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Die Schwarze Perle 1

Inhaltsverzeichnis

Ursprung: Tiba Fe

Land: Kisadmur

Autor: Ildarion Corpas

 

Schelmerei betagt zum Heldenstreiche wird … 

LdY`s

 

Prolog

Vor mehr als einem halben Millenium schleicht ein Mann durch den Wald von Korezuul. Sein Herz ist von Trauer erfüllt. Seine Liebe trägt ein Kind im Leib, doch nichts an diesem Umstand bereitet ihm noch Freude. Es ist nicht lange her, da war sie glücklich und rannte mit ihm über das Moos des Waldes. Doch dann traf sie ein Stein. Der Berg ist eine wütende Gewalt. Niemand hat Schuld, niemanden trifft sein Hass. Das Kind wird sterben. Das ist das Urteil kundiger Köpfe. Er sucht nach einem Ausweg. Jede Nacht verbringt er an ihrem Lager. Doch bei Tage sucht er. Er weiß nicht, was es ist, was ihn ruft. Doch er geht in die Wildnis – immer wieder. Im tiefen Wald hofft er auf Gnade. Dann ist er selbst die Gnade.

Eines Morgens hört er das Winseln eines Tieres in Not. Sein Geist ist vernebelt von Müdigkeit, doch seine Sinne sind wach. Er läuft, springt über Busch und Bach und da, im finstersten Hag, wird das Wehklagen zu einem erbitterten Flehen. Die Luft ist erfüllt vom Summen giftiger Hummeln und als er in die Schatten tritt, kommen die fliegenden Wächter bedrohlich nah. Doch er fürchtet ihre Bisse nicht. Die Furcht liegt in seinem Bett. Hier gibt es nur Hoffnung und Gnade.

In der Dunkelheit windet sich eine Bestie. Ihr Fell ist weiß wie Schnee und grün wie das Laub im Frühling. Sie sieht ihn, fühlt sich bedroht, windet sich. Knurrend fletscht sie die Zähne und Geifer spritzt aus ihrem Rachen. Ihre Krallen scharren in der Erde. All dies sind Zeichen der Verzweiflung. Ihr Vorderlauf blutet, steckt in einer Eisenschlinge. Das Fleisch ist roh und der Knochen blank. Sie jault und schnappt nach ihm. 

Beschwichtigend hebt er eine Hand und sie packt seinen Arm. Ihr Biss ist kraftlos, doch auch ein schwacher Wolf hat scharfe Zähne. Er packt die Schnauze und drückt zu. Sie wehrt sich, doch er verschließt ihre Nüstern und ignoriert den eigenen Schmerz. Schließlich schwinden der Bestie die Sinne. Er lässt nach. Sie liegt still im Unterholz. Schnell öffnet er die Schlinge und bedeckt den Knochen. Sein Handwerk ist das Eisen, doch er weiß, dass dieses Tier kein Eisen mag. So bohrt er mit dem Schlingendraht Löcher in ihr Fell und schnürt die Wunde mit seines Bartes Haar. 

Nach getaner Tat sieht er sie an. Sie ist schön wie die Nacht und alt wie die Monde und sie hat ihn ordentlich verletzt. Aber sie ist ein Geist, ein Elt und ihre Gesetze sind die der großen Mutter. Als er geht und seinen eigenen Arm untersucht, hört er hinter sich ihr Knurren. Das erste Mal seit Tagen geht ein Lächeln über seine Lippen.

 

Die Zeit vergeht und mit der Zeit verliert der Mann seine Hoffnung. Die Heiler sind da. Sie glauben zu helfen, aber sie können es nicht. Als seine Frau niederkommt, ertönt nur ihr irres, Qual verzerrtes Stöhnen, doch kein einziger Kinderschrei. Traurig verlassen die Kundigen den Mann und nehmen die kranke Mutter mit sich. Ihr Geist ist auf immer verwirrt. Sie werden sich um sie kümmern. Ihn überlassen sie der Trauer und seinem toten Sohn. Doch kaum glaubt er sich allein, betritt eine andere Gestalt das Wehenzelt im Wald. Sie ist groß und dünn und ihr Geruch ist beißend scharf. Als er zu ihr aufblickt, zieht seine Narbe am Arm und uralte gelbe Wolfsaugen sagen ihm, er soll das Kind zu Boden legen.

Dieser Blick duldet keinen Widerspruch und so legt er den leichten Körper in das Moos. Sie aber streckt die bleiche Hand nach der Stirn des Welpen und der Mann sieht rings um den Arm eine tiefe Narbe von Eisendraht. Sein Barthaar ist vergangen, doch die Wunde ist schlecht verheilt und darum fürchten die Elt dieses Metall.

Die Waldwölfin gräbt mit ihrer Klaue Ritze in des Welpen Haut. Tief schneidet sie und aus ihrer Kehle dringen unverständliche grollende Worte. Lange hat sie nicht gesprochen. Nicht mit ihresgleichen und nicht mit anderen. Dann ist das Zeichen vollendet und sie leckt das Blut von ihrem Nagel. Ihr Leib krümmt sich, und dünn, blau und silbern fließt etwas von ihrer Zunge zu dem Mal auf der winzigen Säuglingsstirn. Da öffnet das Kind den Mund und schreit nach Leben und das Leben lässt sich niemals zweimal bitten. Mit Gewalt dringen Luft und Eltkraft in des Kindes Lungen und der Vater stottert fassungslos: »Meine kleine Stirn.«

Als er aufblickt, wendet sich die Hexe ab. Sie ist geschwächt um des Kindes Stärke. Dann kommen draußen Nebel herbei und dünner wird sie, bis der Wolf im Wald verschwindet. Der Mann aber dankt ihr tonlos, denn er weiß, nicht alle Wölfe zahlen ihre Schuld!

 

Ughnor, der stolze Schmied von Dranought wurde von einem unbekannten Amytoren gebissen. Er entkam der Bestie, doch am nächsten Tag färbte sich sein Bein dunkel und schwoll an. Wie alle Skergenvölker sind auch Nyghs immun gegen die meisten Gifte und Krankheiten und kennen sich daher auch nur sehr peripher mit solchen Dingen aus.

Trotz der enormen Regenerationsfähigkeit seines Volkes geht es dem Schmied von Tag zu Tag schlechter. Schließlich entscheiden sich die Ältesten eine Graukrähe zu bitten, nach Kisadmur zu fliegen und dort Ughnors Sohn Ughtred zu finden. Dieser zog vor langem aus, um die Sitten der Silberwölfe kennenzulernen und seinen Horizont zu erweitern. 

Die Krähe bricht auf und nimmt das große Wagnis auf sich, den gefährlichen Luftraum zwischen Korezuul und Kisadmur zu durchmessen. Sie fliegt ohne Rast über die Berge von Dran`Orad, wo kaum ein Flugschiff je verkehrt. Ihr Weg führt sie nach Elaiyney, von wo vor über einem Winter die letzte Nachricht des Sohnes gekommen war.

Doch sie findet ihn schneller als erwartet und berichtet Ughtred von dem Unglück. Dieser ist zutiefst bestürzt. Trotz seiner Differenzen mit dem Vater liebt er ihn und kann ihn nicht verlieren. In Elaiyney empfiehlt man dem Nygh, mit dem Flugschiff nach Shishney zu fliegen. Dort leben die Hexen des Doppelmondes und niemand in Kisadmur kenne sich besser mit Giften aus als sie.

 

In der Kaschemme der Eindornigen Quink sitzen ein Smavari, zwei Hobgoblins, ein Puca und ein Nygh an einem Tisch. Zum wiederholten Male spricht der Silberwolf von dem Gewinn und der Gerechtigkeit, welche diesen armen Wesen widerführe, wenn, ja wenn nur einer in der Lage wäre, ihm zur Seite zu stehen. Er selbst könne wohl die Klinge führen und der Puca hier hätte Macht über die Nebel der Sümpfe, doch den Verschluss, den könne nur ein Meisterdieb öffnen.

Der Nygh weiß sehr gut, um was für einen Verschluss es geht. Fast jeder Ladekran der Sternensegler und Wellenbrecher ist mit einer komplizierten Apparatur versehen, welche der Lademeister mit einem anderen Apparat über den Äther öffnen und schließen kann. So ist gewährleistet, dass die Ladung stets sicher auf dem Boden des Hafens landet. Er hat eine Rechnung mit dem Besitzer der betreffenden Barke offen. Der Kerl hat ihn von Bord geworfen und darüber hinaus seine Spinnenseide behalten. Was soll er jetzt den Hexen für ihr Gegengift anbieten? Und er hat die schönen schwarzen Frauen und Männer an Bord gesehen. Wie Vieh werden sie behandelt.

Ughtred, Ughnors Sohn blickt in seinen Becher. Was hat er mit dem Recht der Langohren zu tun? Daheim liegt sein Vater in Krämpfen und die Zeit bleibt schließlich nicht stehen. Wenn er nicht schleunigst dieses Antidot bekommt und die Heimfahrt antritt, wird der alte Mann sein Bein verlieren oder sogar sterben.

Das rattengesichtige Langohr mustert ihn wie eine Schlange. Dann sagt der Smavari mit seiner seltsam dünnen Stimme: »Ja, aber nein, vielleicht ist es auch einfach unmöglich, einen smavarischen Ladeverschluss mechanisch zu öffnen. Wahrscheinlich ist die Sache einfach zu schwer. Ich wette, keiner, ob Skerge oder Silberwolf, ist zu solch einem Kunststück in der Lage.«

Ughtred nippt an seinem Zuckerbier und wischt sich mit dem Handrücken über den Bart. Dann murmelt er verärgert: »Ich mach`s. Aber du lässt die Phani alle frei!«

Er knurrt, als sei er und nicht sein Gegenüber ein Wolfsblut. Doch alle außer dem gehörnten Puca lächeln zufrieden und prosten sich zu. 

Sechs und eine halbe Stunde später sitzt Ughtred durchnässt und ohne Perspektive, aber um eine Lebenserfahrung reicher, im Verlies der Smavarizitadelle.

 

Katha`Kyon dan Y`shandragor und sein Freund Northrian Kylvasar ven Arudsel liegen nach schweißtreibenden Aktivitäten in einem Separee des Hauses Lysai und genießen den schwarzen Dunst ihrer Pilzpfeifen. Kyons Geist ist schon von den Giften benebelt, aber er liebt es, Norths jugendlicher Stimme zu lauschen. Gleichmäßig plätschern die Worte des Geliebten dahin, bis Kyon plötzlich an die Oberfläche der Realität zurückkommt.

»Es beinhaltet durchaus interessante Informationen. Es könnte fast sein, dass der alte Haudegen da etwas Bemerkenswertem auf der Spur war«, hört er North sagen.

Langsam bildet der Rauch vergängliche Galaxien über den beiden hellhäutigen Gestalten. Kyon hebt sein Haupt aus dem Schoß des anderen und mustert die kleine Gehilfin, die auf einem Kissen unbeteiligt ihre Zehen untersucht. 

»Geht und holt Gelbwein. Benötigt mehr Zeit als nötig«, sagt er freundlich und weiß, dass sie nun nicht unangemeldet wiederkehren wird. 

»Ihr habt es gelesen?« fragt er, ohne North anzusehen. 

»Es liest sich gut«, erwidert der andere unbekümmert. 

»Woher habt ihr es?«

»Eure Mutter gab es mir bei meinem letzten Besuche.«

Kyon schweigt. Er denkt an den Kristall seines Vaters, den man nach dem Unglück am Rande der Wüste fand. Der Drache hatte den Reisenden offenbar ganz und gar verschlungen, doch seinen Packsattel nicht.

Er hatte das Tagebuch nicht gelesen. Diese Vergangenheit war ihm zu unbequem. Doch jetzt kratzt der Schmerz des Verlustes erneut an seinen Venen. Warum hat sie das getan? Tag um Tag sitzt sie in ihrem Stuhl und spricht kein Wort. Nichts kann ihr kleines, nach innen verkehrtes Lächeln erschüttern. In einer Welt der Agonie schläft sie mit offenen Augen den Traum des Irrsinns. Und jetzt sagt dieser Welpe, sie hätte ihm das Tagebuch des toten Gatten geliehen? Schicksals schwere Not – als wäre er selbst Opfer der Bestie geworden, windet sich sein Geist aus den Schleiern der Rauschmittel. Doch es ist zu spät. Schon plaudert North weiter, gerade so, als ginge es hier nur um den neuen Geliebten der Chayil`si.

»Er glaubte die Schwarze Perle gefunden zu haben …«

Kyon ist außer sich, doch wie so oft gelingt es dem Freund, den Trauernden zu beruhigen. Schließlich brechen sie auf und verabreden sich in Kürze im Hause Y`shandragor, wo North den Kristall zurückgeben will. 

 

Wenn es schief geht, dann aber richtig, denkt Ughtred und überzeugt sich von der Stabilität der Eisenpforte. Mit fragendem Blick mustert er das kleine Loch im Boden der Zelle. Ob die den Kopf eines Nyghs vermessen hatten, als sie die Latrine planten? Drei, vier Finger mehr hätten es sein müssen, dann würde er dieses verfluchte Land der Langohren – wenn auch stinkend – hinter sich lassen. 

Auf dem Zellengang sind Schritte zu hören. Jemand spricht. Sein Smavarisch ist schlecht, aber vieles versteht er instinktiv. 

Eine seltsam hohe Stimme – es klingt, als versuche ein Mann wie eine Frau zu sprechen – sagt: »Warum sollte ich euch helfen?«

Eine andere Person räuspert sich. Doch anstelle einer Antwort ist das Rascheln einer sich öffnenden Tasche zu hören.

Dann wieder die Fistelstimme: »Hm, wozu soll das gut sein und woher wollte ihr überhaupt wissen, welcher Schlüssel der richtige ist?«

Diesmal ist leise eine Antwort zu hören: »Ich habe es gelesen. Ganz. Und ich habe es verstanden.«

Wieder die Fistelstimme: »Und der Nygh kann das?«

Es dauert einen Moment, aber dann hebt sich die Sichtplatte der Zelle. Der Insasse zieht sich in den Schatten einer der Wandpylonen zurück. Durch die Öffnung sind in der Finsternis glimmende Smavariaugen und ein jugendliches Gesicht zu sehen. Dann fällt die Klappe scheppernd zurück und Schritte entfernen sich. Ja, wenn es schief geht, dann richtig.

 

Drei Tage später erfährt Kyon während einer Soiree aus dem Munde des Hausherren von einem aus dessen Sicht lustigen Unglück. Ein junger Stutzer namens Arudsel – was für ein Name – sei unter die Kufen eines Schlitten geraten und habe sich den Kopf derart angeschlagen, dass er in die Grube am Ostwall gestürzt sei.

Katha`Kyon dan Y`shandragor verlässt ohne Zugabe seiner Gesangskünste das Etablissement und eilt von Grauen erfüllt zur Pension, in dem die Arudsels Quartier genommen haben. Als er ankommt, findet er die Schwester des Freundes und das Sterben seiner eigenen Hoffnung im Blick der jungen Hexe.

 

Im Keller der Pension, in der ihr Bruder und sie seit einiger Zeit wohnen, steht die Hexe Yt`Talan ven Arudsel vor dem Leib des Toten. Huinkis, die alte mürrische Quink, unter deren Dach sie lebt, entzündet mehr und mehr Kerzen. Tal sucht in größter Konzentration nach den letzten Zutaten. Ihr Kessel brodelt und endlich ist es vollbracht. Als sie den Schlauch an der Maske von Northrian befestigt und den Hahn aufdreht, singt sie eine uralte Beschwörungsformel. Der Sud rinnt in die Venen des Toten und das Licht der Energiekristalle flackert. Geradezu hysterisch schreit die Hexe ihre Flüche heraus und wiegt sich mit vor Schweiß nassen Haaren im Totentanz. Dann ist es endlich vollbracht. North hustet, stöhnt und reißt sich die Maske vom Gesicht.

Plötzlich zischt ein Energiestoß durch den Raum. Das Licht geht aus und die Kerzen flackern. Die alte Quink schreit und mit ihr schreit der Erwachte. Irgendwo beginnt ein Kristall zu zischen und dann ist es vorbei. 

Tals Gedärme ziehen sich zusammen, als sie erkennt, dass die Beschwörung schief gegangen ist. Im violetten Grenzraum des feinstofflichen sieht sie mit psionisch verklärten Augen das silberne Band der Seele ihres Bruders zerreißen. Wenn sie nicht sofort handelt, ist die Essenz für immer verloren. Ihr Blick schreckt zu der Truhe ihrer Eltern. Sie hat das modrige Ding fast vergessen. Ohne zu zögern, reißt sie den Deckel auf und wirft all die Erinnerungen durch den Raum. Hinter ihr vergeht ihre Beschwörung. Sie weiß, sie hat versagt. Aber noch ist da eine Chance.

Endlich findet sie den Kriegshandschuh ihres Vaters. Das Leder ist brüchig und von Schimmelflecken überzogen, aber der Seelenstein schimmert unversehrt im Handrücken. Schnell schiebt sie die Hand in den Schaft, tastet mit den Fingern im Schmutz der Vergangenheit. Dann zündet der Shimwas im Handschuh und taucht das Gewölbe des Kellers in fahles grünes Licht. Erneut singt sie die Beschwörung. North ist noch hier. Der Stein zieht ihn heran und macht ihn kurz sichtbar. Dann knackt und zischt die Luft und alles was an Norths Essenz noch um sie ist, wird unweigerlich und irreversibel in den Shimwas gezogen.

Als Tal mit Tränen im Gesicht nach dem Handschuh sieht, verspürt sie ein Zupfen an ihrem Lendenschurz. Es ist Huinkis. Sie deutet zum Tisch, auf dem unbeweglich der tote Körper des Bruders kauert. Die Hexe streicht sich keuchend die nassen Haare aus der Stirn. Was hat sie getan?

 

Sie kommen noch in derselben Nacht. Unvermeidlich spürten sie den energetischen Vorgang. Gegen den Willen der großen Hexe, ihrer Mentorin hatte Tal die Erweckung geplant. Sie hatte alte Schriften, seltene und verbotene Substanzen und einen Zweiraumkonverter aus den Hexenhallen entliehen und schließlich fremde, unkontrollierbare kosmische Kräfte geweckt – ohne Erfolg. 

Jetzt muss sich Tal vor ihren Schwestern und Brüdern und vor allem vor Elisha Kyrin Akkatha yr Strontide, der ersten der Doppelmondhexen verantworten.

Schweigend stehen sie in dunklen Kutten im Haupthaus des Zirkels. Auf der Altarplattform erhebt sich Mutter Akkatha von ihrem Kreuzstuhl. Die hochgewachsene Smavari blickt mit Verachtung auf ihre Schülerin herab. Dann streckt sie ihren Zeigefinger aus und deutet anklagend auf Tal. 

»Bei allen Aspekten, was zum Großen Fresser habt Ihr Euch nur dabei gedacht?« 

Tal will etwas erwidern, mit ihren Beweggründen die Schuld mindern, doch die Hexenkönigin schneidet ihr das Wort ab und ruft: »Ein Zweiraumkonverter und die ätherischen Öle von Dur Nurenoth – sie werden oben in der Festung wissen wollen, was wir hier machen. Sie werden Fragen haben. Vielleicht wollen wir Sucullen auf die Tiba Fe einladen oder gleich die ganze Welt mittels Anomalie mit ihren drei Sonnen verschmelzen.«

Sie holt Luft, doch dann bremst sie ihren Zorn. Wortlos bildet sie mit den Händen Befehle. Kleiner- und Ringfinger der linken Hand bilden einen Kreis, während die zwei übrigen Finger und der Daumen ausgestreckt nach oben deuten. Die andere Hand schneidet durch die Luft und Tals Zukunft im Zirkel. Keine fünfzig Atemzüge später haben die anderen Hexen sie vor die Tür gesetzt. Polternd fallen ihre wenigen Habseligkeiten neben ihr auf das Kopfsteinpflaster. Es beginnt zu regnen – vom Himmel herab und aus Tals Augen. 

 

Tage nachdem der Leib des Northrian Kylvasar ven Arudsel vermeintlich den lösenden Sonnenstrahlen übergeben wurde, schlendert der von Trauer übermannte Kyon den Weg entlang, wo das Unglück geschah. Der Schnee in der kalten Grube ist geschmolzen und er blickt über die trostlose Halde. Dann beschließt er, hinunter zu steigern. Hier wandeln keine Smavari, doch er will es sehen. Er will den Schmerz mit Schmerz bekämpfen.

Als er am Grunde ankommt, blendet ihn das Sonnenlicht. Es wird von etwas draußen, außerhalb der Schatten reflektiert. Müde geht er ein Stück ins Licht hinaus. Seine Augen schmerzen und Dampf steigt aus dem Kragen seines Mantels. Dann bückt er sich nach dem Ding am Boden. Zwischen Schmutz und rohem Gestein greift er nach dem Kristall seines Vaters. Zögernd suchen seine vom Licht schmerzenden Augen die Klippe. Er befindet sich etwa fünfzig Schritte von der Unfallstelle entfernt. Der Kristall ist nicht auf natürlichem Weg so weit geflogen. North muss ihn geworfen haben. Vor dem Sturz, vor dem Schlitten. Doch weshalb? Ein Verdacht, eine Szene bildet sich in Kyons Verstand.

 

Kyon sitzt am Fenster seines Zimmers und betrachtet nachdenklich die Bilder, die der Kristall in den Raum wirft. Schlüssel, Wälder, die Wüste, Schilde und unzählige Fragen geistern durch die Luft. Die Erinnerungen an seinen Vater machen es ihm schwer zu begreifen, was er sieht. 

Kann es sein? Hat er all die Zeit seinen Vater zu Unrecht als wirr und versponnen eingeschätzt? Das Tagebuch spricht von einer virtuellen Karte, welche die Standorte verschiedener Schätzen anzeigen könne. In einem Mausoleum in Korezuul sei dieses Wunderwerk zu finden. Und man bräuchte einen Nygh, um Zugang zu diesem Ort zu erlangen. Ist es ein Zufall, dass er kürzlich auf der Brücke zum Pilzmarkt gesehen hat, wie die Wachen eins von diesen kleinen Dingern aus der Eisschlange fischten? Ein Dieb, dem es gelungen ist, einen Ladekran zu manipulieren. Leider haben seine Kollegen die Ladung mit ihm zusammen in den kalten Bach fallen gelassen.

Nur wenn, dann wie? Der Dieb ist in der Zitadelle. Und nur wer keine Luft zum Atmen braucht, kann durch die Kanalisation, um das Verlies von innen zu öffnen.

 

»Ihr habt was getan?« Kyon hat die Hexe wohl verstanden, aber er kann es nicht wirklich verinnerlichen. Sie hat versucht, den toten Bruder aus der Anderwelt zurückzuziehen, um ihn wie bei einer zweiten Geburt erneut an seinen Körper zu binden. Vergeblich. Natürlich. Aber ihre Mentorin ließ ihr den belebten, aber unbeseelten Leib. Warum auch immer. 

Er blickt in ihre seltsam unbewegten Augen. Hat sie gerade vorgeschlagen, sein Problem mit dem Toten zu lösen? Er hatte nach einer Alchemie gefragt, mit der er selbst durch die Kanalisation gelangen könnte, aber mit ihrem Gegenvorschlag hatte er beim besten Willen nicht gerechnet.

Er verlässt sie, aber schon auf dem Weg nach Hause weiß er, dass er wieder zu ihr gehen wird. Körper sind Material. Nichts von North ist in diesem toten Leib. Wie alle Silberwölfe hat er in der Tiefe seines Herzens keinerlei Bezug zu den physischen Überresten seines geliebten North. Er ist irgendwo. Nicht in diesen künstlich belebten Knochen und Muskeln.

 

Um den Nygh zu befreien, ist es notwendig, in den Kerker der Zitadelle einzubrechen. Unter dem Verlies befindet sich eine mit Wasser geflutete Kanalisationsebene. Es gibt einen Einstieg auf der nordwestlichen Seite des Gebäudes. Es muss schnell gehen, aber es wird funktionieren, denn die Wachen sind träge und notorisch unaufmerksam.

Es ist kalt und nur einer der Monde scheint bleich durch den wolkenverhangenen Nachthimmel. Das Wasser hat die Farbe von Blei. Kyon steht neben Norths Körper, während Tals Leib in selbst auferlegter Stase in seinem Haus weilt. North atmet nicht. Er kann durch die Jauche gehen. Besser noch, die dort unten hausenden Monster interessieren sich nicht für sein untotes Fleisch. Er ist ihresgleichen. Auf der Wachebene wird er den Kerker betreten und schließlich von innen das Seitentor öffnen – all dies vom in ihm steckenden Geist seiner eigenen Schwester. 

Es ist unheimlich zuzusehen, wie der Leichnam in das brackige Wasser gleitet. Kyon fröstelt und sieht sich um, als die Hexe im Körper ihres Bruders in die Jauche abtaucht. Über Kyons Kopf bewegt sich ein Licht. Ein Wächter patrouilliert über den unteren Wehrgang, aber wie erwartet, hat er keinen Grund zum Sockel der Mauer herunter zu blicken.

Kyon drückt sich dennoch tiefer in den Schatten. Da öffnet sich mit einem durchdringenden Knirschen die Eisenpforte zum Verlies. In der Dunkelheit steht der nasse Untote. Kyons Atem geht schneller. Er holt Luft, als müsse auch er tauchen und schlüpft die alte Treppe hinab.

Neue Gefangene werden in die obersten Zellen gebracht. Es wurde mit Sicherheit noch kein Urteil über den Dieb gefällt. Die Richter von Shishney lassen sich Zeit. Kyon öffnet Eisenklappen und versucht, etwas in den Zellen zu erkennen. Die ersten drei sind leer. In der vierten sitzt eine massige Gestalt auf dem Boden und er will nicht wissen, um was genau es sich hier handelt. Direkt in der nächsten Zelle liegt ein dürres Bündel Skergenfleisch auf der Pritsche.

Schnell zieht Kyon den Eisenriegel aus den breiten Schellen und öffnet die Tür. Der Gefangene richtet sich auf und blickt mit seinen seltsam glimmenden Tieraugen durch die Dunkelheit. Dann knirscht er: »Kann man hier nicht einmal durchschlafen?«

Auf dem Weg zum Hause Y`shandragor fasst Kyon kurz zusammen, wie es zu der Befreiungsaktion kam und dass man einen Vorschlag für den Herrn Dieb hätte.

Dieser entgegnet in gebrochenem Smavarisch, nicht ohne Entsetzen in der Stimme, dass er den neben ihnen torkelnden Toten kenne. Er wäre am Tag seiner Gefangennahme im Verlies aufgetaucht und hätte ihn begutachtet. Da hatte er natürlich noch gelebt.

Da bleibt Kyon stehen. North hatte das Tagebuch also tatsächlich verstanden und er hatte ganz offensichtlich versucht, denselben Weg einzuschlagen wie er. Nur wie? Wie war er in das Verlies gelangt. Unberührt berichtet der Nygh von dem anderen Silberwolf, der mit dieser seltsam weibischen Stimme gesprochen hatte. 

Kyon weiß genau, zu welchem Smavari diese Stimme gehört. Alag Dar`Ytavoulth, der Kerkermeister von Shishney. Er – oder es oder was auch immer – hatte North in die Zitadelle gelassen und mit ihm den Skergen begutachtet.

Nickend berichtet der Dieb von dem Gespräch der beiden Silberwölfe und Kyon durchflutet eine Woge der Erkenntnis und des Zorns. Dann stöhnt North mit seltsam entstellter Stimme: »Sie haben Northrian wegen des Tagebuches umgebracht!«

 

Drei ungleiche Gestalten sitzen an einem runden Tisch in einem typisch kisadmurischen Herrenhauszimmer, welches seine besten Zeiten lange hinter sich gelassen hat. An der Decke wehen graue Spinnfäden und die am Boden liegenden Teppiche sind ausgetreten und verblichen. Von der Dienerschaft fehlt jede Spur. Im Kamin prasselt ein grünes Feuer, doch seine Wärme scheint die drei nicht zu erreichen. In einer der Ecken kauert ein toter, aber auch doch nicht toter, immer noch nasser Smavari.

Ughtred hatte nicht schlecht gestaunt, als sein Befreier ihn in dessen Haus der offenbar schlafenden Hexe Tal vorstellte. Mit einem seltsamen Gurgeln war etwas Lebendes, Waberndes aus dem Toten gekrochen und hatte sich in den Frauenkörper zurückgezogen. Dann hatten sich die harten Schlangenaugen der Frau geöffnet und mit rauer Stimme hatte sie sich erneut vorgestellt: Elisha Yt`Talan ven Arudsel.

Der Nygh versteht noch lange nicht alles, was an diesem seltsamen Ort vor sich geht, aber dass er endlich eine dieser Gifthexen gefunden hat, lässt ihn über das Chaos der Smavariwelt hinwegsehen. 

Tal, Ughtred und Kyon sammeln sich. In der Mitte des Tisches liegt ein pinkfarbener Kristall. Er wirft sich langsam drehende Bilder von Bergen, Riesen und Landschaften in den Raum. Zögernd beginnen die drei ungleichen Gestalten ihre gemeinsame Zukunft zu planen …

 

Hexlein Hexlein schleicht ums Haus

Am Morgen nach der seltsamen Unterredung ging Kyon mit gemischten Gefühlen durch die Gassen der Oberstadt. Immer wieder fragte er sich, wie er in diese Sache hineingeraten war. Dann aber fühlte er sich auch wieder so, als hätte das Ganze unmittelbar mit seiner Familie begonnen. Natürlich hatte er nichts mit den Problemen des Skergen zu tun und auch die Belange der Hexe gingen ihn nichts an, aber das Karma hatte ganz offensichtlich das Wirken seines Vaters mit dem Schicksal der anderen beiden verwoben. Komische Sache.

Die Straßen der Oberstadt waren wie ausgestorben. Das lag an dem Ritual, das am Silbertor abgehalten wurde. Sie würden wieder einmal einen Riss in die Membran zur Anderwelt reißen, um Schiffe durch diese Sphäre zu weit entfernten Welten auszusenden. Diesmal würden zwei kisadmurische Sternensegler in das Reich der Gorden fliegen, um Tod und Verderben über dem Erzfeind auszuschütten. Kyon hatte noch nie einen lebenden Gorden zu Gesicht bekommen, aber er hatte unzählige Male die vielen länglichen Schädel betrachtet, die das eherne Tor der Bergkaserne schmückten. Er hatte noch nie gehört, dass ein Kriegszug ins gordische Reich jemals Schätze oder irgendeinen Gewinn außer den Schädeln der dortigen Bewohner erbracht hätte. Wofür also das alles? Er schätzte den Herrn von MirthasˋEysmi und würde nicht negativ über seine Wünsche und Entscheidungen denken, aber der Zweck der Kriegszüge wollte sich ihm dennoch nicht erschließen.

Im Westen wurde das frühe Licht der aufgehenden Sonnen vom kargen Boden der Ebene zurückgeworfen und verstärkt. Die ersten Gesänge des Rituals waren zu hören. Für die Aufgabe, die vor ihm lag, war genau dieser Kriegszug natürlich perfekt. Die Hexen des Doppelmondes würden nahezu alle auf der Plattform des Tores sein, um mit ihren gebündelten Kräften das Ritual zu vollziehen. Norths Schwester würde sicher niemandem im Zirkelhaus begegnen. Und auch er selbst könnte Glück haben und auf keinen nennenswerten Widerstand treffen.

Die Kapuze seines Mantels über dem Kopf ging er am Laden des Pfeifenmachers vorüber und widerstand dem Impuls, einzukehren. Es wäre so leicht, einfach abzubiegen. Andererseits war der Mann sicher ebenfalls beim Ritual zugegen. Niemand würde sich den Zauber des kreisrunden Tores entgehen lassen, während sich dieses öffnete und in violettem Züngeln einen Blick auf die andere Seite gewährte.

Aus den Schornsteinen der Häuser kräuselte sich bläulicher Rauch in den Himmel und versprach wohlige Wärme. Er konnte den Tabak des alten Quink förmlich auf der Zunge schmecken. Aus dem Norden Oriads will er den Tabak angeblich haben. Wie auch immer, das Zeug schmeckte unerhört rauchig und versetzte einen Mann binnen weniger Sekunden in einen Zustand der schwebenden Ruhe. Gerade wollte er schon mit der Hand nach dem dunkel angelaufenen Silberknauf des Ladens langen, um zu sehen, ob doch jemand da war, als sein Blick auf die beiden Türme der Hexenburg fiel. Seufzend ging er weiter und verfluchte sich dafür.

Reichte es nicht, dass sein Vater sich von einem Drachen hatte fressen lassen? Dieses vermaledeite Tagebuch hätte niemals wieder auftauchen dürfen. Warum hatte Mutter es nur an Northrian weitergereicht? Das war so sinnlos gewesen. Warum? Tagein, tagaus verbrachte sie ihre Zeit damit, aus dem Fenster zu stieren. Nichts und niemand interessierte sie, seit Kyons Vater Lonkaiyth für immer im Rachen der Bestie dahingegangen war. Warum dann jetzt dieses Erwachen? Als hätte sie gewollt, dass North sterben und ihr einziger Sohn zu einem Zerrbild ihres toten Gatten würde.

Natürlich wusste er genau, dass es nicht so war. Der Geist seiner Mutter war seit langem derart verwirrt, dass nur er allein verantwortlich für seine Lage gemacht werden konnte. Kein gefressener Vater und keine entgeistete Mutter waren schuld daran, dass er im Begriff war, in die Silberwacht einzubrechen. Weil er es wissen wollte. Weil er wissen wollte, wie es war, der Abenteurer zu sein. Seine Mutter hätte das ganz sicher nicht gewollt. Am Ende würde er ebenfalls im Rachen einer geflügelten Bestie landen und dann wäre sie ganz allein mit den Dämonen im Hause Yˋshandragor. Was ihn selbst geritten hatte, als er gestern zusagte, bei dieser Sache mitzuwirken, verstand er allerdings immer noch nicht zur Gänze. Wollte er gefressen werden? War es das? Vielleicht weil er sich nur schwer vorstellen konnte, ohne Northrian weiterzuleben. Das war natürlich Unsinn. Wie oft hatte er schon von Liebesliedern geschmachtet, in denen es darum ging, dass eine holde Maid ihr Leben gab, weil ihr Geliebter durch die Klinge eines grausigen Gorden gefallen war? Aber immer, wirklich immer, wenn er solche Lieder zum Besten gegeben hatte, war er mit den Sinnen bei den Mädchen und Jungen seiner Zuhörerschaft gewesen. Mehr oder weniger berechnend hatte er sie zu sich hergesungen. Mit lieblichen Worten der Sehnsucht umgarnt, waren sie ihm ins Netz gegangen und genau darum war North nicht der Grund. Er hatte ihn geliebt. North hatte ihn zum Lachen gebracht und dies gelang kaum jemandem. Echtes Lachen, nicht das Lachen des Spielmannes, des Barden, der sein Publikum umgarnte und so seinen Unterhalt bestritt – dieses Lachen hatte nur Northrian aus ihm herauskitzeln können. Dabei war Northrian alles andere als komisch gewesen. Er war nach Shishney gekommen, um den Chentai beizutreten. Die Scherbenesser waren alles andere als humorvolle Leute und North hatte sein Anliegen, einer von ihnen zu werden, wirklich ernst genommen. Wahrscheinlich wäre er der erste von ihnen gewesen, der in einer stillen Kammer in der Umarmung der Liebe Herzen hätte erwärmen können.

Kyon wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Er mochte nicht an den grotesken Zustand seines Freundes denken, der nun in der Vorkammer seines eigenen Wohnzimmers in einem Holzsarg ruhte, wenn man das überhaupt ruhen nennen konnte. Diese verrückte Hexe hatte ihren eigenen Bruder in eine lebende Leiche verwandelt. Geistlos, gefühllos und ohne Wahrnehmung lag Northrians Körper in dieser Kiste, dazu verdammt, langsam zu verrotten. Wo sein Geist und seine Essenz geblieben waren, wusste Kyon nicht einmal zu erahnen. Es gab Lieder über die Monde und zu ihnen aufgestiegenen Wolfsgeistern. Wie schön, wenn es so wäre. North würde da oben auf dem Rücken des Chayil auf ihn warten und gemeinsam würden sie dann für alle Zeiten die Tiba Fe umrunden. Er überlegte, warum er sich ausgerechnet den Fürsten als Totenmond ausgesucht hatte, aber er war sich sicher, dass North mit seiner Wahl zufrieden gewesen wäre.

Langsam ging er am Haus Djarias vorbei und überquerte die Kreuzung Ecke Freudengasse. Wie oft war er hier mit North zum Haus Lysai abgebogen oder auf dem Heimweg nach einem durchzechten Tag nach Hause. Er sah die Gasse hinunter, als suche er Norths Leibesabdruck in der Realität.

Kyon geht durch die Straße zum Haus Lysai und zählt die Schritte. Er hat einen schlechten Morgen hinter sich, denn seine Mutter weigert sich jetzt seit über zwanzig Tagen zu sprechen. Was ist nur mit ihr los? Vor ihm steht ein junger Mann, der sich mit mehreren Quink streitet. Er sieht den Silberwolf an und ist sofort in das schöne, seltsam unverbrauchte Gesicht verliebt. Die einfache Kleidung weist ihn als provinziell aus, aber die stolze Haltung macht diesen Mangel an weltgewandtem Auftreten wett. Langsam geht er auf ihn zu und verscheucht mit seiner Ankunft die aufdringlichen Quink. Er fragt nach dem Ziel des anderen und erhält zur Antwort, er kenne sich hier nicht aus, hätte aber gehört, das Haus Lysai sei nobel und würde nur von angenehmen Klientel besucht. Diese Rede vereinnahmt Kyon endgültig für den Fremden. Und dann wird sein Herz schwer. Er weiß nicht warum, aber da ist eine karmische Trauer, die ihn befällt. Schnell streicht er durch die Sphären seiner Gefühlswelt und kehrt in die Realität zurück. Heute nicht, denkt er. Heute das Lysai, morgen die Trauer …

Doch da war nichts von North. Sarg, erinnerte sich Kyon. Der Weg geht geradeaus zur Silberwacht. Was war es noch einmal? Eine Bleidecke, weil sein Vater es in sein Tagebuch geschrieben hatte. Von nun an würde sein Leben von den geschriebenen Zeilen der Scherbenschrift abhängig sein.

Mit trübem Blick sah er auf das Denkmal Raguels auf dem Platz vor den Wachtürmen hinüber. Auch so eine tragische Gestalt. Sie hatten das übergroße Abbild des einstigen Helden aus Gold geschaffen, dabei war er zu Lebzeiten ein Feind des großen Mirthas war. Silber hätte es sein sollen. Er zuckte mit den Schultern. Die Überlebenden schrieben die Geschichte, nicht die Toten. Wieder dachte er an das elende Tagebuch. Quinkdreck und Drachengalle, eine verdammte Bleidecke sollte es sein. Medizinische Utensilien und Waffen, Pfeile, Seile und Zelte, all dies war ja noch zu verstehen, aber eine Bleidecke? Jedes Kind wusste, dass Blei nichts gegen Drachenfeuer ausrichten konnte. Auch sein Vater hatte das gewusst. Spätestens als das Ende auf gewaltigen Schwingen über ihm den Himmel verdunkelt hatte.

Seiteneingang oder Haupttreppe zwischen den Türmen hindurch, dies war die Frage, die das Schicksal Kyon nun stellte. Er sah zur breiten Treppe empor und Erinnerungen an viele Zechen in den Wachhäusern dieses Gebäudes drängten sich in den Vordergrund. Auch sein Vater war hier ein- und ausgegangen. Kyon hustete, als könne er sich so der schlechten Laune entledigen, aber davon konnte keine Rede sein. Er war ein Sliyn und als solcher kam natürlich nur die Haupttreppe für ihn infrage. Was sollte sein? Andaloy miteinander, kann mir mal jemand eine schwere Bleidecke reichen?

Abgesehen davon würde der Großteil der Belegschaft ja am Tor drüben, den Hexen auf die Ärsche starren, während diese mit ihren kosmischen Kräften kosmische Schrecken beschworen.

Festen Schrittes erklomm er die hohen Stufen und wollte gerade das Tor dazu animieren, sich zu öffnen, als das gewaltige Ding diesem Wunsch von ganz allein nachkam. Er machte einen Schritt beiseite, als eine Horde von acht Kriegern in schwerem Rüstzeug und überlangen Lanzen aus der Haupthalle gerannt kam. Letzte Vorbereitungen für den Kriegszug. Von wem hatte er eigentlich zuerst von dem bevorstehenden Ritual erfahren? Nach kurzem Nachdenken fiel es ihm wieder ein. Yourgan Diariel dan Yr`Ithmor, einer der Wächter hatte es erzählt. Yourgan war kein Intimfreund von Kyon, aber er mochte den feschen Gardisten und Yourgan ließ sich gerne von ihm zu Gelbwein einladen. Außerdem mochte der Krieger Kyons Gesang und allein dafür liebte ihn der Barde. Hatte geliebt, würde es wohl zukünftig heißen müssen. Der Idiot hatte sich für einen Durchflug der Anderwelt und dem Angriff auf eine Gordenenklave gemeldet; freiwillig wohlgemerkt.

Kyon schüttelte den Gedanken ab, in Kürze vom Fall eines weiteren Freundes zu erfahren, war zu viel für diesen Morgen. Er wartete, dass die Krieger ihre Lanzen von der Treppe bewegten. Es sah irgendwie grotesk aus. Wie wollten sie mit den vier Mann langen Dingern kämpfen, wenn sie es nicht einmal schafften, sie halbwegs elegant aus der Wacht zu bekommen? Sie schwitzten jetzt schon und das im frühesten Frühling.

Er schaute von der Treppe nach Westen, aber die Gebäudedächer verwehrten ihm den Blick über die große Ebene vor Shishney. In wenigen Minuten würde sich ein gewaltiges Phänomen vor den Stadtmauern auftun. Zuerst in Blau und dann in züngelndem Violett würden die Hexen einen kreisrunden Riss in die Realität stanzen und dann die dahinter liegende Membran öffnen. Gravitationstentakel würden, vom Kern der Tiba Fe selbst genährt, zu den Sonnen schnellen und hoffentlich keine endgültige Anomalie auslösen. Die Randgebiete der bekannten Welt waren voll von verglasten Flächen, wo frühere Experimente dieser Art zu Chaos und Tod geführt hatten. Die Wissenschaft versicherte, man hätte diese Dinge nun im Griff, doch jeder Smavari wusste, das Chaos der Anderwelt war ungreifbar und Ungreifbares konnte man auch nicht im Griff haben. Warum also machte er sich überhaupt noch Gedanken? Gleich würden sie das Tor für die Schiffe zu irgendeiner Gordenwelt öffnen, dabei würde die Membran der Länge nach aufreißen und alles Leben auf der Tiba Fe in verkrustetes Glas verwandeln. Mit einem schnellen Schritt verschwand er in der Halle der Silberwacht.

