Hand auf seinen Arm, aber er schüttelte sie ab wie einen Kleinstamytoren und als er zum dritten Mal verkündete mit dem Gesamtergebnis unzufrieden zu sein schrie er fast. 

Die Pferdemänner sahen ihn an. Ihren Augen war eine seltsame Abgeklärtheit und auch eine Art von Mitleid anzusehen. Sie sagten nichts ob seines Ausbruchs sondern starrten einfach nur. Es war ganz klar was sie dachten: ›Da ist nichts, außer der Auflösung.‹

Kyon stand wütend auf und sagte in die Runde: »Ich glaube das nicht. Wir werden es zumindest versuchen.«

Tal sagte: »Was versuchen? Wollt ihr euch auflösen?«

»Nein, aber wir werden uns zumindest ansehen wie es ist.«

Er deutete auf den Fremden namens Franz und sagte: »Er wird es machen. Es gibt ihn hier überhaupt nicht und er ist ein Wesen der Anderwelt. Er machtˋs!«

Ughtred stand auf und sagte: »Habt ihr jetzt ganz und gar den Verstand verloren? Ich werde nicht zulassen, dass ihr dem Kerl was antut!« Hilfesuchend sah er Tal an, da er sie zwischenzeitlich als deutlich wärmer als den Barden empfand, doch auch in ihre Augen war ein seltsamer Glanz getreten. Sie zuckte mit den Schultern und sagte nichts.

Kyon hingegen richtete sich auf und sagte: »Du da, Franz oder wie auch immer dein Name sein soll, geh in den Schrein und hole uns die Schwarze Perle heraus! Es wird dein Schaden nicht sein.«

Der Alte hob abwehrend die Hand und Ughtred schnaubte und verstellte den Eingang des kleinen Gebäudes.

Da erhob sich Tal ebenfalls, konzentrierte sich kurz und wob die Realität auf der feinstofflichen Seite der Welten zu einem ihrer Muster. Mit langsamer, deutlich veränderter Stimme sagte sie zu Ughtred: »Es ist gut, kleiner Freund, dem Fremden Männlein wird nichts schlimmes widerfahren. Lasst ihn nur durch.«

Zäh und raschelnd wie Schlangenschuppen, die über den Wüstenstand gleiten drangen die psionisch veränderten Worte in das Gehirn des Nyghs und veränderten seine Wahrnehmung. Er versuchte sich zu wehren, aber nach einer Sekunde hatte er schon vergessen gegen wen oder was er sich wehren wollte und plötzlich erschien ihm Kyons Idee ganz vernünftig. Wer sagte denn, dass der Franzmann überhaupt hier in dieser Dimension sein wollte? Vielleicht schickte die Perle ihn dorthin zurück, wo er herkam. Oder anderswohin. Egal wohin.

Er ließ erschöpft die Schultern hängen und blickte in eine der Laternen der Pferdemänner. 

Kyon nickte mit entschlossener Miene und deutete auf den Schrein der Schwarzen Perle. Dann wiederholte er seinen Befehl: »Geh und hole und sie Schwarze Perle Franz.«

Der Fremde, der nicht im Geringsten zu verstanden haben schien, um was es hier überhaupt ging und sich offenbar in aller erster Linie um die fremdartigkeit – und wahrscheinlicher Gefährlichkeit – der ihn umgebenden Gestalten sorgte, erhob sich und ging auf den Eingang zu.

Da standen auch viele der Pferdemänner auf. Sie hatten zweifellos lange niemanden mehr gesehen, der versucht hatte den Globus, wie sie die Perle nannten, zu berühren versuchte. Sie warnten ihre Kinder vor diesem Vorgang und hatten Rituale um das alte Artefakt gesponnen, doch niemand unter ihnen schien bisher mit eigenen Augen gesehen zu haben wie es wirkte. Neugierig hafteten ihre Augen auf dem Fremdling. Nur noch Gargog Tschurschn, der Alte versuchte Kyon aufzuhalten. Er wiederholte alle Warnungen und beteuerte, dass der Globus nichts ausser der ultimativen Auflösung bringen würde, aber der Barde blieb hart und wichte alle Warnungen mit einer letzten herrischen Handbewegung beiseite. Wie der Sliyn der er war, deutete er mit seiner bleichen, schmalen Hand auf den Eingang des Schreins und Franz, folgte diesem Befehl.