 

Ughtred hatte angemerkt, dass man sich auf die Reise, die nun vor ihnen lag, vorbereiten müsse. Er hätte niemals mit der Reaktion der beiden Wölfe gerechnet. Ohne zu zögern, hatten sie beschlossen, die benötigten Ressourcen an Orten zu besorgen, denen er selbst keinen Gedanken gewidmet hätte. Allein die Tatsache, dass er ein zweifellos gesuchter Flüchtling war, hätte es eigentlich verbieten müssen, dass er durch die Straßen schlich; ganz zu schweigen davon, dass er gerade im Begriff war, in die Hexenburg einzubrechen, aus der die Hexe die vor ihm ging und der er das Leben seines Vaters anvertrauen musste, vor noch gar nicht langer Zeit, aus genau dieser Burg hinausgeworfen worden war.

Der eigentümlich sonore Gesang, der leise vom Süden an seine empfindlichen Ohren drang, geißelte dabei am meisten seine ohnehin strapazierten Nerven. Sie hatte versucht, es ihm zu erklären. Die Silberwölfe würden ein Loch in die Realität machen und dann Schiffe hindurch zu den Sternen fahren lassen, um dort draußen in der unendlichen Kälte die Bewohner einer anderen Welt anzugreifen und möglichst viele von ihnen zu massakrieren. Diesen Teil hatte er zumindest nachvollziehen können, denn genau so schätzte er die Bewohner Kisadmurs ein. Eine gute Ablenkung hatten sie gesagt. Nicht, es wäre eine Untat oder eine Gefahr für besagte Realität und das Leben auf der Tiba Fe – nein, es war eine gute Ablenkung für einen Einbruch.

Missmutig versuchte er, die Häuserschatten zu nutzen, aber es war schon zu spät am Morgen. Zu hell für einen Dieb, dachte er sarkastisch und senkte den Kopf. Das hier würde sowas von schief gehen. 

 

Tal lugte vorsichtig um die Ecke der Glockengasse, in der sich die Ostseite des Zirkelhauses befand. Warum man diese Straße so nannte war ihr unbegreiflich, denn der Glockenturm auf den sich der Name bezog, befand sich viele weitere Straßen und Abzweigungen entfernt. 

Die Luft schien rein zu sein. Es war schon recht spät am Morgen und viele Bewohner Shishneys schätzten das Licht der Zwillingssonnen nicht gerade und zumindest die Silberwölfe, nicht dem Ritual am Silbertor beiwohnten, würden nun zu Tätigkeiten innerhalb ihrer Behausungen übergehen. Quink wiederum musste Tal nicht fürchten. Natürlich war der Nygh hinter ihr alles andere als unauffällig, aber dafür bewegte er sich leise wie eine Giebelkatze.

Sie gingen schnell die Gasse in Richtung Bach hinunter, um zur Rückseite des imposanten Gebäudes zu gelangen. Das Irt bin`Lona oder Zirkelhaus war ein typischer Kreuzbau mit zwei Türmen. In früheren Zeiten gehörte das Gelände um das Haupthaus allein den Doppelmondhexen, doch vor einigen Millennien hatte sich die Schmiedegilde immer weiter ausgebreitet. Man hatte sich dafür entschieden einen Teil der Schmiedegebäude mit dem Zirkelhaus verschmelzen zu lassen. Viele Geschäfte der Gilde benötigen die Unterstützung der schwarzen Hexenfinger und umgekehrt profitierten die Hexen vom Ressourcenreichtum des Schmiedegewerbes. So wurde das  Irt bin`Lona von Osten her betrachtet praktisch unsichtbar; sah man von den beiden trutzigen Türmen ab, die über die Gilde hinausragten. Vom Westen, also der Quinkstadt aus, sah die Hexenburg natürlich nach wie vor wie eine Festung aus und bildete wie ehedem die Grenze zwischen Quink- und Oberstadt.

Der Pfad um das Gebäude herum wurde im Norden immer schmaler. Es hatte in der Nacht ein wenig geschneit und der Boden war glitschig und nass. Die Ejvyislath, der Bach, der sich durch Shishney zog, war – wie sein Name schon sagte, tatsächlich eine Eisschlange. Seine Ufer waren mit einer dünnen Eisschicht bedeckt und man musste wirklich aufpassen, nicht auszugleichen und im Wasser zu landen. 

Sie gingen weiter den Pfad entlang und kamen zu einer niedrigen Eingrenzung. Hier, wo das seichte Bachufer dem Zirkelhaus am nächsten kam, hatten die Doppelmondhexen ihre äußeren Kräutergärten angelegt. Es gab auch Gärten im Inneren der Burg, aber manche alchemistische Zutaten brauchten ganz bestimmte Voraussetzungen, um ihre Wirksamkeit auszubilden und dazu gehörten sowohl die Temperatur, als auch das Licht der fünf Monde und drei Sonnen (wenn sich auch der blaue Itaraun, der Bruder der Zwillingssonnen Argol Fe und Hiyween, nur alle eintausend Jahreszeiten blicken ließ).

Mit einem großen Schritt überquerte Tal eine Pfütze und hörte, wie der Nygh hinter ihr einfach durch das Wasser ging. Er sprach kein Wort, aber es war ihm anzumerken, dass er der Sache mit dem Einbruch in die Hexenburg mit gemischten Gefühlen gegenüberstand. Was für ein Dieb war das überhaupt? Ließ sich von der Stadtwache in die Zitadelle sperren und hatte jetzt Bedenken in ihr eigenes Zuhause einzubrechen. Na ja, wenn man einbrechen dazu sagen wollte. Sie hatte den Schlüssel nicht behalten dürfen, als man sie hochkant aus dem Zirkel warf, aber ein freundlicher Besuch würde doch wohl erlaubt sein!?

Sie streckte den Arm aus und deutete auf einen winzigen Pfad, der zwischen den mit Planen und Säcken abgedeckten Beeten auf die Mauern des Gebäudes zuführte. Ughtred schob sich an ihr vorbei und übernahm die Führung. Es war deutlich, dass er lieber im Dunkeln unterwegs gewesen wäre, denn er hatte noch lange nicht verinnerlicht, wie das Leben der Silberwölfe ablief.

Tal fröstelte, als sie hinter dem Nygh wartend von einem Fuß auf den anderen trat. Was konnte denn da so lange dauern? Leise beförderte der Nygh mehrere schlüsselartige Werkzeuge zutage. Sie schimmerten matt im Licht der aufgehenden Sonnen und zeugten von seiner Sorgfalt seinem Hab und Gut gegenüber. Dann schob er eins der Dinger vorsichtig in das Schlüsselloch und drückte ein zweites von unten dagegen. Das Ganze dauerte keine Minute, da ergab sich das Schloss dem Skergengeschick. Tal lächelte grimmig. Also doch ein Dieb.

 

Mit angehaltener Luft machte Ughtred einen Schritt nach dem anderen die leicht gebogene Treppe hinunter. Inständig hoffte er, dass die Bewohner dieses düsteren Gebäudes tatsächlich alle auf der Stadtmauer waren, um sich das Spektakel anzusehen. Dabei versuchte er, an das Spektakel an sich so wenig wie möglich zu denken.

Er war vor der Wolfshexe geblieben und hatte nur ihre Richtungsanweisungen Folge geleistet. Von der Ebene der kleinen Pforte in den Gärten waren sie zwei Hallen in Richtung des Hauptschiffes gegangen. Dann hatte sie ihn auf der rechten Seite in eine Art große Küche gelotst. Alles in der Hexenburg erschien ihm noch übergrößer und seltsamer als die restliche Wolfsstadt. Aus der Küche mit ihren Tischen, Truhen, Regalen und sonstigen Ablagen die von Tiegeln, Gläsern und Dingen die er nicht zuzuordnen vermochte überquollen, führte es eine Wendeltreppe in einen nach Dung stinkenden Keller der wiederum die Treppe aufwies, auf der er sich nun befand.

Sie waren tatsächlich niemandem begegnet und Ughtred war mehr als froh über diesen Umstand. Die Hexe hinter ihm hatte ihren eigenen Bruder in einen Untoten verwandelt. Er konnte gar nicht fassen, wie diese Wesen sich benahmen. Wie würden erst die Bewohnerinnen der Festung reagieren, wenn sie ihn hier vorfänden? Mit Grauen sah er sich als Leiche durch die Abwasserkanäle ihrer Kloaken wanken. 

Im diesigen Schein eines sehr schmalen Lichtschachtes konnte er eine Abzweigung der Treppe erkennen, die in die absolute Finsternis führte. Die Hexe tippte ihm jedoch mit der behandschuhten Hand auf die linke Schulter und gab ihm damit zu verstehen, dass er seinen Weg nicht verlassen solle. Das Gewölbe stank nach dem Schmutz vieler Millennien und noch etwas anderem. Da war etwas seltsam Spitzes, den Hals reizendes in der Luft. Er wollte gerade etwas sagen, als ihm eine unheimlich schräge und von irgend etwas gedämpfte Stimme zuvor kam.

»Sieh an, sieh an, wenn dies nicht die entehrte Lady ven Arudsel ist.«

Ughtred versuchte zu erkennen wer oder was da sprach und hielt erneut den Atem an, als er hinter sich ein erschrockenes Keuchen der Hexe vernahm. Das wars, sie waren verkauft und verloren und wie um diesen Gedanken noch zu unterstreichen, schälte sich vor ihm ein wirklich groteskes Wesen aus den Schatten der uralten Mauern. 

 

Tal sog scharf die faule Luft des Kellers in ihre Lungen, als sie erkannte, wer sich da vor dem Nygh materialisierte. Es war Jabracht, das verdammte Maskenmännlein ihrer früheren Mentorin Elisha Kyrin Akkatha yr Strontide, der ersten Doppelmondhexe von Shishney. Das Ding war nicht nur gefährlich weil es seiner Herrin diente, sondern weil Maskenmännlein generell unberechenbar und eben gefährlich waren. Sie verfügten über die übelsten psionischen Kräfte und kannten weder Moral noch Anstand. Losgelassen waren sie grausame Geister, die sich an den Perversionen ergötzten, welche sie anderen antaten.

Jarbracht war klein, er ging Tal gerade einmal an die Knie, und trug einen dunklen Mantel mit hohem Kragen. Seine verkrümmten Fingerchen steckten in etwas, dass wie schmutzige Binden aussah, aber das merkwürdigste an seiner Erscheinung war sicher die Maske, die seiner Spezies ihren Namen einbrachte. Es handelte sich um ein absonderliches Ding aus einem gummiartigen Material. Zwei kreisrunde Sichtöffnungen waren mit dickem, gelblichem Glas versehen und dort, wo Nase und Mund hätten sein sollen, befand sich eine Art stumpfer Trichter mit unzähligen winzigen Löchern. Ob das Wesen durch diesen Anhang atmen konnte, oder ob es überhaupt atmen musste, blieb ungewiss. Seine ganze Erscheinung hatte trotz der geringen Größe etwas unterschwellig gefährliches. Es war, als hätte es einfach generell nicht sein sollen und allein seine Existenz stellte eine kosmische Verschiebung des Gleichgewichts zwischen Normalität und Perversion dar. 

Sie wollte etwas sagen, sich für ihr Hiersein rechtfertigen oder gar um Gnade flehen, aber gerade als sie den Mund öffnete – als hätte der Quälgeist nur darauf gewartet – kam er ihr zuvor und rief mit seiner nervenaufreibenden dünnen Stimme: »Was genau suchst du wohl hier unten kleines Hexlein?«

Da überkam Yt`Talan ven Arudsel eine Welle des Zorns. Dieses Ding mochte Akkathas Faktotum sein, es mochte über gefährliche Kräfte verfügen, aber es war dennoch eine Kreatur der Silberwölfe und als solches, war es ihm auf immer und ewig und unter allen Umständen verboten sie, eine Smavari, mit du anzusprechen!

»Dreimal verfluchter Höllengeist, ich bin wohl YtˋTalan ven Arudsel und ja, ich bin eine Hexe, doch was auch immer du bist, mir steht zweifelsfrei von alters her eine gebührende Anrede zu! Verwehre mir einmal mehr das Ihr und du wirst der grausen Auflösung im endlosen Myron anheimfallen. So spreche ich im Namen deiner Herrin Elisha Kyrin Akkatha yr Strontide!«

Sie schrie die Worte in die Dunkelheit des Kellers hinaus und spuckte dabei Gift und Galle, so dass der Nygh sie nicht wiedererkannte. Ihr Gesicht war eine Fratze des Zorns und sie gab alles, um diesen Zustand noch zu steigern. Sie wusste ganz genau, dies war ihre einzige und letzte Chance, die Situation zu ihren Gunsten zu entscheiden. Jabracht mochte alt und mächtig sein, aber er hatte ihr gegenüber einen dummen kleinen Anfängerfehler gemacht und dies musste sie zu ihren Gunsten nutzen. 

Das Männlein krümmte sich unter den Hieben der Worte und konnte sich ihrer Bedeutung nicht erwehren. Ein dünner Klagelaut entrang sich dem Filter seiner Maske und er schlug die verkrüppelten Händchen vor die Gläser der Maske.

»Ooooooohhhh, uuuuuhhhhh«, jammerte er und krümmte sich immer wieder zusammen, als hätte ihn eine von Tals eigenen psionischen Disziplinen getroffen. Seine Pein schien ihn derart zu erschüttern, dass Tal beinahe Mitleid bekommen hätte und etwas sagen wollte, aber Jabracht kam ihr wieder zuvor und hob in einer beschwichtigenden Geste eines seiner verbundenen Händchen. Als er sprach klang seine Stimme gnadeheischend und tränenerfüllt: »Oh Hexlein Hexlein YtˋTalan, dieser schlimme Geist neigt sein unbedeutendes Haupt vor eurer Glorie. Auch wenn euer Fell zerzauster als das eines jeden Arwolfes ist«, er machte eine dramatische Pause, »habt ihr dennoch recht. Ich unwürdigster der Unwürdigen habe euch Schlimmes getan und es liegt nun in eurer Hand, über mein fürderes Schicksal zu entscheiden.« Er sank auf die Knie.

Es entstand ein Moment spannungsgeladener Stille, in der nur das unregelmäßige Schniefen des Männleins zu hören war. Tal und Ughtred trauten sich nicht etwas zu sagen. Sie warteten beide auf ein hämisches Lachen des kleinen Monsters oder auf eine andere Pointe seitens Jabrachts, die seine Rede Lügen strafen und ihrer beider Schicksal im Zirkelhaus der Doppelmondhexen besiegeln würde. Aber da kam nichts. Der Winzling wippte klagend auf seinen Knien vor und zurück und schniefte leise. Er hatte sein eigenes Urteil über sich gesprochen und erwartete nun die Strafe. Es dauerte noch über eine Minute, bis Tal die Sprache wieder fand, aber dann sagte sie mit halbwegs fester Stimme: »Also gut, du hast deinen Fehler erkannt. Ich bin gewillt Gnade vor Recht ergehen zu lassen, aber zur Strafe wirst du uns helfen unsere Mission hier unten zu erfüllen!«

Das Männlein hob langsam und irgendwie bedrohlich den Kopf als es sagte: »Euer Wort ist mir Befehl.« Dabei rieb er sich die kranken Händchen und legte in einer hinterhältig wirkenden Geste den Kopf schief, als überlege es jetzt schon, wie es besagte Befehle fehlinterpretiert zu Tals und Ughtreds Untergang nutzen könnte.

 

Als Kyon von der großen Halle der Silberwacht zu einer der vielen unteren Wachkammern schlenderte, wanderte sein Blick zu der gewölbten Decke empor. Er mochte den Baustil der Kriegshallen Kisadmurs. Er selbst war, wie nahezu alle Männer des Hauses Yˋshandragor kein Krieger. Gut, er hatte sich einer Ausbildung zum Bogenschützen unterzogen und beherrschte diese Waffe ebenso gut wie die Musikinstrumente die er spielte, aber einen Pfeil abschießen zu können machte ihn nicht zu einem Krieger. Zu diesem Prädikat fehlte ihm einfach der Wille Krieg zu führen. Viele seiner Bekannten und Freunde sahen sich auf diesem Weg und wollten große Taten vollbringen oder gar dem Reich dienen. Sie eroberten Welten für Ruhm und den goldenen Mirthas. Oft hatte man ihn gefragt, ob er nicht als Barde an Bord eines der Sternensegler gehen wolle, aber das Problem an Kriegszügen war nunmal der Krieg und Kriege brachten Tod und Verderben. Kyon stand der Sinn nach Leben. So einfach war das. Er konnte verstehen, dass man nach der Anerkennung anderer griff, schließlich tat er dies als Entertainer auch, aber musste man sich dazu einsauen und im Blute anderer baden? Nicht seine Welt, verdammt eindeutig nicht seine Welt!

Die Decke der Wacht war mit silbernen und goldenen Ornamenten verziert. Sie zeigten ein Relief von Zackenhörnern und Reitern mit langen Lanzen und pastellfarbenen Wimpeln. Alle Szenen waren prachtvoll in ihrer Darstellung und gaben das Dasein der smavarischen Kriegszunft überbordend edel und dekadent wieder. Feinde und Unterjochte waren in mattem Kupfer gehalten und gingen im strahlenden Feuer der Silberwölfe unter. Wie im echten Leben, dachte Kyon und stieg die schmale Treppe zur Wachkammer hinauf. Im inneren des kleinen quadratischen Raumes saßen drei Wächter und knobelten mit Knochenwürfeln um ihre Ressourcen. Als sie aufsahen, machten sie den Eindruck auf Kyon als hätten sie alle schlechte Laune. Wahrscheinlich haderten sie mit ihrem Schicksal, sich nicht für Mirthas und das Reich opfern zu dürfen und stattdessen hier auf nichts aufzupassen. Sie grüßten den Barden trotzdem, nahmen aber kaum Notiz von seinem Erscheinen. Er sah einen Moment lang dem Spiel zu und ging dann in einen Durchgang, der zu den Unterkünften, aber auch zu einem der Magazine führte.

Ein leises Lied auf den Lippen schob er sich an mehreren Zimmeröffnungen vorbei, bis er endlich zu einer schmalen Wendeltreppe kam, von der er wusste, dass sie ihn zu besagter Rüstkammer führen würde. Weit und breit war niemand zu sehen. Die Flucht war zugig, denn jemand hatte die schmalen Fensterchen offen gelassen und Kyon zog seinen Mantel am Hals zusammen. War es nur die Kälte oder hatte er Angst? Was würde schon sein, wenn sie ihn entdeckten? Er könnte immer noch sagen, einen Freund besuchen zu wollen und sich verlaufen zu haben. Lächelnd würde er nach dem richtigen Weg fragen; eine Entschuldigung war überflüssig.

Oben, im Flur der Magazine, war es noch kühler und auch hier schien niemand zu sein. Irgendwo weit unter sich hörte er das Bellen von Befehlen, aber er vermutete, die Krieger gingen für das große Ritual in Aufstellung und dies taten sie sicher nicht hier in der Waffenkammer. Vorsichtig ging er den Gang entlang und blickte im Vorübergehen durch die Schießscharten auf den Hof hinunter. Da standen sie in Reih und Glied. Silberne und goldene Rüstungen schimmerten im frühen Licht der Sonnen. Er schüttelte den Kopf. Gleich würden sie mit Fanfarengetöse losziehen und in Richtung des Tores marschieren. Wie viele von ihnen würde er niemals wieder sehen? Kriege, Abenteuer, das Leben an sich – all diese Dinge führen auf eine alles umhüllende Schwärze zu.

Kyons Schädel steht kurz vor dem Zerbersten. Er hat es wieder getan, entgegen besseren Wissens. Nass und erschöpft und mit den Stiefeln voller Sand sitzt er am Strand, eine endlose Wegstrecke von seiner Heimat entfernt. Abenteuer … 

Er schüttelte den Kopf und wollte weitergehen, aber sein Fuß schmerzte. Langsam verlagerte er sein Gericht auf den anderen Fuß und begann seinen Stiefel vom Schenkel zu rollen. Als er es geschafft hatte, drehte er ihn um und ließ den Sand und die kleinen scharfkantigen Muscheln darin auf den Steinboden prasseln. Er atmete tief durch und machte sich daran, den langen Stiefel wieder anzuziehen. Abenteuer …

 

»Wir brauchen einige Dinge aus der Kammer neben der alchemistischen Küche. Kleinigkeiten ohne großen Wert«, sagte Tal mit so ruhiger Stimme wie möglich. Sie hatte Angst, Jabracht könnte seine Meinung doch noch ändern und sie an seine eigentliche Herrin verraten. Sie wusste nicht wie Akkatha reagieren würde, wenn sie von Tals neuem Ungehorsam erfuhr, aber sie hatte auch keinerlei Interesse daran es herauszufinden. Doch das Maskenmännlein hielt sein Wort. Nicht nur, dass er keinen Alarm schlug, er ging ihnen die Treppe voraus, ließ in der Gewölbedecke sanfte, grünliche Lichter erstrahlen und führte sie schließlich in die gewünschte Vorratskammer für alchemistische Zutaten. Tal hätte jubeln können, aber sie hielt sich zurück. Man durfte das Karma nicht zu früh loben, wer konnte schon sagen, was noch alles geschehen würde?

Schnell und mit geübtem Blick suchte sie alle notwendigen Zutaten aus den kleinen Schränkchen, Truhen und Regalen zusammen. Dann öffnete sie eine der Seitentüren des Raumes und betrat eine Kühlkammer. Hier, in weiteren Regalen, befanden sich fertige Produkte, unter anderem das für Ughtreds Vater bestimmte Amytorenantidot. Sie lächelte grimmig als sie in den Vorratsraum zurückkehrte, einen der Schränke öffnete und noch ein paar Dinge mehr auf ihre und Ughtreds Tragebeutel verteilte. Wenn schon denn schon, dachte sie und machte Jabracht ein Zeichen, dass sie soweit wäre. Der kleine Maskenmann sah sich all dies in aller Ruhe an. Tal kniff die Augen zusammen. Übersah sie etwas? Warum machte er es ihr so leicht?

Sie zuckte mit den Schultern und gab nun auch dem Nygh zu verstehen, dass es Zeit war von hier zu verschwinden. Als sie gemeinsam die Treppe hinauf gingen, folgte ihnen das Männlein noch einige Stufen, doch dann blieb es stehen und verschwand hinter ihnen in der Dunkelheit des Kellers. Tal nickte und ging, ohne sich ein weiteres Mal umzuwenden. Es war, als könne sie damit einen Bann brechen.

Dreh dich nicht um Hexlein, geh deiner Wege, kehre nicht ohne den Schatz hierher zurück!

 

Vorsichtig öffnete Kyon die Tür zur Rüstkammer und spähte durch den Spalt. Alles schien in Ordnung zu sein, also schob er sich hinein und verschloss die Tür hinter sich. Wie alle Rüstkammern der Wacht war auch diese in mehrere Sektionen mit Stellwänden und Trennern unterteilt und konnte als unübersichtlich bezeichnet werden. An allen Trennwänden hingen Gestelle für Lanzenspitzen, Bolzen, Feuerlanzenauslässe und anderes Kriegszeug. Ungeduldig öffnete er eine lange Truhe, fand aber nur die Schäfte für Geschosse von Speerschleudern. In einer zweiten befanden sich Stachelkugeln, aber die dritte, die er öffnete, enthielt endlich was er suchte. Er schüttelte ungläubig den Kopf als er die schwere Bleidecke aus der Truhe hiefte. Schwer, viel zu schwer für einen Smavari, was tat er nur hier?

»Was genau tut ihr hier?« erscholl eine tiefe Frauenstimme aus dem hinteren Teil des Raumes.

Kyon schrak derart zusammen, dass er die Decke zu Boden fallen ließ und beinahe geschrien hätte. Als er sich aufrichtet und nachsah, wer ihn ertappt hatte, stockte ihm erneut der Atem. Es war keine geringere als Ayn Urkaiyney y`Yrten, die oberste Herrin der Silberwacht selbst. Nur warum? Warum war sie nicht draußen am Tor? Was hatte er nur getan, dieses Schicksal zu verdienen?

»Ich habe euch etwas gefragt! Und wer seid ihr überhaupt?«

Die Stimme der Kriegerfürstin kam näher. Endlich wandte Kyon sich vollends der großen Frau zu. Er räusperte sich, als er sagte: »Ich bin Katha`Kyon dan Y`shandragor, oh Herrin der Silberwacht, ich sehe eure Glorie.«

Sie trat neben ihn und plötzlich schien sie verwirrt zu sein. Mit bebenden Lippen sog sie die Luft in ihre Nüstern und er konnte sehen, wie sich die feinen Härchen in ihrem Nacken aufstellten. Eigentümlich berührt musterte er sie. Für eine Smavari war sie groß und vor allem wenig grazil. Ihre Oberarme zeugten mit dicken Muskelsträngen von ihrer Berufung als Kriegerin und ihr flacher, muskulöser Bauch wirkte hart wie Silberstahl. Kyon versuchte zu erkennen, was ihn an ihr am meisten interessierte und es waren eindeutig nicht ihre festen Brüste, sondern eher noch die markante Nase und ihre durchdringenden Augen. Sie trug nur eine Hebe aus dünnem Stoff und einen langen Lendenschurz, aber sie war ja auch hier zu Hause und wer rechnete damit, dass jemand in die Silberwacht einbrechen würde? Vielleicht würde sie in Zukunft gerüstet schlafen, überlegte Kyon.

Sie trat nun direkt neben ihn und sog erneut die Luft ein. Sie war eine Wölfin, versuchte ihn einzuordnen und hatte offensichtlich irgendwelche Probleme damit. Kyons eigene Unsicherheit war merkwürdigerweise verflogen. Diese mächtige Frau würde ihm nicht in die Quere kommen.

Sie strich sich die dunklen Wogen ihrer Haare aus dem Gesicht und sah ihn mit ihren eisblauen Augen direkt in die seinen.

»Der, dessen Vater von dem Lugen gefressen wurde«, stellte sie nüchtern fest und nahm noch einen Zug seines Geruches in sich auf. Er konnte sehen wie sich unter ihrem knappen Oberteil kleine Erhebungen bildeten als er sagte: »Sliyn Lonkaiyth dan Y`shandragor, das ist sein Name Wachtherrin.«

Sie ließ von seinen Augen ab und besah sich die Bleidecke zu ihren Füßen. Dann murmelte sie leise: »Lonkaiyth aus dem Hause Yˋshandragor. Ich erinnere mich. Schlimme Sache.« 

Einen Moment lang schwieg sie und Kyon wollte schon anheben um sich zu erklären, aber dann fragte sie ihn direkt: »Und was macht ihr nun hier in meiner Wacht?«

Ihre Stimme hatte deutlich an Härte verloren und er konnte sie nun ebenfalls riechen. Ein wenig verwirrt und für seine Verhältnisse eher ungewöhnlich verlegen machte er einen höflichen Schritt von ihr weg und sagte endlich: »Nun, es ist ein Abenteuer. Ich habe mich entschlossen in die Fußstapfen meines Vaters zu treten und nach der Schwarzen Perle von Gandband zu suchen.«

Sie sah ihn kritisch an und da war mit einem Mal etwas Verletztes in ihrem Blick. Spöttisch konterte sie: »Ihr wollt Lugenfutter werden?« Doch kaum hatte sie es ausgesprochen, war ihr anzusehen, dass sie ihre Worte bereute. Die Smavari waren nicht gerade für eine zimperliche Art bekannt und Spitzen wie die Ihre waren in einer Unterhaltung zwischen einer Ayn und jemandem der in ihr Schlafzimmer eingebrochen war noch gar nichts. Dennoch sahen ihre großen Augen mit einem Mal weit weniger eisig und hart aus.

»Nicht wenn es sich vermeiden lässt Lady Urkaiyney«, konterte er keck und deutete auf die Bleidecke. »Daher die bessere Vorbereitung als mein alter Herr es einst für notwendig hielt.«

»Eine Bleidecke gegen Drachenfeuer?« fragte sie erneut mit spöttischem Unterton. »Da werde ich euch kaum wiedersehen.«

Er lächelte, weil er wusste, dass sie natürlich recht hatte. Gegen den Odem eines Drachen war Blei nicht besser als eine dicke Schicht Lopenbutter. Eine vorsichtige Verneigung machend, sagte er mit fester Stimme: »Oh nein, die Decke soll anderen Zwecken dienen. Aber ich war noch nicht fertig. Ich wollte so viel von hier mitnehmen wie möglich.«

Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen und sie murmelte: »Die Schwarze Perle; ihr seid ebenso ein wirrer Geist wie Lonkaiyth. Möge er im Geist des Lugen seine Abenteuer finden.«

Kyons Magen zog sich unangenehm zusammen. Der Hinweis, dass sein Vater wahrscheinlich von der Chaosessenz des Drachen aufgenommen worden war und nun für den Rest aller Tage als Teil der Bestie existieren würde, gehörte nicht gerade zu seinen Lieblingsthesen.

Streng fuhren ihre Worte durch seine Überlegungen: »Rüstet euch aus. Bitte macht das mit Bedacht und dann verschwindet von hier, ehe ich euch doch noch dem Richter der Oberstadt vorführen lasse.«

Er bückte sich nach der schweren Decke und fand dabei sein Lächeln wieder. Als sie sich dicht an ihm vorbei schob, berührte ihre unbedeckte Flanke seine Hand und er fragte leise: »Schlaft ihr wirklich in der Waffenkammer? Ich meine, darf ich das in einem Lied verwenden?«

Sie sah zu ihm zurück und nahm ihm die Decke aus den Händen. Sie wog sie in einer Hand und knurrte leise: »Natürlich könnt ihr Herr Barde, aber schreibt die Melodie dazu in einem schön hohen Tonfall, denn ihr werdet keine Eier mehr für einen tieferen haben.«

Dann schubste sie ihm die Decke wieder vor die Brust als wäre das Ding aus Quinkhaut und stolzierte mit elegantem Hüftschwung, den er ihr überhaupt nicht zugetraut hätte, durch die Tür und überließ ihn so seinem Abenteuer.

Er hatte mühe die Decke zu halten. Sie musste wenigstens viermal so stark sein wie er. Ein seltsames Gefühl machte sich in seinem Herzen breit. Wäre es nicht besser gewesen, wenn sie ihn festgenommen hätte? Oder noch besser – sie hätte ihn mit in ihr richtiges schlafgemach nehmen können. Da hätte sie ihn mal so richtig bestraft und danach wäre er mit eingezogenem Schwanz nach Hause geschlichen und hätte über den ganzen Alptraum hier gelacht. Warum hatte er überhaupt einen derartigen Eindruck bei ihr hervorgerufen? Sie hatte seine Witterung aufgenommen und im selben Moment war sie verloren gewesen. Er hatte es genau in ihren Augen sehen können. Ihre Seele war in die Tiefe gestürzt und eine schwächere Frau, wäre dort unten ertrunken. Hatte sie in ihm einen Begatter erkannt? Smavarifrauen konnten so etwas. Fluch oder Segen – sie konnten riechen, wenn die Gene eines Mannes zu den ihren passten. Das Volk der Silberwölfe hatte nur sehr sehr selten Nachwuchs, aber wenn sich bestimmte Individuen trafen, verbesserte sich ihre Chance auf Nachwuchs deutlich. Aber ausgerechnet er und die Herrin der Silberwacht? Das Karma hatte wirklich Humor. Er musste sich das unbedingt merken. Vielleicht sollte er später wiederkehren und sich dieser Sache hingeben. Sie war zwar nicht die schönste Frau, die er kannte, aber sie war interessant und schien darüber hinaus für eine Kriegerin erstaunlich freundlich zu sein.

Er lachte und machte sich endlich daran, alles einzupacken, was ihm nützlich erschien. Ein riesiger Rucksack wurde mit militärischen Medpacks, Pfeilspitzen, Wasserflaschen und anderer, leichter Ausrüstung, die für Feldzüge hier gelagert wurden, vollgestopft. Am Ende schlich er gekrümmt und bepackt wie ein großes Dromirtha die Treppen hinunter. Keiner der Krieger nahm Notiz von ihm und als er auf die Gasse hinaus trat, versuchte er, seine Kapuze ins Gesicht zu zerren. Er sah zum Arsch der Raguelstatue hinauf und murmelte: »Ihr hattet sicher Träger Herr Raguel. Ich habe eine irre Hexe und einen Stumpen, aber wo sind die jetzt? Helfen sie mir etwa?«

Als er den Platz hinter sich gelassen hatte, blieb er stehen, ließ die Decke auf den Boden herunter und richtete seinen Überwurf. Die Sonnen brannten hell für einen Frühlingsmorgen. Sonnenfeuer und Drachenodem, Draiyn Andiled, wir kommen. 

 

Es war noch früh am Abend als Ughtred und der Silberwolf den Schankraum der Eindornigen betraten. Draußen erhellte das Flackern des Membranrisses die graue Dämmerung. Die Gassen waren nach wie vor leer. Niemand wollte sich auch nur den kleinsten moment des gruseligen Chaosrituals entgehen lassen. Ganz Shishney schien von einer morbiden Untergangsfaszination erfüllt zu sein.

Der Nygh hatte bei der Erinnerung an seinen letzten Besuch in der Kaschemme einen Knoten im Magen. Kyon, Ughtred hatte Probleme mit der Aussprache der Wolfsnamen, hatte beteuert, dass dies die beste Zeit wäre einen Kapitän für die Reise zu suchen. Schiffseigner, die in der Eindornigen einkehrten und sich nicht für Anderweltreisen interessierten, entsprächen genau ihre Ressourcenklasse. 

Missmutig ging der Nygh hinter dem Silberwolf her und kletterte auf einen der aus seiner Sicht viel zu großen Stühle an einem noch zu größeren Tisch. Es dauerte eine Weile, bis die anderen Besucher der Eindornigen sich an seinen Anblick gewöhnt hatten und er fragte sich die ganze Zeit, wann endlich die Stadtwache auftauchte, um ihn zurück in den Kerker zu bringen. Doch stattdessen kam eine schmutzige und sehr junge Quink an den Tisch und brachte dieses Zuckerwasser, das die Bewohner Kisadmurs Gelbwein nannten. Er konnte sich nicht erinnern, das Zeug bestellt zu haben und bei den Nippeln der Großen Mutter, er würde es auch nicht bestellen. Konnten denn in diesem Land nicht wenigstens die Quink irgendeine Art von Gerstensaft brauen? Zuckerwasser war etwas für Kinder.

Plötzlich deutete Kyon mit dem Stiel seiner Pfeife, er hatte sie gerade erst angebrannt, auf die Ledervorhänge der tropfenförmigen Eingangstür. Ughtred hob den Blick und dachte zuerst, der verdammte Kerl, der ihn zu der Sache am Bach überredet und damit in die Zitadelle befördert hatte, käme die kleine Treppe herunter, aber es war ein anderer Silberwolf. Er trug nur ebenfalls einen dreispitzigen Hut.

»Ist das ein Schiffskapitän nach eurer Ressourcenklasse?« fragte Ughtred übellaunig.

Kyon zog an seiner Pfeife und sagte ruhig: »Ein Moraidi. Ich weiß nicht, was er in Kisadmur macht, aber ich denke, wir sollten ihn fragen. Er wird es hier im Norden als Fremder nicht leicht haben und ist sicher auf jeden Fahrgast angewiesen.«

Fahrgast, wiederholte der Nygh die Bezeichnung, die sein Gegenüber gewählt hatte. Mussten die Wolfsschnauzen sich immer so dreieckig ausdrücken? Und dann dieses Ihr. Waren sie sich niemals selbst genug? Er verstand nicht, warum sich ein Wesen als Mehrzahl betrachten konnte. Aber er verstand ja auch nicht, wie man Zuckerwasser anstelle von Gerstensaft trinken und in einer Stadt voller Jauche leben konnte.

»Bah, gut, ich frag ihn«, sagte Ughtred, der endlich in die Gänge kommen wollte und ehe Kyon etwas erwidern konnte, war der kleine drahtige Mann auch schon von seinem Stuhl gesprungen. Er wartete einen Moment und ließ den vermeintlichen Kapitän in einer der vielen Nischen Platz einnehmen, doch sobald der, für einen Silberwolf erstaunlich dunkelhäutige Mann den obersten Knopf seines Mantels geöffnet hatte, war Ughtred auch schon zur Stelle. Er setzte sich unaufgefordert und frech auf einen der Stühle am Tisch des Kapitäns.

»So ihr seid also ein Marauder und ihr habt ein Schiffchen Herr Wolf, ob es euch dann auch genügen würde, uns für eine handvoll Ressourcen nach Nordwest zu bringen?« Ughtred war sichtlich stolz auf seine Ansprache, aber der Andere verstand zum Glück kein Wort davon. 

Bevor der Kapitän etwas antworten konnte, hatte sich Kyon zu dem Tisch gesellt. Er hob beschwichtigend die Hand und sagte: »Entschuldigt den Kleinen, Herr Kapitän. Aber ja, wir suchen tatsächlich Überfahrt und vielleicht können wir ja handelseinig werden.«

Der Moraidi griff sich in den Spitzbart und ließ dann grinsend seine Eckzähne blitzen. Dann gab er der Wirtin ein Zeichen und bestellte Gelbwein. Keine Stunde später hatten die Abenteurer ihre erste Passage auf einem südländischen Schiff namens die Unleidige gebucht.

 

Die Reise beginnt

Tal fluchte leise, als sie sich beim Versuch ihre Frisur zu richten in mit einem ihrer abgebrochenen Fingernägeln in einem der unbändigen Haarknoten verfing. Der Wind ließ sie frösteln, aber die Aussicht war atemberaubend. Im Süden war das Land so weit, dass man die Grenze Draiyn Andileds erahnen konnte und im Norden erhoben sich die Odoreys bis in den Himmel. Das ganze Land schien aus dunklen, mächtigen Nadelbäumen und riesigen verstreuten Felsbrocken zu bestehen. Als hätten die Urtitanen mit ihnen Murmeln gespielt, dachte sie und kaute dabei auf dem verschandelten Nagel herum. Am Horizont stiegen träge die rote Argol Fe und ihre weiße Schwester Hiyween in die kalte Luft auf. Tal kniff die Augen zusammen und schon die Kaputze ihres Ledermantels über den Kopf. Ihre Haut fühlte sich einerseits warm, aber auch taub an, wo die harten Strahlen der beiden Sonnen sie berührt hatte. Die Quinkmatrosen an Deck begrüßten den neuen Tag. Tal fragte sich wie sie das nur aushielten. Den ganzen Tag ohne Schutz dem Sonnenlicht ausgesetzt schufteten sie an Deck des Schiffes. Mit nackten Oberkörpern riefen sie sich in ihrer schnatternden Redeweise, aus der man kaum noch das Smavarische heraushören konnte, Befehle zu und schienen dabei die immer gieriger werdenden Sonnen überhaupt nicht wahrzunehmen. Vielmehr noch taten ihnen die bohrenden Finger der Himmelslichter ganz offensichtlich nicht weh. Glitschige Fischhaut, tote Reptilienäuglein, Schneckenschleim und Krötenzungen – Tal beneidete die seltsamen Mischwesen.

Schnell bog die junge Hexe den Rücken durch und versuchte, sich ein wenig in Position zu bringen, als Kyon aus der Kajüte im hinteren Teil des Schiffes trat. Er sah nicht minder derangiert aus als sie, aber das spielte für sie keine Rolle. Er war ein Sliyn und er war reich. Seine Kleidung, seine Haare, selbst seine Aura machten in ihren Augen selbst dann einen gepflegten Eindruck, wenn um ihn herum die unwirtlichsten Umstände herrschten. Selbst hier an Bord dieses nach Quink stinkenden Flugkutters und nach einer durchzechten Nacht sah er in seiner dunklen Lederkluft noch edel aus.

Dunkle Ringe unter den Augen sieht Kyon zu Tal auf. Er ist am Ende seiner Kräfte und wird den Tod willkommen heißen. Zuviel ist zuviel. Die Wildnis hat gesiegt …

Sie schüttelte ihren Kopf und die seltsame Vision kullerte aus ihren langen schmalen Ohren.

»Kalt oder?« versuchte sie einen Anfang, aber wie gewöhnlich erwiderte Kyon ihre Ansprache nur mit einem knappen Nicken. Er trat neben sie und zog seine Kapuze ebenfalls über den Kopf. Sie sah demonstrativ zu den beiden Sonnen hinüber und spürte das Bohren in ihren zusammengekniffenen Augen. Dann wandte sie sich ab und spuckte über die Rehling. Der Geschmack des moraidischen Rums überzog ihren Gaumen mit einem pelzigen Belag der sie an Schimmel auf einem Milchbecher denken ließ. Wie viele Tropfen hatte sie getrunken? Vier? Fünf? Konnte eine Silberwölfin so etwas überhaupt überleben? War sie tot und in den Tiefen des Myron gefangen? Sicher würden gleich Tentakel aus Kyons hartem Gesicht schlagen. 

Er sah selbst aus, als dächte er über die vergangene Nacht nach. Da war eine merkwürdige Leere in seinen Augen. War es ihm unangenehm mit ihr und dem irren Kapitän der Unleidigen geschlafen zu haben. Sie konnte sich ja kaum an die Geschehnisse nach dem Umtrunk erinnern und hoffte inständig, dass wenigstens der Skerge nicht mit von der Partie gewesen war. Angefangen hatte es mit einer Zote seitens des Moraidi und sie hatte ihre kleine Doppelklinge gezogen und ihm lachend gedroht den Bart damit zu kürzen; worauf er vorschlug ihren Bart in Augenschein zu nehmen. Sie hatte geprahlt frei von jedem Härchen zu sein aber die beiden Männer waren mit einer Aussage allein nicht zufrieden zustellen gewesen. Also hatte sie Rock und Lendenschurz gehoben und ihre Aussage mit blanken Tatsachen untermauert. Zu ihrem Glück hatte sie tatsächlich vor der Reise Sorgfalt walten lassen und ihren nagelneuen Phani auch noch das letzte Haar entfernen lassen. 

Die Herren trauten ihren Augen nicht und zogen ihre Handschuhe aus, um der Sache einen Gefühlstest zu unterziehen, denn die Welt war voller Täuschungen und nur was sich anfassen ließ, hatte überhaupt eine Chance, in die Kategorie Realität gehören zu dürfen. Schließlich hatte Tal lachend vorgeschlagen, nun den haarigen Kapitän ebenfalls zu glätten, und dieser ließ sich nach einem weiteren Tropfen Rum nicht lumpen und ließ ebenfalls die Röcke fallen.

So war eins zum anderen gekommen, aber irgendwie ärgerte sie jetzt Kyons stummes Verhalten. War sie nicht gut genug für ihn? Was genau sah der Herr Sliyn in ihr? 

Kyon deutete in Richtung des Gebirges. Ein Schwarm von Krähen zog ein Stück mit ihnen. Es mussten wenigstens dreißig dieser klugen Tiere sein, die da als schwarze Wolke neben ihnen her eilten. Wie ein düsterer Geist aus einzelnen Fasern stoben sie zuerst parallel zur Unleidigen und dann einmal über ihr hinweg und einmal unter ihr hindurch. Dann schwenkten sie nach Süden ab und verschwanden in den Weiten des Plagensumpfes. Tal sah erneut kurz in diese Richtung und schirmte dann ihre Augen endgültig von den Sonnen ab. Genug war genug. Sie hatte genug. Jetzt schon. Ihre Reise hatte erst begonnen und alles um sie herum fühlte sich falsch an. Sie sollte in Shishney in ihrem Zirkel sein. Ihr Bruder sollte von seinem Aufstieg in den Hallen der Chentai prahlen. Vorsichtig strich sie mit der rechten Hand über den Shimwas im Handschuh ihres Vaters. Es war egal was Akkatha sagte, sie würde einen Weg finden Northrians Geist und Seele aus dem Artefakt zu befreien und ihm ein neues Dasein zu schenken. Und wenn nicht, dann wenigstens einen erträglichen Aufenthalt im Jenseits. Der jetzige Zustand in dem Shimwas war ungewollt und nicht tragbar.

Vorsichtig sah sie zu Kyon hinüber. Ob er es ahnte? Der junge Barde blickte zu den Odoreys hinaus und schien überhaupt nicht zu denken. Was würde er wohl sagen, wenn er erführe, dass sein Geliebter nun direkt neben ihm an Bord dieses stinkenden Seelenverkäufers in einem Shimwas gefangen gehalten wurde? Pech und Schwefel, Höllenstein, es musste eine Lösung geben, aber mit dem blöden Sliyn hatte das ganz sicher nichts zu tun. Was hatte sie überhaupt mit dem Snob zu tun? Wäre er doch besser in seinem warmen Haus bei seiner irren Mutter geblieben. Was?

Sie machte auf dem Absatz kehrt und wollte gerade in Richtung Kajüte gehen, als sich die Tür knarrend öffnete und der Spitzhut des Kapitäns sichtbar wurde. Schnell änderte Tal die Richtung und ging zum Bug des Schiffes. Sie setzte sich auf die Reling und hielt sich mit dem Shimwashandschuh an einem der Takelseile fest. Windgeister zupften an ihrer Kapuze und wollten ihre Hexenhaut den Sonnen opfern. Quinkscheiße auf sie alle. Quinkscheiße.

Kapitän Yyveuis Randor trat neben Kyon und schlug ihm kameradschaftlich mit der behandschuhten Hand auf den Hintern. Er stank und Kyon musste sich beherrschen, die barbarische Geste unkommentiert zu lassen.

In einem wirklich rüden Ton dachte der Moraidi: »Na, est das was? Den Wind inne Haarr and de Luft um den Ohren – sˋest das Piratenleben. Ahoi and en Troppen von Rum!« Dabei legte er eine seiner Pranken auf die Schulter des Barden.

Kyon wusste nicht, ob es der moraidische Dialekt des Kapitäns, sein schrecklicher pseudophilosophischer Erguss oder der unerträgliche Mundgeruch des Seewolfs war, der ihm die Galle in die Kehle trieb. Er schluckte und versuchte, die Hand auf seiner Schulter zu ignorieren und hoffte inständig, dass Yyveuis von ihm abließ. Natürlich konnte davon keine Rede sein. Munter plauderte der Pirat weiter auf Kyon ein. Die Kleine wäre zwar nicht der tollste Wellenritt seines Lebens gewesen, aber anbetracht der Umstände wäre die Nacht doch wiederholenswert gewesen. Und dann das Waldtier. Der kleine hätte so seltsam dreingeblickt, dass es ihm, Yyveuis, einen derart prallen Ständer besorgt hätte, dass er überlege sich nun selbst einen Nygh zuzulegen. Komisch oder? Und dann der Handschuh. Er wisse ja nicht, warum die Hexe darauf bestanden hatte das Ding anzubehalten aber jetzt im Nachhinein hätte es sich als wirklich erbaulich herausgestellt. Sein Schwanz wäre nun zwar wund, aber das harte Leder hätte ihn …

Die Hände um die Reling gekrallt, schwor sich Kyon nie wieder moraidischen Rum zu trinken. Auch nicht einen Tropfen. Lebte der Nygh überhaupt noch? Er hatte mehr als einen ganzen Becher von dem Zeug gesoffen. 

Er ließ den Kapitän stehen und ging schwankend auf die andere Seite des Decks hinüber. Der Nygh saß auf dem Kajütendach und blickte witternd in die Ferne. Er sah so gesund aus. Diese Wesen waren widernatürlich. Er hasste die Winde, hasste das Schiff und er hasste sich. Was sollte das alles? Sein Vater war sicher auch auf solch einem Luftschiff gewesen, als er in Richtung Draiyn Andiled aufgebrochen war. Einen Augenblick überlegte er den Kapitän zu fragen, doch dann verwarf er den Gedanken. Stattdessen arbeitete er sich auf den feuchten Planken zu Tal an den Bug vor.

Er betrachtete ihre Silhouette, wie sie von links von den Geschwistersonnen angestrahlt vor ihm stand. Sie war so gewöhnlich. Ihr Mantel hatte tatsächlich Risse und war weder schwarz noch dunkelblau. Schmutzig war die einzige Bezeichnung, die ihm einfallen wollte. Und dann ihr Haar. Auf der einen Seite musste sie einmal eine Frisur gehabt haben, aber auf der anderen befand sich ein Vogelnest, an dem sie immer wieder herum zupfte. Es musste gebrannt haben. Wahrscheinlich hatte sie es sich bei einem ihrer Hexenversuche angezündet und unachtsam, wie sie war, einfach zu lange brennen lassen. Vorsichtig schob er seinen Hemdsärmel nach oben und begutachtete die feine Wunde, die sie ihm mit einem ihrer Fingernägel beigebracht hatte. Was für eine Nacht. Nie wieder Rum!

»Das da hinten muss Uraiyd sein.« Er deutete in Fahrtrichtung auf eine Unregelmäßigkeit im Gelände. »Danach kommt Elaiyney.«

Er wusste, dass sie ihre Route kannte, aber er wollte nun doch etwas sagen und etwas Klügeres war ihm auf die Schnelle nicht eingefallen.

Tal wandte sich ihm nicht zu. Warum eigentlich? Er war nicht nur ein Mann, sondern auch ein Sliyn! Sollte dies nicht genügen, dass sie sich zumindest nach ihm umwandte? Schon wollte er noch etwas sagen, als sich hinter ihm leise Schritte näherten. Es war der Nygh. Der Kleine ging wortlos an ihm vorbei und stellte sich neben die Hexe. Kyon musterte die Situation und sah sich selbst an genau der Position stehen, an der jetzt der Skerge stand. Er spulte die Realität zurück und versuchte, sich vorzudrängen. Träge und unendlich zäh zog er an der gravitativen Masse der Tiba Fe und damit an der Zeit und machte den ersten Schritt in die für ihn richtige Realität. Mit vor Anstrengung zusammengekniffenen Augen gab er alles, aber alles war leider nicht genug. So hätte er beim Versuch alles richtig zu stellen beinahe den Nygh berührt. Denn als Kyon die Augen öffnete, um das Ergebnis seines Schaffens zu betrachten, stand der Nygh wie ein Fels in der Brandung immer noch neben Tal.

Genervt und möglichst unauffällig machte der Silberwolf einen Umweg und begab sich auf die linke Seite der Hexe. So konnte er zumindest so tun, als wolle er sie gegen die Sonnen abschirmen.

»Proviant und Tiere werden nötig sein«, sagte der Nygh gerade. Er habe schon Notrationen besorgt, sei aber nicht sicher, ob diese reichen würden. Tal antwortete und gab zu bedenken, dass man in diesem frühen Stadium der Reise noch nicht wissen könne, wie, wo und wie viel Proviant man brauchen und besorgen könne, aber spätestens in Ilanwaiyn würde man schon weiter sehen.

Kyon resümierte die Worte der Beiden. Weder der Nygh noch sie sprachen ein aus seiner Sicht akzeptables Smavarisch. Tal hörte man die Herkunft aus Südkisadmur an. Da war etwas Breites und Züngelndes an ihrer Aussprache, als berühre sie bei jedem Wort mit der Spitze ihrer Zunge die Schneidezähne. Aber noch unerträglicher war natürlich die Aussprache des Tierwesens. Der seltsame kleine Mann sprach abgehackt und nutzte ständig dieselben Wörter. Es schien ihm ganz egal wie das klang, wenn man innerhalb einer einzigen Unterhaltung dreimal den gleichen Begriff einbaute. Ein Schiff fuhr, ein Schiff legte an, ein Schiff fuhr weiter – so konnte man doch nicht reden! Eine Himmelsbarke glitt dahin, ein Sternensegler kehrte heim und eine Tochter der Winde sagte lebewohl! So ging eine zivilisierte Rede. Nicht Schiff, Schiff, Schiff. Hinzu kam der Dialekt. Einzigartig unverständlich. Dann lieber mit Quink sprechen. Die waren zumindest einigermaßen in der Lage, die Schönheit des smavarischen Vokabulars zu würdigen.

Er bremste sich in seinen Gedanken. Das stimmt natürlich nicht. Es wäre schön, aber nein, es stimmte nicht. Das Quaken der Quink war wenigstens ebenso hässlich wie ihre Gesichter und natürlich waren sie ebenfalls nicht in der Lage einen klangvollen Satz zu modulieren. Verärgert bekam er gerade noch mit, wie der Haarige Tal nach Ressourcen befragte. Wollte er jetzt am Ende auch noch für die Fahrt entlohnt werden. Kyon hätte ihn am liebsten über Bord geworfen, aber er hatte auch Respekt vor dem Nygh. Er hatte gesehen, wie der kleine Mann den Quink beim Beladen der Himmelsbarke geholfen hatte. Er war verdammt stark der kleine Mann.

Langsam sah Tal zu Kyon herüber. Klar, wenn es um Ressourcen ging, war er die Adresse der Wahl. Aber hier ging es nicht um sie und ihren dummen Zirkel. Hier ging es um etwas anderes. Es ging um die Reise. Oder das Abenteuer. Oder ging es um beides? Er versank in der Vergangenheit.

Kyon hockt auf einem Teppich aus Quinkhaut und spielt mit der Saite eines Instruments. Seine Mutter sitzt schaukelnd auf ihrem Stuhl am Fenster und blickt in den frühen Sonnenaufgang hinaus. Der kleine Silberwolf weiß noch nichts von ihrer Sonnensucht. Da kommt sein Vater herein. Er lacht. Er lacht immer. Er ist der fröhlichste Mann, den es gibt. Mit einem lustigen Hopser landet Kyons Vater neben ihm auf dem Teppich und hält dem Jungen eine hölzerne Figur vor die Nase. Es ist ein hässliches Ding mit unzähligen Armen und Beinen, die an Drähten zappelten. Kyon kräht und langt nach der Figur und sein Vater erzählt etwas über die Würmer der Anderwelt und Kultstätten, die er besuchen will, um noch mehr solcher einzigartigen Artefakte zu bergen. Dann wird er still und sieht in die Zukunft. Schließlich langt er mit freundlichen Augen nach Kyons Haaren und drückt dem Welpen die zappelnde Holzfigur in die Händchen. Kyon schneidet sich an einem der Drähte und beginnt zu weinen, aber der Vater ist schon aufgestanden. Er weilt in anderen Sphären und muss reisen. Stattdessen schält sich aus der Dunkelheit das Faktotum des Vaters. Das Maskenmännlein sieht sich die Wunde an und tröstet den kleinen Silberwolf. Eines Tages, ja eines Tages, wenn diese Wunde längst vergessen ist, wird auch der Welpe reisen und dem Vater folgen.

Kyon schreckte hoch als die Unleidige einen Luftsprung machte und danach auf ihre alte Bahn zurück sackte. Ja, es ging um die Reise, aber die Wunde war alles andere als verheilt. Er strich sich wieder über den Striemen den Tal ihm letzte Nacht verpasst hatte. Er würde immer Wunden haben.

 

Nachdem sie Nachmittags Uraiyd überflogen hatte, erreichte die Unleidige eine Stunde nach Einbruch der Dunkelheit Elaiyney. Kyon überreichte die ausgemachte Entlohnung dem Zahlmeister des Schiffes und half dann Tal und Ughtred mit der Ausrüstung. 

Sie hatten sich abgesprochen und waren zum Ergebnis gekommen, so schnell wie möglich das nächste Schiff zu chartern, um keine Zeit zu verlieren. Ughtred hatte mehrere Jahreszeiten hier verbracht und kannte sich recht gut aus. Er empfahl den Hanfboden, eine Kaschemme nahe der westlichen Schiffsanlegestelle, weil er selbst hier vor langer Zeit erstmals kisadmurischen Boden unter den Füßen gespürt hatte. Außerdem wusste er, dass es hier neben gutem Gelbwein und diesem widerlichen Faltersud für die Wölfe auch herzhaften Gerstensaft für die Quink und damit für ihn gab. 

Tal schüttelte jedoch den Kopf. Sie sog die frische Luft in die Lungen und sagte, sie wolle zuerst nach einer Alchemistin suchen. In einer stinkenden Kaschemme wäre es nicht besser als an Bord dieser Schiffe und sie müsse ohnehin ihre Vorräte auffrischen, bevor es weiterging. Gesagt, getan, gaben sich die Männer wichtigen Geschäfte in dem Gastraum hin und die Hexe schlenderte mit Hüftschwung davon.

 

Die ersten Werftarbeiter, allesamt Quink, konnten mit dem Begriff Alchemistin überhaupt nichts anfangen, aber als sie die Plattform über eine breiter, erstaunlich schön gearbeitete Holztreppe, die von mehreren natürlich gewachsenen Bäumen getragen wurde verließ, traf sie auf einen Quink, der einen Reisigbesen schwang und die Stufen vom Unrat der Schiffsbesatzungen befreite. Sie fragte den älteren Mann und dieser wies die Treppe hinab. Dann sagte er: »Denke, erstes oder zweites Haus auf der rechten Seite. Nehmt euch aber vor der Frau unter den Stufen in Acht Herrin.«

Tal wollte schon weitergehen, fragte dann aber doch, was er mit der Frau unter den Stufen meinte, aber der Alte war schon einige Stufen hinunter gegangen und gab keine weitere Auskunft. Sie zuckte mit den Schultern und hopste an dem Spinner vorbei. Unten gingen mehrere Wege von der Treppe ab, aber auf der Rechten Seite, gab es tatsächlich ein unglaublich schmales Häuschen mit einem Schild, auf dem Tiegel und Pipette abgebildet waren, ein eindeutiges Zeichen wie sie fand. Das Haus selbst war gerade einmal zwei Schritt breit und sie fragte sich wie man unter solchen Umständen wohnen konnte, aber dann erinnerte sie sich an die Quinkpension in der sie sich mit Northrian ein Zimmerchen geteilt hatte und ihr wurde schwer ums Herz. Niedergeschlagen von ihren eigenen Erinnerungen drückte sie gegen die Tür und fand sie verschlossen vor.

Es gab eine Schelle an einem gebogenen Federarm und sie schlug wütend nach dem Ding. Ein helles Klingen drang durch die unbelebte Gasse. Die junge Hexe blickte sich erschrocken um, aber offenbar interessierte sich keiner der Nachbarn der Alchemistin für deren Kunden. Kein Fenster öffnete sich und kein Vorhang wurde zur Seite gezogen und nur eine alte Quink mit einem Joch, an dem zwei schwere Wassereimer hingen kam die Gasse herauf, nahm aber ebenfalls keine Notiz von Tal.

Sie wollte schon ein zweites Mal nach der Klingel schlagen, aber jemand kam ihr zuvor. Die Tür wurde von innen aufgerissen und damit die Klingel erneut betätigt. Wie ein silbernes Fischlein zappelte das Ding an seinem Federarm auf und ab und bimmelte hilflos.

Tal war erschrocken, beruhigte sich aber sofort und sah die Person an, die durch den Türspalt kaum zu erkennen war. Mit dem Fuß schob sie die Tür weiter auf, obwohl die vermeintliche Besitzerin sich von innen dagegen stemmte. Was für ein seltsames Gebaren, dachte Tal und drückte die Tür endgültig auf. Vor ihr stand die Alchemistin. Es war wirklich eine Frau, aber was für eine. Das Gesicht des Wesens war durchscheinend wie das eines Geistes, die Haut war blütenweiß und ihre Augen lagen derart tief in den Höhlen, dass sie kaum noch als solche zu erkennen waren. Das Haar war zum Großteil ausgefallen und stand in kurzen struppigen Büscheln vom Schädel ab und Tal griff sich instinktiv ins eigene zerzauste Haar und betete, nicht eines Tages auch so zu enden. Sie nahm sich vor, so bald wie möglich etwas an ihrer Erscheinung zu ändern. Dann fiel ihr Blick auf die Hände der Alchemistin und sie erschrak. Die Finger waren verknöchert und verkrümmt und bestanden nur aus Haut und Knochen.

Unangenehm berührt sah Tal der Silberwölfin ins ausgemergelte Gesicht und stellte sich vor. Die andere tat es ihrer Kundin gleich und sagte mit eindeutigem Irrsinn in der Stimme: »Ich bin Uniath yr Dan`Nestraiyth, Alchemistin und Totenpflegerin von Elaiyney und habe daher wenig Zwei für Schwaz und Tratsch. Was wollte ihr aus diesem Gelass?«

Gelass war das richtige Wort für den Laden, dachte Tal und sah sich um. Alles war eng und unübersichtlich angeordnet. Bei einer Breite von höchstens zwei Schritten hatte die Verrückte es geschafft, drei Tische im Raum unterzubringen. Hinzu kamen Schränke, Regale und wenigstens zwei große Standuhren und zu allem Überfluss hing an der Decke ein ausgestopftes moraidisches Krokodil! Ansonsten war jeder freie Stellplatz mit Tiegeln, Flaschen, Schädeln, Pfannen, Schalen, Papiertüten und anderen Verpackungen – welche Tal nicht unbedingt sofort als solche erkannte – vollgestopft.

Sie brauchte einen Moment, um ihre Blicke am Abschweifen zu hindern, als sie in einer Ecke des Raumes etwas aus Federn bemerkte, dass sich bewegte, aber keinen materiellen Körper zu haben schien. Sie blinzelte es weg, nur um auf den toten Hobgoblin auf dem Tisch neben ihr aufmerksam zu werden. Er war teilweise mit Papierseiten abgedeckt, aber seine Brust war zu sehen. Man – oder wohl eher Frau – hatte ihn aufgeschnitten und mit einem violetten Moos ausgepolstert, auf dem nun tausende winziger weißer Pilze wuchsen. 

Tal rieb sich die Nasenwurzel und fragte nach den Zutaten, wegen denen sie dieses Höllenlabor betreten hatte. Die andere lachte irre und begann, Dinge zusammenzusuchen, bis sie abrupt mitten in der Bewegung verharrte.

»Zahlen, ihr könnt doch zahlen oder?« fragte sie mit gedehnter Stimme und fügte schnell hinzu: »Wiiiiier nehmen nur Ressourcen, denn nur Bares ist Wahres!«

Genervt holte Tal ein Säckchen aus ihrer Umhängetasche und zeigte der Alchemistin ein paar Nägel, einen kleinen Gemmen und einen seltenen, fliederfarbenen Klemmbaustein aus der fernen Zukunft. Die Mehr-oder-weniger-Tote beugte sich wie ein Rachegeist über Tals Hand, begutachtete das Zeug und schüttelte energisch den Kopf. 

Tal sah sie an und sagte halblaut: »Bares ist Wahres!?«

Wieder ein Kopfschütteln. Dann knirschte die Alchemistin: »Etwas Anderes, etwas Schönes, etwas Überraschendes zum Spielen und Naschen soll es sein.«

Tal verdrehte die Augen und beförderte ihren Sinth, einen kleinen Spiegel mit Silberrahmen, den ihre Mutter ihr geschenkt hatte hervor. Aus war es mit der Kosmetik und ihrer fürderen Selbstdarstellung. Aber egal, die Reise würde hart werden und sie hatte ja einen Sliyn der ihr wie ein Spieglein ständig vorhalten würde, wie ungepflegt sie aussah.

Der Höllengeist griff wie von Furien geritten nach dem Spiegel und wickelte sich fast um ihn herum. Tal fragte sich, wie sich eine Silberwölfin derart zusammenrollen konnte, aber sie hatte sich selbst noch nie im Schlaf gesehen und wusste daher nicht, dass sie ebenfalls zu diesem Frauentyp gehörte.

Schließlich willigte die verrückte Uniath ein und setzte ihre Arbeit fort, um die gewünschte Ware zusammenzusuchen.

Als die Alchemistin fertig war und Fragte, ob ihre Kundin Tragetaschen benötigte oder ob es so ginge – sie könne die Sachen auch als Geschenke verpacken – begann Tal alles in ihre eigenen Beutel zu räumen und verabschiedete sich; nicht traurig diese verrückte Episode dieser Geschichte hinter sich zu bringen. Doch plötzlich schien die Alchemistin einen klaren Moment zu haben und sagte mit, für ihre Verhältnisse recht normaler Modulation: »Habt eine gute Zeit Frau Hexe, und hütet euch, vor der Frau unter der Treppe!«

Beinahe hätte Tal nachgehakt, aber die Alchemistin war schon wieder in ihren irren Singsang verfallen, plapperte vor sich hin und pries Krokodilgalle gegen Fußpilz an. Daher entschied sich die Hexe, lieber sofort diesen Hort des Wahns zu verlassen, ehe sie selbst zu seinem Opfer werden konnte.

 

Der frühe Morgen hatte die Gasse mit Nebel gefüllt. Irgendwo war das kehlige Bellen von Lopen zu hören und die Alte mit dem Joch kam nun mit leeren Eimern zurück. Nachdenklich ging Tal langsam zu der Treppe zurück. Alles war so still und friedlich hier. Doch anstelle von Ruhe stahl sich ein eher ungutes Gefühl ins Herz der jungen Hexe. Dann bemerkte sie plötzlich eine Bewegung in ihrem linken Augenwinkel und blinzelte in den immer dichter werdenden Nebel. War da eine Frau auf den Stufen? Tatsächlich, eine nackte, dürre Frauengestalt mit hängenden Brüsten zappelte in ihr Blickfeld. Sie fröstelte und fragte sich, warum die Silberwölfin bei dem diesigen Wetter keine Kleidung trug. Als es um sie herum immer dunkler wurde, fühlte sie sich nur noch aufgefangen; wenn auch verloren im Nebel. Dann glitt sie in waberndes Nichts hinüber und das Letzte das sie spürte, war eine brennende Hitze an ihrer Kehle.

 

Im Hanfbogen unterhielten sich Kyon und Ughtred mit einem Kapitän namens Daarith Anhauly. Der Mann schien zwar selbst für Kyon merkwürdig verschrobenen Einsichten zu folgen, er war ein okkulter Fanatiker, der sich die Rückkehr der Nugai wünschte, um mit diesen gegen die Asan in den Krieg zu ziehen, aber er hatte auch ein Schiff und würde in Kürze in Richtung Nordwesten aufbrechen. Gerade waren sie mit dem Verrückten handelseinig geworden, als Ughtred fragte, wie lange so ein Hexeneinkaufsbummel normalerweise dauerte. Alarmiert sah Kyon auf und nippte bedächtig an seinem Faltersud. Nur ein Silberwolf konnte gleichzeitig erschrecken und in aller Ruhe eine heiße Brühe schlürfen, dachte der Nygh. Doch er selbst hatte tatsächlich eine ungute Befürchtung und konnte nicht mehr ruhig sitzen. Er stand auf und gab dem Barden ein Zeichen, es ihm gefälligst gleich zu tun und siehe da, der Silberwolf gehorchte.

Sie verließen den Hanfbogen und sahen zuerst nach Odugme, doch der hockte auf Norths Sarg und wusste auch nichts zu Tals Verbleib zu sagen. Wie auch, ohne Zunge, murmelte Ughtred leicht genervt und ging zum Ankerplatz hinaus. Wohin war sie gegangen? Er fragte zwei Quink, ob sie eine Hexe gesehen hätten und beide antworteten, es gäbe hier viele Hexen. Er schüttelte verdrießlich den Kopf, zwirbelte seinen Bart und strich sich dann über das Zeichen auf seiner Stirn. Er fragte sich, ob viele der Silberwölfe es erkannten, zwischen seinen restlichen Tätowierungen. Wie bei den Nyghs üblich, war der ganze obere Teil seines Kopfs mit grüner und dunkelblauer Farbe bedeckt. Linien und Muster überzogen seinen Schädel und das Wolfshexenzeichen war nur ein Teil dieses Schmucks. Als Kind, war es sehr deutlich zu sehen gewesen, aber als er alt genug gewesen war, sich unter den farbigen Dorn zu begeben, hörte es auf sein Leben zu überschatten. Zumindest hörte es auf, dass die Leute die ihn ansahen hinter seinem Rücken tuschelten. Er wusste ganz genau, dass dieses Zeichen sein Dasein bis in den Tod und vermutlich darüber hinaus beeinflussen würde.

Kyon trat neben ihn und nestelte an seiner Pfeife herum. Er war im Begriff das Rauchzeug anzuzünden und blickte in den aufkommenden Nebel. Wie konnte man Pfeife rauchen, wenn man jemanden suchte, den man mochte? Oder mochte er die Hexe gar nicht? Sie hatten doch beieinander gelegen, er war von ihrer Art, reichte das nicht, um sich Sorgen um ihren Verbleib zu machen? Wahrscheinlich dasselbe wie mit dem Faltersud. Andererseits, was wollte man von einem Wesen erwarten, dass eine Brühe trank, die aus zu Tode geschmorten Faltern extrahiert wurde?

Doch dann deutete Kyon auf eine der Treppen, die von der Anlegeplattform gingen. Hier schien der Nebel am dichtesten zu sein. Ughtred sah den Silberwolf an und fragte: »Warum da?« und Kyon antwortete lakonisch: »Sieht mit Abstand am ungemütlichsten aus. Da wird sie sein.«

Endlich war die Pfeife entzündet und Kyon machte den Ersten Schritt die Stufen hinunter. Es war kaum noch etwas zu sehen, so dicht war hier der Nebel. Ughtred schüttelte den Kopf, aber offenbar verfügten die Wölfe ja tatsächlich über Instinkte, die er selbst nicht nachvollziehen konnte, also ging er Kyon hinterher und überholte ihn schließlich, weil der Barde für seinen Geschmack der Sache immernoch nicht mit der notwendigen Dringlichkeit nachging. Dann stockte ihm der Atem. Genau dort, wo einer der Stützbäume der Treppe über das Geländer hinaus ragte und mit seinen verzweigten Ästen eine Art Wand bildete, hockte die Hexe mit dem Rücken gegen das Holz gelehnt. Reglos wie eine Puppe starrte sie mit offenen Augen in den Himmel und Ughtred befürchtete das Schlimmste. Verdammt nochmal, das konnte nicht sein! Seine Hexe, die Hexe für seinen Vater – bei allen Amytoren, das konnte, durfte und sollte einfach nicht wahr sein.

Er stürzte auf die regungslose Frau zu und schüttelte sie und jetzt war auch Kyon zur Stelle. Ughtred hob sie auf und gemeinsam trugen sie Tal bis zur Plattform hinauf. Tals Hals war rot von ihrem Blut und wies mehrere tiefe Wunden auf. Etwas, ein Tier oder vielmehr eine Bestie hatte sie gebissen und dann ihr Blut aufgeleckt. Atmete sie überhaupt noch? Ihre Augen standen immer noch offen, doch sie schienen ins Nichts zu blicken. Dann verpasste Kyon ihr ohne Vorwarnung eine schallende Ohrfeige und wenn Ughtred nicht dazwischen gegangen wäre, hätte er direkt noch einmal zugeschlagen. Tals Wange färbte sich rot, aber die Hexe blinzelte und schnappte nach Luft wie ein geretteter, beinahe ertrunkener Welpe.

Kyon flüsterte bestimmt: »Vampir!« Dann zog er an der Pfeife, blies die Hexe an und vertrieb so den bösen Geist und sagte in ihr Husten hinein: »Das wird wieder.«

Der Nygh sah ihn wütend an, aber er hatte keine Zeit, sich um den Snob zu kümmern. Vorsichtig versuchte er mit der Hand die Wunde zu reinigen, aber sie blutete immer noch. Dann suchte er in der Ausrüstung der Hexe nach einem Tuch und fand schließlich etwas Passendes, um es ihr um den Hals zu knoten. Tal machte einen mehr als erschlagenen Eindruck, der eindeutig nicht nur durch den Blutverlust hervorgerufen worden war. Hier waren üble Mächte im Spiel und Ughtred war froh, in seiner damaligen Zeit in Elaiyney von solchen Dingen verschont geblieben zu sein. »Verdammt«, sagte er wütend, »nichts wie weg von hier!«

 

So kam es, dass sie mitten in der Nacht und überaus übellaunig an Bord der Getroffenen unter dem finsteren Kapitän Daarith Anhauly gingen. Ughtred machte es sich in einer Hängematte im Mannschaftsdeck gemütlich. Ihn hatte der gestrige Tag nur wenig ermüdend, aber er hatte kaum Zeit gehabt, seine Gedanken zu ordnen und war daher froh, ein paar Stunden für sich zu haben. Die Sache mit der Hexe hatte ihn noch mehr aufgerieben. Es schien ihr zwar gut zu gehen und sie selbst machte sich offenbar am wenigsten aus der Verletzung, aber für ihn war das Ganze schlichtweg grauenhaft. Genau das war der Grund, warum die Ältesten und die Wissenswarer Korezuuls vor der Welt der Silberwölfe warnten. Natürlich hatte alles zwei Seiten, aber in diesem Fall hatten sie unumwunden recht. Wenn in Dranought, seiner Heimatstadt, ein Wesen durch die Gassen schlich und andere angriff, ihnen in die Hälse biss und dann ihr Blut tränke, würde jeder Nygh nicht eher ruhen, bis dieses Ding gestellt und erledigt worden wäre. Hier konnte man froh sein, eine lakonische Warnung zu erhalten. Ja, da geht es zu den Brunnen, ach und seid ein bisschen vorsichtig, unter der Treppe lauert ein Vampir. Ist der Frühling nicht wunderbar?

Darüber hinaus wunderte er sich, dass die Hexe sich keine Sorgen um irgendwelche Folgeerscheinungen machte. Gab ein bisschen Salz in eine Suppe und die Silberwölfe kosteten davon, kotzten sie sich die Seelen aus den Leibern. Bei starkem Sonnenlicht dauerte es nur Minuten, bis sich ihre ungeschützten Gesichter rot zu färben begannen. Würde man einen von ihnen nackt im Sommer auf die Straße ketten, er würde zweifelsfrei in einer spontanen Selbstentzündung in Fallen aufgehen. Ein einziger Tropfen Rum hatte Tal und Kyon derart zum Wanken gebracht, dass sie zusammen mit dem bärtigen Piraten eine lüsterne Orgie gefeiert hatten. Ach, ihr wurdet von einem Monster in den Hals gebissen? Ja, ich hoffe, es wird keine Narbe bleiben, aber zur Not kann ich ja einen Schal darüber drapieren. Würdet ihr Fuchsie oder Karmesin wählen, bei meinem aktuell doch sehr blassen Teint?

Er schüttelte den Kopf und rollte sich auf der Hängematte zusammen. Pest und Teufel, die machten ihn verrückt.

Unterdessen teilten sich Die Bett und Kajüte, doch sie waren beide zu erschöpft, um sich mit Peinlichkeiten zu befassen. Sie fielen fast gleichzeitig in tiefen erholsamen Schlaf. Vor der Kajüte hockte Odugme wie immer auf dem Sarg. Tal hatte seinen Namen aus ihm herausgekitzelt, was ob des Fehlens seiner Zunge alles andere als einfach gewesen war. Dies schien ihr wichtiger gewesen zu sein, als ihre Episode auf der Treppe von Elaiyney. Der Phani schlief im Sitzen, aber irgendein Teil seiner Wahrnehmung hielt Wache und wartete auf die Befehle seiner Herrin.

So verschliefen die ungewöhnlichen Reisegefährten den ganzen Reisetag und wachte erst auf, als das Schiff über Verith Kiriyn zu Boden ging. Hier wurde eine Ladung von Sklaven an Bord gebracht und dieser Vorgang machte derartigen Lärm, dass an Schlafen nicht mehr zu denken war. Bei den Sklaven handelte es sich um Amyril, amphibische Sumpfbewohner, die sich nackt und ängstlich im Laderaum zusammenkrümmten und unter großem Gewimmer ihrem Weitertransport entgehen sahen.

Den ganzen nächsten Tag verbrachte das Schiff an der Flanke des Gebirges und machte trotz diesigen Wetters gute Fahrt. Gegen Mittag überflog es Feynbaiyd und abends wurden die Segel eingeholt und die Ankerseile nach Orith Verias herabgelassen. Die Amyril wurden von Bord getrieben, aber Kapitän Daarith hatte offensichtlich noch einen weiteren Auftrag, denn emsige Arbeiter brachten Truhen und Fässer an Bord. Leider führte der Handel die Getroffene zurück in Richtung Shishney und so sehr es Kyon in den Fingern juckte, sie musste weiter nach Nordwesten.

Lichtblitze ziehen flackernd an ihm vorüber. Der Boden donnert und er muss sich an einer der Metallstangen neben und über ihm festhalten. Die Blitze sind gelbe Lichter im Tunnel um ihn herum und das Donnern und Flackern kommt von der Bewegung, in der er sich befindet. In der Bewegung, anders kann er seinen Zustand nicht beschreiben. Immer schneller geht die Fahrt, immer verwirrender rasen die Blitze um ihn herum und das Rattern unter ihm droht ihm die Sinne zu rauben. Dann bewegt sich eine Gestalt auf ihn zu. Es ist ein Mann, kleiner als er selbst und hässlich. Er trägt seltsame Kleidung und Kyon erkennt in ihm keinen Silberwolf, kann ihn aber auch keiner, ihm bekannten Spezies zuordnen. »Nicht nach Prag!« übertönt der fremdartige Mann das Chaos, welches sie beide umgibt. »Nie wieder Prag!«

Kyon öffnete vorsichtig die Augen und sah sich von den drei anderen umringt. 

»Was war denn das jetzt?« fragte Ughtred mit einem für seine Verhältnisse ungewöhnlichen Grauen in der Stimme. Tal blickt sich kurz um, als wolle sie feststellen in welcher Realität sie sich befand und sagte dann: »Er hatte eine Vision.«

»Dann soll er die in Zukunft bei sich behalten, der Herr Wolf«, blaffte der Nygh und wandte sich ab.

Kyon sah Tal und den neben ihr stehenden Phani an als er sagte: »Eine Art Fahrzeug und ein Mann, vielleicht eine Art Maskenmännlein, der mich vor einem Ort namens Prag warnte.«

Die Hexe nickte und sagte: »Wir haben das Rattern unter den Füßen gespürt und dachten es wäre ein Erdbeben gewesen.«

Dabei beließen sie es. Visionen kamen und gingen. Man würde sehen, was diese zu bedeuten hatte.

 

Orith Verias machte einen verschlafenen Eindruck und die Kaschemme an der Anlegestelle schien schlecht besucht. Kyon wäre am liebsten direkt in das nächste Schiff gestiegen, aber dies erwies sich als schwieriger als erwartet.

Zu dritt gingen Kyon, Tal und Ughtred von einem der an der Landeplattform festgemachten Schiffe zum nächsten, aber niemand konnte ihnen ein Schiff empfehlen, dass weiter aus Kisadmur hinaus gefahren wäre. Ermüdet und mit wenig Hoffnung im Herzen schlichen sie doch noch in eine der Kaschemmen. Kyon überlegte kurz ein Lied anzustimmen, denn der Schankraum war so trist und still, dass es ihm das Herz verdrehen wollte, aber dann deutete Tal mit dem Kinn auf einen Mann an einem der Tische. Der Schankwirt hatte ihr offenbar den Tipp gegeben. Gemeinsam standen sie wenige Sekunden später vor dem vermeintlichen Kapitän und Kyon stellte sich und seine Mitreisenden vor. Der andere stand nicht auf, machte aber Anzeichen, dass sie sich setzen könnten. Sein Name war Haadrian Streyney, der Kapitän der Verlorenen, aber er hatte weder Auftrag noch Befehl und so würde er hier vor Ort liegen bleiben. Kyon lächelte und beförderte ein Beutelchen mit Edelsteinen und einem Goldring zutage. Dies munterte den abgehalfterten Kapitän ein wenig auf. Nach Ilanwaiyn war es nicht weit. Ein Flugschiff konnte die Strecke in wenigen Stunden bewältigen. Warum nicht? Edelsteine und ein Goldring und noch dazu interessante Passagiere waren allemal besser als die schäbigen Kaschemmen von Orith Verias. Gesagt getan erhob sich Haadrian und erklärte den nun doch verdutzt dreinblickenden Gästen, wenn es nach ihm ginge, könne man direkt abheben!

In stockdunkler Nacht wurden die Segel gesetzt und das Schiff machte sofort gute Fahrt. Die Geister der Winde hatten sich offenbar auch vorgenommen Korezuul zu besuchen, denn sie rissen die Verlorene geradezu mit sich. So kam es, dass die Schwestersonnen noch nicht aufgegangen waren, als der Ausguck am höchsten Mast Licht ausrief und siehe da, bald darauf kamen die Häuser Ilanwaiyns in Sicht.

 

Vier Tage hatten die Schiffsreisen gedauert und nun waren sie endlich in Ilanwaiyn zu Boden gegangen. Ughtred wusste nicht ob man das so nannte wenn ein Luftschiff anlegte. Er hatte versucht die smavarische Sprache zu meistern, aber diese selbst auferlegte Bürde hatte sich als schwerer als erwartet erwiesen. Die Sprache der Silberwölfe war ein gesungenes Wirrwarr aus Begriffen und sich widersprechenden Aussagen, die nach mehrfachen Verneinungen ein Ja ergaben. Oder doch ein Nein? Oder ein Vielleicht? Er wusste es nicht, Er war müde vor Sorgen um seinen Vater. Hinzu kamen die Selbstzweifel. Es war ja nicht nur die Sprache, die ihm Schwierigkeiten bereitete. Früher war ihm das Wissen so wichtig vorgekommen. Er hatte die Kleingläubigkeit und die Enge Korezuuls gehasst. Dieb hatten sie ihn genannt; weil er Kristalle geliehen hatte, um sie zu lesen. Sein Volk mochte den Fortschritt nicht und tat alles um eben alles immer und immer beim Alten zu belassen. Aber da musste doch mehr sein? Die Wölfe flogen auf Schiffen in die Sterne hinaus! Was mochten sie dort finden? Das Universum musste endlos sein, wenn um jeden Lichtpunkt den er am Nachthimmel zu sehen bekam, Welten wie die Tiba Fe rotierten. Jede Welt hatte Bewohner und diese lebten in verschiedenen Kulturen und somit musste es unzählige Sprachen geben. Was noch? Er wollte seine Gedanken ordnen, aber wie immer wenn er über das Wissen an sich nachdachte überschlugen sie sich. Doch dann war da wieder sein Vater. Als die Krähe ihm die Nachricht über den Unfall überbracht hatte, war Ughtreds Herz beinahe zum Stillstand gekommen. Ein Amytor an sich war schon schlimm genug, aber einer dessen Gift bei einem Nygh wirkte, war nicht nur ungewöhnlich, sondern auch höchst gefährlich. Die Nyghs kannten keine Vergiftungen. Sie stammten von Crynos, dem Urtitanen selbst ab und keines seiner Kinder war empfindlich gegen Krankheiten oder Gifte. Dennoch schien die Ausnahme die Regel zu bestätigen, denn die Krähe hatte vom Hauch des Todes gesprochen. Ughtred war sofort aufgebrochen, aber er wusste noch nicht einmal genau, ob er sich auf einer Rettungsmission oder auf dem Weg zu einer Beerdigung befand. Dieb hatten sie ihn genannt und sein Vater hatte das Wort wiederholt. Sie waren im Streit auseinander gegangen und jetzt würde Ughtred den Schmied vielleicht nie wieder sehen. Aber er wollte selbst in Amytorenblut baden, wenn er es nicht wenigstens versuchte. Zumindest das Karma schien auf seiner Seite zu sein. Eine Hexe sollte es sein und eine Hexe hatte er gefunden. Wenn die Wölfin mit dem wirren Haar seinem Vater keine Heilung bringen konnte, dann konnte es niemand. Dann war da nur noch die große Mutter und ihre warmen Arme. 

Er sah sich auf dem Landeflecken von Hirschheim um. Hirschheim, die Wölfe mochten solche Namen. Es schien ihm, als sehnten sie sich  nach einer Rückkehr zur Mutter, aber allein mit Worten würde ihnen dies sicher nicht gelingen. Sie hatten dieser Welt schlimme Wunden beigebracht. Allein Draiyn Andiled war das grausigste Zeugnis ihrer Taten. Die größte Wüste aller Zeiten war einst ein grüner Ort des Überflusses gewesen. Bis die Wölfe kamen. Nun war das Land östlich von Korezuul und Kisadmur ein glühendes, von Amytoren wimmelndes Sandmeer.

Kopfschüttelnd wandte sich Ughtred einem der Quink auf dem Platz zu und fragte nach einem Hafenmeister oder jemandem, den man um Proviant bitten konnte. Leider konnte der Arbeiter ihm keine Auskunft geben, deutete aber mit seinem Fingerdorn auf ein kleines Haus am Platz. Das Bogentor sei eine gute Kaschemme, in der man sich ausruhen und erkundigen könne. Also wartete der Nygh auf die beiden Wölfe und den großen schwarzen Mann. Als sie endlich auch von Bord kamen, berichtete Ughtred von der Kaschemme und die ungleichen Reisegefährten nahmen den Vorschlag an. Die Hexe befahl ihrem Sklaven, sich auf den Sarg des toten Bruders zu setzen und vor der Kaschemme zu warten. Die beiden Männer erinnerten sich nur zu gut an die Geschehnissen in Elaiyney und hatten nicht die geringste Lust, den Ort einer näheren Untersuchung zu unterziehen und so gab Tal nach und sie kehrten wortlos ein.