Die Zeit schien stillzustehen. Keiner der Pferdemänner atmete, als der Fremde das kleine Gebäude betrat. Dann drängten sie sich näher heran, aber die schmale Öffnung erlaubte es nicht allen gut sehen zu können. So beobachteten nur die Silberwölfe, ihr kleiner Freund, der große schwarze Mann in ihrem Gefolge und eine handvoll der Pferdemänner, darunter der Alte, die Frau und der riesige Krieger, wie das Wesen namens Franz den Schrein betrat, seine Hand nach der düsteren Kugel ausstreckte und ohne Warnung aufhörte da zu sein, noch ehe er sie auch nur berühren konnte. 

In der Luft tanzten noch einen Augenblick Partikel seiner Haare und seiner Haut, doch als sein seltsamer Anzug leer zu Boden glitt war zu erkennen, dass auch diese letzten Partikel, von einer unheiligen, alles Leben auflösenden Kraft desintegriert wurden. Dann war er fort und Kyons Schultern sanken herab.

»Was haben wir getan?«, sagte Ughtred, doch Tal legte ihm die Hand auf die Schulter und flüsterte: »Er ist daheim.«

Kyon jedoch schüttelte den Kopf. Als er sich umdrehte ging ein Raunen durch die Menge der Pferdemänner. Es war geschehen. Wie in den Geschichten der Alten beschrieben, hatte der Globus sein Werk getan. Er löste auf – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Gargog war anzusehen, dass er nicht gerade glücklich über die Vorgänge dieser Zeit war. Wie viele seiner Leute würden in sehnsüchtig er Hoffnung den Globus testen wollen? Er blickte zu Boden und es war ihm anzusehen, dass er sich mitschuldig fühlte. 

Unterdessen war Kyon ein Stück vom Schrein abgerückt und ging auf und ab. Er murmelte wirr vor sich hin und scholt die Grillen seines Erzeugers. »Warum? Warum hatte der alte Narr ihn hierher geführt? Mit was würde er heimkehren?«

Tal trat neben ihn und hörte ihm eine Weile zu. Dann sagte sie mit fester Stimme: »Kehren wir heim. Die Reise ist zuende!«

»Zu Ende? Und mit welchem Ergebnis? Wir haben nichts. Eure Akkatha wird euch nicht ins Zirkelhaus einlassen und ich werde meine scheiß Zimmerdecken nicht streichen lassen können. Der Alte hatt uns genarrt. Soll er tausend Tode im Magen des Drachen sterben!«

Tal schüttelte den Kopf. Ein seltsam grimmiges Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Als sie nun sprach, tats sie es als eine andere, neue Doppelmondhexe: »Wir sind Helden. Haben wir nicht den irren Riesen besiegt, den Drachen genarrt, Welten bereist und die legendäre Schwarze Perle von Grandband gefunden?« Sie machte ein kleine Pause, dann sagte sie: »All dies ist geschehen und all dies soll uns Tür und Tor öffnen. Was wir gesehen haben wiegt weit mehr als jede Lehrstunden in meinem Zirkelhaus. Wir sind reich und haben für den ewigen Rest unseres Daseins ausgesagt Herr Sliyn.«

Kyon brauchte eine Weile und so setzte sie sich neben ihn und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Sie wusste genau, warum er mit seinem Schicksal haderte. Es war die Sinnlosigkeit der Taten seines Vaters und die Tatsache, dass er selbst in diese Falle getappt war. Er hatte früh geahnt, dass diese Unternehmung ein bodenloses Loch sein würde. Er hatte den Irrsinn in den Worten seines Vaters erkannt. Aber all dies änderte nichts an den tatsächlichen Abenteuern die sie erlebt hatten. Sie waren Helden! 