Wie in den meisten Gasthäusern der Wölfe wurde auch das Bogentor von einem, oder wie in diesem Fall einer Quink geführt. Man bestellt bitteren Faltersud und Ughtred fragte nach Gelbwein, Gerstensaft und vor allem jemanden, der sie ausrüsten könne. Die Wirtin, eine Frau namens Iktiks, schien den Nygh nett oder zumindest interessant zu finden und schenkte nicht nur großzügig Gerste aus, sondern beschrieb ihm den Weg zum Haus des Lopenhirten Ileandis Aarunaiydt. Er sei der Beste seines Faches und niemand hätte bessere Lopen unter Vertrag als er.

Gerade als Ughtred sein Wissen mit den beiden anderen teilen wollte, öffnete sich die Tür der Kaschemme und die Wirtin zog die Aufmerksamkeit des Nyghs mit einem Pfiff auf sich. Dann deutete sie mit den Fingerdornen beider Hände auf die Neuankömmlinge und brachte mit Gesten zum Ausdruck, dass es sich bei ihnen um keinen anderen als den besagten Hirten und seinen Leibwächter handelte.

Einige Augenblicke später hatten die drei den Silberwolf und seinen Begleiter, einen unglaublich massigen Quink an ihren Tisch gebeten und zu Gelbwein eingeladen. Ileandis war groß und schlank und sein Gesicht vereinte eine wilde herbe Seite mit der Schönheit der Smavari. Seine Augen waren stechend und gelb und erinnerten an die Blicke eines Raubvogels. Er trug nur einen dunklen weiten Rock und seinen Oberkörper zierten schwarze Striemen. Trotz seiner eher der Wildnis zugehörigen Natur schien er aber ein freundlicher Silberwolf zu sein. 

Der Quink an seiner Seite war ebenfalls eine Besonderheit. Er stellte sich selbst als Bjurk vor und als Tal ihn mit Du ansprechen wollte, tätschelte er ohne zu zögern seine gewaltige Kriegsaxt und sagte: »Entweder beide Du, oder beide Ihr, ganz nach belieben!« Seine Aussprache war dabei so fern des üblichen Quinkgequakes und sein Blick so hart und offen, dass Tal sich tatsächlich für ein beidseitiges Ihr entschied.

Ileandis verstand, um was es den Fremden ging, warnte nur einmal vor den Gefahren der Reise und akzeptierte dann ihre Dringlichkeit. Es schien, als litte er sofort mit Ughtred, als er von der Vergiftung dessen Vaters erfuhr. Schnell willigte er ein, seine Lopen zu bitten, die Reise zu unterstützen, ließ aber keine Zweifel daran, dass natürlich nur die Tiere selbst entscheiden würden, ob sie diese Gefahr auf sich nehmen wollten oder nicht.

Ohne weitere Zeit zu verlieren und immer wieder den Nygh anblickend stand er auf und machte eine weite Armbewegung zur Tür der Kaschemme. Als Ughtred noch einmal zur Wirtin blicke hatte er ihren Namen vergessen, aber er hob grüßend die Hand und nickte ihr freundlich zu. Die Zeche schien Bjurk mit einem Schnappen seines Eisenunterkiefers zu bestreiten, denn die Wirtin tat es ihm gleich, was bei den Quink als Zustimmung galt.

 

Tal betrachtete den seltsamen Mann, der da vor ihnen herging eingehend. Er zog ein Bein nach, aber Tal konnte auf Anhieb keine Wunde erkennen. Hatte er wie ihr Vater in einer der zahllosen Gordenoffensiven gekämpft? Sie beschleunigte ihren Schritt und schob sich neben ihn.

»Welche Verletzung können die Heiler nicht richten?« fragte sie direkt, wie es nun einmal ihrer Art entsprach.

Ileandis lächelte und ging weiter. Dann sagte er mit ruhiger Stimme: »Es ist keine Verletzung. Ich verwandle mich in einen Falken und der Prozess ist langwierig und zum Teil schmerzhaft.«

Die Hexe nickte und ließ sich wieder zu den anderen zurückfallen.

Über den höchsten Baumwipfeln der Odoreys kreist ein dunkles Kreuz. Wachsam sucht es nach Beute. Es jagt unermüdlich. Bald wird sein Blut die Art der Falken stärken. Wolfsblut …

 

Thorl stand schon als böses Auge am südlichen Horizont und überzog die Straße und Gassen Ilanwaiyns mit seinem roten Wiederschein. Es war noch früh in der Jahreszeit und die kommende Nacht drohte den Winter zurückzuholen. Das Haus des Hirten, wenn man sein Anwesen überhaupt Haus nennen wollte, war nicht nur riesig, sondern in seiner ganzen Struktur mehr als außergewöhnlich. Es erhob sich auf acht gigantischen Beinen, welche in Wahrheit Bäume waren, die mittels dunkelster Hexerei geformt worden waren. Die Kronen hatte man entfernt und die Rinde ebenfalls. Geblieben waren die gebogenen Stämme, auf denen eine längliche Plattform thronte. Von der Ferne musste diese gewaltige Struktur wie eine riesige Spinne aussehen, aber da sich das Anwesen tiefer als die Landeplattform des Ortes befand, konnte man es vom Südosten aus nicht erkennen. 

Mehrere geländerlose Treppen waren in die Stämme geschnitten worden und der Aufstieg konnte für jemandem, der nicht schwindelfrei war eine ziemliche Hürde sein. In einer Höhe von über acht Metern erreichte man schließlich wieder sicheres Terrain und konnte von hier oben aus, durch dutzende von Öffnungen in der Plattform, den Nutzen der Spinnenbeine erkennen. Dort unten, durch die Struktur des Hauses und viele Stellwände und Heuhaufen geschützt, lagerten die Lopen. Sie kauerten zwischen dem Heu oder rieben sich an den Säulen und schienen es sich gutgehen zu lassen. Durch die Plattformöffnungen konnte man ihre Zahl nur erahnen, aber es waren in jedem Fall wenigstens vier Arten von Lopen. Da gab es die mächtigen Orey`Orevi oder Zackenhörner, stämmige Dromirtha und wenigstens zwei weitere, sehr kleine Arten, die keiner der drei Reisenden kannte. Alle Tiere waren frei. Sie konnten kommen und gehen wie es ihnen beliebte und sie würden auch nur dann für die Silberwölfe arbeiten, wenn ihnen dies sinnvoll erschien.

Ileandis machte eine einladende Handbewegung zur Tür seines Hauses hin und schon öffnete sich diese. Eine schöne Frau mit ungewöhnlich bläulicher Haut hatte sie geöffnet und blickte die Neuankömmlinge mit unverhohlener Langeweile an. Der Lopenhirte stellte sie als Smiraiyg Kyshory yr Vnarialiss, einer Freundin vor.

Im Inneren des Hauses verbreiteten Feuerbecken ein warmes oranges Licht. Das ganze Gebäude bestand aus Holz und hatte im Inneren keine Trennwände. Es gab nur Deckenbalken, von denen Schleier hingen, um bestimmte Bereiche von anderen abzutrennen. Das Dach war hoch und luftig und im Gebälk hockten viele Vögel. Auch die Fenster hatten keine Scheiben und konnten nur mit Holzläden verschlossen werden, aber im Augenblick standen sie alle offen und nur ein großes Lagerfeuer in der Mitte des Raumes bot daher gemütliche Wärme.

Bald nach der Ankunft saß man bei besagtem Feuer und wärmte sich Hände und Füße. Die schöne und etwas kindliche Smiraiyg befragte mit gespieltem Desinteresse Kyon aus. Sie wollte wissen, wo er herkam und wie er an den lustigen kleinen Sklaven gekommen war. Sie deutete mit den Fußzehen auf Ughtred und kicherte, während sie eine Bemerkung über seine Größe und die hierdurch wahrscheinliche Beschaffenheit seines Gemächts machte. Als Kyon erklärte, der Nygh sei kein Sklave und schon gar nicht der seine, verzog die blaue Wölfin angewidert ihr Gesicht und hatte es plötzlich eilig, ihre Haare zu waschen. Sie stand auf und ließ Kyon absichtlich unter ihren Lendenschurz blicken, erreichte damit aber nichts und zog ab.

Ileandis und Bjurk warfen sich kurz einen Blick zu und als der Quink achtungsvoll nickte war auch dem Hirten anzusehen, wie überrascht er über die Haltung seiner Gäste war.

Sie aßen Suppe, die im Übrigen der Hausherr selbst zubereitet hatte – ganz eindeutig eine Obskurität im Hause eines reichen Smavari. Nach dem Essen, es konnte nur noch eine Stunde vor Sonnenaufgang sein, ruhten sich alle etwas aus und schließlich erhob sich der Lopenhirte und erklärte damit seine Bereitschaft, nun zu seinen Schützlingen hinunter zu gehen und Fürbitte zu halten.

Ughtred hatte lange nicht so gut gegessen, aber für ihn drängte die Zeit, also war er schon halb eine der Treppen hinunter gelaufen, als die anderen langsamer folgten.

Unten stellte Ileandis den drei Gästen eine Gruppe von Zackenhörnern vor. Ihr Anführer, ein Alino mit weit nach hinten ausladendem Geweih, einer schwarzen Zeichnung auf dem Rücken und stechenden roten Augen stand auf und begann Kyon zu beschnüffel. Er kannte die Wölfe und er kannte den uralten Packt zischen seiner Art und ihrer. Trotzdem war er vorsichtig. Weibliche Wölfe waren nur gefährlich wenn sie Junge hatten, aber männliche kämpften und töteten häufig auch ohne dringlichen Grund und waren daher mit Vorsicht zu genießen. Zuerst sog er Kyons Geruch von der Ferne in seine Nüstern, aber dann grub er seine nasse Schnauze in die Armbeuge des Barden und gab ihm dann einen rüden Schubser. Kyon wäre beinahe gestolpert, fing sich aber und wirkte verunsichert. Doch plötzlich trat Tal zu dem Albinoalpha und hob beschwichtigend eine Hand. Kräfte aus längst vergangener Zeit flossen aus dem Äther in ihre Kehle und als sie sprach, waren ihre Worte und ihre Stimme eins mit denen der Lopen. Guttural hauchte sie: »Dies ist Kyon und dies Ughtred von den Nyghs und ich bin Tal. Wir kommen als Bittsteller und erbeten deine Hilfe mächtiges Zackenhorn.«

Einen Moment herrschte Stille. Die Lopen sahen zuerst diese dünne Wölfin und dann ihren Alpha an. Doch dann nickte dieser und lachte mit den Ohren als er   mit tiefer, röhrender Stimmer antwortete: »Ich bin Donnerhuf und ich führe die Zackenhörner und wenn du wie meine Sippe gehen würdest, würde ich deinen Bauch mit Kindern füllen!«

Tal lachte und nahm dies als Komplement. Von diesem Moment an war sie sicher, in den Lopen Verbündete gefunden zu haben. Sie hatte die Fürsprache des Hirten überhaupt nicht gebraucht. Ihre eigenen Kräfte hatten gereicht. Sie erklärte Donnerhuf warum ssi nach Ilanwaiyn gekommen waren und dass ihr Weg sie bis nach Korezuul führen musste, denn dort galt es ein Herdenmitglied zu retten. Zuerst verstand der Alpha nicht was damit gemeint war, denn in seiner Vorstellung war es nicht möglich andere zu retten. Man konnte fliehen wie die Windgeister und in großer Not konnte man kämpfen und Räuber von Klippen stoßen, doch gegen Krankheiten konnte man nichts tun. Aber dann begriff er es doch, denn auch die Wölfe hier hatten schon Wunder an manchen seiner Art getan und diese Art von Wundern schien auch die dünne Wölfin vollbringen zu können. Wie sonst spräche sie die Sprache der Zackenhörner?

Schließlich stellte er zuerst seine eigene Herde und dann eine kleinere Gruppe von Dromirtha vor. Letztere würde man benötigen, die Ausrüstung und den Riesen, er meinte den Phani, zu tragen. Zackenhörner waren stark und schnell, aber um einen Riesen zu tragen, brauchte man einen anderen Riesen.

Da waren Donnerhuf selbst, Renner und Bienenstich, die Söhne des Alphas, Stolperstein, Bienenstichs Mutter, die mit seltsam weißen Augen in die Welt hinaus blickte. Rehlein, Donnerhufs Tochter und acht weitere Lopen, die jedoch nicht mit auf die Reise gehen, sondern hier bleiben würden.  Der Alpha der Dromirtha hieß Kreutzhorn und schien von eher schlichtem Gemüt. Regenbogen, seine älteste Tochter hatte einen großen tief roten und einen blauen Fleck im Fell und schien deutlich aufgeweckter zu sein. Dann gab es noch Fleckenbein, einen jungen und sehr dynamischen Bullen und Wangenrot, sein Weib. Diese neun sollten von nun an die Weggefährten der Wölfe und des kleinen Mannes aus Korezuul sein, wenn, ja wenn der Alpha der Wölfe und der Alpha der Lopen sich das Versprechen geben konnten.

Also intonierte Ileandis, der ebenfalls die Sprache der Tiere sprach den uralten Packt und übersetzte für Kyon, der ohne weitere Überlegungen als besagter Alpha der Wölfe herausgedeutet worden war: »Leben für Leben!«

Drei Worte und ohne zu zögern wiederholte Kyon den Spruch. Seit seinem Aufbruch aus Shishney war ihm nichts so einfach und leicht vorgekommen wie dieser Schwur. Er hatte nicht die Fähigkeit Tals mit den Tieren zu sprechen oder die Einfühlsamkeit Ughtreds sie mit dem Herzen zu verstehen. Er war ein Silberwolf mit all den Fehlern seiner Art. Doch das hier, das schien ihm auf eine ganz merkwürdige Weiße einfach. Diese Tiere hatten keinen Grund ihm zu helfen und würden es nur tun, weil sie freundlich waren. Dieses Gut schien ihm derart selten auf der Tiba Fe, dass er gar nicht anders konnte, als den Schwur von herzen zu wiederholen: »Leben für Leben!«

Er sagte es nicht laut und auch nicht mit Nachdruck, aber er sagte es im Brustton seiner eigenen Überzeugung. Er würde neben den Lopen stehen, wenn die Gefahren ihrer Reise dies nötig machten!

 

Nach der Zeremonie beschnupperten alle Lopen die neuen Gefährten, verloren aber schnell das Interesse und beschlossen, lieber noch ein wenig zu ruhen. Daher war es auch für die drei Abenteurer sinnvoll noch eine oder zwei Stunden zu schlafen, denn die Tiere würden möglichst bei Tage reisen und noch war die Dämmerung nicht weit fortgeschritten.

Wieder oben im Haus angekommen, legte sich Tal direkt in eine der mit vielen Kissen belegten Schlafstätten und rollte sich zusammen. Kyon und Ughtred fragten Ileandis und Bjurk nach dem Weg, aber beide waren sich einig, dass es am besten wäre, einen erfahrenen Führer, am besten einen der hiesigen Waldläufer anzuheuern. Draußen vor der Stadt gäbe es eine Taverne namens die Einöde. Dort könne man sicher jemanden finden, der sich in den nördlichen Wäldern Kisadmurs auskannte. Die Lopen kannten den Weg dorthin und man müsse sie nur machen lassen.

Damit gaben sich Kyon und der Nygh zufrieden und auch sie legten sich noch ein wenig zur Ruhe. Allein Ughtred tat sich schwer damit, die Augen zu schließen. Die Angst um seinen Vater wurde von Stunde zu Stunde größer. Er hatte schon viel von Amytorenverletzungen gelesen und was auch immer dem alten Schmied widerfahren war, wenn es mit einem Amytoren zu tun hatte, konnte es nur eine Katastrophe sein.

Er lag in einem der Lager und blickte zu einer der Öffnungen im Dach hinauf. Dort oben kletterte eine Krähe von einer Stange auf eine andere. Sie sah in die Nacht hinaus und dann zu ihm hinunter, als wollte sie sagen: »Auf was wartest du noch?« Er nickte und rieb sich geistesabwesend über das Zeichen auf seiner Stirn. Hexenkräfte, wohin man sah. Was konnte Tal noch alles vollbringen? Sie sprach mit Tieren! Sei guten Mutes, Herr Stirnlein! Sie mögen Wölfe sein, aber das Karma hatte sie an ihn geschmiedet und das Karma tat nichts ohne Grund!

 

Zwei Stunden später war es hell genug, um aufzubrechen. Unter dem Haus blökten die Dromirtha und Ileandis schlug mit einem an Schnüren hängenden Balken gegen die Holzwand, um alle zu wecken. Es dauerte nicht lange bis die Ausrüstung der Reisenden auf den Tieren verteilt worden war. Der Holzsarg wurde auf einem der Dromirtha festgezurrt. Der Lopenhirte hatte entsprechende Lastsättel, Gestelle und Decken zur Verfügung gestellt und die Tiere zeigten, dass sie diese Utensilien gewohnt waren. Odugme, der riesige Phani würde zumindest zu Beginn der Reise auf Kreuzhorn reiten. Für Kyon stellte sich Renner, für Tal Stolperstein und für Ughtred Bienenstich zur Verfügung. Als alle aufsaßen und Donnerhuf aus dem Verschlag trat hob Ileandis noch einmal die Hand zum Gruß. Leise murmelte er eine alte Formel die Glück bringen sollte. Dann setzte sich die kleine Herde in Bewegung.

Zuerst ging es nach Nordosten um die Strukturen Ilanwaiyns herum und schließlich auf der anderen Seite nach Nordwest in den Wald hinein. Es gab nur einen schmalen Pfad, der rechts und links von Dornengestrüpp und dichtem Unterholz begrenzt wurde. Der Wald war dunkel und kaum ein Strahl der beiden Sonnen erreichte hier den Boden. Die Luft roch würzig, nach Tannennadeln und den unzähligen Pilzarten, die hier gediehen. Es war neblig und kühl und weder Tal noch Kyon waren es gewohnt auf Lopen zu reiten. Auch auf Ughtred traf dies zu, aber ihm machte das Leben in der Wildnis nichts aus. Sein Volk hatte sich nie von der Natur abgewandt und er selbst hatte, wie alle Kinder der Nyghs, seine ganze Kindheit in den Wäldern verbracht. Als er Kyon auf seinem Sattel herumrutschen sah, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen. So würdig waren sie, so stark und so gefährlich diese Wölfe, aber oh, es ist kalt und uuh, es regnet und schon waren, ließen sie im wahrsten Sinne des Wortes ihre langen Ohren hängen.

Der erste Tag im Wald war tatsächlich alles andere als einfach für die kleine Reisegruppe. Schon gegen Mittag war es Odugme anzusehen, dass ihn etwas plagte. Man beschloss zu rasten und Tal untersuchte den Phani. Leider kam sie zu dem Schluss, dass ihm irgend etwas fehlte. Er schien nicht krank in diesem Sinne zu sein, sondern litt eher unter einer Mangelerscheinung. Schnell pflückte sie ein paar Beeren und gab eine Handvoll Zutaten aus ihrem alchemistischen Sammelsurium dazu. Als sie Odugme anwies, seine Maske zu lüften, damit er die Nahrung aufnehmen konnte, tat dieser wie ihm gehiesen und schluckte die Beeren fest, ohne sie zu kauen. Außerdem schien er zu wenig getrunken zu haben. Tal erkannte, dass sie vorsichtiger mit ihrem Statussymbol umgehen musste. Der riesige schwarze Mann war offensichtlich nur bedingt in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Wenn sie ihn nicht fütterte, würde er wie eine Blume ohne Wasser zugrunde gehen. Sie versuchte mehrfach ihn zur Kommunikation zu bewegen und befahl ihm sogar sich an sie zu wenden wenn ihm etwas fehlte, aber nach einiger Zeit wurde ihr bewusst, dass er dazu überhaupt nicht in der Lage war. Wie sein Geschlecht und seine Zunge, hatte man ihm auch den Selbsterhaltungstrieb genommen. Er gehörte nun ihr und so war es ihre Verantwortung, ihn instand zu halten. Seufzend setzte sie sich auf eins der angewinkelten Beine des Riesen und sagte zu Kyon: »Da haben wir uns etwas eingebrockt Herr Sliyn!«

Kyon nickte und ging auf und ab. Sein Hintern schmerzte und er hatte eindeutig auch eine Mangelerscheinung. In seinem Fall handelte es sich dabei aber nicht um zermatschte Beeren, sondern um Stühle und Betten.

 

Als die Nacht kam, spitzte sich all dies zu. Weder Kyon noch Tal hatten so richtig begriffen, wie es nun wäre, so auf Lopen durch den Wald zu reiten. Nicht nur, dass ihnen die Knochen und vor allem die Hintern schmerzten, es wurde dunkel und weit und breit kam keine Taverne in Sicht! Die Lopen machten Anstalten, sich in das Gestrüpp zu verteilen und zu äsen, aber wo waren nun die Betten für die Nachtruhe?

Kyon rutschte von Renners Rücken und ging zu Tal hinüber, um ihr von ihrer Lope zu helfen. 

»Zelt?« fragte er tonlos.

Die Hexe rieb sich den Hintern und blickte zu dem Phani auf. Schließlich nickte sie und gab dem Riesen den Befehl ebenfalls abzusteigen und das Zelt für sie und Kyon aufzubauen. Ughtred sammelte unterdessen ein paar Steine für einen Feuerkreis, das trockenste Holz, das er finden konnte, und hob darüber hinaus ein wenig Lopendung auf. Dann benutzte er etwas des mitgebrachten Heus und sein Feuerzeug und schaffte es trotz der feuchten Umgebung ein Feuerchen zu entzünden. Danach reichte er den Tieren von dem Heu und streichelte sie. Er mochte die Lopen. Nyghs hatten generell ein gutes Verhältnis zu Tieren und diese hier hatten auf ihr Blut geschworen, ihm zu helfen. Als Kyon den Schwur wiederholt hatte, war er selbst stumm geblieben. Aber eine Frage war für ihn diese Sache nicht. Leben für Leben, er nickte.

Am Feuer dachte man noch über Wachen nach, aber Kyon und Tal waren einfach zu erschlagen dafür, also lächelte der Nygh und erklärte, er wolle sich mit dem Riesen darum kümmern. Doch als die beiden Wölfe in ihrem Zelt verschwunden waren – er selbst dachte nicht einmal darüber nach ihnen zu folgen – gab er dem Phani zu verstehen, er solle nun ebenfalls ruhen. Dann schob er seine Decken zurecht und begab sich in die Welt des Halbschlafes. Er vertraute den Lopen und deren guten Instinkten und er vertraute auf sein eigenes Gehör. Nichts und niemand würde sich diesem Lage nähern können, ohne ihn zu wecken.

Irgendwo weit draußen im Wald heulte ein Arwolf und seine Schwestern und Brüder antworteten aus weiter Ferne. Kyon betrachtete Tal. Sie hatte sich hingelegt und in einen Klumpen aus verdrehten Knochen, bleicher Haut und wirren Haaren verwandelt. Er fragte sich, wie sie so schlafen konnte, aber ihr leises Schnaufen und die gruseligen, halb geöffneten, ins Nirvana blickenden Augen sprachen eine eindeutige Sprache. Er selbst hatte offenbar die Seite des Zeltes ausgewählt, auf der sich sämtliche Wurzeln des Waldes aufgetürmt hatten. Alles unter ihm war hart und piekste und er fand einfach keine Position, in der er es sich gemütlich machen konnte. Dann schlief er aber doch erschöpft ein und sah sich durch die Wälder irren.

Schnell wie der Winde geht es zwischen spitzen Ästen und schwarzen Stämmen hindurch. Jeder Tritt muss sicher sein, jeder Fehltritt führt zu geborstenen Knochen und schmerzhaften Striemen. Die Spur ist heiß. Blut und Schweiß. Tod bedeutet das Ende des Hungers. Vielleicht …

 

Gegen Mittag des nächsten Tages kamen sie an einem großen Baum vorbei, an dem ein toter Hobgoblin hing. Der Kadaver war mit einem überlangen schwarzen Pfeil an den Stamm genagelt und die Tiere des Waldes hatten sich längst an ihm gütlig getan. Kyon stieg von Donnerhufs Rücken. Der Albino hatte ihm am Morgen gestattet aufzusteigen und war trittsicher der Gruppe vorangegangen. Jetzt scharrte das mächtige Tier mit den Hörnern an einem Stumpf und schnaubte aggressiv. Es konnte die Gewalt in der Luft riechen. Der Hobgoblin war schon eine Weile tot, aber Gewalt braucht lange, um zu verfliegen.

Kyon machte den anderen ein Handzeichen und der Tross kam langsam zum Stehen. Dann stieg er vorsichtig über einen niedrigen Dornenbusch und bewegte sich auf den Toten zu. Er untersuchte den Pfeil und die Situation der Leiche. Sie hing in einer Höhe von fast zwei Metern. Zweifelsfrei war das Rotauge nicht in die Luft gesprungen. um sich akkurat an die Rinde pinnen zu lassen. Quinkscheiße, dachte Kyon und strich dabei vorsichtig über die schwarzen Krähenfedern des Pfeiles. Jemand hatte den Hobgoblin hochgehoben und dann den Pfeil mit bloßer Hand durch den dürren Körper ins Holz gerammt. Jukrey, ging es dem Barden durch den Kopf. Er hatte noch nie einen lebenden Jukrey gesehen, aber die Geschichten über die streitlustigen Mischwesen kannte er nur zu gut. Sie waren aus dem Fleisch derjenigen Silberwölfe hervorgegangen, die pervers genug gewesen waren, sich mit den stinkenden Hobgoblins zu vergnügen. Zweifelhaftes Vergnügen, dachte Kyon. Er konnte sich vieles vorstellen, aber da hörte für ihn der Spaß auf.

Wenn der Stamm oder die Rotte oder wie auch immer sich eine Gruppe von Jukrey zu nennen pflegte, noch in der Nähe war, konnte es brenzlig werden. Sie mussten die Taverne erreichen und jemanden finden, der sich mit so etwas auskannte. 

Schnell ging Kyon zu dem schmalen Pfad zurück und als die anderen ihn nach der Leiche fragten, berichtete er, was er entdeckt hatte. Keiner der anderen wusste mehr als er über die räuberischen Waldbewohner, aber sie wollten ihnen auch auf keinen Fall begegnen. Kyon zog sich an Donnerhufs Mähne in den Sattel und gab Zeichen weiterzuziehen. Er musste nicht darauf hinweisen, dass absolute Stille angesagt war. Selbst die Lopen schienen dies zu verstehen und setzten noch vorsichtiger als sonst einen Huf vor den anderen.

 

Der schwangere Silberwolf

Gegen Abend wurde der Weg etwas breiter und Holzschlag zeugte von der Nutzung des Waldes durch Zweibeiner. Kaum eine Stunde später verbreiterte sich der Pfad zu einem kleinen Platz, auf dessen rechten Seite ein Stall aus morschem Holz stand. Etwas zurückgesetzt schließlich, befand sich die Einöde und dieser Name hätte nicht besser gewählt sein können. Das einstöckige Gebäude machte einen durch und durch verwahrlosten Eindruck. Die Fenster waren geborsten und mit Leder geflickt, Schindeln lagen auf dem Boden und das Holz der Wände war überall wurmstichig und wies moosige Schimmelflecken auf. Dünner Rauch stieg aus dem rückwärtigen Kamin auf, wenigstens eine Sache, die auf eine gewisse Heimeligkeit hinwies.

Auf dem kleinen Platz stand ein sehr dicker Quink mit einer Axt. Vor ihm stapelte sich ein kleiner Haufen mit frisch gespaltenen Scheiten. Als er die Besucher auf ihren Lopen entdeckte, klappte seine eiserne Kinnlade herunter und es war ihm anzusehen, dass er sie nicht ohne die Hilfe seiner feisten Finger wieder nach oben bekommen würde. Das linke Scharnier war gebrochen und sein Kiefer wies eine dicke, rote Schwellung auf.

Zuerst machte er einen Schritt zurück, aber dann kam er aufgeregt auf die Reisegruppe zu und faselte etwas von dem Schangren, dem schangren Wulf im Hus.

Weder Kyon noch Tal verstanden ihn und Ughtred befand sich zu weit hinten, um mitzubekommen, was da vor sic ging. 

Es dauerte eine ganze Weile, bis alle abgesessen waren und Kyon den Burschen daran gehindert hatte, nach den Lopen zu langen. Er hatte sie in den nach Pisse stinkenden Stall führen wollen, aber natürlich hatte Donnerhuf dies abgelehnt. Es war dem Zackenhorn anzusehen, dass es kurz darüber nachdachte, den dicken Quink mit den Hörnern zu tode zu rammen, aber dann entschied es sich dafür an den Rand der Lichtung zu gehen und ein paar bewusstseinserweiternde Pilze zu kauen. Kyon, Tal und Ughtred wollten sich gerade besprechen, während der Phani die Lopen ablud, als auf der Holzveranda der Taverne weitere Quink erschienen. Direkt in der Tür stand ein stämmiger Mann mit Backenbart und durchdringenden Augen, aber hinter ihm, im Dunkeln des Hauses, kauerte eine weitere Gestalt und zielte mit einer Armbrust auf die Neuankömmlinge.

Doch nach einem kurzen Moment machte der Quink in der Tür einen weiteren Schritt ins freie und die junge Quinkfrau hinter ihm ließ ihre Waffe sinken. Weitere Quink kamen hervor. Eine jüngere Frau und eine sehr alte gebeugte Quink schoben sich neben den Mann mit dem Backenbart. Dann stellte dieser sich und seine Leute vor. Der Wirt hieß Tomnuk und sein Weib, die junge Quink, die ständig ihre Fingerdorne aneinander rieb hörte auf den Namen Bradis. Die Frau mit der Armbrust war Driquis, eine Jägerin, die als Dauergast in der Einöde lebte und das Haus mit Fleisch versorgte. Den Dicken nannte der Alte Druk und die Vettel war Titwa, Brandis Mutter. Im inneren der Taverne war noch Tomnuks Sohn Jukuk und irgendwo mussten sich Mepid & Odel, die zwei nutzlosen Hobgoblins der Einöde herumtreiben.

Die Gäste stellten sich nun ebenfalls vor und Kyon wollte den Hobgoblin auf dem Weg erwähnen, aber der Wirt kam ihm eindringlich zuvor. Ähnlich wie der Bursche mit der Axt stammelte er zuerst, aber dann nahm er sich zusammen und berichtete von dem Unglück, welches über sein Haus gekommen war. Dabei war ihm deutlich seine Besorgnis anzusehen.

Er beginnt mit den Worten: »Der smavarische Jäger Ulithan bor Trynordt`orbenith war vor sechs Tagen im Wald von Amytoren angegriffen worden. Er und sein Sklave, ein Midyarkrieger namens Grogtkro, waren den Bestien zwar entkommen, doch der Angriff war für den Jäger dennoch nicht ohne Folgen geblieben. Einem der Amytoren war es offensichtlich gelungen, den Silberwolf zu infizieren. Grogtkro, hatte dann seinen Herrn zu nächsten Taverne getragen, also zu uns.«

Mit Entsetzen in der Stimme fügte er hinzu, dass der Jäger nun seit fünf Tagen hier schwanger darniederläge!

Bei dem Wort ›Schwanger‹ stutzten alle ein wenig und Tal hakte nach: »Was meinst du damit Wirt? Schwanger …«

Tomnuk trat von einem Bein auf das andere und rieb sich nervös über das Eisenkinn. Dann sagte er verdrossen: »Er hat einen dicken Bauch, ist krank und etwas in ihm bewegt sich. Er hat seine Laken vollgeschissen und sein Fleisch stinkt nach Tod. Es ist nicht wie bei meinem Weib, aber trotzdem wird es rauskommen. Es wird aus im rauskommen und zwar bald!«

Seine Augen wurden Hart als er hinzufügte: »Das wird nicht gutgehen für uns.«

Kyon hatte genug. Er wollte sich die Sache jetzt selbst ansehen und machte einen Schritt auf die Holzstufen der Einöde zu. Tal hob die Hand und sagte: »Wartet Sliyn.«

Sie rief nach Ughtred der Odugme geholfen hatte die Lopen zu füttern und wiederholte dem Nygh in Kürze was der Wirt gesagt hat. Mit grimmigem Blick zog der kleine Mann eine seiner vielen Wurfäxte und ging hinter Kyon und der Hexe in die Taverne hinein.

Im inneren stank es nach Schimmel, moder und ranzigem Fett. Der Vorraum war mit Ledervorhängen vom Hauptraum getrennt. Irgendwo weinte leise ein Quinkkind und die Wirtsleute drängten sich vorsichtig hinter den Gästen in ihr Zuhause.

Es herrschte eine schmutzige Unordnung und der Hauptraum wurde nur von einem winzigen Fensterchen in der Nordwand und herunter gebrannten Wachsfressern auf den vor Dreck starrenden Tischen erhellt. Der Wirt deutete auf die Zimmertür am hinteren rechten Ende der Westwand. Sie war als einzige geschlossen, aber schon hier draußen im Hauptraum konnte man den säuerlichen Gestank der aus dem Zimmer drang riechen. Kyon ging zu dem offenen Kamin in der nähe der Tür, zog unbemerkt einen seiner Pfeile aus dem Köcher und legte ihn unauffällig an sein Bein an. Dann ließ er Ughtred und Tal den Vortritt. Der Nygh griff nach dem Querriegel und schob die Tür vorsichtig nach innen. Der Gestank wurde von einer Ahnung zu einer das Atmen erschwerenden Bürde. Tal hustete und Kyon musste sich im ersten Moment abwenden. Nur Ughtred wahrte die Fassung. Er machte einen mutigen Schritt in die Kammer und sah zuerst, welche Schrecken sie beheimatete.

Auf einem nassen Bett aus Stroh und einem schleimigen Laken lag der aufgedunsene nackte Leib eines Wesens, dass wahrscheinlich einmal der besagte Waldläufer gewesen war. Seine Glieder waren dürr und ausgemergelt, die Wangen eingefallen und der Bauch zu einem grotesk gespannten Ball aufgedunsen. Die Haut war derart gespannt, dass seine Adern ein violettes Netz darunter bildeten und ihn ganz und gar bläulich wirken ließen. Sein Kinn lag auf seiner Brust und seine Zunge hing ihm aus dem Hals. Mit fiebrigen hin und her huschenden eitrig gelben Augen suchte er die Alptraumsphären der Anderweltschrecken nach einem Entkommen aus seiner Lage ab, doch da war keine Rettung.

Neben dem Lager, gegen die schimmelige Wand des Zimmers gedrückt, kauerte ein riesiges, auf ein Minimum seiner natürlichen Größe zusammengefaltetes Wesen in einer Art Schuppenpanzer. Als es seinen kantigen Kopf hob sah es die Besucher mit traurigen Echsenaugen an. Es war der Midyar, von dem der Wirt gesprochen hatte. Er regte sich, war sich nicht sicher, ob dieser Besuch etwas Gutes oder schlechtes bedeutete aber Ughtred hob beschwichtigend die Hand. Der Nygh hatte noch nie einen der mächtigen Midyar gesehen und dem Reptilkrieger war anzusehen, dass es ihm in Sachen Nyghs ebenso erging. Doch als er die Silberwölfin hinter dem kleinen Mann erblickte, schien er sich zu beruhigen.

Mit seiner gewaltigen Pranke deutete er hilflos auf den Kranken und murmelte das schwer verständliche Wort: »Meister.«

Ughtred machte Tal Platz, damit sie den Waldläufer untersuchen konnte. Draußen ließ sich Kyon noch einmal den Namen des Mannes nennen. Er gab ihn an Tal weiter und diese versuchte Ulithan anzusprechen, doch ohne Erfolg. Sie überlegte, was nun als nächstes zu tun sei. Vorsichtig bewegte sie sich in dem engen Zimmerchen neben das Bett, bemüht, möglichst nichts von all dem Schmutz und Schleim zu berühren. Dann machte sie dem Nygh ein Zeichen, ihr noch etwas mehr Platz zu machen.

Sie zog das Lager einen fußbreit von der Wand weg und er Midyar half ihr sofort. Sie wunderte sich über die Auffassungsgabe des Wesens, hatte sie sich die Midyar doch eher als dumpfe Befehlsempfänger vorgestellt. Doch dieser hier schien seinen Meister nicht nur zu mögen. er schien auch mehr als einen Nervenknoten in seinem knöchernen Hinterkopf zu lagern.

Mit geschickten Fingern öffnete sie eine ihrer Umhängetaschen und klatschte etwas pudriges zwischen ihre Handflächen. Dann machte sie kreisende Zeichen in die Luft und begann schließlich damit, einen Kreis aus einem weißen Pulver um das Bett zu ziehen. Dies war mühsam, denn der Schmutz und die Enge der Kammer hinderten sie daran, dass Hexenpulver gleichmäßig aufzutragen. Doch Tal war in solchen Dingen ebenso zielstrebig wie in allem, was sie in Angriff nahm und so gelang es ihr, den Kreis fertigzustellen. Als nächstes ging sie wieder auf die Knie und vollendete das Hexenzeichen, indem sie ein Pentagramm in den Kreis Einbrachte. Linie für Linie streute sie das Pulver aus und schob sich dabei zum Teil flach unter das Bett durch den Schmutz der Kammer. Kein Wunder, dass sie immer so aussieht, dachte Kyon, der versuchte, etwas von draußen zu erkennen.

Schließlich streckte sich die verbannte Doppelmondhexe und ließ ihre Wirbel krachen. Dann tat sie dasselbe mit ihren geschwärzten Fingerkuppen und dann summte sie ein leises Hexenlied. Vorsichtig tastete sie den zum Platzen aufgeblähten Bauch ab und erzeugte so einen Furz, der die Luft in der Kammer endgültig unerträglich machte. Selbst Ughtred hustete und nur der Echsenkrieger verzog keine Miene, was aber unter Umständen der Tatsache geschuldet war, dass sein Gesicht von Natur aus mehr oder weniger unbeweglich waren und Midyar über einen wenig differenzierten Geruchssinn verfügten.

Kopfschüttelnd beförderte die Hexe ein Tuch zutage und wickelte es sich um Nase und Mund. Dann zückte sie ihr doppelkingiges Hexenmesser und besah sich die Schneiden. Das Metall blitzte selbst bei der geringen Beleuchtung und Tal gab nach draußen weiter, dass sie mehr Kerzen brauche. Kyon wies den Wirt an und binnen weniger Minuten verbesserte sich das Licht in der Kammer. Aber da hatte Tal schon mit ihrer grausen Arbeit begonnen. Sie hatte sich über den abnormen Leib des schwangeren Silberwolfes gebeugt und einen ersten Schnitt gesetzt. Lendenschurzschnitt, dachte sie und zog die Klinge vorsichtig über die gespannte Haut. Sofort quollen Schleim, Blut und Haare hervor. Tal gab einen erstickten Laut von sich, denn Blut war eine Sache, Haare hingegen überraschten sogar sie.

Mit spitzen Fingern zog sie das schmierige Zeug heraus und dann geschah das Unfassbare. Der Bauch des Mannes brach an der Schnittstelle auf und in einem Schwall aus Blut und Innereien klatschten zwei zappelnde Körper zu Boden. Der eine landete innerhalb des Kreidekreises und gefror zu einer grotesken Parodie eines vielgliedrigen Embryos. Der andere aber, rutschte auf die Außenseite, kam zuckend auf die Beine und kroch sofort mit Hilfe seiner drei Arme von dem Kreis fort. Er kreischte ohrenbetäubend und kostete alle damit eine Sekunde Aufmerksamkeit. Dann stieß sich das plärrende Ding vom Boden ab und flog dicht an Tals wirren Haaren vorbei aus der Kammer seiner widerwärtigen Geburt.

Kyon hatte kaum Zeit für eine Reaktion. Sein Autonomer Bogen flog ihm zwar noch in die ausgestreckte Hand und entfaltete sich mit einem satten Klacken, aber da war das affenähnliche Säuglingsmonster auch schon mitten in seinem Gesicht. Ein Pfeil löste sich, sirrte an Tals Kopf vorbei und grub sich mit der gefährlichen Jagdspitze tief ins morsche Holz der Kammer. Dann ließ Kyon den Bogen fahren und wedelte panisch mit beiden Händen vor seinem Gesicht herum. Der Amytor hatte sich mit seinen Gliedern in Kyons Haaren gekrallt und drückte ihm nun eins seiner glitschigen Händchen gegen die zusammengepressten Lippen. Das monströse Ding versuchte, sich essen zu lassen. Es drückte und schob und gab sich alle Mühe, mit seinen winzigen Fingerchen chaotisch zappend Kyons Lippen so weit zu öffnen, um wenigstens ein Händchen in seinen Rachenraum zu bekommen. Kyon würgte und schließlich bekam er das Ding zu fassen und zerrte es von seinem Gesicht. Sofort drehte sich das Ding in der Luft, kam federnd auf dem Boden auf und hechtete in weitem Bogen an Tals Klinge vorbei auf Ughtred zu.

Dieser hatte nicht gewartet und war mit einer seiner Äxte gegen das stillstehende Brüderchen (oder Schwesterchen oder was auch immer) im Kreis der Hexe vorgegangen. Die Axt steckte in dem schleimigen, aber unbeweglichen Körper und er hoffte inständig, dass diese Behandlung bei dem Babyamytoren genügen würde. Als er aufsah, kam das andere Dinge gerade durch die Luft geflogen. Er sah noch, wie Tal es verfehlte und hob schnell seine zweite Wurfaxt, um es abzufälschen. Zum Glück war er schnell genug und der Amytor prallte gegen das Knie des Midyar, der versuchte, sich in dem engen Raum zu entfalten. 

Doch das Höllenbaby war nicht verletzt. Es drehte sich kreischend und zappelnd, nahm Anlauf und schoss erneut an der verdutzte Hexe vorbei, durch die Zimmertür und lande, genau wie zuvor, in Kyons Gesicht. Dieser hatte mit allem gerechnet, bloß nicht damit und war gerade damit beschäftigt gewesen sich verzweifelt den Schleim vom Gesicht zu wischen und sich die allumfassende Frage zu stellen: bin ich schwanger?

Platschend drang das zappelnde Fleisch wieder gegen seinen Mund und versuchte erneut in ihn zu dringen. Er musste mit aller Kraft verhindern zu schreien und schaffte es auch diesmal nur knapp, das Ding mit einem schmatzenden Geräusch von sich zu zerren und auf den Boden zu befördern. Doch diesmal war etwas anders. Er hatte es offensichtlich verletzt. Eines seiner drei Ärmchen war gebrochen und seine Geschwindigkeit hatte sich verlangsamt. Dann donnerte, mit einem entsetzlich endgültigen Krachen, die Wurfaxt des Nyghs in den Holzboden der Taverne und spaltete den Schädel des winzigen Amytoren in zwei schleimige Hälften.

 

Ughtred beobachtete Kyon, der ihm gegenüber am Tisch saß. Der Wolf hatte sich immer wieder von den Quink frisches Wasser bringen lassen und Mal für Mal sein Gesicht damit gewaschen. Er hatte gegurgelt, seine Haare durchdrängt und seine Ohren gereinigt. Als der Nygh gedacht hatte der Barde wäre endlich fertig hatte dieser sich wie ein nasses Tier geschüttelt und von neuem begonnen. Ughtred fragte sich, ob sich Silberwölfe mit der Zeit in Wasser auflösen würden.

Die Quink names Bradis kam an den Tisch und stellte einen Topf ab. Kyon wollte schon danach greifen, erkannte aber seinen Irrtum, denn er hatte gedacht in dem Topf wäre endlich warmes Wasser für ihn.

Vorsichtig versuchte Ughtred ein Lächeln, aber es schien misslungen bei der Wirtin angekommen zu sein, denn sie wandte sich erschrocken ab und ging, um Holzschalen und Löffel zu besorgen. Er war nicht sicher, ob er überhaupt etwas hinunter bekommen würde. Zwar machte ihm der Gestank ganz offensichtlich wirklich nicht so viel wie den Wölfen aus, aber allein der Gedanke an die vergangenen zwei Stunden war nicht unbedingt appetitanregend. Als Bradis jedoch zwei Holzschüsseln auf den Tisch klappern ließ, roch er an dem Topf und schüttete sich etwas von seinem Inhalt ein. Die Suppe war dünn, aber sie hatte gekocht und allein deswegen mochte er sie schon. Als er probierte, schmeckte er vor allem Salbei und irgend eine Wurzel, die er nicht zuordnen konnte. Egal, er musste essen, so war das nun einmal.

Kyon war immer noch mit seinem Gesicht beschäftigt und machte auch nicht den Eindruck, als würde er den Rest des Dämons aus seinem Kopf schruppen können. Es war, als könne Ughtred die Gedanken des Barden lesen. Bin ich betroffen? Hat es mich infiziert? Bin ich schwanger von einem vielarmigen Amytorenbaby, das mich in kürze ausweiden wird?

Er schüttelte den Kopf und steckte seine Nase in die Suppenschüssel. Er wusste nicht genau, ob das Ding seinen Mitreisenden infiziert hatte, aber er hatte das Gefühl, als wäre alles mit ihm in Ordnung. Er ging einfach davon aus, dass er es gespürt hätte, wenn der Silberwolf sich angesteckt hätte. Es wäre auch einfach nicht fair gewesen. Er musste seinen Vater retten und dafür würde er Kyon brauchen, so einfach war das. Er würde weder den Barden, noch die Hexe auf dem Weg verlieren; ganz sicher nicht.

Langsam schlürfte er den Rest der Suppe und sah zu der Tür mit dem Waldläufer hinüber. Sie stand immer noch offen und aus dem Inneren drangen nach wie vor leise gemurmelte Flüche. Seit über einer Stunde nähte Tal den Waldläufer zusammen. Die alte Quink half ihr dabei. Sie hatten gemeinsam die Innereien des Verletzten in seinen ausgehöhlten Leib zurückgeschoben und dann begonnen zu nähen. Dazwischen hatte Tal immer wieder eine blaue Flüssigkeit über die offenen Wunden geträufelt. Am Anfang hatte Ughtred noch eine Weile zugesehen, doch er fühlte sich fehl am Platz und hatte ich irgendwann wortlos zurückgezogen. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass der Kerl noch zu retten war, aber was wusste er schon über die Hexenkräfte der Wölfe? Wenn sie den Waldläufer rettete, dann würde sie auch seinem Vater das Leben schenken. Irgendwie machte ihn das Ganze seltsam ruhig. Es erfüllte ihn mit Zuversicht, denn die Hexe hatte nicht einmal gezögert bevor sie angefangen hatte zu nähen. Jeder andere hätte Zweifel in den Augen gehabt, doch nicht sie. Für sie war da einfach nur Haut, Knochen und Fleisch, welches wieder an die richtigen Positionen gebracht werden musste und genau dies war ihre Aufgabe und ihre Berufung. Sie erzeugte Realitäten und konnte sie auch jederzeit zerschmettern. Er hatte Respekt mit der Hexe. Oder war es sogar Angst? Fürchtete er die Silberwölfe? Er war von zuhause weggegangen, um das Wesen der Welt und vor allem das der Silberwölfe kennenzulernen. Jetzt wo er das Gefühl hatte zu begreifen zu lernen, wirkte es auf ihn, dass er auf dieses Wissen vielleicht doch besser verzichtet hätte. Hatten die Wissenswahrer seiner Heimat recht? Sollte Wissen nur an bestimmte Geister weitergereicht werden? Aber das konnte einfach nicht sein. Das Wissen muss einfach nur in Form gebracht werden. Jetzt war es noch roh und gefährlich aber er kannte auch Bücher und Schriften, die so in Reihe gebracht worden waren, dass ihre Inhalte ihre Dornen verloren hatten. Dies musste sein Ziel sein. Er würde hart daran arbeiten müssen, aber er wollte ein Mittler dieses dornigen Wissens werden. Er wollte es so weit zähmen lernen, dass andere es ebenfalls begreifen und lieben könnten.

Am Nebentisch hockte Grogtkro der Midyar. Tal hatte sie aus dem Krankenzimmer gescheucht und nun wartete er auf die Genesung seines Meisters. Die Quink hatten ihm einen Brei aus Insekten vorgesetzt und scheinbar mochte er das Zeug.

Ughtred stand auf und ging zu dem riesigen Reptilmann. Er fragte nicht erst und setzte sich. Der Midyar aß. Sonst tat er nichts. Er griff mit großen Krallenfingern in die Schüssel und beförderte den Brei aus Beinchen und Flügeldecken in seinen schmalen Mund. Dann schluckte er ohne zu kauen und der Nygh konnte ihn gut verstehen, denn er wollte sich überhaupt nicht vorstellen wie es sein musste Insekten zu essen.

Einige Minuten wartete er noch, dann sagte er in gebrochenem Smavarisch: »Der Silberwolf ist dein Freund oder?«

Sein Gegenüber hörte auf zu schlingen und sah den Nygh an. Dann sagte er stumpf: »Meister.«

Ughtred erwiderte: »Du bist viel größer und stärker als er, wie kann er dann dein Meister sein?«

»Du, Sklave von die!« Er deutete mit der Klaue seines linken Daumens auf Kyon. Dann fügte er hinzu: »Midyar Sklaven von die! So es war, so es ist.«

Ughtred heftete seine Augen auf das wurmstichige Holz der Tischplatte und nickte. Dann sagte er: »Du wirst das nur schwer begreifen können, mein großer Freund, aber ich diene den Wölfen nicht. Genaugenommen sind sie sogar mit mir auf dem Weg, um etwas für mich zu tun.«

Der Midyar sah auf. Es war ihm anzusehen, dass er doch verstanden hatte was der kleine Mann sagte. Er sagte ruhig: »Aber die nicht deine Sklaven. Die nie Sklaven!«

Ughtred nickte und bestätigte die Aussage. Hier war niemand niemandes Sklave und dies würde auch so bleiben.

Ein Moment der Stille war entstanden und als der Nygh es merkte sagte er: »Wir wollten deinen Meister«, er dehnte das Wort und rollte dabei mit den Augen, »als Führer anheuern. Wir müssen den Norden Kisadmurs durchqueren und finden kein Schiff. Mit den Lopen ist der Wald schwer zu bewältigen und wir können es uns auf keinen Fall erlauben zu spät nach Korezuul zu kommen. Es geht um Leben und Tod.«

Der Midyar hörte aufmerksam zu und überlegte danach eine Weile. Ughtred hatte schon das Gefühl, er hätte gegen eine Wand gesprochen und beinahe wäre er aufgestanden und zu Kyon zurückgekehrt, aber dann öffnete Grogtkro seine schmalen, harten Lippen und sagte: »Grogtkro kennt guter Weg!«

Ughtred sah den Reptilkrieger an. Dann fragte er, ob er richtig verstanden hätte. Der Midyar könnte an die Stelle des Waldläufers streten? Er ließ den Krieger seine Aussage mehrfach wiederholen ehe er abrupt aufsprang und zu Kyon eilte, um die Neuigkeit mit ihm zu teilen.

 

Am nächsten Morgen wusch sich Kyon Gesicht und Haare. Seine Haut hatte einen rötlichen Farbton angenommen und er fühlte sich krank. Immer wieder kratzte er sich im Nacken und dann rieb er wieder und wieder mit einem schmutzigen Lappen über seine wunden Lippen. Schließlich trat Tal zu ihm und schlug ihm klatschend den Lappen aus der Hand. Sie starrte ihm in seine stahlgrauen Augen und ihr Blick sagte: noch einmal der Lappen und ich schneide euch die Lippen aus dem Gesicht. Kyon ließ die Arme sinken und Tal beförderte ein kleines Tiegelchen aus einer Gürteltasche zutage. Sie öffnete es und nahm mit einem ihrer Finger etwas der darin befindlichen Paste heraus. Kyon musste sich zusammenreißen, ihren eingerissenen Fingernagel unkommentiert zu lassen, aber dann strich sie ihm mit dem Finger die lindernde Salbe auf die Lippen und die wunden Stellen im Gesicht und Nacken. Die Sonnen waren gerade am Aufgehen und ihr Licht hatte noch nicht ihre stechende Kraft erreicht. Er ließ sich die Behandlung gefallen und nahm den Geruch der Hexe in sich auf. Wie viele Tage und Nächte waren sie eigentlich schon unterwegs? Sie roch nach Schweiß und dem Blut des Waldläufers.

Sie hatte den Mann scheinbar gerettet. Als sie mitten in der Nacht mit ihm fertig gewesen war, hatte sie Kyon geweckt und ihm von ihrem Erfolg berichtet. Jetzt lag der Waldläufer in der gereinigten Kammer und die Hexe hatte ihn mit einem ihrer Mittelchen in eine künstliche Stase versetzt. Er würde leben.

Als Kyon ihr von dem Vorschlag des Midyars berichtet hatte, war Tal schon im Sitzen eingeschlafen.

Er sah zu den Lopen hinüber. Der Nygh half Tals Sklave die Packsättel aufzubringen und die Ausrüstung darauf zu befestigen. Der Phani wirkte fahrig und schwach. Wie konnte ein Riese schwach wirken?

Es dauerte noch einige Zeit, bis alles fertig vorbereitet war, aber dann zog sich Kyon in Donnerhufs Sattel und es konnte endlich losgehen. Grogtkro brauchte kein Reittier. Er ging dem Zug mit gewaltigen Schritten voran. Kyon war für einen Silberwolf durchaus gut gewachsen, aber der Echsenmann überragte ihn bei Weitem. Schnell wie ein Fuchs pflügte der Krieger durch das Unterholz hinter der Einöde. Die Wirtsleute standen am Waldrand und blickten ihren Gästen hinterher. Ihnen waren ihre gemischten Gefühle in die schmutzigen Gesichter geschrieben. Einerseits waren sie dankbar, dass die Silberwölfe sie vor weiteren Angriffen der Amytoren gerettet hatten, aber andererseits waren sie auch froh, sie nun wieder losgeworden zu sein. Amytoren waren eine Sache, aber was auf der Tiba Fe konnte letzten Endes schlimmer sein als Silberwölfe?

Der Tag war feucht und die Luft Kalt und Nebel lag noch im Unterholz. Es gab weder einen Pfad noch einen Wildwechsel und der Midyar stapfte über nahezu unberührten moosigen Waldboden. Zum Glück war dieses Gebiet nicht ebenso zugewuchert wie die meisten Waldflächen der unteren Lagen der Odoreys. Andernfalls wäre es praktisch unmöglich gewesen, diese Richtung ohne Feuerlanzen zu beschreiten.

Es dauerte keine Stunde, da veränderte sich das Bild des Waldes. Große, vor langer Zeit in Form gebrachte Steinbrocken zeugten von einer früheren Besiedlung des Gebietes. Es musste Millenien her sein, denn alles war von Wurzeln und Moos bedeckt, aber die Zeichen waren eindeutig. Hier stand vor langer Zeit ein Turm und dort hatte es eine Art Haus mit einem großen Innenhof gegeben. Die Ruine war zwar kaum noch als eine solche zu erkennen, aber hier hatte einst eine kleine Ansiedlung oder zumindest eine Festungsanlage gestanden. 

In Kisadmur waren solche Orte alles andere als ungewöhnlich. Smavari bauten Häuser, Türme und Brücken und dann rissen ihre Kämpfe oder eine aus ihren Experimenten resultierende Explosion sie wieder ein.

 

Tal glitt von Bienenstichs Rücken. Das Tier war nervös, aber es lag nicht an der Umgebung. Bienenstich war einfach immer nervös und Tal wünschte sich inständig, dass sich ihr Morgen eine andere Lope widmen würde. Dennoch strich sie Bienenstich über die Flanke und bedankte sich bei ihm. Dann wandte sie sich einem der größeren Steinblöcke zu und rief zu Kyon hinüber: »Schonmal von dem hier gehört?«

Der Barde schüttelte den Kopf und bückte sich nach einem Stein. Tal ging ein Paar Schritte zwischen den Brocken und Bäumen hindurch. Die meisten der Pflanzen hier mussten lange nach dem Untergang der Anlage entstanden sein; wahrscheinlich Millenien danach. Ihr Blick wanderte einen der mächtigsten Stämme hinauf und überlegte, wie alt dieser Baum wohl war. Manche der Bäume Kisadmurs konnten leicht fünf Millenien und mehr alt werden. Ein Baum der Größe wie der, vor dem sie hier stand, mochte sogar noch älter sein. Vielleicht war er älter als ein Smavari?

Sie holte zu dem Midyar auf. Seinen Namen konnte sie sich einfach nicht merken. Sie hatte einmal gehört, die Kriegerspezies kenne nur wenige, für sie traditionelle Namen. Aber Grokokoko war für sie zu zungenbrecherisch. Dagegen war Odugme ja noch einfach.

»Hey du, warum gehts nicht weiter? Wir haben nicht ewig Zeit, dem Skergen brennt der Hintern.«

Der Angesprochene stieg auf einen der größeren Brocken und deutete in die Dunkelheit zwischen ein Paar Bäumen. Tal war es vorher gar nicht aufgefallen, aber hier stimmte eindeutig etwas mit dem Licht nicht. Es war dunkler als es hätte sein sollen. Ihre Nackenhaare stellten sich auf und die Hand im Handschuh mit dem Shimwas wanderte dorthin, wo Norths Schwert hätte sein sollen, doch es war nicht da. Es hing wie die Zeltstangen auf einem der Tragesättel der Dromirtha. Langsam und geordnet trat sie den Rückzug an und fühlte sich besser, als plötzlich Kyon neben ihr auftauchte.

Sie deutete auf die Stelle zwischen den Bäumen und ging dann weiter zu der Lope mit dem Schwert. Das Ding hatte ein hohes Gewicht und hier zwischen den Bäumen konnte sie es nicht sonderlich gut schwingen, aber sie fühlte sich verdammtnochmal besser, wenn sie es bei sich hatte. Kyon schien die Aura des Ortes ebenfalls zu spüren, denn er hatte seinen Bogen vom Rücken genommen und das Ding hatte sich leise klackend wie ein riesiges Insekt entfaltet und die Sehne gespannt.

Doch der Midyar schüttelte er in einer seltsam smavarischen Geste seinen schuppigen Kopf und deutete in den Wald hinaus. Dann intonierte er: »Gut Weg!«

Gutweg, Gutweg, ihm ist es wahrscheinlich recht, wenn sie weg wären. Merkte der Idiot nicht, dass hier negative Kräfte wirkten? Tal schüttelte den Kopf und sagte laut: »Lass uns diesen Ort umgehen. Kann ja kein Problem sein, nur ein Stückchen weiter.«

Doch der Schuppenkrieger schüttelte erneut sein Haupt und machte einen Schritt auf die ungute Stelle zu und rief: »Gut Weg hier! Kommen!«

Als Kyon zu ihm aufholte ließ Tal genervt die Schultern hängen. Ughtred der sich neben sie bewegt hatte fragte: »Was ist? Wo gehts weiter?«

Doch Tal blaffte nur: »Gutweg!« und ließ ihn stehen.

 

Dann standen sie vor der dunklen Öffnung zwischen den Steinen. Mehrere Bäume bildeten eine v-förmige Schlucht um eine Art Rampe, die ins Erdreich zu führen schien. Irgend etwas glomm da unten grünlich und schwankte dabei hin und her. Die Decke des weiter von der Lichtung wegführenden Tunnels war flach und wies verrostete Schienen oder metallene Träger auf. Kabelreste hingen wie Spinnweben in einer der Ecken und auf dem Boden lagen zersplitterte und blind gewordene Glasbrocken, die vor langer Zeit vielleicht einmal Teile von Lampen gewesen waren.

Tal sah zu, wie Kyon sich hinkniete, damit er in einem besseren Winkel in die Dunkelheit blicken konnte. Dann hörte sie ihn den Midyar fragen, wohin der Tunnel führen würde, doch der Echsenmann wiederholte nur seinen Spruch mit dem guten Weg.

Sie trat neben Kyon und nickte. Endlich hatte sie verstanden und sie fand es alles andere als lustig, was nun kommen würde. Andererseits hatte der Midyar natürlich recht. Davon ausgehend, dass er und sein Meister die Gegenseite dieses Ortes kannten, konnte dies die Abkürzung sein, die Ughtreds Vater retten konnte. Das, vor dem sie hier im Wald, in dieser verdammten alten Ruine standen, war ein Vortex, ein Tunnel durch die Anderwelt!

 

Sie hatten nun über eine halbe Stunde darüber gerätselt, ob sie dem Midyar vertrauen sollten, ob dieser wusste was er tat, ob der Waldläufer es wusste und ob all dies hier in einer Katastrophe enden würde. Kyon hatte nicht die geringste Luft durch einen Vortex zu nutzen von dem er nicht wusste wo er hinführte. Da hätte er auch gleich an Bord eines der Sternensegler gehen und sich von einem Gorden Enthaupten lassen können. Tal vertrat die Meinung, dem Reptiloiden vertrauen zu können. Immerhin hatte sie seinen geliebten Meister gerettet. Und außerdem waren Vortexe von Smavari wie ihnen geschaffen worden. Die wussten schon was sie taten oder getan hatten. Ughtred kannte das Konzept von Subraumschleudern, hatte aber noch nie eine benutzt. Nein danke liebe Mitreisenden und die Lopen würden ihm mit Sicherheit zustimmen. Zwei gegen eine, ging es im durch den Kopf aber im selben Moment kam ihm sein Vater in den Sinn und er stellte fest, dass er letzten Ende nahezu alles tun würde um den alten Schmied zu retten. War er nicht in eine Hexenburg eingebrochen? Hatte sich nicht aus einem der Wolfskerker befreit? Anderweltschleuder hin oder her, er wollte nicht zu spät kommen. Dennoch schwieg er als Kyon sein eigenes Argument mit den Lopen vorbrachte.

Tal hatte bisher nur einmal zu den Tieren gesprochen, doch als sie es nun erneut tat, klangen die Laute aus ihrem Munde fast noch fremdartiger als beim ersten Mal. Es war, als lerne sie die Lopensprache besser zu intonieren und um so deutlicher sie für die Tiere verständlich wurde, um so seltsamer klang sie für Kyon und Ughtred.

Sie fragte den Anführer der Zackenhörner, ob er bereit wäre seine Herde unter die Erde zu führen und einen Sprung durch die Anderwelt zu wagen. Es war schwer zu erkennen, ob Donnerhuf etwas mit diesen Begriffen anfangen konnte, aber er nickte einfach und hob dann den Kopf, um einen Befehl zu röhren. Eine Minute später standen alle Lopen in Reih und Glied und warteten auf den Aufbruch. Tal sah zu Kyon hinüber und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen als sich der Barde den Mundwinkel rieb und imaginären Amytorenschleim entfernte. Sie würde es vielleicht mit wegküssen versuchen müssen. Für sie war eindeutig, dass er nichts abbekommen hatte und wenn doch, war sie ja jetzt eine Expertin für Amytorenschwangerschaftsabbrüche.

Schließlich griff sie Bienenstich in die Mähne und flüsterte ihm Mut zu und tatsächlich ließ sich das sonst eher zurückhaltende Tier von ihr an seinem Vater vorbei als erster auf die Rampe in die Dunkelheit hinunter ziehen. Die Lope rollte mit den Augen und atmete hektisch, aber Tal ließ nicht locker. Sie redete auf Bienenstich ein und als das violette Flackern am Ende des unterirdischen Ganges in Sicht kam, wurde ihr seltsam warm ums Herz. Dies war die Kraft der Anderwelt, der auch sie selbst entstammte.

Langsam dreht sie sich in den Armen ihrer Mutter. Ihre Augen glänzen, als sie zum ersten Mal im Leben in die feinstoffliche Welt hinüber greift und mit den feinen Wurzeln der Macht spielt. Sie zupft hier und da und sieht, wie ihre Mutter an Substanz verliert. Ein Nervengeflecht um schimmernde Knochen greift auch sie in dieses Netz und zeigt Tal seine Vorzüge. Alles an ihm ist mit der Realität und der Anderwelt verbunden. Alles ist alles und kann alles. Dann zieht Tal an einem der Fäden und knickt ihn ab. Vor ihren Augen öffnet sich auf der anderen Seiten dieser leuchtenden inneren Welt der Mund ihrer Mutter zu einem Schmerzensschrei.

Dann macht Tal einen Schritt in das violette Leuchten hinein, zieht die sich werdende Lope mit sich und wird vom Sog der Membran ergriffen. In Shishneys Zitadelle gibt es Vortexe mit geringer Reichweite zu einigen Unräumen, in denen zuweilen Bälle abgehalten werden. Als sie in Shishney angekommen war, hatte sie eine dieser Schleudern benutzen dürfen, um in die Verwaltung zu gelangen. Das Gefühl des durch den Äther geschossenwerdens hatte sie als nahezu orgasmisch empfunden. Alles an ihr schrie nach dieser Form der übernatürlichen Befriedigung und ihr Innerstes drohte sich nach Außen zu kehren. Dann kam der Fall.

 

Ughtred stürzte durch ein sich drehendes Chaos aus violetten Strängen und Lopenbeinen. Eben war der schwarze Mann noch neben ihm gewesen, aber dann hatte sich die Welt gedreht und nun fiel er durch einen Tunnel aus Raum und Licht. Er schrie und plötzlich wurde sein Flehen nach dem Ende dieses Chaos erhört und aus einem kosmischen Fallen durch den Rand der Anderwelt wurde ein echter Sturz auf das Zentrum der Tiba Fe zu. Sein Schrei wurde in der Realität hörbar und neben ihm schrien zwei Lopen. Grelles Licht blendete ihn und dann kam der erste Aufprall. Er rollte, blieb eine Sekunde in heißem Sand stecken, überschlug sich und kullerte immer noch schreiend einen steilen Hang hinunter. Alles um ihn herum war Chaos, aber jetzt war dieses Chaos real! Sand, Hitze, Steine und ein Lopenhuf, der ihn schmerzhaft in den Rücken traf ließen ihn dies erkennen. Dann übernahmen seine Instinkte sein Handeln, er sprang ab, sobald wieder einmal seine Beine den Boden berührten, segelte durch die Luft und kam schließlich nach einer eleganten Drehung als bisher mit seinem Hintern auf und schlitterte nun den Rest des Hangs hinunter.

Vor sich konnte er Tals Schwert durch die Luft fliegen sehen. Er hoffte inständig, dass es keine der Lopen in der Mitte durchsäbeln würde. Irgendwo hörte er die Hexe fluchen und dann donnerte der Albino an ihm vorüber. Das große Tier hatte schneller als er selbst den Hang als das erkannt, was er war und somit seinen Sturz gebremst. Mit allen vier Hufen weit nach vorn gestreckt glitt das Zackenhorn an ihm vorüber und machte einen fast witzigen Eindruck, als es den Kopf zu ihm herüberdrehte und mit aus dem Maul spritzenden Speichel ebenfalls zu schreien schien.

Unten kam es unweigerlich zur Karambolage. Wie auch immer einst die andere Seite des Vortexes ausgesehen haben mochte, jetzt befand sich hier ein Höhenunterschied von über zwanzig Metern. Am schlimmsten aber war, dass sich auch hier Steine einer alten Ruine befanden und diese die Schlittenfahrt noch gefährlicher machten. Ughtred hatte gesehen, wie eine der großen Lopen mit dem Hintern an einem Stein hängen geblieben war, sich überschlagen hatte und unten in zwei weitere Tiere hineingedonnert war. Zum Glück war es Tal gelungen, unten aus der Reichweite der Nachzügler zu hechten. Sie stand unten und wedelte mit den Armen, als könne sie damit irgendetwas erreichen.

Eine nach der anderen rammten die Lopen ihre unten angekommenen Vorgänger und auch Kyon und der Phani teilten dieses Schicksal. Doch wie durch ein Wunder, vielleicht waren es die helfenden Hände der Großen Mutter oder das Karma selbst hatte sich auf ihre Seite gestellt, aber niemand hatte sich ernsthaft verletzt. Eines der Dromirtha hatte eine klaffende Wunde am Gesäß, aber Tal hatte sofort begonnen, sich der Verletzung anzunehmen. Kyons Stolz schien etwas mehr gelitten zu haben, aber er hatte keine Zeit sich auf diese Art der Verletzung einzulassen, denn kaum war etwas Ruhe eingekehrt, als der nächste Angriff kam.

Ughtred sah mit an, wie Tal etwas auf die Hinterhand der verletzten Lope strich, als ihr entblößter Arm zu qualmen begann. Unbarmherzig strichen die glühenden Finger der Tagesschwestern über die bleiche Haut der Silberwölfe und ließen sie brennen! 

 

Wolf oder Wölfin? 

Kyon schob vorsichtig seine Kapuze zurück. Die Dämmerung hatte endlich die Kontrolle über die Ruine übernommen und die Geschwistersonnen waren am Horizont verschwunden. Keinen Moment zu früh, dachte er, denn seine Haut brannte und spannte und er hatte schwierigkeiten etwas zu sehen. Er konnte nur hoffen nicht ganz und gar zu erblinden. Sie hatten sich in die Schatten der Ruine verkrochen wie Insekten in einer Quinkkaschemme wenn die ersten Gäste eintrafen. Alles an ihm war Schmerz. Aber er war auch froh, denn es hätte schlimmer kommen können. Der Sturz den Hang hinunter war fast unnatürlich glimpflich für alle ausgegangen. Er hatte sich die Schulter geprellt aber wie durch ein Wunder war keiner seiner Knochen gebrochen. Auch die Lopen schienen bis auf leichte Verletzungen unversehrt und am besten hatte es der scheiß Skerge getroffen. Warum eigentlich? Der Mistkerl hatte keinen einzigen Kratzer abbekommen und stand jetzt noch am Rande des letzten Sonnenscheins, denn wie hätte es anders sein sollen, das Sonnenlicht machte ihm natürlich nichts aus.

Kyon knurrte leise und überlegte dem Nygh einen Pfeil zwischen den kleinen Tieröhrchen hindurch zu jagen, aber dazu hätte er ja seinen Bogen benötigt und der lag irgendwo draußen zwischen dem Rest der Ausrüstung.

Dann eben kein Pfeil. Er sah zu Tal hinüber. Leichter Dunst stieg von ihrem Mantel auf. Erschrocken stellte er fest, dass seine eigene Kleidung ihn besser geschützt hatte als sie ihre. Hätte er ihr nicht seinen Mantel geben sollen? Er hatte es ja nicht gemerkt, nicht seine Schuld. Er schluckte und fühlte sich plötzlich noch elender – seltsam, dass dies überhaupt möglich war, aber auf der Tiba Fe war vieles möglich.

Dann wandte sich der Nygh zu ihnen um und kam in die Schatten herüber. Zufrieden stemmte er die Fäuste in die Hüften und sagte unverdrossen: »Na das war mal ein Ritte.«

Kyon sah Tal an und dann wandten sie gleichzeitig ihre verbrannten Gesichter dem kleinen Mann zu. Sie sagten nichts, sahen ihn nur an, bis dieser blaffte: »Was? Ist es meine Schuld? Anderweltschleudern, Ruinen, Abhänge und die Sonne, ja natürlich, hätte ich all dies doch anders arrangiert.«

Wütend stapfte er davon und begann die Ausrüstung zu bergen. Kyon sah Tal an und sie begann an ihrem Gürtel herum zu nesteln. Dann richtete sie sich auf und schüttelte sich. Sand flog durch die Luft. Fluchend beförderte sie ein Fläschchen zutage und schüttete sich etwas von dessen Inhalt auf die Hand und begann es in ihrem Gesicht zu verteilen. Unachtsam und ohne Vorwarnung warf sie es Kyon zu, dieser bekam es an die Stirn, woraufhin es zu Boden fiel und zerbrach. Er sah sie an und führte einen Finger zu der frischen Wunde, aus der ein dünnes Rinnsal seines Blutes über seine Wange bis zum Mundwinkel floss. Zwei Pfeile, ganz eindeutig zwei Pfeile.

 

Kyon war sich nicht ganz sicher, aber die Ruine, bei der sie aus dem Vortex ausgetreten waren, musste Irith Adnor sein. Er hatte in einem der Bücher seines Vaters gelesen – ja es hatte eine Zeit gegeben, er war noch ein Welpe gewesen, da hatte er sich von seinem Vater begeistern lassen – die Festung wurde vor über fünfzehn Millenien errichtet, konnte den Ansturm der Wüste aber nur kurz die Stirn bieten. Die Draiyn waren gekommen und hatten die Mauern mit ihren Chitinpanzern geschliffen und alles smavarische Leben ausgelöscht. In einem anderen Bericht sollen es große Amytoren aus den höheren Lagen der umliegenden Gebirge gewesen sein, die der Smavarifestung ein Ende bereitet hatten. Sein Vater hatte gelacht, als er ihn gefragt hatte, was nun stimmte. Sein Vater hatte immer gelacht.

Es war jetzt Nacht und nur drei der fünf Monde erhellten das Land mit ihren unterschiedlichen Lichtern. Tals Haut spannte immer noch und er hasste die Wüste jetzt schon. Wenn er sie überreden wollte, war es dringend notwendig, den Rand des Gebirges zu erreichen, denn ohne Schatten wären er und die Hexe verloren. Dann könnte der Nygh gerade sehen, wie er klar käme.

Mühsam erstieg er eine Mauerkrone und blickte in die Richtung, die er für den Norden hielt. Weit entfernt zog sich ein dunkles Band vom linken zum rechten Rand seines Horizontes. Das Land war auf eine schreckliche Weiße flach und wies ganz offensichtlich keinerlei Schutz auf. Bei dem dunklen Band musste es sich um DranˋOrad handeln. Dieses Gebirge trennte Korezuul von Kisadmur. Sie waren weit gekommen.

Im Westen gab es ein weiteres Gebirge, aber seine geographischen Kenntnisse reichten nicht aus, es zu benennen. Im Tagebuch seines Vaters war die Rede von einem Pass. Er nestelte den Datenkristall hervor und ließ ihn auf seiner Handfläche schweben. Zögernd betrachtete er das Ding. Northrian – dann griffen seine Gedanken  nach dem Stein und dieser öffnete das Tagebuch des Vaters. In der Luft vor Kyons Augen zeichnete der Kristall die leuchtende Schrift des Abenteurers in die noch warme Luft.

 

Ab dem schroffen Dran`Orad geht es durch den Sand nach Westen. Rastet nicht in trügerischer Heimeligkeit der Steine von Irith Adnor, denn keiner weiß zu sagen, wer oder was hier noch nach Schatten, Ruhe oder Nahrung sucht. Alt sind sie, diese Steine und bezeugen können sie die rasende Gier der Draiyn. Besser nutzen Reisende des Berges Schatten, doch auch hier heißt es: seid auf der Hut, dies Land ist wild! 

Nach der alten Festung geht`s nahe an den Dran`Orad. Keinen Schritt weiter nach Westen führt der Weg, denn sonst, ja sonst ist da das Nest der Schabenmänner. Zkatiyit, ein Name so unaussprechlich wie jene, die in dieser Stätte hausen. Von wilden Wüstenjägern hört man Geschichten über die Draiyn. Heute sind sie friedlich und locken euch mit ach so süßem Zuckerwerk, doch schon am nächsten Morgen sind sie hungrig und siehe da, ihr seid es, nach dem es ihre klickend Münder nun gelüstet. »trc Naidric trc«, dies Wort ist wohl zu merken, denn wer es kennt soll nicht zum Mahle werden!

Besser sucht den Pass im Norden und geht den geraden Weg, vorbei an ihrem Nest. Vorsicht nur – der Berg kennt viele Pässe und wer in den falschen geht, findet schwer wieder heraus. Ich erwähnte schon, in den Höhen hausen Amytoren und so ist es auch in denen des Dran`Orad.

Weiter geht es durch die Wüste und jetzt nur noch hoch nach Norden und bald schon ist der Horizont das Ziel. Schon sieht man mehr als Wüstensand, den breiten Rücken des Leang`Orad und dies Gebirge ist der Sockel, da es einst erbaut: Dranought, östlichste Grenzstadt Korezuuls.

 

Erst jetzt fiel es Kyon auf, dass der Midyar nicht durch den Vortex gegangen war. Aber warum auch? Er hatte ihnen tatsächlich einen guten Weg gezeigt, denn wenn sie alleine weiter nach Westen gezogen wären, hätten sie viele Tage länger gebraucht, nur um am Ende auch hier zu landen. Er zuckte mit den Schultern und rief nach Ughtred. Tal sah gerade nach der verletzten Lope und schien damit vollauf beschäftigt zu sein. Als der Nygh zu ihm auf die Mauer geklettert war deutete Kyon auf die transparente Darstellung des Tagebuchs in der Luft und zitierte seinen Vater: »Besser sucht den Pass im Norden und geht den geraden Weg.« Er deutete nach Norden und fügte hinzu: »Schätze dies ist unsere Richtung.«

Doch Ughtred rieb sich die Augen und schüttelte dann den Kopf als er leise murmelte: »Nee, das ist die Südostflanke des DranˋOrad, wenn wir dahin ziehen, bewegen wir uns zurück nach Kisadmur.«

Kyon nickte, weil er nicht richtig hingehört hatte, aber dann verstand er die akzentbelasteten Worte des Nyghs doch und sagte: »Zurück? Was redest du da? Von der Wüste aus liegt Korezuul im Norden. Das ist eindeutig unsere Richtung.«

Doch Ughtred blieb hartnäckig. Sie stritten sich noch eine ganze Weile und erst als der Nygh den groben Verlauf des Gebirges in den Sand gezeichnet hatte, ließ Kyon von einer sicheren Meinung ab. Vielleicht hatte der Stumpen ja recht und wenn nicht, war es ja nur zu seinem eigenen Schaden. In Korezuul würde man sicher einen anderen Weg finden, in dieses blöde Grab einzudringen. Wer brauchte den Kerl schon?

 

Etwas später rieb sich Ughtred die müden Augen, denn nun musste er der Hexe auch noch erklären, dass Gebirge nicht einfach ein Strich am Horizont waren. Natürlich ließ auch sie sich von der Perspektive täuschen und wäre wie der schlaksige Schönling zurück nach Kisadmur gezogen. Nein, nein und nochmals nein, ihr Weg führte sie nach Westen. Vielleicht könnte man das Gebirge des Schattens wegen in Richtung Nordwest etwas schneller erreichen und er sah ein, dass solch ein Umweg hilfreich sein könnte, wenn er die beiden lebend zu seinem Vater schaffen wollte. Aber Norden ging gar nicht. Immer wieder redete er auf die beiden ein, denn auch Kyon, den er zwischenzeitlich überzeugt zu haben geglaubt hatte, wollte es nun wieder besser wissen und das Ganze wäre sicher noch ewig so weitergegangen, wenn er ihnen nicht beim Leben seines Vaters geschworen hätte ihnen Undorn zu öffnen und was auch immer daraus zu holen, auch wenn sie für ihren Vater zu spät in seiner Heimat ankämen.

Fast noch schwerer war es, sie zu überzeugen, noch heute Nacht aufzubrechen. Die Zeit eilte nach wie vor und er wollte den gewonnenen Vorsprung nicht wieder verlieren. Außerdem hatten sie hier mit Sicherheit nichts zu gewinnen. Sie würden noch mehrere Stunden reiten können, ehe die Sonnen zurückkamen und dann würden sie ohnehin rasten müssen. Er wollte sich jetzt noch gar nicht vorstellen, wie das ablaufen würde, aber diesmal mussten die beiden wenigstens in ihrem Zelt sein, wenn die Tagesschwestern ihre Krallen nach ihnen auszustrecken begannen.

Nach langem Hadern entschied man sich dann tatsächlich noch ein paar Stunden durch die Wüste zu ziehen. Die Lopen waren zwar alles andere als begeistert, aber sie hatten beim Sturz fast die Hälfte ihres Wasservorrates verloren und die Wahrscheinlichkeit, hier draußen Wasser zu finden, war gering. Sie mussten das Gebirge also so schnell wie nur irgend möglich erreichen. Donnerhuf gab also seinen röhrenden Befehl und nahm wieder höchstpersönlich den Alpha der Silberwölfe auf. Als Ughtred auf eine der großen Lopen zur Ausrüstung kletterte versuchte er sich so einen Rundumblick über die Umgebung zu verschaffen, aber die Beschaffenheit der Wüste war ihm derart fremd, dass jeder Schatten und jeder Stein eine Gefahr für ihn darstellen konnte. Plötzlich sehnte er sich mit jeder seiner Fasern nach seiner Heimat. Als er damals seinen Geburtsort Dranought verlassen hatte, war er unter Schimpf und Schande geflohen. Engstirnig hatten ihn seine engsten Bekannten einen Dieb gescholten. Nur weil er sich gegen dieses dumme Gesetz gewehrt hatte, welches es ihm verbieten wollte Wissen anzuhäufen. Wie waren denn die Wissenswahrer so klug und wissend geworden? Sicher nicht durch die Ausführung des Schmiedehandwerks. Nicht dass er nicht gerne schmiedete, aber konnte man nicht Schmied sein und Bücher lesen?

Der Streit mit seinem Vater hatte ihm den Rest gegeben. Bist du ein Dieb oder mein Sohn? Als ob das Vergessen der Rückgabe eines Buches oder Lesekristalls ihn von seinem Vater für immer entbunden hätte. Dabei wusste er ganz genau, dass sein Vater dies ebenfalls nicht zugelassen hätte. Selbst wenn er geblieben wäre und der Stadtrat hätte ihn offiziell verurteilt, hätte sein Vater ihn weiter geliebt. Er hätte ihn niemals davon gejagt. Aber er selbst, wie hätte er die Blicke seines Vaters ertragen sollen. Seine ganze Kindheit hatte er die unfreiwillige Trennung des Vaters von seiner geliebten Frau ertragen. Der Alte redete nicht über diese Dinge, aber Ughtred hatte Tag um Tag diesen Schmerz im Blick des Vaters gesehen. Jeden Tag seines Lebens. Hunderte von Jahreszeiten; kalte, milde, warme – eben alle. Immer dieser Verlust. Und seine Mutter? Wenn er sie besuchte, war er nicht einmal er selbst. Er war ihr ein Fremder. Sie erkannte ihn nicht. Nach außen schien sie ganz normal zu sein, aber selbst wenn er sie umarmte, war da eine Spannung in ihr, die sich unentwegt fragte, wer bin ich? Wer ist dieser junge Nygh und was will er von mir?

Er rieb sich die Stirn, wie er es so oft tat, wenn er mit seinem Schicksal haderte, aber dann fanden seine Finger die narbenartige Vertiefung auf seiner Stirn und er fuhr sie nachdenklich nach. War er damals im Geburtshaus gerettet oder verflucht worden? Er versuchte im Dunkeln vor sich die Hexe zu erkennen. Er konnte hervorragend im Dunkeln sehen und so fanden seine Augen ihr Ziel. War sie es gar am Ende? War sie die Waldwölfin, die seine Familie auserkoren hatte, auf immerdar geneckt und verletzt zu werden?

Er kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich auf das Reiten. Dann sprang er ab und rannte zu einem der Kreuzhörner, um auf ihm weiter zu reiten. Er hatte eingesehen, dass er von weiter oben auch nicht wesentlich besser sehen konnte. Sie mussten die Lopen schonen. Die Tiere waren ihre einzige Chance auf ihrem Weg durch die Wüste.

 

Als die Morgendämmerung sich an sie heran schlich, war Tal am Ende ihrer Kräfte angelangt und auch Kyon hing vor ihr schlaff in seinem Sattel. Die letzten beiden Stunden waren wie in Trance an ihr vorübergezogen und sie fragte sich, wie sie das schaffen sollte. Die Schiffsreise war schon nicht nach ihrem Geschmack verlaufen, aber das hier war schlicht die Hölle.

Sie sah sich um, aber egal wohin sie ihren Blick richtete, überall war sie nur von Sand und Steinen umgeben. Sie wusste nicht einmal mehr, ob sie noch der richtigen Richtung folgten. Das Gebirgsband war einmal da und einmal nicht. Vermutlich weil die Wüste hier hügelig war und die Anhöhen ihr immer wieder unmerklich die Sicht nahmen. Ihre Verzweiflung ob des kommenden Sonnenaufgangs machte sie noch unfähiger, ihre letzten Kräfte zu mobilisieren. Schließlich gab sie ihrer Lope zu verstehen, dass sie anhalten solle und dann rutschte Tal kraftlos aus dem Sattel in den Staub der Wüste.

Auch die übrigen Tiere kamen langsam zum Stehen. Es spielte keine Rolle mehr, nach einem besseren Platz für den Tag zu suchen. Nichts hier unterschied sich voneinander. Sand, Steine und wieder Sand bestimmten die einzige Realität um sie herum. Noch blieb ein wenig Zeit, zumindest das Zelt aufzubauen. Odugme nahm die Plane von der großen Lope und begann damit, doch als er mit dem Gestänge anfangen wollte, brach er kraftlos in die Knie. Tal sah noch, wie der Nygh ihm zu Hilfe eilte, doch dann hatte sie nicht einmal mehr die Kraft zu sehen. Sie zog ihre Kapuze so fest um ihre Ohren wie sie konnte und dann erwartete sie das Gericht der Schwestern Argol Fe und Hiyween. Und dieses Gericht ließ nicht lange auf sich warten. Sekunde um Sekunde schliffen die Klauen der Tagesgestirne die Schatten aus dem Wüstenboden und bald herrschte sengendes allumfassendes Licht.