»Meint ihr?«, fragte Kyon, als hätte er ihre Gedanken gelesen und tatsächlich schienen sich ihre Geister in der feinstofflichen Welt getroffen zu haben.

Sie spielte einen Moment mit den filigranen Fäden seiner Seele, ehe sie in seinem Sagte: »Wir sind Helden Katha`Kyon dan Y`shandragor und jede Hexe, jeder Sliyn und selbst die Fürsten von Shishney werden dies anerkennen. Schreibt Lieder, Gedichte, berichtet und legt ein eigenes Tagebuch an, sie werden es sehen und feiern. Wir sind die Entdecker der Schwarzen Perle von Grandband!«

 

Es gab nur eine Kurze Verabschiedung von den Pferdemännern. Man versicherte ihnen nichts, dass keine weiteren Smavari durch die Anderwelt nach Srolldur kommen würden, um zu plündern und töten, wie sie es immer getan hatten und die Garden gaben ebenfalls keine Versprechen. Doch es war dem alten Gargog Tschurschn anzusehen, dass er gerne mehr über die Welten jenseits des Äthers erfahren hätte.

Als die verbliebenen vier Fremden den Hügel zum alten Tempel hinaufstiegen, standen die Bewohner von Grandband auf dem Platz um den Schrein der Schwarzen Perle und blickten ihnen stumm hinterher. Nur einige der Kinder winkten oder taten so, als seinen ihre Stöcke Feuerwaffen, mit denen sie auf die Flüchtigen Silberwölfe und ihre Soldaten schossen.

 

Epilog

Tal und Kyon standen an der Rehling der Zermalmenden und blickten auf Shishney herab. In wenigen Minuten würde ihr gemeinsames Abenteuer enden. Hinter ihnen kauerte Ughtred auf einer der Ankerkisten und schärfte eine seiner Äxte. Am Horizont war ein letzter Rest der Sonnen zu erahnen und nächtlicher Regen lag in der Luft. Alle drei waren an Erfahrung reicher. Alle drei wussten um den Schatz, den sie in sich trugen. Es war der Reichtum der Freundschaft, auf dessen Schwingen sie an den Ausgangspunkt ihrer Reise zurückkehrten. 

Die Häuser schlängelten sich wie ein träger Fluss unter ihnen vorüber und der Silberhafen bildete sich träge aus dem Nebel der Eisschlange. Rufe wurden laut und die Mannschaft mühte sich mit den Halteseilen ab. Als ein Ruck über das Deck des Kriegsschiffes ging, ertönte die Pfeife des Maat: ›Anlandung erfolgt, die Leinen sind fest, die Reise hat ihr Ende gefunden.‹

Kyon blickte Tal an. Er öffnete die Lippen, schloss sie aber wieder ohne etwas zu sagen. Dann deutete er auf ihre Reisesäcke und die Quink nahmen das Gepäck auf. Nur Ughtred scheuchte sie davon. Er hielt nichts davon andere an sein Hab und Gut zu lassen. 

Shishney präsentierte sich unverändert. Bald öffnete sich die Tür des Hauses Y`shandragor und der letzte verbliebene männliche Diener Flark verbeugte sich mit genervter Miene, als wolle er sagen: ›Schade, der Junge Herr hätte sich ruhig wie der Vater vom Drachen fressen lassen können.‹

Wieder saßen sie am runden Tisch. Hatte sich die Reise gelohnt? Kyon dachte an seinen Vater. Was hätte er alles erzählt, wäre er zurückgekehrt. 

 

Tags darauf stand Kyon am Fenster eines Ballraumes. Ein benachbarter Fürst hatte ihn eingeladen, seine Geschichte zu erzählen. Gebannt lauschte man ihm. Doch keine der Zuhörerinnen und keiner der Zuhörer verstanden auch nur ein Wort. Bei der Beschreibung der Perle leuchteten ihre Augen, doch auf die Frage hin, wo dieser Schatz nun sei sagte Kyon schlicht: »Wo er immer ist.«

Sie blickten ihn an und dann dämmerte ihnen, dass dieser Witz keine Pointe hate. Einer der Stutzer stand auf, warf sein Tüchlein auf die Tischkande und ging. Wenigstens zwei der anwesenden Schönen begannen, lautlose Tränen des Verlustes zu vergießen. 