 

Vor wenigen Tagen war Draiyn Andiled nur eine Konstante in seinem geographischen Wissen gewesen. Dieses endlose Land im Westen, welches sich einmal um den Ganzen Globus zog und wo nun eben sengende Hitze und gefährliche Monstren herrschten. Er hatte die Wüste stets als einen Ort betrachtet, den er niemals sehen würde. Man konnte Lieder drüber singen – In der Hitze der Glut oder Knöchlein, bleich Knöchlein im Sande – aber man ging dort nicht hin. Irgendwo am Rande der Wüste gab es Orte, an denen man Gelbwein von den Wüstenstämmen bekam. Sie tauschten nicht, sie gaben einfach, weil die Smavari es geschafft haben, sich als ihre Kinder auszugeben. Aber selbst diese Schnittstellen waren garantiert nichts für ihn. Er trank den Gelbwein, aber die Becher zu füllen, war Aufgabe der Quink.

Kyon kroch aus dem Zelt und versuchte so gut es eben ging mit der Situation zurecht zu kommen. Der Nygh hatte ein Feuer gemacht und die Glut war noch rot und sandte dünne Rauchfähnchen in die Luft. Es war kühl und Kyon wunderte sich. Sollte es nicht heiß sein?

Auf einer nahen Düne standen mehrere der Zackenhörner beisammen und blickten in die Nacht hinaus. Die Sonnen konnten eben erst untergegangen sein, denn er konnte ihren Widerschein noch wahrnehmen. Langsam stolperte er ein Stück vom Zelt weg und verrichtete seine Notdurft. Dann ging er zurück und setzte sich dem Nygh gegenüber. Der kleine Mann sah ihn mit schmalen Augen über das erloschene Feuer hinweg an. Sie schwiegen. Er dachte an die Schuld und die Bedingungen, die ihn in diese Lage versetzt hatten. Das Tagebuch seines Vaters und der Vater des Nyghs. Hatte YtˋTalan nicht auch von ihrem Vater gesprochen. Kyon meinte sich zu erinnern, sie stamme von einem in Ungnade gefallenen Kriegshelden ab, der knapp davor gewesen war den Titel des Sliyn zu erlangen, dann aber seinen Vorgesetzten den Rücken zugekehrt hätte, um jetzt in der Provinz Pilze zu züchten. Stimmt, North hatte ihm von seinen Eltern erzählt.

Kyons Blick wanderte zu der Holzkiste, die keine zehn Schritte von ihm entfernt im Sand lag. Er wollte gerade die Augen schließen, als der Nygh sagte: »Die Geschwister sind abgetaucht. Wir sollten aufbrechen, sonst werden wir erneut im Sand ruhen müssen.«

Am liebsten hätte Kyon ihn angeschrien. Sollten, müssen – ein Smavari sollte und musste nichts! Aber er hatte keine Kraft. Allein die Vorstellung gleich auf dem Rücken von Donnerhuf, wenn das blöde Vieh es ihm heute überhaupt gestatten würde, auf seinen Rücken zu klettern, Stunde um Stunde durch den Sand zu schaukeln, raubte ihm die letzte Hoffnung. Er sehnte sich nach seinem Bett, nach dem Lachen der Freunde und nach den süßen kleinen Gehilfinnen im Hause Lysai. Vor seinem inneren Auge erschien Pegual Athmortis, der Besitzer besagten Freudenhauses und fragte ihn, was er bei allen Höllen hier draußen in der Wüste verloren hatte. Kyon konnte nur nicken und dem großgewachsenen schlanken Mann mit den schlohweißen Haaren zustimmen.

 

Kurze Zeit später trieb Kyon das Albinozackenhorn an, zu Ughtred aufzuholen. Der Stumpen hatte die Führung übernommen, was vor allem daran lag, dass er behauptete die Richtung zu kennen und dass die Hexe irgendwo weiter hinten nach ihren Giftzähnen suchte. Kyon war selbst am Ende seiner Kräfte, aber Tal schien es nicht besser zu gehen. Sie hing in ihrem Sattel und ließ sich treiben, als tänze sie mit dem Siechtum.

Mit Mühe zu dem Nygh aufgeschlossen sagte Kyon: »Müssen wir  nicht langsam nach Norden?«

Ughtred schüttelte den bärtigen Schädel und deutete mit der Faust in eine Richtung. Vor Kyons Augen war alles verschwommen. Staub lag in der Luft und er hatte das Gefühl, die Wüste entzöge ihm mehr als nur die Flüssigkeit. Er versuchte die Konturen des Horizonts zu begreifen, sah aber nur dunkle und dunklere Wellen und dazwischen die eine oder andere helle Stelle.

»Das da drüben ist der südlichste Ausläufer des DranˋOrad. Wir müssen an ihm hier unten vorbei. Wenn wir zu früh nach Norden abbiegen, zwingt uns der Berg zurück.«

Kyon versuchte die Worte einzuordnen, aber in seiner Welt ging man nach Norden, wenn man nach Norden musste. Warum sollte man nach Westen oder gar nach Süden ziehen. Versuchsweise lenkte er Donnerhuf aus der Gruppe heraus in die Richtung, die er für Norden hielt, aber seit Irith Adnor hatten die Lopen offenbar beschieden, nur noch auf Ughtred zu hören. Donnerhuf machte zwar einen Bogen auf seinem Weg, kehrte aber nach einer Weile wieder auf den Weg der anderen zurück und Kyon hatte weder die Kraft, noch den Elan mit dem Alpha zu diskutieren.

 

Gegen Mitternacht hatten sie offenbar die tiefste Stelle vor den unteren Gebirgsausläfern erreicht, denn nun wurde der Boden schroffer und es ging bergan. Vor ihnen erhob sich im Schein der Monde eine gezackte Gebirgsfront, deren Flanken ganz und gar kahl zu sein schienen. Hoch über ihren Köpfen waren ab und an bewegliche Punkte zu sehen. Was auch immer das war, es musste riesig sein, wenn man es von hier unten aus sehen konnte.

Der DranˋOrad zwang sie nun tatsächlich, nach Südwesten auszuweichen. Kyon war mehr oder weniger fassungslos und versuchte seinen Unmut mit Tal zu teilen, aber diese stierte nur stumm in die Richtung, in die der Nygh sie führte. Ins Verderben, dachte Kyon, ergab sich aber in sein Schicksal. Die Schmerzen in seinen Gliedern, der Hunger und der Durst und seine juckende, spannende Haut nahmen ihm jede Möglichkeit, Anteil an seinem Schicksal zu nehmen. Würde Draiyn Andiled auch seine Totenstätte werden? Irgendwo am Rande der Wüste hatten sie die Überreste der Karawane seines Vaters gefunden. Irgendwo würde auch er liegen, da war er sich jetzt ganz sicher.

Er wollte gerade sterben, da hob der Nygh vor ihm die Hand und gab Zeichen zum Halt. Donnerhuf blieb aprupt stehen und Kyon hatte Mühe sich an der langen weißen Mähne der Lope festzukrallen. In Ruhe zugrunde gehen, würdevoll, ging es ihm durch den Kopf, als er zu Boden glitt. 

Langsam schlossen die anderen Lopen auf und Kyon konnte nicht umhin, wie schlecht der Phani aussah. Er hockte zusammengesackt auf dem Rücken von Kreuzhorn und rührte sich kaum. Schlaff ließ sich der Barde zu Boden sinken und beobachtete wie der Nygh, offenbar immer noch kräftig genug, um sich zu bewegen, zu dem Riesen ging und ihm half abzusteigen. Er wunderte sich über den Impuls, helfen zu wollen, aber dann sah er einfach nur zu, wie sich der kleine Mann um alles kümmerte.

Das Zelt entstand vor seinen Augen, die Lopen wurden von ihren Sätteln befreit, ein Feuer wurde entzündet und all dies tat der Nygh. Kyon war sich jetzt allerdings sicher, es hier mit einem Höllenwesen zu tun zu haben.

 

Im Zelt kam Tal zur Besinnung. Sie war sich nicht sicher, wie sie hier hereingekommen war und sie konnte sich auch nicht erinnern, sich ausgezogen zu haben. Neben ihr lag Kyon und wimmerte leise. Auch er war nackt und sie wunderte sich über die längliche Wunde an seinem Rücken. Er musste sie sich beim Sturz in die Ruine gestern – oder war es vorgestern gewesen? – zugezogen haben.

Vorsichtig öffnete sie eine ihrer Taschen und trug behutsam etwas von ihrer Heilpaste auf die Wunde auf und unterbrach ihr Handeln jedes Mal, wenn Kyon sich im Schlaf rührte.

Sie fühlte sich ebenfalls erschöpft, aber sie hatte einen Großteil des letzten Ritts im Sattel geschlafen, etwas, dass Kyon offenbar verwehrt geblieben war.

Wieder zuckte Kyon zusammen und ein langgezogenes Schluchzen entrang sich seinen Wangen. Er träumte von der großen Agonie, dachte sie und gab ihm von ihrem Geruch zu trinken. Dies beruhigte ihn und er sank tiefer in die Ebenen der Träume. Dann verknotete sie ihre Glieder, um eine Position einzunehmen, in der sie ihr Gesicht in seiner Achselhöhle vergraben konnte. So fanden die beiden Smavari zum ersten Mal auf ihrer Reise einen Moment in Zeit und Raum, in dem sie die Bedingungen der Realität überwinden konnten. Energie bleibt immer gleich, kann nur verschoben werden, so sahen es Schiffsbauer und Schmiede, aber hier erwuchsen durch die Mischung zweier erschöpfter Energiepoole zwei deutlich gestärkte Kräfte.

 

Vier Tage und vier Nächte verbrachte die Reisegruppe zwischen den Schatten des Gebirges und der Wüste. Sie wichen nicht von Ughtreds Weg und erst als der Nygh endlich nach Norden blickte und den Lopen sagte, von nun an ginge es in dieser Richtung weiter, wurde den beiden Smavari klar, dass der kleine Mann sie und diese Unternehmung gerettet hatte. Selbst Odugme ging es ein wenig besser, denn der Nygh hatte einen Großteil seiner eigenen Wasserration an den Riesen weitergereicht. Als sie schließlich einen Tag später in die Schlucht, von der das Tagebuch sprach einritten und kaum eine Stunde später ein dünnes Rinnsal fanden, glaubten sie den Tiefpunkt ihrer Reise überschritten zu haben, aber das Karma machte natürlich über die Naivität seiner Kinder.

 

Es war noch dunkel, als die kleine Reisegruppe zwischen den Flanken der Schlucht Halt machte. Nach wie vor drängte die Zeit, aber die Erschöpfung der Silberwölfe ließ im Augenblick keinen Gewaltmarsch mehr zu. Kyon hatte sich zwar ein wenig erholt und schien sich vorgenommen zu haben, von nun an die Ausdauer des Wolfes zu leben, aber sowohl Tal als auch ihr Phani waren nach wie vor am Ende ihrer Kräfte. Auch war es dringend notwendig, die Lopen zu schonen. Gerade die jüngeren Tiere hatten Probleme mit ihren Kräften zu haushalten. Zu Beginn einer Etappe schritten sie weit aus und es konnte ihnen gar nicht schnell genug gehen, aber dann waren sie bald ermüdet und fielen immer wieder zurück.

Ughtred hatte wie immer das Zelt für Tal und Kyon aufgebaut, sich danach um die Tiere gekümmert und hockte jetzt mit untergeschlagenen Beinen am Feuer. Er war müde, traute aber der Schlucht, in der sie sich befanden, nicht. Das, was der Verfasser des Tagebuches Pass nannte, war kaum als solcher zu erkennen. Vielmehr teilte sich das Gebirge und Ughtred hatte das Gefühl, rechts und links in einem kleinen Tal eingekesselt zu sein. Hätte er jemanden angreifen müssen, wäre dies die optimale Stelle dafür. Feinde konnten sich in den Spalten der Felswände verbergen und mit Steinen oder anderen Geschossen angreifen, ohne Gefahr zu laufen, im Vorfeld gesehen zu werden.

Misstrauisch beäugte der Nygh die dunklen Hänge und wartete auf die Katastrophe. Er versuchte, sich den Wortlaut des Tagebuches ins Gedächtnis zu rufen, aber Kyon hatte den Kristall mit ins Zelt genommen und er wollte nicht stören. Wer hätte sagen können, was die beiden da im Zelt trieben. Mit verzogenem Gesicht dachte er an ihre erste Schiffsreise und war froh, keinen Rum mitgenommen zu haben. Andererseits hätte er jetzt gerade wirklich nichts gegen ein Schlückchen. Oder noch besser: einen Becher Gerstensaft, dass wäre es jetzt: kühl und frisch aus dem Fass.

Gerade wollte er die Augen schließen und weiter über Gerstensaft nachdenken, als unerwartet die Plane des Zeltes zurückgeschoben wurde und Kyons bleiche Augen in der Nacht erschienen. Ughtred dachte sich zuerst gar nichts dabei, aber dann sah er, dass der Silberwolf ganz und gar nackt wahr. Sein leib schien fast im schwachen Schein des Lagerfeuers zu glimmen und er sah seltsam dürr und knochig aus, wie er da auf allen Vieren durch den Staub kroch. Plötzlich hielt er an, krümmte sich zusammen wie eine Katze kurz vor dem Erbrechen eines besonders großen Gewöllebrockens und gab dabei ein kehliges Knurren von sich, welches so gar nicht nach ihm selbst klang.

Ughtred stand auf und musste mit ansehen, wie sich der Barde mehr und mehr zusammenkrümmte und dann gab es einen unglaublich lauten Knacks, der eindeutig aus Kyons Rückgrat gekommen war. Der Nygh sog scharf die Luft ein und wollte etwas sagen, aber da war es schon zu spät. Schnell und ohne weitere Vorwarnungen brach Kyons Rücken auf und in einer unwirklich grün lodernden Flamme schälte sich unter Keuchen ein Ding aus ihm heraus. Ich träume, oder schlimmer, der Amytor hatte Kyon doch erwischt, dachte Ughtred und schlug Alarm, aber bis Tal ebenfalls verwirrt den Kopf aus dem Zelt stecken konnte, war das Wolfsding längst aus seinem Wirt herausgekrochen. Nun stand es vornübergebeugt in Kyons Hautresten, schüttelte sich und blickte dann zum Nachthimmel hinauf, um ein dünnes Heulen von sich zu geben. Es war noch dürrer als Kyon, hatte stacheliges schwarzes Fell und eine schmale Wolfsschnauze. Seine Augen wirkten tot und lodernd zugleich und das grüne Züngeln umgab es wie eine Schutzschicht aus lebendigen Elementen. Dann machte es einen Satz über das Feuer hinweg und sprang mit kraftvollen Bewegungen die östliche Flanke des Passes hinauf. Ughtred wollte hinterherlaufen, entschied sich aber sofort dagegen, als Tal endlich ins Freie getreten war.

Sie kam zu ihm und sah ihn mit einer Mischung aus Entsetzen und Ungläubigkeit an. Dann flüsterte sie: »Es ist in uns allen, aber ich hätte niemals geglaubt, dass es sich ausgerechnet bei ihm manifestieren würde und warum ist es weiblich?«

Ughtred hätte am liebsten geantwortet, dass der Kerl ja nicht sein Gespiele sei und das schließlich sie die Hexe wäre und dass er ja wohl als letzter mit der ganzen Sache zu tun hätte, aber er blieb ruhig und rieb sich die Stirn.

Mehrere Minuten standen sie so da und blickten in die Hügel hinauf. Dann drehte sich Tal zu der Stelle der Transmutation um und untersuchte die Überreste. Sie kannte viele Fälle solcher Ausbrüche. In Kovarin, dem kleinen Ort im Süden Kisadmurs, in dem ihre und North Eltern lebten, gab es einen Lykanthropen, der es kontrollieren konnte. Er war ein alter, stattlicher Mann, der die liebe lange Nacht auf der Bank vor seinem Haus hockte und mit den Kindern der Quink spielte und wenn ihm dieses Verhalten nicht seltsam genug mehr vorkam, riss er seinen Leib auf und entließ den Wolf in die Realität. Dann rannte er durch die Wälder und Pilzhöhlen, heulte und schlug Wild und nach einer Weile kam der Wolf zurück und gab den Mann in ihm wieder frei. Andere Werwölfe hatten es nicht unter Kontrolle und ab und an brach die Bestie einfach aus und es konnte lange dauern, bis sie ihren ursprünglichen Trägern wieder gestatten zurückzukehren. Von einem Mann, der eine Werwölfin in sich trug, hatte Tal bis heute noch nie gehört, aber jetzt, wo sie es mit eigenen Augen gesehen hatte, kam es ihr seltsam normal vor. Was spielte es für eine Rolle, es waren zwei ganz und gar getrennte Wesen, die sich da eine Existenz teilten, warum sollten sie demselben Geschlecht angehören?

Wann würde Kyon wiederkehren? Mussten sie warten? Tal wiederholte die Fragen laut, erwartete aber gar keine Antwort. Ughtred jedoch sagte: »Ich weiß nicht, wie du das siehst, Frau Hexe, aber ich bin mir sicher, dem Gift im Leib meines Vaters ist der Barde egal. Was meinst du?« Er wartete nicht auf eine Antwort und fügte hinzu: »Außerdem sah dieses Wesen für mich alles andere als verloren aus. Ich wette, es wird uns folgen!«

Sie untersuchten einen kurzen Moment die Überreste, kamen aber zu dem Schluss, dass sie eine Art Abfallprodukt der Transmutation waren. Schlacke, Hautfetzen und Haare waren übrig geblieben, nichts aus was man Kyon hätte wieder zusammensetzen können. Also beschlossen sie, das Zeug mit Sand zu bedecken und zu versuchen, noch ein, zwei Stunden zu ruhen. Ughtred hatte recht, etwas anderes konnten sie ohnehin nicht tun.

 

Der Felsgrat war hart und scharfkantig und sie wunderte sich ein wenig über die Veränderung der Landschaft. Als sie das letzte Mal aus den Augen des Mannes geblickt hatte, war die weiße Zeit in vollem Gange gewesen. Jetzt schien nicht nur die Jahreszeit eine andere zu sein. Um sie herum gab es nicht mehr die dunklen Wälder ihrer Heimat. Die Berge mit ihren kühlen Höhen waren verschwunden. Stattdessen hatte sich um sie herum eine bittere Ödnis aus Staub, Sand und Felsen ausgebreitet. Verwundert versuchte sie, sich zu orientieren, Witterung von etwas Bekanntem aufzunehmen, doch das einzige, dass sie zu kennen glaubte, war dort unten in der Senke. Ein wager Geruch drang zu ihr herauf. Dort unten, gab es eine andere Wölfin.

Beobachtend wartete sie. Lauernd, ungesehen schlich sie durch den Äther, neben der Gruppe von Geistern in der Schlucht. Immer wieder stellten sich ihre Ohren, wenn sie versuchte vorherzusehen, was vor ihr lag. Dann überkam sie die Einsamkeit und wie immer verlor sie kurz darauf das Interesse an dieser Seite des Daseins. Langsam zog sie sich in ihn zurück und schließlich gewährte sie ihm den Ausbruch.

Und so trat Kyon aus dem Schatten der Wölfin. Er hatte durch ihre Augen gesehen, wie immer, hatte durch ihre Nüstern die Witterung aufgenommen, wie ehedem und durch ihre Ohren gehört, wie vom Anbeginn seines Daseins. Als er jetzt aus ihrem Rücken brach und sie verging wie alle Male zuvor, nahm sie ihm die Erinnerung an ihre Zeit. So erwachte er auf dem Felsgrat, nackt und allein und wie immer, wusste er nichts von dem, was diesen Zustand hervorgerufen hatte.

 

Kyon öffnete die Augen. Ihm war kühl, denn es war Nacht. Das Letzte an das er sich erinnern konnte, war das Feuer und das Zelt. YˋTalan hatte ihn gewärmt und versucht seine Sorgen zu besiegen. Er sah sich suchend um, doch hier waren weder die Lopen, noch der Nygh, noch der schwarze Mann und auch die Hexe war nicht da. Stattdessen blickte er auf ein Meer aus grauen und braunen Felsen, die von drei der Monde beschienen, um ihn herum die Landschaft beherrschten. Wage konnte er erkennen, wo der Pass verlief. Er versuchte sich zu orientieren, aber es fiel ihm schwer etwas auszumachen, dass ihm die Himmelsrichtung anzeigen konnte. Er machte einige Schritte den Hang hinab und schnitt sich den Fuß an einem scharfen Grat auf. Stolpernd rutschte er nur wenige Schritte abwärts und schon hatte er eine tiefe Schnittwunde in der Wade und eine schmerzhafte Prellung am Knie. Vorsichtig krabbelte er auf allen Vieren tiefer und suchte verzweifelt nach einem Zeichen, doch um ihn herum war nur wüstes Ödland. Sie hatten ihn zurückgelassen. Sein Dasein war verspielt und wenn er hier sein Leben beendete, würde er für alle Zeiten als Geist durch die Ödnis ziehen müssen. Tränen stahlen sich in seine Augen und er war versucht, um Hilfe zu rufen, aber dann erinnerte er sich an die geschriebenen Worte seines Vaters. Die Wesen der Wüste waren gefährlich. Er konnte es sich nicht erlauben, eins dieser Dinger auf sich aufmerksam zu machen.

Immer wieder zerschnitt er sich die Fußsohlen und eckte mit den Zehen an. Beim Versuch, weiter noch unten in die Senke zu kommen rutschte er ab und stieß sich derart den Ellenbogen, dass er beinahe laut aufgeschrien hätte. Er wusste weder, wie er in diese finstere Situation geraten war, noch wie lange es her war, dass er sich mit Tal ins Zelt zurückgezogen hatte. Wo waren sie nur? Warum hatten sie ihn einfach so im Stich gelassen? Vielleicht war er auch tot und dies war, wie es sich anfühlte. Konnten die Toten die Lebenden genauso wenig sehen wie umgekehrt? Versuchsweise rief er leise YˋTalans Namen und nach einer Weile versuchte er es zuerst mit Donnerhuf und dann sogar mit Ughtred. Niemand antwortete. Langsam und von der tiefen Trauer des Verlassenseins erfüllt schlurfte er weiter am Hang entlang, bis er an eine Stelle kam, von der aus er in der Tiefe zwei Lichtpunkte sah. Das eine war etwa auf seiner Höhe. Das andere war ein ganzes Stück den Pass entlang. Er entschied sich für das weiter entfernte Stück, weil er damit den Abstieg verlängern und aus seiner Sicht ungefährlicher angehen konnte. Doch nach nicht einmal einhundert Schritten machte er Halt. Er war dem Licht praktisch überhaupt nicht näher gekommen, was bedeuten musste, dass es nicht nur recht groß, sondern auch in einer ziemlichen Entfernung von ihm sein musste. Er überlegte kurz und blickte zu dem Licht hinab. Viel näher, aber der Abstieg würde hart werden, dachte er und ergab sich in sein Schicksal. Es war kühl und er war es nicht gewohnt nackt zu gehen. Frierend und vor Anstrengung und Schmerzen zitternd, rutschte er mehr als er ging und immer wieder riss er sich die Haut auf. Es dauerte lange, doch endlich kam er unten an. Vor ihm prasselte das Feuer seiner Freunde. Den Nygh konnte er nirgendwo sehen, aber Tal beugte sich gerade über ihren Riesen und wandte Kyon dabei den Rücken zu.

Langsam und mit zitternden Gliedern näherte er sich dem Feuer und dann wandte sich Tal um und sah ihn. Sie gab einen erstickten Laut von sich und kam vorsichtig auf ihn zu. Einen Moment hatte er fast das Gefühl, als hätte sie Angst vor ihm, aber dann füllten sich ihre Augen mit einer Woge aus Sorgen und als er schließlich am Feuer in die Knie ging, sprang sie zu ihm und nahm ihn in die Arme. Er schluchzte und krallte sich in Tals Kleidung fest.

In dieser Nacht konnte die Reise nicht weitergehen. Kyon rollte sich im Zelt zusammen und schlief bis spät in den kommenden Tag hinein. Erst als die Zwillinge den Zenit überschritten hatten, wurde das Lager aufgeräumt und die Lopen, die Kyons Rückkehr in der Nacht verpasst hatten, begrüßten ihn herzlich.

Nach dem Aufstehen hatte Tal ihn mit Fragen überschüttet, aber er hatte sie allesamt abgewehrt. Was hätte er sagen sollen? Da war nichts. Er konnte sich nicht erinnern, was vorgefallen war. Die ganze gestrige Nacht und die Zeit der Sonnen davor waren wie ausgelöscht aus seinem Hirn. Auch als sie ihm von der Werwölfin erzählte und ihm die Stelle zeigte, an der Ughtred und sie die Schlacke vergraben hatten, schüttelte er nur den Kopf und wusste nichts dazu zu sagen. Was er wohl wusste, war, dass etwas mit ihm nicht stimmte. North hatte ihm schon gesagt, dass er zuweilen in der Dunkelheit das Bett verlassen hatte und sich dann nachts darauf an nicht erinnern konnte. Gerüchte waren aber nicht dasselbe wie Zeugen.

Um ihn herum stampften Lopen und Donnerhuf stieß ihn hart mit der Schnute an, als wolle er sagen: Auf, auf kleiner Wolf, es geht weiter! Dann trafen sich Kyons Augen mit denen von Ughtred und der Nygh fragte freundlich, wie es ihm gehe. Da war eine Vorsicht im Blick des kleinen Mannes, die vorher nicht dagewesen war, und das ärgerte Kyon. Ohne Erinnerung zu sein und dann für etwas gefürchtet zu werden, auf das man ja offensichtlich keinen Einfluss hatte, war mehr als lästig. In diesem Moment legte ihm von hinten Tal in einer vertraulichen Geste die Hand auf die Schulter und sagte überzeugt: »Wir werden daran arbeiten. Man kann es kontrollieren.«

Es, es, er ließ den Kopf hängen und fragte sich wo das alles hinführen sollte. Wie konnte er es ihnen nur begreiflich machen? Es, war ihm Quinkscheiße nochmal egal. Er erinnerte sich nicht. Seine Füße waren voller Wunden und er war zu Tode erschlagen und nun musste er weiter auf diesem stinkenden Vieh durch diese trostlose Wildnis reiten. Das sollte man unter Kontrolle bringen, aber dazu fehlte es an Vernunft! Er sollte sofort nach Hause gehen, aber die Lopen in ihrem Leben-für-Leben-Pflichtgefühl würden den Teufel tun und immer und immer weiter auf diesem Weg hier bleiben. Sie folgten Instinkten und einem uralten Schwur, er aber war einfach nur dumm. Mit hängendem Kopf entzog er sich Tals Hand und zerrte an Donnerhufs Sattelgurt. Das Zackenhorn gab einen keckernden Laut von sich und gab damit das Zeichen der Aufbruchbereitschaft. Was hatte er nur getan?

Einige Minuten später saßen sie in den Sätteln und Kyon berichtete von dem anderen Licht, welches er vom Kamm aus gesehen hatte. Es musste etwa eine, vielleicht zwei Wegstunden vor ihnen gewesen sein. So kamen sie vorbereitet in Sichtweite eines ausgebrannten Lagerfeuers, an dem vier Draiynkrieger saßen.

 

Der Größte der Draiyn musste wenigstens so groß wie Odugme sein. Er hockte breitbeinig auf einem vor urzeiten ausgebleichten Baumstumpf und stocherte mit einem Stock in der übriggebliebenen Glut. Sein linkes Bein musste vor kurzem abgetrennt gewesen sein, denn es war nachgewachsen, hatte aber noch nicht den Umfang des anderen Beines erreicht. Dünn wie ein Kellerspinnenbein und seltsam zerbrechlich ging es in den schweren Leib des Insektenmannes über. Er war mit einem Doppelspeer bewaffnet und der Draiyn neben ihm trug zwei sehr lange und noch gefährlicher wirkende Wurfspieße. Das Lager war schlicht. Draiyn nutzten zwar zuweilen auch Zelte oder bauten sich Sandburgen, aber eine kleine Jagdgruppe wie diese hier schlief eher unter offenem Himmel und machte sich keinerlei Mühe mit Aufbauten.

Als die Reisegruppe sich näherte, begann der Häuptling mit einem seiner Großarme zu winken, zwitscherte etwas in seiner Klicklautsprache und deutete auf die Brocken, die im Feuer lagen. Sie waren noch zu weit entfernt, aber Ughtreds Augen waren scharf genug, um zu erkennen, dass es sich bei den Überresten im Feuer um den Chitinpanzer eines weiteren Draiyn handelte. Er hatte schon gehört, dass die Wüstenbewohner in schlechten Zeiten kannibalisch veranlagt waren aber jetzt, in dieser Situation, hob ihm der Gedanke den Magen. Er flüsterte seine Erkenntnis Tal zu und diese nickte angespannt. Kyon hatte schon nach seinem Bogen gegriffen und deutete mit dem Kinn auf die Beiden Flanken des Passes. Dort kauerten je ein weiterer Krieger und auch diese beiden hatten lange Wurfspieße in ihren vier Klauen. Sein Kcric war rudimentär und so wartete er, bis die anderen zu ihm aufschließen und fragte: »Spricht jemand deren Sprache?«

Tal antwortete leise: »Ein wenig«, aber dann war es Ughtred, der Kreuzhorn ein Stück nach vorne trieb und laut zu den Draiyn hinüber rief: »trc Naidric trc!«

»Was hat er gesagt?« fragte Tal und Kyon antwortete: »Kein Essen, eine Begrüßungsformel wahrscheinlich. Er will ihnen sagen, dass wir keine Beute sind. Ich bin gespannt.«

Tatsächlich schienen die Insektenkrieger den Nygh zu übersehen. Ihr offensichtlicher Anführer war aufgestanden und winkte noch freundlicher. Er deutete mit seinen beiden kleineren Armen auf das Feuer zu seinen Füßen und bot der Reisegruppe seinen gebratenen Kollegen an. Die Draiyn begannen alle zu winken – dann griffen sie an.

Von diesem Moment an ging alles sehr schnell. Kyon, der überhaupt nicht überrascht war, ließ sofort den Automatikbogen aufschnappen und binnen einer Sekunde hatte er einen Pfeil abgeschossen. Leider vertat er sich und die Eergiespitze des Geschosses prallte zuerst auf einen Felsbrocken und setzte sich wie ein Stein auf einer Wasserfläche über mehrere Brocken fort, ohne einen der Draiyn zu berühren. Kyon rief: »Zurück«, denn er wollte Zeit gewinnen. um den Vorteil des Fernkampfes auszunutzen aber schon im nächsten Moment waren fünf der Angreifer vom Boden abgesprungen und flatterten so schnell auf die Reisenden zu, dass Kyon keinen weiteren Pfeil abschießen konnten, bevor der erste der Insektenkrieger dicht vor Tal aufkam. Diese hatte das Kreuzschwert ihres Bruders gezogen und wirbelte damit im Kreis. Sie erwischte den Draiyn vor ihr und einen Zweiten, der zu seinem Unglück im ungünstigsten Moment ebenfalls in ihre Reichweite geraten war. Doch obwohl die Klinge durch die natürliche Panzerung der Insektoiden drang und dem Vorderen sogar einen seiner Hauptarme abgetrennt hatte, schienen die Wesen ungehindert weiter zu kämpfen. Kyon so, wie Ughtred eins seiner Wurfbeile in einem Gegner versenkte und ihn dann unglaublich flink mit der Handaxt weiter bearbeitete, aber auch hier schien der Krieger den verursachten Schaden kaum zu spüren. Kyon schoss einen weiteren Pfeil ins getümmel und verletzte einen der Draiyn, aber es war zu spät. Der Speerkämpfer war neben Odugme gelandet und rammte diesem die Waffe durch die Hüfte bis in den Boden. Der Riese war schwer getroffen und konnte sich nicht auf den Beinen halten und Kyon sah das Ende vor seinen Augen. Die Lopen schrien Donnerhuf rammte einen  der Insektenmänner aber auch dieser Angriff hatte nur eine minimale Wirkung und gerade als der Draiyn vor Ughtred mit seinem Doppelspeer ausholte platzte Tal der Geduldsfaden.

Sie griff mit zu einer Raubvogelkralle verkrampften Hand in den Äther über sich und verursachte eine schwere Störung im Gleichgewicht der Realität. Als sie eine Sekunde später die Augen auf die Draiyn richtige war es um vier von ihnen geschehen. Ein psionischer Schwall von Schmerz und Leid drang durch ihre Leiber und ließ sie erzittern. Sie krümmten sich zusammen und Tals erste beiden Gegner bemerkten überhaupt nicht wie das riesige Schwert sauber ihre Köpfe abtrennte. Der einzige Gegner der nicht betroffen war, landete vor Kyon und bevor dieser den Bogen heben konnte, rammte der Insektenmann auch ihm den Speer in den Leib.

Ughtred wirbelte herum und rannte los. In vollem Lauf schleuderte er seine zweite Wurfaxt und traf den Draiyn am Kopf. Das Wesen drehte sich im Kreis und als der Nygh es erreichte, donnerte er ihm die Handaxt in die Stirn und spaltete ihm damit den Schädel. Schließlich wurde auch der letzte Gegner, der ebenfalls unter Tals übernatürlichen Kräften litt,  zum Opfer ihrer Klinge.

Der Anführer der Draiyn hatte sich längst in die Lüfte geschwungen. Er verließ den Kampfplatz in Richtung Südwesten und das Letzte an was Kyon dachte, bevor er die Besinnung verlor, war, dass er sicher Verstärkung rufen würde. 

 

»Schnell, der schwarze Riese wird dir verbluten Hexe«, keuchte Ughtred und stupste dabei Tal gegen den Arm. Kyons Wunde blutete heftig aber zumindest stecke kein mannslanger Speer in ihm und außerdem war er ein Smavari und Tal würde ihn in jedem Fall zuerst versorgen. Sie hatte den Ausrüstungsbeutel mit den medizinischen Ressourcen ausgeleert und arbeitete fieberhaft daran, alles zusammen zu suchen, was sie brauchte. Kompressen, das Wundgel und hier eine heilende Netzspinne, die man in die Wunde einbringen konnte, um innere Blutungen zu unterbinden. Schnell drückte sie zwei Skorpionkapseln an die Wundränder und betäubte so Kyons schlimmste Schmerzen. Später müsste sie ein Antidot verabreichen und so die Nebenwirkungen gering halten. Dann führte sie einen dünnen Drainageschlauch aus Katzendarm ein und nähte ihn mit einer Goldnadel am Wundrand fest. Sie zischte, Ughtred solle den Mund halten und ihr helfen, die Wunde zusammenzuziehen und der Nygh gehorchte.

Gemeinsam gelang es ihnen, Kyons Verletzung zu stabilisieren und fürs Erste zu verschließen. Später würde man sie erneut öffnen müssen. Schlechte Flüssigkeiten würden ablaufen und weitere Heilmittel konnten eingebracht werden. Jetzt strich sie schnell mit fahrigen Bewegungen eine stark regenerative Paste auf und legte danach Kyons Kopf zurück in den Sand. Er war zu sich gekommen, litt aber unter den Schmerzen und hatte keine Kraft, sich selbst in eine halbwegs gute Position zu bringen. Aber er beruhigte sich und die Medizin tat das Ihrige, die Schmerzen zu lindern.

Erschöpft stand Tal auf und blickte in den Himmel. Wolken hatten sich über dem Pass zusammengezogen. Auf einer Anhöhe standen die Lopen und blickten zu ihr herunter. Zum Glück regnete es noch nicht. Vor Kurzem hätte sie sich für ein bisschen Regen einem Troll hingegeben, doch jetzt würde es sie bei ihren Bemühungen die Verletzten zu versorgen behindern. Sie streckte sich und wandte sich dem knienden Phani zu. 

»Zieh es aus ihm raus Nygh«, blaffte sie und deutete wild entschlossen auf den Speer. Ughtred ging wortlos zu dem riesigen Mann, packte den Schaft des Speeres und zog. Ein stöhnen erfüllte den Pass und dann gab es einen knackenden Laut, als die Klinge im Inneren Odugmes an einer Rippe abglitt und schließlich aus ihm heraus brach. Blut strömte aus der Wunde und der Riese kippte nach hinten und blieb ausgestreckt liegen. Tal stürzte zu ihm und verabreichte ihm sofort ein stärkendes Mittel, wusste aber nicht einmal, ob es bei seiner Art überhaupt wirken würde. Dann bat sie den Nygh den Verletzten auf die Seite zu drehen, denn sie musste die Rückseite der Wunde verschließen. Die Zeit drängte, denn er hatte jetzt schon zuviel Blut verloren und sie wollte ihn unbedingt retten. Es war ihr Phani und die wuchsen schließlich nicht an den Bäumen.

Verbissen arbeitete sie an dem riesigen Loch in Odugmes Rücken und versuchte sich jeglicher Gefühle zu enthalten, aber sie merkte selbst wie verzweifelt sie war. Damit er atmen konnte, hatte sie ihm die goldene Maske abgenommen und achtlos in den Sand geworfen. Sie durfte weder den großen schwarzen Mann, noch Kyon verlieren. Alles hing davon ab, die beiden wieder reisefähig zu machen, denn auch sie wusste, die Draiyn würden wiederkommen.

Sobald die Wunde rückwärtig mit Mull und Heilpaste verschlossen war, entließ sie Ughtred und begann das Innere der Wunde zu reinigen.

Der Nygh stand auf und sah sich um. Zeltstangen und Planen und die Lopen, das ist die Lösung, dachte er und ging zu ihrer am Boden verteilten Ausrüstung. Er suchte die langen zusammenklappbaren Stangen und begann sie mit Nur und Seil zu festigen. Dann ging er daran, die Planen zu zerschneiden und mit groben Stichen und den Schnüren der Naht des Zeltes um die entstandenen Schienen zu nähen. Seine handwerklichen Fähigkeiten hatte er von seinem Vater gelernt und er hatte gut aufgepasst. Die Idee mit der Schleppe, die er baute, hatte er jedoch aus einem Buch der Silberwölfe entliehen.

Er brauchte fast ebenso lang wie Tal mit dem Riesen. Stunden vergingen und die Angst vor den Wüstenkriegern wuchs von Minute zu Minute. Inzwischen hatte sich Kyon aufgerichtet und versuchte sogar Ughtred zu helfen, aber er tat sich schwer damit und der Nygh hatte Bedenken, ob der Silberwolf wenigstens reiten können würde.

Schließlich kamen die Lopen zu ihnen. Sie witterten, dass ihre Hilfe benötigt wurde und noch während Tal auf dem Bauch des Phani saß und an seiner Hüfte eine letzte Naht setzte, zogen die Lopen und Ughtred den schwarzen Mann auf die am Boden liegende Schleppe. Dann drückten der Nygh, Tal und Kyon das Gestell nach oben und Regenbogen, Kreuzhorns älteste Tochter streckte den Hals durch die Zuggurte. Das Dromirtha war stark genug, den Phani zu ziehen, hatte aber ein wenig ausladendes Geweih und passte daher am besten durch die Gurte.

Als alles getan war, sahen sich die drei an.

»Wird es gehen?« fragte Tal und deutete mit dem Kinn auf Kyons Hand, die er auf seine Verletzung gepresst hatte. Er folgte ihrem Blick und verzog das Gesicht, weil sich der Verband dunkel gefärbt hatte. Im ersten Moment dachte Tal, er würde zusammenbrechen, aber dann streckte er die Hand aus und Ughtred legte ihm wortlos den Smavaribogen hinein. Der Nygh hatte die Waffe aufgehoben und vom Sand befreit. Mit grimmigem Blick presste Kyon hervor: »Lasst uns keine Zeit verlieren, sie werden kommen!«

 

Und der Himmel verdunkelte sich, als sie kamen. Nachdem Kyon seinen Unmut bezüglich des des Schwarms einigermaßen überwunden hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit den sich bietenden Möglichkeiten zu. Er blickte den Grat hinauf, auf dem er eine Nacht des Vergessens verbracht hatte, suchte hinter sich den Pass nach einer Lösung ab und sah dann nach Norden, wo es ebenfalls keinen Ausweg zu geben schien. Die Draiyn kamen aus dem Süden. Ihr Brummen wurde von den Felsen hin und her geworfen und noch verstärkt. Doch diesmal blieb der Barde ruhig. Gerade wollte er das Zeichen zur Flucht geben und auf den Rücken von Donnerhuf steigen, als dieser mit einer wütenden Bewegung sein gewaltiges Haupt schüttelte. Das Tier sah Kyon in die Augen und gab ein seltsames Bellen von sich, von dem Kyon beinah das Gefühl hatte, es verstehen zu können.

»Leben für Leben«, flüsterte Kyon dankbar und stieg auf den Rücken einer der anderen Lopen. Ein Zeichen seiner Faust gab Ughtred zu verstehen, dass er Regenbogen zum Aufbruch bewegen sollte, doch alle Lopen zögerten. Sie wussten instinktiv, was nun kommen würde und ließen erschrocken die Ohren hängen. Doch dann erhob sich der fahl weiße Donnerhuf auf die Hinterläufe und gab ein bedrohliches und weit durch den Pass schallendes Röhren von sich. Renner, sein Ältester stimmte mit ein und schließlich schrie auch Bienenstich, wenn auch mehr aus Angst und verwirrung, aber eben in diesem Moment war die wilde Jagd eröffnet. Regenbogen zog an und stürmte voraus, dicht gefolgt von Kreuzhorn, der immer wieder laut bellte, um die Führung und damit die Richtung anzuzeigen. Kyon hielt auf die linke Passflanke zu und zog die anderen hinter sich her. Doch nicht alle gingen diesen Weg. Donnerhuf hatte sich nach Südwesten gewandt und rannte mit einem unglaublichen Tempo auf die Kante des Passes zu. Sein Sohn  Renner, Stolperstein, die den Alpha offenbar bis in den Tod liebte und  Fleckenbein waren dicht hinter ihm. Bellend erstürmten sie den Hang, liefen weiter nach Süden auf die Draiyn zu wenn es zu steil wurde, schwenkten aber immer wieder nach Westen, wenn es die Wand zuließ. Lopen waren erstaunlich gute Kletterer und so gelang es der tapfersten unter ihnen, den Grad am oberen Ende des Passes zu erreichen, als die ersten Insektenkrieger auf die Lopen trafen. Er machte einen riesigen Satz und verschwand über der Kante und seine Herde tat es ihm ohne Zweifel nach. Hinterher hüpfte und flatterte der wilde Mob der Draiyn und so verschwand dieses Übel in der Ferne während Kyon und Kreutzhorn so schnell und leise wie möglich nach Norden entkamen.