Der Hausherr trat neben Kyon und legte ihm seltsam zudringlich eine Hand auf den Arm. Kyons Ausstrahlung hatte sich verändert. Seine Aura wirkte sich auf die anderen Wölfe aus. Er war gewachsen und alle spürten es. 

Mit gieriger und erwartungsvoller Stimme erklärte ihm der Fürst, dass es in Kürze eine Soiree in der Zitadelle stattfände und das man das Haus Y`shandragor laden würde. Außerdem würde er es gerne sehen Kyon bis dahin zu bewirten. Ohne eine Miene zu verziehen, lehnte der bogenschießende Barde das Zweite ab. 

 

Mit gemischten Gefühlen verließ Tal die Pension. Ihre Schritte führten sie in Richtung Zirkelhaus. Doch sie zögerte. Plötzlich lacht sie ein Eisvögelchen aus und flirrte über die Oberfläche des Baches. Da lachte auch Tal und sie ging über die Brücke. Das Zirkelhaus lag in der Finsternis eines wolkenbedeckten Himmels. Midyar mit langen Kegelspeeren bewachten das äußere Tor. Tal wischte die Reptilien mit einer Handbewegung zur Seit.

Die Herrin der Doppelmondhexen blickte sie mit amüsiertem Gesichtsausdruck an. In ihrem Zimmer brannten Schmetterlinge und verbreiten einen rauchigen und hölzernen Geruch.

Tal hörte sich von dem Lugen sprechen. Als sie von dem Schild berichtete, muss sie schlucken. Immer noch knackten ihre Ohren beim Gedanken an das sich windende Chaos. Dann war endlich die Kugel an der Reihe. Für Tal war da nichts Romantisches an der Vorstellung an diese gefährliche Waffe. Desintegration war nichts, wofür es sich lohnen würde einen Drachen zu bestehlen. 

Akkatha lächelte zufrieden. Sie hatte für heute genug gehört. Mit einer eleganten, psionisch unterstützen Bewegung erhob sie sich aus ihrem Stuhl und schwebte vor ihr Schülerin.

»Du bist erwacht meine Liebe«, sagte sie und bildete mit ihrer linken Hand das Zeichen der Zustimmung. 

Tal wollte etwas erwidern, aber sie hatte in der Tiefe ihres Herzens schon vor ihrem Besuch gewusst, wie die Hexenkönigin ihr Abenteuer bewerten würde. Vielmehr hätte sie keine andere Entscheidung akzeptiert. Hatte sie nicht einen Riesen besiegt? Hatte sie nicht den Drachen bestohlen? War sie nicht ohne Kriegsschiffe ins Reich der Pferdemänner eingedrungen? Sie war nun eine Hexenheldin und als eine solche gebührte ihr Anerkennung und Bewunderung. 

Sie bezeugte der Mutterhexe ihre Zuneigung und durfte sich entfernen. Ihr Schritt war beschwingt. Alle Hexen, denen sie im Zirkel begegnete, beugten ihre Häupter. Sie alle wussten es: die Hexe Yt`Talan ven Arudsel war von ihrer Queste zurückgekehrt und sie war zu einer Heldin angewachsen.

 

Ughtred schlenderte durch Quinkstadt. Sein Weg führte ihn zur Eindornigen. Das gelbe Licht der Kaschemme zog ihn magisch an. Im Inneren steuerte er den Stammtisch an. Der Puca war es, der ihn zuerst erkannte. Er meckerte seinen Namen. Da hob auch der dürre Smavari seinen Kopf. Ein breites Grinsen erschien auf dem Gesicht des Silberwolfes und die beiden Hobgoblins an seiner Seite begannen schrill zu lachen.

Mit einer lässigen Handbewegung bestellte der Nygh auf smavarisch eine Runde Gelbwein und Gerstensaft für das ganze Haus. Dann setzte er sich an den Tisch und begann zu erzählen.