Der Barde war verwirrt, denn er hatte sich stets als Smavari gesehen und diese sind nicht unbedingt für ihre weichen Herzen bekannt. Aber er war ganz offensichtlich nicht nur der Sohn seines Vaters, sondern auch der seiner Mutter. Sie litt der Liebe willen und nun litt auch sein Herz aus einer Art der Liebe heraus. Dankbar sagte er ein letztes Mal stockend: »Leben … für Leben!«

 

Sie erreichten viele Stunden später das Ende des Passes. Als sich die Landschaft vor ihnen zu weiten begann, verlangsamten sie ihr Tempo und versuchten zu erfassen, was und vor allem wen sie alles verloren hatten. Obwohl sie nicht zum Stehen kamen war der Schock derart schlimm, dass die Lopen taumelten und stolperten und in ein klägliches Jaulen und Bellen verfielen. Rehlein sprang vor Verzweiflung in die Luft und rief heulend nach ihrem Vater und Bienenstich wäre beinahe der einzige gewesen, der zum Stillstand gekommen wäre, aber Tal, die auf seinem Rücken saß, wob die Elemente neu, griff mit ihrem Geist ins Feinstoffliche und in ihn und dann verknüpfte sie ihre Zunge mit seinem Verständnis. Ruhig und verständnisvoll aber auch mit Donnerhufs Stärke, flüsterte sie der Jungen Lope beruhigende Worte zu. Es war schwer, das Tier aufrecht zu halten, aber die erinnerung an seine Pflicht schockierte ihn fast ebenso wie der Verlust und so hob er den Kopf und trabte verbissen weiter.

Auch Ughtred hatte seine Probleme. Regenbogen war erschöpft und wie alle Lopen am Boden zerstört. Kraftlos zog sie weiter, aber ihre Geschwindigkeit verringerte sich mit jedem Schritt. Doch dann trat Kreutzhorn neben sie und drückte sein nach vorn stehenden Geweihholm unter einen der Schleppenträger und hob ihn hoch. Zwar wurden ssi durch die ungleiche Gewichtsverteilung nicht schneller, aber die Entlastung verschaffte Regenbogen eine kleine Erholung.

Derart gebeutelt ging es immer weiter den Pass entlang. Sie versuchten sich in den Hügeln möglichst gedeckt zu halten. Angespannt wahrten sie Stille, vermieten Steinige Wegstrecken und alles, was sie verraten könnte. Sie waren alle sicher, irgendwo hinter ihnen drohten weiterhin die Draiyn, denn ihr Hunger war unersättlich und sie kannten keine Gnade.

 

Die unteren Ausläufer des DranˋOrad zwangen sie bald weiter nach Nordost und Kyon zweifelte erneut an Ughtreds geographischen Kenntnissen, aber der Nygh deutete nur stumm auf die rechte Passkante, die deutlich höher als die linke war. Kyon verstand zwar, dass er ihm damit sagen wollte, sieh Silberwolf, da steigt der Berg an, und dort eben nicht und da wo es flacher wird, ist unser Ziel, aber er selbst hatte echte Probleme sich zu orientieren und ihm fehlte die Zuversicht und das Selbstvertrauen des kleinen Mannes.

 

Tag um Tag und Nacht um Nacht schleppten sie sich weiter gen Norden. Bald hatten sie das Ende des Passes erreicht und mussten sich mehrere Nächte durch die offene Wüste bewegen und die Tage waren vor allem für Tal und Kyon, die sich eng zusammengeschmiegt unter den Resten des Zeltes verbergen mussten fast unerträglich. Sie schliefen kaum, hatten nur  noch wenig Wasser und ohne Ughtred, dem die ganze Situation offenbar überhaupt nichts anhaben konnte, hätten sie es wahrscheinlich nie wieder aus der Wüste von Draiyn Andiled heraus geschafft.

Als schließlich im der Ferne aus dem eintönigen Grau und Braun der Wüste ein schmutziger Olivton wurde und die Luft nach Feuchtigkeit zu schmecken begann, konnte sie es alle kaum fassen. Ughtred deutete in die Ferne und erklärte, dies seien die Marschen von Korezuul, aber den beiden Smavari war dies ganz egal. Die Wüste lag hinter ihnen und nur das zählte. Und kaum wurden die Huftritte der Lopen von weicher Erde abgefedert, traten Tal und Kyon Tränen der Erleichterung in die Augen. Sie wussten, dass die Reise noch lange nicht beendet war, denn das Heim des Nyghs lag in den Bergen und der Aufstieg würde sicher nicht leicht werden, aber hier gab es Schatten und Bäume und hoffentlich keine Draiyn. Kyons Verletzung war schmerzhaft, aber er hielt sich tapfer. Schlechter ging es Odugme, doch Tal hatte beschlossen kein Risiko einzugehen und ihn in eine künstliche Stase versetzt. Sie hatte das selbe mittel zum Einsatz gebracht, welches sie selbst nutze, um in den toten Leib ihres Bruders zu dringen und offenbar wirkte es bei dem Phani wie bei ihr.

Neben dieser Arbeit widmete sie sich vor allem Bienenstich. Es war eindeutig, dass die anderen Lopen in ihm den zukünftigen Alpha sahen, doch er selbst machte eher einen gebrochenen Eindruck. Doch Tal hatte sich der Meinung der Herde angeschlossen und verpasste keine Gelegenheit, Bienenstich zu fördern. Immer wieder nutzte sie ihre psionischen Kräfte und redete auf ihn ein.

Der Weg nach Dranought durch die Marsch dauerte noch weitere zwei Tage und gestaltete sich für die Silberwölfe als eine Art Traumreise. Sie waren zu erschöpft, die Fährnisse dieses Teilabschnittes ihres Weges überhaupt gebührend wahrzunehmen. Längst hatte Ughtred die Führung übernommen. Der Nygh erwies sich als unermüdlich und schien sich für keine Last zu schade. Bei jeder Rast baute er das restliche Zelt für die Gefährten auf, oder befestigte zumindest ein Stück Plane an einem Felsen oder Baum, damit sie etwas mehr Schatten bekamen. Den Lopen maß er den größten Teil seiner Aufmerksamkeit bei. Er fütterte sie, sprach ihnen Mut zu und in jeder freien Sekunde war er bei ihnen und streichelte ihr von den Strapazen und der Trauer stumpf gewordenes Fell. Ab und an verließ er das Lager und sammelte Pilze und Kräuter und fütterte die Tiere damit, um ihr Immunsystem und ihre Moral zu stärken.

Die Marsch war ein seltsames Land. Einerseits gab es hier tatsächlich sumpfige Bereiche, um die Ughtred einen großen Bogen machte, doch die angrenzenden Heidegebiete und kleinen Wäldchen hatten eher etwas zauberhaftes als das sie bedrohlich gewirkt hätten. Es gab sogar Obstbäume, die in dieser Jahreszeit zwar weder in Blüte noch in Frucht standen, aber dennoch einen außerordentlich pittoresken Eindruck hinterließen. An Wasser mangelte es ebenfalls nicht, denn obwohl die kleinen Tümpel oft abgestanden rochen und auch tatsächlich brackig waren, gab es unzählige Bächlein, die in den höheren Lagen des aufsteigenden Landes entsprangen und die Marsch mit Frischwasser versorgten. Am besten aber war für die Reisenden, dass Gänzliche Fehlen von Raubtieren und anderen Gefahren. Gut, es gab hier durchaus gefährliche Tiere wie Giftschlangen und eine Fischart die parasitär unvorsichtige Badegäste von Tümpeln befallen konnte, aber die Draiyn zum Beispiel mieden diesen Ort und große Räuber wie Arwölfe oder Raubkatzen gab es hier nicht. Ughtred hatte schon von Amytoren in der Umgebung gehört, aber im Vergleich zu den Hochlagen. schienen diese üblen Wesen die Marsch ebenfalls zu meiden. Am ehesten hätte man hier wohl auf Räuberbanden stoßen können. Ab und an, kam es vor, dass Quink sich aus der Versklavung seitens der Silberwölfe befreiten – Ughtred konnte es ihnen kaum verübeln – und dann auf der Suche nach einer neuen Heimat bis nach Korezuul kamen. Doch dies kam so selten vor dass hier und jetzt kaum damit zu rechnen war und wenn, warum sollte man umherirrende Quink fürchten? Vielmehr hätte der Nygh ihnen den Weg nach Dranought gezeigt oder sie eingeladen gleich mit ihnen zu ziehen.

Odugme ging es leider nach wie vor sehr schlecht. Seine Wunde verheilte nicht schnell genug und das Gerüttel auf der Schleppe ließ sie immer wieder aufbrechen und bluten. Nur die künstliche Straße hielt ihn am Leben. Unter besseren Bedingungen hätte Tal vielleicht mehr für ihn tun können, aber hier in der Wildnis, war da nichts zu machen. hinzu kam ihre eigene Mattheit. Sie schaffte es gerade noch während der Reisephasen mit Bienenstich zu sprechen und ihn auf Kurs zu halten. Oft beobachtete Ughtred sie, wie sie vornübergebeugt im Sattel einnickte. Er sorgte sich um den Phani, aber er traute sich nicht, sie darauf anzusprechen, derart aufgebraucht sah sie für ihn aus. Das Selbe galt für Kyon, aber er hielt sich eisern. Nach der Sache mit der unheilvollen Wandlung – Ughtred kam es vor wie ein lange vergangener Alptraum – hatte er eine Veränderung durchgemacht. Es schien, als sei er ein wenig erwachsener geworden. Oder war es dieses Ding in ihm, welches ihn stärker kontrollierte? War es hervorgekommen, weil sein Wirt sonst in der Wildnis zugrunde gegangen wäre? Immer wenn sich diese Art von Gedanken Ughtreds Überlegungen aufdrängten, versuchte er das Ganze aus einem optimistischen Blickwinkel zu sehen, aber eine Werwölfin? Wie konnte man eine solche Bestie positiv sehen?

Seit dieser seltsamen Nacht war es nicht wieder geschehen, aber an was würde man es merken? Es hatte auch dort unten in der Wüste keine Vorzeichen gegeben, zumindest keine, die Ughtred bemerkt hätte. Und dann, wenn er es merken würde, was sollte er tun, Kyon erschlagen? Die Wölfin hatte ihnen nichts getan. Nicht einmal die Lopen hatte sie angegriffen. Er konnte nicht einmal sagen, ob dieses Wesen überhaupt auf die Jagd gegangen war. In den alten Erzählungen seines Volkes gab es unzählige Geschichten von Werwölfen, die jede Nacht Schafe rissen und sich am Blute von ehrbaren Landbewohnern labten. Auch die Sache mit den Mädchen schien hier nicht zuzutreffen. Ein junges mädchen ging in den Wald und begegnete dem Mannwolf. Er umgarnte sie und je nach Saga, machte er ihr ein Kind, welches später ein mächtiger Klanführer wurde, oder endete mit in den Bauch genähten Steinen in einem tiefen Brunnenschacht. Eine Werwölfin hingegen, davon hatte er bisher nur in einer einzigen Sage gehört, in seiner eigenen. Die Waldwölfin, die einst sein Vater aus einer Drahtschlinge gerettet hatte und ihm selbst dafür den Haus des Lebens eingegeben hatte, als er selbst zu schwach dafür gewesen war, stand jedoch außerhalb der anderen Erzählungen von Werwölfen, Vampiren und Hexen. Es war, als kenne jeder Erwachsene in Dranought ihr Wesen und akzeptiere ihre Herrschaft über einen Teil des Waldes jenseits der Nyghhütten. Sie war eine Art niedere Göttin, wurde zwar nicht verehrt, aber auch nicht gefürchtet. Man hatte respekt vor ihrem Teil des Waldes und hinterfragte ihre Daseinsberechtigung nicht. Würde sie aus dem Berg kommen und Schafe töten oder Nyghs angreifen, würde dies anders aussehen. Ughtred hoffte inständig, dass dieses Wesen in Kyon nicht hier in Korezuul hervorbrechen würde. Wenn doch, würde es zweifellos zu einem Massaker kommen. Die Nyghs verstanden keinen Spaß wenn sie angegriffen wurden und da spielte das Geschlecht des Wolfsgeistes wirklich keine Rolle. Ein Armbrustbolzen im Fleisch konnte jedem den Tag – oder die Nacht – vermiesen.

 

Am frühen Morgen des einundzwanzigsten Tages nach ihrem Aufbruch in Shishney hob Ughtred den Arm. Sie befanden sich mittlerweile auf einer Straße aus moosbewachsenen Pflastersteinen und waren schon an mehreren alten Ruinen von verlassenen Vorposten vorüber gekommen. In der Nacht hatten sie in der Ferne die Lichter eines kleinen Hofes gesehen, waren aber auf dem Weg geblieben. Jetzt deutete Ughtred auf zwei Steintürme in der Ferne.

»Dies sind die Vortürme Dranoughts. Wir sind da!« rief der Nygh mit unverhohlenem Stolz in der Stimme.

Kyon hatte gemischte Gefühle zu dieser Aussage. Er war natürlich froh, die Wildnis hinter sich lassen zu können, aber er war skeptisch geworden. Alles, was er sich vor seinem Aufbruch in dieses Abenteuer schwer, unschön oder gar gefährlich und schlimm vorgestellt hatte, war schwerer, unschöner, gefährlicher und viel viel schlimmer geworden. Korezuul hatte er sich provinziell vorgestellt. Aber auch North war provinziell gewesen. Das hier, die trutzigen Steintürme, der Matsch, Regen und die harsche Art seines Reisegefährten Ughtred, ließen ihn kaum auf Besserung innerhalb der Nyghstadt hoffen.

Langsam bewegte sich ihr Zug auf die beiden Wachtürme zu. Es gab zwar eine niedrige Steinmauer, aber von einer sonstigen Bebauung war nichts zu sehen. Etwas zurückgesetzte, sicher drei- vierhundert Schritte vom Weg entfernt kräuselte sich der Rauch eines Hofes in die Luft, aber von den Bewohnern oder von den Wachen hier bei den Türmen fehlte jede Spur.

Beinahe hätte er Ughtred nach der Besatzung der Türme gefragt, aber da waren sie schon nahe genug heran, dass er sehen konnte, dass bei dem linken der beiden Schutzgebäude die Seite herausgebrochen war. Im inneren fehlten alle Zwischenwände und die Böden. Das Material lag zum Teil in Trümmern auf dem Boden und hätte einem Schlitten oder Wagen den Weg versperrt. Für die Lopen waren dies zum Glück kein Problem. Ganz offensichtlich hatte man die beiden Türme vor langer Zeit aufgegeben.

Stumm bewegten sie sich durch die Steine und Holzbalken. Es war schwer zu sagen, wie diese Verwüstung entstanden war. Gebrannt hatte es zumindest nicht. Ughtred, der abgestiegen war, weil er helfen wollte, die Schleppe mit dem Phani unbeschadet durch das Hindernis zu bringen, hob einen Stein auf und wog ihn in der Hand. Dann warf er ihn weit über die Türme hin, weg von dem Hof, den man immer noch in der Ferne sehen konnte.

Kyon begab sich auf seiner Lope neben ihn und sagte nun doch: »Verlassen. Warum?«

Es war dem Nygh anzusehen, dass er diese Art der kargen Kommunikation nicht sonderlich mochte; obwohl er ja selbst nicht gerade ein Mann der vielen Worte war.

»Nutzlos geworden.« knurrte er leise.

Kyon übersah die Spitze, nickte und zog an Ughtred vorüber. Dieser schüttelte den Kopf und hob die Schleppe an, damit die Lope ssi über einen Stein ziehen konnte. Die Stase schien nachzulassen, denn Odugme stöhnte leise. Die Zeit drängte.

 

Skergenblut

Hinter den Türmen war die Straße deutlicher zu erkennen. Etwa eintausend Schritte entfernt konnte man die richtige Stadtmauer und die ersten, in sie integrierten Gebäude erkennen. Kyon war kein Experte, aber er sah zumindest, dass die Bauwerke, wie die Türme, in erster Linie aus Stein errichtet worden waren und in ihren Dimensionen, wer hätte es gedacht, eindeutig trutziger und kleiner als die der Smavari waren.

Smavarische Häuser, also echte smavarische Gebäude, nicht solche, die von Quink für Quink und Silberwölfe errichtet worden waren, unterschieden sich von allem, was andere Völker an Behausungen erschaffen hatten. Dies fing schon mit den verwendeten Materialien an. Smavarische Baumeister nutzten häufig organische Materialien oder Stoffe, die in der Natur überhaupt nicht vorkamen oder erst in vielen Millenien erfunden würden. So gab es auf modernen smavarischen Kernwelten wie Mirthas`Eysmi, gigantische Wohnanlagen, Türme und Tempel ganz und gar aus Elfenbein oder Knochen. Hierbei waren normalerweise keinerlei Ansatzpunkte in den Strukturen zu sehen. Wände waren wie aus einem einzigen riesigen Zahn geschnitten und fenster bestanden aus derart dünn geschliffenem Material, dass sie durchsichtig wirkten, oder mittels psionischer Artefakte tatsächlich durchsichtig gehalten wurden. Perlmutt und Edelsteine waren ähnlich beliebt. Auch hier auf der Tiba Fe, genauer in Rivenest, dem Sitz der Herrin von Oriad, gab es einen Nachtturm namens Ursmaˋnoroth, der nahezu komplett aus geschliffenem Onyx bestand. Hinzu kam die Onyxalee, die von seinem Fundament quer durch die Stadt führte.

In Shishney waren die meisten Gebäude dagegen von den Quink aus den hier befindlichen Materialien gebaut worden. Häuser bestanden weitgehend aus dem Gestein der Odoreys. Doch auch hier gab es eine für die Silberwölfe bauliche Besonderheit. Die Sternfestung, ihr Name lautete ebenfalls Shishney, war mit ihrem sternförmigen Grundriss vom Boden bis in die Höhe des Gebirges in den Stein geschnitten worden. 

Kyon überlegte, welche Kräfte nötig gewesen sein mussten, solch ein Wunder zu vollbringen und sah zu der Stadtmauer hinüber, der sie sich näherten. Sie war unübersehbar, stattlich, aber eben nur aus geschichteten Stein. Wen wollte man damit beeindrucken?

Doch je näher er Dranought kam, desto beeindruckter wurde er. Hinter der Stadtmauer war, ähnlich wie in Shishney, eine Steilwand des Gebirges zu sehen. Und ebenfalls ähnlich wie in seiner Geburtsstätte, hatten die Nyghs einen Teil ihrer Festung und Gebäude in den Stein der Berge geschlagen.

Zwei weitere Tortürme passierend bewegte sich die kleine Gruppe auf der jetzt breiten Straße in die eigentliche Stadt hinein. Zwar waren auch hier weder die Mauer, noch die Türme bewachte, aber es dauerte nicht lange, bis die ersten Kinder ihnen folgten und schließlich kamen auch Erwachsene auf die Straße und besahen sich die fremdartigen Besucher. Hierbei spielte es kaum eine Rolle, dass der Zug einen der ihren beinhaltete, denn sie bekamen nur selten Silberwölfe zu Gesicht und große Lopen wie die Zackenhörner und Dromirtha kannten sie ebenfalls nicht. Am merkwürdigsten natürlich musste für sie die Schleppe mit diesem riesigen schwarzen Mann wirken. Odugmes Maske war in den Wirren des Draiynangriffs verloren gegangen und Ughtred hatte ihn in eine der Decken gewickelt, aber sein fremdartiges Gesicht und der Stutzen in seiner Stirn, wo das Gelenk der Maske normalerweise angebracht werden konnte und eine tief schwarze, makellos Haut, machten ihn zu einer Attraktion.

Dennoch stellte niemand Fragen. Höflich bildeten die Bewohner Dranoughts eine Geleitgruppe und gingen in einigem Abstand hinter den Gästen her. All dies geschah ohne Geschrei und Rangeleien. Bis zu einem großen Platz, der im Osten an den Fels grenzte und von wo aus es steinerne Stufen zu den in den Berg geschnittenen Gebäuden führten. Um den Platz herum gab es ebenfalls Steinhäuser, denen zum Teil ihr Nutzen anzusehen war. Da gab es ein offenes Gebäude mit langen Bänken und einer gewaltigen länglichen Feuerstelle in der Mitte. Das Dach wurde von den Seitenwänden und Säulen getragen. Im Inneren saßen Nyghs, tranken und starrten jetzt überrascht auf den Platz. Dies war zweifelsfrei eine Trinkhalle. Ein anderes Gebäude schien eine Art Mühle zu sein, deren riesiges Mühlrad von einem Bach angetrieben wurde, der seitlich den Fels herunterkam und quer durch den Ort verlief. Dann gab es eine Art Kaserne am Platz, aber weiter oben am Ende zweier Treppen standen ebenfalls Soldaten in Schuppenrüstungen und starrten jetzt auf die Ankömmlinge herunter. Hier war es auch, wo die Gruppe offiziell angehalten wurde. Ein kleiner Trupp von Kriegern, der offensichtlich von einer Frau angeführt wurde, verstellte den Lopenreitern den Weg. Die Frau trat vor, stemmte die Fäuste in die schlanken Hüften und bellte einen Gruß. Dann stellte sie sich vor: »Ich bin Athwes, Anführerin der Wache und ich wünsche zu erfahren, wer hier Dranought besucht!«

Sie sprach befehlsgewohnt und mit allem Nachdruck. Ihre Rüstung bestand aus hölzernen Platten mit Messing- und Kupferrahmen und war kunstvoll gearbeitet. An ihrem überbreiten Waffengurt, der eindrucksvoll ihre wohlgeformte Hüfte betonte, hing eine Handaxt und ein schlanker Kriegshammer. Sie sah alles andere als harmlos aus, aber ihr klassisch schönes Gesicht und ihre kunstvoll zu vielen Zöpfen geflochtene Frisur nahmen sogar die Silberwölfe für sie ein.

Ughtred, der die Wächterin nur zu gut kannte, nickte ihr freundlich zu und trat vor. Athwes war dabei gewesen, als man ihn des Diebstahls angeklagt hatte. Er konnte die Schande nur schwer verhehlen. Es fiel ihm schwer, ihr in die Augen zu blicken. Doch dann geschah etwas aus seinem Blickwinkel Unmögliches. Er erklärte sich und beschrieb den Grund ihres Hierseins. Mit deutlichen Worten hob er die Dringlichkeit hervor, die es notwendig machte, ihn und seine Gäste so schnell wie möglich passieren zu lassen, schließlich ging es hier um Leben und Tod!

Athwes jedoch sagte: »Ihr werdet zum Rat gebracht. Dort wird man entscheiden, was fürderhin mit dir und den Wölfen geschieht. Sie sind hier nicht willkommen.«

Ughtred starrte sie zuerst fassungslos, dann voller Zorn an. Als sie damals gegen ihn gestanden hatte, war sie der Meinung des Rates gefolgt. Das war nichts Persönliches gewesen. Aber das hier ging einfach zu weit. War sie taub? Sein Vater würde sterben, wenn er die Hexe nicht auf der Stelle zu ihm brachte, und darüber hinaus hatten sie ja selbst einen schwer Verletzten dabei.

»Verdammt bin ich, wenn ich nicht auf der Stelle zu meinem Vater ginge. Luftschiffe, Silberwölfe, Wüsten und Insektenkrieger habe ich hinter mich gebracht, da willst du mich aufhalten meinen alten Herrn zu retten?«

Athwes sah ihn fest, aber auch beeindruckt an. Dann sagte sie freundlicher: »Lass uns zum Rat gehen. Sie werden die Dringlichkeit deines Hierseins verstehen. Gebt uns eure Waffen und ich verspreche, wir kümmern uns um den Großen da.«

Am liebsten hätte Ughtred Steine nach ihr geworfen, aber die Wächter hätte er nicht einmal überwinden können, wenn er im Vollbesitz seiner Kräfte gewesen wäre – und das war er nicht.

Mit hängenden Schultern und bebend vor Zorn gab er auf. Sie waren alle verrückt und er fühlte ssic verloren. Doch dann schloss er den Mund und gab seine Wurfäxte und sein Handbeil ab. Er erklärte den Wölfen, dass es keinen anderen Weg gab und beschwor sie, ebenfalls die Waffen abzulegen, denn seine Landsleute seien stur und dumm und es währe hier nichts zu machen, außer ihnen nachzugeben.

Zu seinem Erstaunen, schien es den Wölfen weit weniger auszumachen sich ihrer Waffen zu entledigen aber dann erinnerte er sich an die unglaublichen Kräfte der Hexe und an die von grünem Feuer umhüllte Werwölfin und da wunderte er sich nicht mehr. Nachdem alle Waffen sorgfältig eingesammelt waren, zum Teil kümmerten sich die Zuschauer um diese Aufgabe, geleiteten die Wächter ihre Gefangenen die Treppen zur Ratshalle hinauf. Odugme unterdessen blieb unten. Man hatte sich geeinigt ihn direkt zu den Heilen zu bringen und zu diesem Zweck eine richtige Trage herbeizuschaffen. Zumindest in dieser Sache war Ughtred einverstanden mit dem Vorgehen seiner Landsleute. Er wusste, sie würden sich um den Verletzten kümmern. Dasselbe galt für die Lopen. Man führte sie vom Platz weg nach Norden, wo es in der Nähe der hinteren Stadtmauern unzählige Höfe gab. Hier würde man sie gut versorgen und auch ihre Verletzungen versorgen.

 

Von oben sah der Marktplatz von Dranought noch pittoresker aus. Die Vielen Steinhäuser, die sich um den Platz nach Westen ausbreiteten und dann in eine sanfte und grün bewachsene Graslandschaft übergingen hatten etwas friedliches. Dahinter und im Norden, wo die Stadt zwischen zwei Gebirgshängen ebenfalls in einen in das Gebirge überging war der Horizont von einem Meer aus Farben erfüllt. Der Frühling ließ die Bäume knospen und viele Arten hatten schon ihr erstes Grün hervorgebracht. Der Boden indes war noch rötlich verfärbt vom abgeworfenen Laub des letzten Herbstes. Die Argol Fe stand tief rot am Himmel und ihre Schwester Hiyween blendete in ihrem grellen Wüten. Tal schirmte ihre Augen mit dem Handschuh ihres Vaters ab und folgte den anderen in die Ratshalle hinein. Ihre Schritte hallten laut nach, denn die Nyghs redeten nicht und der steinerne Tunnel, der hinein führte warf jedes Geräusch mehrfach zurück.

Im Inneren war es erstaunlich warm. Dabei verbreiterte sich der gewölbte Steintunnel nach wenigen Schritten zu einer beachtlichen Halle, die sich bis tief in den Fels erstreckte. Sie musste wenigstens dreißig Schritte breit und über sechzig tief sein und die Decke befand sich weit über zehn Metern über Tals Kopf. Natürlich waren Smavari Gebäude dieser Ausmaße absolut gewohnt, aber vielleicht nicht unbedingt bei anderen Völkern als bei sich selbst. Die Zitadelle von Shishney wieß erheblich erstaunlichere Maße auf, aber sie war von den Silberwölfen geplant und strukturiert worden. Tal wäre bis zu diesem Tag nicht davon ausgegangen, dass Nyghs zu solcher Baukunst in der Lage waren. Allein die Decke war ein kleines Wunder. Es gab keine Stützsäulen in dem riesigen Raum. Dies bedeutete, dass die an ein Gerippe erinnernden Bögen über ihr mussten das Gewicht des Berges tragen. Sie war keine Expertin in diesen Dingen, aber sie konnte sich gut vorstellen, wie kunstvoll die Erbauer dieser Halle zu Werke gegangen sein mussten. Die Tiba Fe war eine lebende Welt. Immer wieder rumpelte es in ihren Gedärmen und wenn der Boden Bebte, hätte Tal nicht in einem Gebäude wie diesem sein wollen.

Der Hallenboden war mit einem Mosaik aus verschiedenen Steinarten ausgelegt. Die Platten hatten allerdings eine Kantenlänge von fast einem Schritt, was bedeutete, dass sie unglaublich schwer sein mussten. Das Muster, welches sie bildeten, unterschied sich in seinem Stiel von allem, was Tal je gesehen hatte. Folgte man ihm mit den Augen, entstand ein seltsam kantiges und gleichzeitig organisch wirkendes Labyrinth, welches vom Eingang der Halle zu der an ihrem hinteren Ende befindlichen Empore führte. Letztere erhob sich vier Treppenstufen über das Bodenniveau und hatte eine Breite von etwa zehn Schritten und war etwa halb so tief. Hier oben stand ein eindeutig, sehr alter Holztisch mit mehreren ebenfalls alt wirkenden Stühlen und Schemeln, an denen die Ratsmitglieder saßen. Tal schüttelte unmerklich den Kopf. Diese Leute hatten so überhaupt nichts herrschaftliches an sich. Ein smavarischer Fürst hätte nicht im Traum daran gedacht, sich auf solch ein Möbelstück zu setzen und schon gar nicht einen Tisch mit anderen zu teilen. Überhaupt wäre das Konzept eines Rates bei ihrem Volk ganz anders zu verstehen gewesen. Man konnte sich beraten lassen, aber dies hier sah nach Abstimmung aus und das war ja gleich wieder etwas ganz anderes – geradezu Entwürdigendes.

Ein smavarischer Fürst konnte sich die Herrschaft mit einer Fürstin oder einem Geliebten teilen, aber am Ende war auch in solchen Fällen immer eine der beiden Parteien etwas mächtiger als die andere. In Shishney zum Beispiel herrschte seit endlosen Millenien Chayil`si Uywsinchein dan Paranur zusammen mit ihrem Gatten Chayil`im Strogiyr dan Paranur. Von Außen betrachtet, schienen die beiden gleichberechtigt zu entscheiden, aber wirklich jede Frau und jeder Mann vorort wusste genau, dass hier ausschließlich Lady Uywsinchein das Sagen hatte. Natürlich würden die Bewohner Shishneys den Befehlen des Fürsten ohne zu Zögern folgeleisten, doch nicht sie. Sie war eine der mächtigsten Personen Kisadmurs und könnte alles und jeden, der ihre Macht bezweifelte, in einem Augenblick zu einer Eisskulptur gefrieren lassen. Und genau dies würde sie auch ohne zu zögern tun. Smavari waren nicht gerade für den zimperlichen Einsatz ihrer psionischen Kräfte bekannt und ihre Frauen konnten zu wahren Furien werden, wenn man ihre Vorherrschaft missachtete.

Tal schrak aus ihren Überlegungen, als die Wächterin, die sie hierher geführt hatte, ihre Stimme erhob und sie vorstellte. Ughtred hatte nur ihren Kurznamen genannt und so war es kein Wunder, dass sie auch nur mit Tal und Kyon vorgestellt wurden und sie musste den Ärger herunterschlucken, der diese Respektlosigkeit in ihr verursachte. Unter anderen Umständen hätte sie vielleicht sogar gegen diese Unverschämtheit aufbegehrt, aber sie war in einem Land von Wilden, also musste sie auch von ungehobelten Manieren ausgehen.

Als nächstes stellte die Kriegerin die Anwesenden des Rates vor. Tal versuchte die Namen zu verstehen und sich zu merken, aber sie waren zu fremd, um sie alle behalten zu können. Der Erste, der vorgestellt wurde, war Herr Jourghandor, der Dorfältester, ein aus Tals Blickwinkel tatsächlich sehr alt aussehender Nygh. Seine Gattin hieß Bilkeven und erschien der Hexe nicht annähernd so alt. Sie hatte kluge und schöne grüne Augen, was Tal wirklich auffallend gut gefiel. Sie kannte bisher nur Ughtred und auch wenn sie ihn nicht unbedingt hässlich fand, war er aus ihrer Sicht auch nicht attraktiv. Bei dieser kleinen Frau hier sah dies aber ganz anders aus. Dann gab es 
Roryth, die ebenfalls als Jourghandors Gattin vorgestellt worden war; eine Tatsache, die für eine Smavari nicht sonderbar daherkam. Weniger erbaulich war dann Dorbrek, ein stämmiger Krieger, der ganz eindeutig eine Art Führerolle einnahm. Er schien keinen Spaß zu verstehen und sah aus, als ob er am liebsten die Vorstellungsrunde übersprungen und die Fremden mit seiner riesigen Axt massakriert hätte. Hinzu kamen wenigstens acht weitere Nyghs, unter denen sich auch Drey, Dorbreks Gattin befand. Die übrigen Namen konnte sich Tal beim besten Willen nicht merken, zumal wie erwartet, der Krieger mit der Streitaxt, kaum als die Stadtwächterin geendet hatte, das Wort ergriff und die Ausweisung der Wölfe forderte. Am liebsten hätte er den Dieb Ughtred noch inhaftiert und wenn es zum Kampf gegen die anderen beiden gekommen wäre, hätte es ihm ganz eindeutig Freude bereitet, sie mit seiner Axt in kleine Stücke zu zerteilen.

Interessanterweise machte Tal das Wüten dieses, für sie, trotz seiner Stämmigkeit, kleinen Mannes überhaupt nichts aus. Sie musste sogar lächeln, weil sie Wutausbrüche wie seinen nur zu gut kannte. Nur Männer verhielten sich so. Eine Frau hätte gehandelt. Ob dies klüger war, wollte sie gar nicht zur Disposition stellen, aber dieses Bellen und Drohen konnte sie nicht erschüttern. Sie schielte zu Kyon hinüber und hoffte inständig, der Sliyn möge ebenfalls ruhig bleiben, aber er stand nur gekrümmt da und hielt sich die verletzte Seite. Er hatte einfach keine Kraft mehr und Tal spürte, wie sie Mitleid mit ihm bekam. Sie mussten wirklich alle ruhen.

Schließlich hatte der rüde Dorbrek seinen Satz gesagt und der Älteste erhob sich und bat um Ruhe. Er deutete auf Ughtred, dem man ansehen konnte, dass er kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand und erklärte, er möge vortreten. Tal war froh, dass der Alte ihren Nygh wenigstens nicht Dieb nannte. Ughtred bedeutete dies offensichtlich weit weniger als ihr, denn er brachte zornig hervor, dass sein Vater wahrscheinlich in diesem Moment dahinschied und gab dem Rat und seinem Volk die Schuld dafür. Er forderte auf der Stelle aus der Halle entlassen zu werden. Er wäre schließlich immer noch ein ordentlicher Bewohner Dranoughts und hätte das Recht, so viele Hexen wie er wollte, zur Hilfe seines Vaters hierher zu bringen. Interessant, dachte Tal und sah den Alten an, weil sie wissen wollte wie sich dies nun tatsächlich verhielt. War es dem Nygh wirklich erlaubt Smavari in die Stadt zu führen?

Der Alte nickte und überlegte kurz. Dann schlug er vor, sich mit seinen Kollegen zu beraten. Sofort ereiferte sich Dorbrek, dass es dafür gar keinen Grund gäbe. Silberwölfe brächten Unglück und man bräuchte sich ja nur die Wüste Draiyn Andileds anzusehen. Was auch immer sie da angerichtet hätten, stünde ganz sicher auch Korezuul bevor, wenn man sie hier herein ließe. Jemand gab zu bedenken, dass sie ja faktisch schon hier seien, und der Krieger spuckte Gift und Galle und drohte sie genau aus diesem Grund auf der Stelle mit der Axt zu bearbeiten. Unterdessen schrie Ughtred nicht minder laut dazwischen und drohte seinerseits, den Krieger in Stücke zu hacken. Alle ereiferten sich und der Älteste machte einen derart überforderten Eindruck, dass Tal sich fragte, ob er seinen Platz im Rat überhaupt verdiente.

Dann erhob sich plötzlich die schöne Nyghfrau mit den grünen Augen. Sie hatte die ganze Zeit über geschwiegen, aber jetzt hob sie die Arme und nach einem kurzen Moment trat Stille ein. Und da war sie, die starke Frau, die handelte, dachte Tal und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Bilkeven sagte: »Habt ihr nicht gehört, um was es hier geht, ihr Narren? Sind wir so sehr abgestumpft, dass wir nicht einmal mehr dafür Sorge tragen, unsere Kranken zu heilen?«

Dorbrek wollte etwas sagen, aber sie kam ihm zuvor und übertönte ihn: »Dieser Nygh, wurde mittels Krähe vom Unglück seines Vaters unterrichtet, und was tut er da? Er macht sich auf den Weg zu helfen. Was tun wir? Wir sind Steine auf diesem Weg. Genug sage ich. Hier muss Recht geschehen und zwar auf der Stelle!«

Dorbrek begann von Neuem über die Wölfe zu schimpfen und da riss ihr endgültig der Geduldsfaden. Mit lauter Stimme befahl sie dem Krieger, zu den Wachtürmen zu gehen und nachzusehen, wie es überhaupt möglich war, dass diese Silberwölfe hier eindringen konnten.

Dorbrek wollte etwas erwidern, aber da alle anderen Ratsmitglieder ihn nun fragend ansahen, hielt er einen Augenblick inne.

»Ist es nicht deine Aufgabe, die Mauern instand zu halten?« fragte Roryth, Jourghandors zweite Frau ruhig.

Der Krieger legte den Kopf schief und überdachte seine Möglichkeiten. Dann sah er ein letztes Mal in die grünen Augen der Ratsfrau und gab auf. Er knurrte noch, man würde ja sehen, was sie anrichten, diese Wölfe und dann solle man am besten gar nicht zu ihm kommen, aber ja, ja, er wolle sich nun den Türmen widmen. Er könne ja nicht den ganzen Tag hier gegen Wände reden. Solle man eben sehen …

Als er gegangen war, richtete sich Jourghandors an die Gäste seiner Steinhalle: »Also gut, wenn niemand einen besseren Vorschlag hat, frage ich dich, Ughtred, Sohn des Schmiedes Ughnor, willst du als Bürge für diese da stehen?« Er deutete auf die beiden Silberwölfe, und es war ihm anzusehen, dass er sich ihre Namen nicht gemerkt hatte.

Ughtred verzog sein Gesicht zu einer genervten Grimasse und sagte  voller Zorn: »Scheiße ja, ich bürge für was und wen auch immer, wenn ich endlich zu meinem Vater gehen kann.«

Es war dem Ältesten anzusehen, dass er mit einer gemäßigteren Antwort gerechnet hatte und ehe er etwas dazu sagen konnte, erhob erneut seine Frau das Wort.

»So ist es nun beschlossenes Recht. Ughtred bürgt für das Verhalten der Gäste aus Kisadmur und ebenfalls bürgt er für ihren Schutz, so lange sie in Dranought wandeln mögen. Dies gilt von diesem Moment an«, sprach Bilkeven und machte eine herrische Handbewegung.

Der Ratsälteste wollte noch etwas sagen, aber Uchtred machte auf der Ferse kehrt und stapfte davon. Er war mit der Geduld am Ende und musste an die frische Luft. Er eilte die Treppen zum Platz hinunter und wandte sich ohne zu zögern nach rechts. Tal hatte keine Probleme, ihm zu folgen, aber Kyon hatte Schmerzen. Sie beeilten sich, den Nygh nicht aus den Augen zu verlieren. Tal sah sich um und nahm wahr, dass viele der Nyghs auf dem Platz und an den Straßenrändern ihnen am liebsten gefolgt wären, aber die Kriegerin namens Athwes erklärte das neugewonnene Recht der Gäste und bat um höfliche Zurückhaltung. So kam es, dass nur einige Kinder hinter den dreien her liefen.

Ughtred führte seine Silberwölfe aus dem Stadtkern in Richtung Norden, durch den Pass, der hier das eigentliche Dranought von einem weiteren kleinen Vorort trennte. Auf der anderen Seite der steinernen Erhebungen gliederte sich eine hügelige Landschaft mit einer Vielzahl von Häuschen und Höfen an. In der Nähe der Straße standen die Häuser dicht an dicht, aber weiter draußen entstand ein Netz von Seitengassen, an denen die Gebäude von Gärten und Stallungen umgeben waren. Auch hier erregten die Fremden Aufmerksamkeit. Hirten und Landwirte unterbrachen ihre Arbeiten, Leute kamen aus den Häusern und sahen ihnen nach, Gänse kamen angerannt und schnatterten aufgeregt und überall war das Blöken von Schafen zu hören. Natürlich waren es auch hier die Kinder, die sich am aufdringlichsten verhielten, aber dies konnte Tal verschmerzen.

Einmal zupfte ein Junge von hinten an ihrem Mantel und sie drehte sich um und zeigte ihm ihre Reißzähne, aber die Zwillingssonnen standen hinter ihr am Himmel und erinnerten die Hexe schmerzhaft an ihre Macht und so wandte sie sich schnell wieder um und zog ihre Kapuze tiefer ins Gesicht.

Unterdessen deutete Ughtred auf ein Haus am Wegesrand. Es war etwas größer als die anderen und schmiegte sich auf einer Seite an einen gewaltigen Kamin, unter dem sich zweifelsfrei die Esse der Schmiede befand. Sie hatten ihr Ziel erreicht, zumindest vorläufig.

Auch hier standen Nyghs auf der Straße und Ughtred hob grüßend die Hand. Eine Frau kam auf ihn zugerannt und umarmte ihn und hinter ihr kam ihr Mann heran, der den jungen Nygh freundlich mit der Hand auf die Schulter klopfte. Andere Nachbarn kamen ebenfalls näher und wollten Fragen stellen, aber dann sahen sie fast alle gleichzeitig zur Tür der Schmiede auf, weil diese sich geöffnet hatte. Sie machten den Fremden Platz und gaben den Blick auf eine Nygh in einem langen hellen Gewandt frei.

Ughtred fragte grußlos: »Wie geht es ihm?«

Die angesprochene zögerte nicht und sagte: »Du kommst keine Minute zu früh.«

Tränen sammelten sich in Ughtreds augen, als er den Fuß auf die unterste Stufe zur Veranda seines Heims stellte. Es war als müsse er den steilsten Berg des DranˋOrad besteigen, so schwer waren ihm diese vier Stufen. Die Frau reichte ihm den Arm, als benötige er tatsächlich Hilfe, aber Ughtred schob sich wortlos an ihr vorbei und verschwand im Haus.

Tal kniff die Augen zusammen und taxierte die Nygh in dem hellen Mantel. Was war zwischen ihr und Ughtred vorgefallen? War sie am Ende seine Mutter? Aber hatte er nicht etwas darüber erzählt, dass seine Mutter ebenfalls krank sei? Irgendwie auch seltsam, überlegte Tal, angesichts der Tatsache, dass es bei den Nyghs alles andere als üblich war krank zu werden, einen zu treffen, dessen Familie gleich mehrfach von Krankheiten heimgesucht worden war.

Sie sah zu der Frau hoch und stellte Kyon und sich selbst vor. Dann beschrieb sie den Grund ihres Hierseins und Bilke, die sich ebenfalls namentlich vorgestellt hatte, sagte in Smavarisch: »Ihr seid, wie ich selbst, eine Heilerin?«

Tal zuckte mit den Schultern und erwiderte leichthin: »Jede Hexe Kisadmurs versteht sich auf die Heilkunst. Ich bin eine Elishai bin`Lona, eine Hexe des Doppelmondes.«

Bilke fragte: »Du denkst, du kannst eine Vergiftung durch einen Amytoren kurieren?«

Tal nickte wortlos. Dann sagte sie etwas angeberisch: »Und so ziemlich alle anderen auch.«

Ihr Gegenüber hob die Augenbrauen. Ihr war ihre Ungläubigkeit ins Gesicht geschrieben, aber dann schien sie ihre Meinung zu ändern und nickte einfach, als sie sagte: »Dann aber nichts wie hinein mit euch, Frau Hexe. Die Zeit drängt.«

Sie drückte sich rückwärts durch die Tür und hielt sie der Hexe auf. Tal sah Kyon kurz an, doch dieser machte keine Anstalten ihr ins Haus zu folgen. Also ging sie der Nyghheilerin allein hinterher und hörte über sich Ughtred sprechen. Der Raum war erwartungsgemäß niedrig und Tal musste sich ducken und stieß trotzdem immer wieder mit ihren langen Ohren an die Kanten von Schränken oder Deckenbalken. Die Treppe war geradezu winzig und sie kam sie vor wie eine Riesin, als sie einen Großteil ihrer Taschen zurücklassend nach oben kroch. Sie musste sich tatsächlich auf Händen und Knien bewegen und hatte keinen Raum sich umzudrehen. Würde das Haus in diesem Moment in Flammen aufgehen, sie wäre hilflos verloren gewesen. Eingezwängt schob sie leise fluchend ihren Hintern nach oben und hatte das erste Mal in ihrem, für eine Smavari eher kurzen Dasein das Gefühl, abnehmen zu müssen. Und schon fiel ihr der Aufstieg leichter.

Oben angekommen, war es der Geruch, der ihr sagte, dass sie tatsächlich keinen Moment zu früh hier angekommen war. Schon im kleinen Kaminflur, in dem sie sich kaum bewegen konnte, roch es nach Siechtum und Tod. Das Amytorengift hätte jedes andere Wesen längst umgebracht. Nur ein Skerge, mit seiner allumfassenden Immunität Giften und Krankheiten gegenüber, war in der Lage gewesen dem Sog des Todes so lange zu widerstehen. Sie fragte sich, ob er unter Umständen nicht doch auch einfach so hätte genesen können und ein, für Smavari typischer, morbider Forscherdrang, ließ sie darüber nachdenken dem Kranken nur ein Placebo zu verabreichen, um zu sehen was passiert.

Die Tür der kleinen Kammer stand offen. Ughtred kauerte neben dem niedrigen Bett und hielt die Hand seines Vaters. Der Geruch war betäubend stark. Verwesung und Tod hatten sich nicht nur des Schmiedes bemctigt, sondern waren in das Holz der Wände, in die Kissen und Decken und wahrscheinlich sogar in den Stein gedrungen. Tal sog die Luft ein und versuchte zu schmecken, wie es ihr ergangen wäre und ihre Essenz zog sich in den hintersten Winkel ihres Seins zurück – nur weg von ihren Geschmacksknospen und dieser fürchterlichen  Idee von einem schrecklichen Ende.

Sie schob sich auf den Knien in das kleine Zimmer und deutete auf ein winziges Fenster. Ughtred gehorchte und öffnete es, aber die frische Luft hatte nur eine geringe Wirkung. Der Dämon des Siechtums klebte an jeder Faser dieses Ortes.

Bedächtig hob die Hexe die dünne Decke an. Der Schmied lag mit starkem Fieber darnieder und die Temperatur im Zimmer schien der seinen zu entsprechen. Das betroffene Bein war aufgedunsen und hatte sich bis zum Knie tief violett gefärbt. Tal hätte nicht geglaubt, dass der Gestank noch schlimmer werden konnte, aber es war so. Die Heiler des Ortes hatten ihn gewaschen und gut gepflegt, aber er konnte offensichtlich nichts bei sich halten und hatte sich beschmutzt. Sie sah aus den Augenwinkeln Ughtreds Tränen, aber der Wolf in ihr verspürte plötzlich Hunger auf die schwach gewordene Beute. Schnell schob sie die kleine Tasche an ihrem Gürtel nach vorne und wühlte darin. Ein kleines Fläschchen aus Glas, umwickelt mit einer dünnen Papierbanderole, kam zum Vorschein. Sie schüttelte es vorsichtig und besah sich den Inhalt gegen das Licht des Fensters. Die Flüssigkeit in der Flasche schimmerte grau und hinterließ einen irgendwie schmutzigen Eindruck. Tal nahm sich vor, mehr von dem Zeug zu brauen. Man konnte nie wissen und wie gesagt, sie selbst hätte den Zustand des Schmiedes sicher keine zehn Tage überlebt. Dann entkorkte sie die Phiole und sagte: »Er muss trinken. Wasser.«

Ughtred schrak aus seiner angsterfüllten Trauer und nickte dann. Neben dem Bett stand auf einer Holzplatte am Boden eine Karaffe aus Ton. Tal schüttelte genervt den Kopf, denn sie empfand die alltäglichen Gegenstände der Nyghs mehr als nur unansehnlich. Sie war zwar den Tand der Quink gewohnt, aber von den Nyghs hätte sie mehr erwartet. Doch was konnte sie schon tun? Sie waren eben keine Smavari.

Ungeduldig sah sie zu, wie der Jüngere dem Vater Wasser auf die gesprungenen Lippen träufelte. Ughnor, Tal hatte sich an den Namen des Vaters erinnert und schluckte schwer, als wäre das Wasser gemahlener Steinstaub. Dann hustete er und Ughtred sah sie alarmiert an.

Gebieterisch schob sie den jungen Nygh mit dem Hintern beiseite und duckte sich leise fluchend unter die hölzerne Dachschräge. Dann murmelte sie leise Hexenflüche und tropfte dem fiebrigen Schmied das Antidot auf die Lippen. Wie ein hungriger Wattwurm, kam die belegte Zunge des Mannes hervor und leckte über die Tropfen und Tal lächelte böse und gab ihm nur so viel mehr, dass er immer gieriger danach leckte. Dann erhob sie sich und stieß schmerzhaft mit dem Hinterkopf an einen Balken. »Quinkscheiße und Rattengalle«, fluchte sie  und hätte um ein Haar die Flasche mit der Medizin fallen lassen. Erbost als könne er etwas für ihr Missgeschick, wandte sie sich Ughtred zu und blaffte: »Das ist viel schlimmer als erwartet. Er muss noch mehrere Tage in Behandlung bleiben.«

Das war eine Lüge. Sie würde ihm tatsächlich noch einige Tropfen des Antidots geben, aber entweder es wirkte binnen der nächsten zwei, drei Stunden, oder er starb. Aber sie war sich Ughtred nicht sicher. Im Tagebuch war klar definiert, dass nur ein Skerge, also ein Nygh in die unterirdische Kammer von Undorn steigen und den Schatz daraus hervorholen konnte. Wenn der irre Abenteurer recht behielte, brauchten sie den Nygh unbedingt. Abgesehen davon, hatte sich der kleine Mann als überaus nützlich erwiesen. Der Phani wäre zumindest ohne ihn niemals hier angekommen. Wahrscheinlich galt dasselbe auch für Kyon und vielleicht auch für sie selbst.

Sie schluckte und sagte etwas freundlicher: »Jeden Tag drei Tropfen, aber denk daran Nygh, wir haben eine Abmachung, das Leben von diesem da, gegen den Schatz von Undorn.«

Ughtred sah ihr ins Gesicht. Der Nygh hatte etwas Raubtierhaftes. Seine Angst hatte sich tief in seine Augen gegraben, aber da war noch mehr. Stolz, Wut und Unbehagen mischten sich zu einer brodelnden Mischung und er stand kurz davor, diese unguten Gefühle auf sie zu kanalisieren. Er war alles andere als sicher, ob die paar Tropfen des Hexengemisches auch nur irgend eine positive Wirkung auf seinen Vater haben würden. Tal sah ihm an, dass er es ebenso wahrscheinlich einstufte, dass sie dem Kranken soeben den Todesstoß versetzt hatte.

Ihr Lippen zogen sich zu einem wölfischen Grinsen von ihren Lippen als sie sagte: »Er wird leben, Dieb.«

Ughtred wischte sich, mir der von seines Vaters Schweiß feuchten Hand, über das Gesicht und kniff die Augen zusammen. Dann presste er zwischen seinen Lippen die Worte: »Und ich halte meine Abmachungen«, hervor.

 

Kyon saß auf einem Holzbock neben der Veranda der Schmiede und stimmte seine Sirantari. Das Instrument hatte unter der Reise fast ebenso gelitten wie er selbst. Als er den bauchigen Rahmen ausgefaltet hatte, war ihm sofort der abgeplatzte schwarze Lack aufgefallen. Er hatte die Sachlage untersucht und mehrere Stellen entdeckt, an denen das Goldholz der Laute zu sehen war. Zum Glück waren die Saiten heil geblieben. Nach einer Weile hatte er sich mit der Situation jedoch versöhnt. Die Kratzer mit dem hindurchschimmernden Holz hatten etwas Verwegenes, wie er fand, und daheim in Shishney, würde man sicher noch mehr daraus machen können. Heroische Kämpfe gegen Draiyn von der doppelten Größe eines Smavari gingen nun einmal nicht spurlos an der Ausrüstung vorbei. Ein heftiges Ziehen in seiner Seite erinnerte ihn daran, dass besagter Kampf auch ihm einen Kratzer zugefügt hatte. Er schluckte den Schmerz herunter und verlagerte sein Gewicht und als er wieder aufblickte, stand ein kleines Männlein vor ihm. Das Ding hatte riesige Augen und winzige, hässliche Tierohren und aus seiner kaum vorhandenen Stupsnase lief ein Rotzfaden zu den ungläubig verzogenen Lippen herunter.

Er sog erschrocken die Luft ein und als hätte dieser Vorgang sich negativ auf die Realität um ihn herum ausgewirkt, gesellte sich von unter der Veranda ein zweites dieser Dinger zu dem ersten. Dieses trug eine grüne Kappe aus Filz und war nur unwesentlich größer als das erste. Das mussten die hiesigen Maskenmännlein sein und damit war sein Dasein als lebende und reale Person zweifelsfrei beendet.

Schon kamen noch drei weitere die Straße herauf und eins kam aus dem Haus gegenüber. Er drehte sich um, damit keins in seinem Rücken auftauchen konnte, aber natürlich war es längst zu spät. Drei Stück hatten sich seitlich an ihn herangeschlichen und eins von ihnen hatte tatsächlich eine winzige Armbrust auf dem Rücken.

Das wars, dachte er grimmig und ließ die Sirantari sinken, um sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Seine schmale Hand stahl sich zum Griff seines Silberstahldolches an seinem Gürtel, als das aller erste der garstigen Dinger den Rotz hoch zog und etwas in einer außerirdischen Sprache plärrte.

War das Nygh? überlegte er und ein schrecklicher Verdacht keimte in ihm. Konnten das hier etwa die hässlichen Maden der Nyghs sein? Sie waren noch kleiner als die Kinder, die ihnen vom Marktflecken aus gefolgt waren, aber das eine mit der Armbrust und der grünen Wolljacke passte natürlich in die besagte Kategorie.

Warum konnte er nicht in einer Welt der Schönheit leben, wie die Liedermacher und Philosophen sie beschrieben? Wo waren die weißen Hirsche mit den dreizehn Geweihenden über leuchtend blauen Gewässern, wo die Arunen mit ihren üppigen Brüsten und wo waren die Dryaden, die sich um ein leibliches Wohl kümmern wollten?

Er stupste mit der Stiefelspitze den Bauch des kleinen Rotzers und sagte in gebrochenem Nygh: »Ich sprache euch nur flach.«

Da lachten sie alle und der Junge mit der Armbrust trat von der Veranda in sein Blickfeld. Er wiederholte die Worte und korrigierte sie dann höflich und langsam und Kyon, dem es an Übung fehlte, versuchte so gut wie möglich nachzusprechen.

»Ich sprache eure Sprache nicht gut.«

»Spreche«, intonierte der Junge freundlich lächelnd und die anderen Kinder lachten mit Tränen in den schmutzigen Gesichtern.

»Ich sprache eure Spreche nicht gut.«

Jetzt fielen die ersten zu Boden und hielten sich die Bäuche. Eins der Kleinsten kam an sein Knie und wickelte seine pummeligen Arme darum. Es hatte ganz offensichtlich Mitleid mit ihm und er überlegte, wie die erwachsenen Nyghs wohl mit dem Konzept Kindermord umgehen würden.

Doch stattdessen hob er seine Laute auf und zog die letzte Saite fest. Drei Mal schlug er sie vorsichtig an und justierte ihre Spannung. Dann strich er über alle gleichzeitig und schob das Tonbord in eine andere Position, um die Modulierung zu ändern. Dieser eine Ton, dieses Ziehen und Summen der Smavarilaute drang in die Herzen der Kinder und ihre Augen bohrten sich in seine Seele. Er starrte seine Stiefel an und überlegte kur. Das Lied der weißen Gehilfin, die zum ersten Mal einer Kohorte von Speerträgern begegnete? Ungeeignet. Der Hobgoblintanz, den er in der Eindornigen Quink gelernt hatte. Eher nicht. Vielleicht das moraidische Kriegslied, in dem es um den alten Piraten mit nur einem Hoden ging! Sie würden es ohnehin nicht verstehen, und das Lied hatte einen lustigen Schwung und er fand, es würde kindgerecht genug daherkommen. Also drehte er die Laute auf und schlug den ersten Ton an. Er begann das Lied langsam und kniff verwegen die Augen zusammen. Er war ein Pirat, der sich über seinen Kapitän wegen dessen Unzulänglichkeiten lustig zu machen gedachte. Und dann schlug er die Laute an und spielte.

Das Lied erscholl durch die Straße der Schmiede und Türen und Fenstern wurden geöffnet. Der Seilmacher, einer von Ughtreds Nachbarn kam aus seiner Werkstatt ein Haus weiter und rieb sich an seiner Schürze die Hände trocken. Eine, für eine Nygh sehr hübsche Frau wie Kyon fand, kam aus einem Stall auf der anderen seite, trat näher und begann sich gleich zu der Melodie zu hin und her zu wiegen. Die Nyghs schienen sehr aufgeschlossen in Sachen Musik zu sein und binnen weniger Minuten hatte sich die Straße gefüllt.

Kyon war fast ein wenig verlegen. Wenn er bei Seinesgleichen aufspielte, war es ungleich schwerer, die Aufmerksamkeit der Massen auf sich zu ziehen und sie bei der Stange zu halten, war mehr oder weniger unmöglich. Silberwölfe ließen sich durch alles und jeden ablenken und ein halbes Lied war gerade lang genug. Daher erfreute die Art der Nyghs ihn auf eine ungewohnte Weiße. Er stand vorsichtig auf und hängte ein weiteres Stück an den Piraten. Diesmal entschied er sich für ›Die Liebe der Chentai‹ und intonierte es einfach, eine Tonlage heller als es ursprünglich gedacht gewesen war. Er sang leise und drohend und dann lieblich und hell und die einfachen Leute auf der Straße hingen ihm an den Lippen. Obwohl sie ihn nicht verstanden, spürten sie die Dinge, um die es in den Liedern ging. Da war die unsterbliche Liebe, die Verruchtheit des Bösen und die kühlende Gerechtigkeit des Karmas, die alle Übel der Welt neutralisieren konnte, wenn man es nur zuließ. Smavari und Nyghs, konnte das sein?

Er sah auf und heftete seine Augen auf das tanzende Mädchen mit den drallen Brüsten und dem fliegenden weizenfarbenen Haar. Ein Mann mit riesigen Pranken hatte ihre Hände ergriffen und sie drehten sich gemeinsam im Kreis. Kyon stampfte mit dem Stiefelabsatz auf das Holz der Veranda und eins der Kinder hatte einen Topf herbeigebracht und damit begonnen einen groben Takt auf dessen Boden zu schlagen. Da erwachte er. Glück war, nicht von Insektenmännern gefressen, auf einem Berg Lieder für hässliche Kinder aufzuspielen.

 

Tags darauf begann Ughtred endlich den Schlüssel zu schmieden. Im Tagebuch war nicht eindeutig zu erkennen, welcher der abgebildeten Schlüssel der Richtige war und es gab rätselhafte Hinweise darauf. Eine merkwürdige Zahlenkolonne wirkte wie eine Rechnung, anhand derer man hätte herausdeuten können, welcher Schlüssel es war. Aber Ughtred vertrat die Meinung, der alte Silberwolf, der diesen Unsinn geschrieben hatte, war auf keinen Fall klüger als sein Sohn gewesen und Kyon traute der Nygh keine Zahlenrätsel zu. Einer der Schlüssel war dick umkringelt. Den würde er schmieden. Wenn er nicht passen würde, müssten sie eben zurückkommen und es mit einem anderen probieren. Jetzt wo sein Vater gerettet war, hatten sie alle Zeit der Tiba Fe.

Er feuerte die Esse an und dachte: Alle Zeit vielleicht doch nicht. Der Vater, sobald er auf die Beine kam, würde Fragen stellen. Er kannte Ughnor. Der Schmied war nicht auf den Kopf gefallen und er würde wissen wollen, welche Gegenleistung die Wölfe verlangten, denn sie taten nie etwas für andere umsonst.

Mit starken Armen betätigte er den Blasebalg und schob Brennpaste und Holz nach. Dann gab er Feuertee und andere geheime Zutaten in die Esse, die dafür sorgen würden, dass er er nicht warten musste. Nyghessen brannten heiß.

Der Schlüssel sollte aus Kupfer hergestellt werden und hatte laut Aufzeichnung einen Kreuzförmigen Querschnitt. Er überlegte erneut, ob die Zahlen im Tagebuch nicht ein Hinweis auf eine Kombination waren. Andererseits war das Grab alt und er war skeptisch, ob man vor derart langer Zeit entsprechende Schlösser gefertigt hatte. Außerdem war der Schutz des Grabes nicht sein Schloss. Die giftigen Dämpfe waren deutlich wirkungsvoller als jede Zahlenkombination.

Behutsam legte er die Kupferhalbzeuge in die Schmelzpfanne und langte dann nach einer der leichten Zangen, um das Schmelzgut der Hitze zu überantworten. Dann spuckte er hinein, denn auch wenn sein Handeln alles andere als rühmlich war, gab ein Nygh immer etwas von sich selbst in sein Werk.

Unterdessen hatte er den Ton für die Grundform vorbereitet. Eigentlich würde er eine Form aus Eisen herstellen und somit immer wieder denselben Schlüssel gießen können. Aber dafür hatte er natürlich keine Zeit. Es würde so schon zwei bis drei Tage brauchen, um den komplizierten Schlüssel zu schmieden. Die Form hingegen bräuchte mehr als die dreifache Zeit für ihre Entstehung und er wusste ja noch nicht einmal, ob er tatsächlich am richtigen Profil arbeitete.

 

In der dieser Nacht verschwand Kyon. Ughtred hatte die beiden Silberwölfe in seinem Zimmer, im Untergeschoss der Schmiede einquartiert und als Tal in dem engen Zimmerchen erwachte und Kayon nicht neben sich fand, machte sie sich zuerst keine Sorgen. Wahrscheinlich wrang er nur irgendwo draußen seinen Schwanz aus. Er war ihr den ganzen Abend auf ie Nerven gegangen. Die Nyghs seien gute Zuhörer und er habe das Aufspielen so genossen. Bla bla bla, das Aufspielen und die fliegenden Haare der Mädchen – hätte er lieber ihre Saiten gezupft, dachte sie und verdrehte ihren Oberkörper zu einer halbwegs bequemen Position. Aber er kam nicht wieder.

 

Die Wölfin schlich in grünem Feuer aus dem Ort heraus. Alles um sie herum lag in tiefem Schlaf. Die Haut des Mannes hatte sie irgendwo hinter sich am Rande eines Hofes zurückgelassen und achtlos mit den Hinterläufen verscharrt. Jetzt wollte sie frei sein, laufen, dieses endlose neue Land erkunden und töten. Da war etwas, dort draußen, es hing mit der anderen Welt zusammen, die sie durch seine Augen sehen konnte wenn sie schlief. Etwas ebenso mächtiges und auch ebenso böses wie sie lebte in diesen dunklen Wäldern. Sie erhob ihre Schnauze in den kühlen Frühlingswind und nahm die Witterung auf. Es wäre einfach gewesen, ihren Hunger bei den Kindern der Titanen zu stillen. Ihre Höhlen waren nicht gesichert und sie hätte durch einen Kamin lautlos Welpen, Mann und Frau verzehren können. Aber diese Beute war es nicht, nach der ihr gelüstete. Sie war wütend und diese Wut musste heraus. Es war ihr ganz egal wo der Zorn herkam, was er mit ihr zu tun hatte und wo er hingehen mochte. Es spielte keine Rolle, denn er war da und er gab ihr Kraft und Wildheit – so wie es immer schon gewesen war bei ihrer Art.

Die lange dünne Schnauze am Boden suchte sie nach dem Weg, aber sie war noch zu weit entfernt. Hier roch es nur nach den Kleinen und sie wollte sich nicht den Appetit verderben. Also machte sie einen weiten Satz über einen Bach, erklomm eine Anhöhe mit frisch knospenden Bäumen und pinkelte genau in deren Mitte, wo vor vielen Jahreszeiten ein Mann gestorben war. Sie scharrte in der Erde und schnüffelte an ihrem Urin und dann heulte sie ein langes, klagendes Heulen. Einen Augenblick lauschte sie, aber die Antwort blieb aus. Dabei war sie sicher, hier im Revier einer der ihren zu sein.

Hopp hopp ging es weiter den Berg hinauf. Die Stämme der Bäume wurden dünner und gerader und anstelle von Laub sprossen lange dunkle Nadeln an ihren Ästen. Die Wölfin flog mit langen Sprüngen zwischen ihnen dahin und steckte die Nachtluft mit ihrem grünen Feuer in Brand.

Einmal bremste sie ruckhaft und feine Eissplitter flogen vom Boden auf und glitzerten in der hier oben eiskalten Luft. Sie schnüffelte, und ein großer Hase starrte sie zwischen den Felsen und Sträuchern hindurch an. Der Impuls ihn zu jagen, zu schlagen, zu zerfetzen und ein Blut zu trinken war übergroß und sie duckte sich flach zu Boden und wollte schon lossprinten, doch dann war es wieder da, dieser säuerliche Geruch, wie in der Höhle des kranken Mannes.

Sie entließ Herrn Löffel und wandte die bleichen toten Augen zum Gipfel des Berges hinauf. Dann tänzelte sie über den dichter werdenden Schnee. Sie prang über Klippen, kratzte einen Hang hinauf und als es so nicht mehr ging, entließ sie die Kräfte der Welt und schwebte ein Stück weiter hinauf. Dann fand sie einen toten Kadaver. Der Elch muss über achtmal so groß wie sie selbst gewesen sein. Nun lag er zerstückelt und vergiftet im Dreck und nicht einmal die Krähen wollten noch sein verdorbenes Fleisch. Die Wölfin schlug ihre Fänge in das Bauchfell des riesigen Tieres und riss ein Stück davon ab. Es schmeckte wirklich bitter und hatte jedes Leben verloren. Angewidert gab sie ihrem Schlingreflex nach und schluckte es herunter. Dies spornte den Zorn und das Feuer in ihren Eingeweiden noch mehr an und sie spie einen Strahl grün brennender Galle in den Schnee und setzte damit den Kadaver in Brand. Doch das Fell war zu nass und ihr interesse an der Vernichtung richtete sich auf andere Ziele und so versiegten die Flammen, wie sie aus ihr gekommen waren.

Drei Monde bahnten sich ihren Weg über den Himmel und luden die Wölfin zum Tanz. Sie versuchte erneut ihr Lied, aber wieder blieb es unerwidert. Nun gut, dann würde sie den Totentanz eben allein begehen.

Schließlich kam sie zu dem Bruch und schlich mit nervösem Schwanzzucken an der Kante auf und ab. Das Loch im Boden musste viele Millenien alt sein und war entstanden, als der Berg sich mit sich selbst entzweite. Vielleicht hatte auch einer der Titanen seinen Fuß darauf gesetzt und ein Stück war abgebrochen, wer konnte das sagen?

Knurrend sprang die Wölfin mit einem unglaublichen Satz auf die andere Seite, fand diese aber auch nicht besser und setzte wieder zurück. Die Realität verbog ich zwischen ihren Lefzen und ihre Zähne zogen daran wie an den Sehnen eines frisch erlegten Tieres. Dann hörte sie das peitschende Geräusch aus der Tiefe und wusste, was zu tun war. Ohne zu zögern und ganz ohne Drama, ließ sie sich über die Kante in die Tiefe der Erdspalte gleiten. Die Gletscherwände rasten an ihr vorüber als sie fiel und die Dunkelheit versuchte ihre Sinne zu überwinden, aber ihr Feuer, dass sich in ihr Fell zurückgezogen hatte begann wieder aus ihr hervorzubrechen und wütend zu Brüllen. Sie stürzte in die Tiefe und erwartete den ungebremsten Aufprall – und er kam. Der Schlag war stumpf und von solcher Wucht, dass die Realität um sie herum ein Vakuum bildete und über ihr zusammenstürzte. Knochen brachen, Organe wurden zerschmettert und eins ihrer Augen schoss aus ihrem zerborstenen Schädel. Sie sog die Luft in ihre toten Lungen und versuchte etwas zu erkennen, aber ihr Sein rang mit den Konzepten Leben und Tod und versagte ihr den Dienst. Also sog sie das Leben aus den Adern der Welt und presste es in ihre Existenz. Ihre Lefzen hoben sich und als sie die Schultern straffte ruckten ihre gebrochenen Rippen an die rechten Stellen. knurrend liebkoste sie den Schmerz und genoss das Rumpeln in den Ritzen der Realität. Ihre Wunden schlossen sich, Knochen schoben sich zurecht und das allumfassende Totenfeuer schmolz die Ränder zusammen und erschuf ihr Leben neu. So war es schon immer gewesen, vom Anbeginn ihrer Art – von ihrer und der Art der anderen; dort droben, auf der anderen Seite der Wand.

Als das Feuer sie zusammengebacken hatte stand sie auf und streckte sich wohlig. Sie stand in einer Höhle, zu der es nur einen Ausgang gab, und diesen war sie eben heruntergefallen. Das Ding war hier unten und es konnte nicht heraus one an ihr vorbei zu müssen. Gerade wollte sie den ersten Schritt machen, als ein riesiger Tentakel durch die Dunkelheit peitschte und orangefarbene Lichter aufglommen. Sie sprang zur Seite und erhöhte die Geschwindigkeit in einem Ausmaß, dass der Fels um sie herum stöhnte. Die Membran der Anderwelt wurde aufgerissen und ihr Knurren erscholl bis weit auf die andere Seite hinüber. Dann stürmte sie auf den unförmigen riesigen Feind ihres gegners zu. Sie sprang auf den runden Rücken, zerbiss Tentakel, grub ihre Klauen in gläserne Augen und durchtrennte giftige Sehnen und unwirklich durchsichtige Knochen. Das Ding war aus einem ähnlichen Stoff wie sie selbst, aber es konnte ihr nicht das Wasser reichen. Als man es erschuf, hatte man versucht das Böse in einen Leib aus Realität zu bannen, aber was wussten die da draußen schon über das Böse?

In einem lauten Knall zerbarst die Wölfin in unheiligem grünen Feuer und übergoss ihr wehrloses Opfer mit Raserei und fleischgewordener Brutalität. Fleischbrocken klatschten gegen die Wände der Grotte und das Gurgeln des Dings zeugten von seinem Todeskampf. Dann wurde es still. Hier und da zuckten dicke, fleischige Tentakel am Boden, als die Wölfin sich aus dem dampfenden Leib des zerbrochenen Unwesens grub. Ihr Fell war über und über von schleimigem orangen Blut bedeckt und ihre Flammen umzüngelten sie zufrieden und seltsam zaghaft. Der Zorn hatte sich kanalisiert. Sie war zufrieden und schlürfte ein Wenig des stinkenden Blutes. Sie suchte nach dem Herzen des Dings und fand gleich mehrere und zerbiss sie sicherheitshalber. Dann tat sie dasselbe mit dem Geschlecht des Unwesens und am Ende durchsuchte sie noch die Höhle nach Eiern oder Welpen, doch sie fand nichts dergleichen und entschied sich, auf den Rest zu pissen.

Ruhig ging sie zu dem Riss in der Decke zurück und blickte nach oben. Der Blutmond starrte zufrieden zu ihr herunter und tauchte die Szene in sein grauses rotes Licht. Sie begrüßte den alten Freund mit einem schaurigen Geheul und dann entließ sie erneut die Kräfte der Welt und schwebte aus der Dunkelheit ins Licht hinauf. Wie ein Todesengel aus den tiefsten Höllen schwebte sie in die Welt zurück und glitt oben in den Schnee.

Ein letzter Blick hinunter und in sich hinein und dann machte sie sich auf den Rückweg. Sie kannte keine Verantwortung, aber sie empfand dennoch eine seltsame Dringlichkeit in ihrem Handeln. Der Mannwolf hatte Aufgaben und sie mochte Aufgaben. Sie hatte ihre erledigt und jetzt überkam sie wohlige Müdigkeit. Hinab, hinab hüpfte sie, trunken vom giftigen Blut des Unwesens. Als sie die Häuser der Sterblichen erreichte, wurde sie vorsichtig. Die Nacht war weit fortgeschritten und sie wollte unsichtbar bleiben. Da war das Haus, und jemand hatte nach ihr gesucht. Irgendwo im Schatten lauerte der kleine Mann und beobachtete sie. Er war schlau, der kleine Mann und vielleicht würde sie ihn fressen müssen. Aber nicht jetzt.

Sie schwebte einige Zentimeter mit schlaff herabhängenden Gliedern über den Boden. Wo ihr grünes Höllenfeuer die Steine berührte, blieb es kurz kleben, flackerte und erlosch dann. Es schien nichts zu entzünden und war kalt wie fast immer. Sie erreichte die verschlossene Tür der Schmiede und wollte still und leise hindurch schweben, doch das Hindernis gab nicht nach, als sie mit der Nase dagegen stupste. Also hob sie eine Vorderklaue und begann zu kratzen und winselte dabei leise. Da nichts geschah, nahm sie die zweite Pfote zu Hilfe und kratzte heftiger. Ihre Versuche wurden immer zorniger, bis sich die Tür endlich öffnete und ihre Schwester verdutzt auf die mondbeschienene Straße heraus blinzelte.

 

Tal hatte Ughtred geweckt und dieser war auf die Straße hinausgegangen, um nach Kyon zu sehen. Sie hatte eine Weile gewartet, aber dann war sie in die Kammer zurück gegangen. Sollte der Blödmann sich doch mit einer der Nyghweiber vergnügen. Er würde schon sehen, was er sich in ihren Spalten holte und dann bräuchte er gar nicht angekrochen kommen.

Sie war wach gelegen und hatte den roten Widerschein des Mondes beobachtet, der durch die Ritzen der Fensterläden zu ihr drang. Doch dann hatte sie das Kratzen an der Außentür vernommen. Einen Moment dachte sie, Ughtred hätte seinen Schlüssel vergessen, aber dann erinnerte sie sich, dass es hier offenbar überhaupt keine Türschlösser gab. Dennoch stand sie nackt wie sie war auf, ließ die Decke zu Boden gleiten und trat in den kalten Hauptraum hinaus.

Unter dem Türspalt drang grünliches Licht herein und sie riss die Augen auf, als sie das leise Winseln der Wölfin vernahm. Bei allen Geistern, dachte sie und langte nach dem Holzriegel, um ihn vorsichtig aus der Halterung zu schieben.

Die Tür glitt langsam in den Raum und der hagere Leib der Wölfin schwebte hinterdrein. Tal stolperte einen Schritt zurück und stieß etwas von einem der niedrigen Schränkchen und sofort schoss der Höllengeist unter den Tisch und presste alles Licht von sich weg. Eine Zone der undurchdringlichen Finsternis entstand unter dem stabilen Möbelstück und Tal ging in die Knie und streckte beruhigend eine Hand aus. Sie grub in der feinstofflichen Welt nach den Fäden der Realität und entließ ihre Kraft, die Sprache der Tiere zu beherrschen in die kühle Luft des Zimmers. Vorsichtig sprach sie die Wölfin an, schnurrte beruhigende Laute, erhielt aber keine Antwort. Es verging eine Minute der Ewigkeit und schließlich lichtete sich die Finsternis unter dem Tisch doch ein wenig. Tal sah aus dem Augenwinkel die Silhouette des Nyghs im Türspalt und machte ihm ein Zeichen, nicht näher zu kommen. Instinktiv spürte sie die Verworfenheit dieses Geistes und erkannte die damit einhergehende Gefahr. Dann hörte sie ein seltsames Würgen und Keuchen unter dem Tisch und dann ein widerlich schleimiges Platschen.

Plötzlich schlitterte etwas längliches, lange Schleimfäden hinter sich herziehndes über die Holzdielen des Bodens und kam zuckend vor ihr auf. Es bewegte sich, war an einem ende zerfetzt und am anderen stülpte sich gerade ein langer, gefährlich bläulich schimmernder Dorn aus und verharrte dann reglos. Tal dachte zuerst an eine Art Schlange, oder einen Wurm, aber dann verstand sie, dass dieses widerlich stinkende Stück Fleisch, vor Kurzem noch Teil einer viel viel größeren Kreatur gewesen sein musste. Es war ein Tentakel mit einem Giftstachel am Ende. Des Nyghs Fluch, dachte Tal und kniff die Augen zusammen, um in die immer dünnere Finsternis unter dem Tisch zu starren.

Dort erlosch gerade grünes Feuer. Rippen brachen auf und ein Mann erwuchs aus dem Kadaver des Wolfsgeistes. Er stieß mit dem Kopf gegen die Tischplatte, stöhnte und fiel nach vorn. Glitschig von Amytorenblut und mit Resten des dornigen Wolfspelzes bedeckt, schlitterte er, bei halbem Bewusstsein unter dem Tisch hervor, in Tals ausgestreckte Arme.

 

»Sie hat den Amytoren getötet Kyon. Es ist fast, als hätte sie es für uns getan, denn warum hätte sie mir sonst den Gifttentakel vor die Füße werfen sollen?«

Es war früh am Morgen und Tal, Ughtred und Kyon hockten zusammen hinter dem Haus auf einem Baumstumpf und einem alten Schlitten. Kyon schüttelte den Kopf, weil er sich wie immer in dieser Situation überfordert fühlte. Ihm fehlte jede Erinnerung an die Werwölfin und er konnte nur glauben, was die Hexe und der Nygh ihm erzählten.

Ughtred nickte und murmelte: »Diese Wesen tun seltsame Dinge.«

Er rieb sich mit den Fingern über die Stirn und rutschte von dem Schlitten herunter. Dann sagte er: »Wie es aussieht, können wir an dieser Front ohnehin nichts ändern und ihr werdet kaum auf euer kleines Abenteuer verzichten. Ich werde in die Schmiede gehen und meine Arbeit beenden. Heute Abend wird der Schlüssel fertig sein. Wollen hoffen, es ist der richtige.«

 

Und tatsächlich, als sie am Abend am Tisch saßen und das Essen, dass ihnen eine der Nachbarsfrauen gebracht hatte aßen, holte Ughtred verstohlen einen Gegenstand aus der Tasche und legte ihn zwischen die Holzschalen und Töpfe. 

Er glänzte metallisch rot und sah für Tal und Kyon fremdartig aus. Smavarische Schlüssel sahen zumindest optisch ganz und gar anders aus. Dieses Ding hatte einen runden Griff und lief in eine kurze kreuzförmige Stange aus, an deren einem Holm ein winziger Knuppel saß. Er wirkte schwer und grob und Kyon hatte Zweifel, ob er irgendein Schloss öffnen würde. 

Ughtred nickte grimmig, denn er hatte die Gedanken des Silberwolfes gelesen und knurrte: »Wenn euer Vater sich nicht irrte, wird er passen. Ich habe meine Arbeit getan.«

Tal erwiderte: »Kaum genug Herr Dieb.«

Der Angesprochene rieb sich die Stirn und nickte. »Ich werde euch nicht allein mit dem Schatz von Undorn ziehen lassen, soviel ist sicher.«

Er nahm einen Schluck Gerstensaft und fügte hinzu: »Wir bleiben zusammen und am Ende bringe ich den Schatz nach Undorn zurück.«

Tal und Kyon grinsten beide übertrieben Wölfisch und der Nygh schüttelte genervt den Kopf und nahm einen weiteren tiefen Schluck aus seinem Humpen.

»Warum also nicht aufbrechen? Der Tag scheint mir so gut wie jeder andere«, sagte er.

Tal sah Kyon an, als wolle sie fragen: geht das überhaupt, aber der Barde stand ebenfalls auf und wandte sich wortlos der Hintertür der Schmiede zu. Das kleine Abenteuer, dachte er. Draiynspeere und Werwölfe, Lopen und was noch? – er war alles andere als guter Dinge und für ihn sah der Tag auch nicht annähernd so rosig aus, wie er es offenbar für den Nygh tat.

Draußen unterhielten sie sich noch eine Weile. Tal und Kyon setzten sich auf eine Holzbank neben einem Baumstumpf und die Hexe fragte den Barden, wie er sich fühlte, Kyons Verletzung war nicht ausgeheilt, aber er ging davon aus, dass der Nygh die Arbeit in Undorn übernehmen würde und nickte nur. Es würde gehen.

Schließlich kletterte Tal auf den Baumstumpf und hob die Faust gen Himmel. »Auf zu unserem kleinen Abenteuer«, rief sie und der Nygh schüttelte nur den Kopf, als sie herunter sprang und ihren Sturz mit einem durchaus eleganten Purzelbaum abfing und in einer Bewegung wieder aufstand.

 

Tatsächlich war der Morgen schön. Es herrschte noch etwas Nebel vom Vorabend und die Sonnen schlummerten noch am Horizont. Die Luft roch nach Frühling und überall zeigte die Natur ihr Erwachen. Auf dem Weg aus Dranought heraus, kamen sie an vielen Höfen vorüber und als sie die große Trinkhalle erreichten, entschieden sie, doch noch zu frühstücken. Sie setzten sich auf eine der Steinbänke und sahen den Nyghs bei ihren Unterhaltungen zu. Gerade kam Ughtred vom großen Feuer zurück, er war aufgestanden, um von dort Brot und Suppe zu besorgen, als ein anderer Nygh sich am Tisch vorstellig machte. Er verneigte sich und sagte höflich seinen Namen und den Grund seines Auftretens.

»Die Große Göttin mit euch, ich heiße Uthrand und ich bin ein Wollweber und ich habe ein Problem und wenn es anders wäre, würde ich euch nicht belästigen, aber ihr seid Hexe und Hexer und ich weiß nicht mehr weiter ohne Hilfe.«

Hexe und Hexer sahen den kleinen Mann verdutzt an und glichen ab, was sie mit ihren bescheidenen Kenntnissen der Landessprache verstanden zu haben glaubten.

Ughtred, Ughnor, Uthrand, alles so seltsame Namen, dachte Kyon und schüttelte den Kopf. Dann sagte er: »Ich bin Barde, kein Hexer.«

Tal lachte leise und sagte: »Wo drückt denn der Schuh Herr Nygh?«

Der Angesprochene wurde tatsächlich rot und stammelte etwas Unverständliches vor sich hin. Dann übernahm zum Glück Ughtred die Unterhaltung und befragte den Wollweber, was geschehen sei.

»Ite frisst kein Heu«, sagte der Befragte und Ughtred rollte mit den Augen. »Ist das deine Frau, dann wäre es ja kein Wunder oder?«

»Es ist mein liebstes Schaf und es isst nun kein Heu mehr.«

Es war Ughtred anzusehen, dass er mit seiner Geduld rang, aber Tal fragte: »Warum denn? Ist das Tier denn krank? Vielleicht kann ich ja wirklich etwas tun.«

Uthrand räusperte sich und schüttelte den Kopf. »Sicher ist sie nicht krank«, sagte er seltsam verdrossen.

Ughtred hakte nach: »Hat sie denn was ungewöhnliches gegessen?«

Der Gefragte nickte unsicher und sagte: »Vor einigen Tagen waren schon einmal Fremde hier in Dranought. Boten aus der großen Stadt Roan. Sie haben ihr etwas gegeben und  nun isst sie das Heu nicht mehr … also gar nicht. Immer dünner wird sie. Dabei war sie so prachtvoll.«

Er spielte mit seinem Wollpullover, der zweifelsfrei aus Schafswolle bestand und alle starrten das Kleidungsstück an, als beinhalte es die Antworten auf all ihre Fragen.

Dann sagte Tal in die Stille hinein: »Ach was, ich rede mal mit ihr.«

Nun starrten alle sie an, aber Ughtred wusste ja, dass die Hexe mit Tieren sprechen konnte, also nickte er und sagte, man solle aber keine Zeit vergeuden. Hopp hopp, ging es zu Uthrands Hof, wo sofort eine Gruppe von Schafen an das Gatter gelaufen kamen, um zu sehen, wen er mitgebracht hatte.

Kyon hielt sich anstandshalber zurück, er hatte es so gar nicht mit Tieren und beschloss, am Weg zu warten. Ughtred hingegen interessiert sich für die Sache. Er konnte die Beweggründe für die Handlungen der Silberwölfe nach wie vor nicht zuordnen und wunderte sich, dass die Hexe so bereitwillig helfen wollte. Am Ende würde er das Schaf noch von ihr retten müssen.

Tal deutete mit dem Kinn auf die Herde und fragte, welches denn nun das Besagte sei und dass sie doch alle sehr passabel aussähen, doch Uthrand schüttelte nur den Kopf, öffnete das Gatter und trat auf die kleine Wiese hinter seinem Haus.

Tatsächlich stand hier ein einzelnes Schaf und tatsächlich wirkte es ein wenig abgemagert. Sofort wirkte Tal ihre feinstoffliche Magie und griff nach der Gedankenwelt des Tieres. Es fiel ihr leicht, denn es war so, als ob das Schaf froh war, endlich jemanden gefunden zu haben, der es verstand.

»Warum isst du kein Heu, Schaf, es ist gut für dich«. fragte Tal und Ite antwortete nervös: »Das Andereeeeeeeee ist abeeeer beseeeeer für mich.«

Tal seufzte und sagte: »Was ist denn das Andere?«

»Eeeeeeeeees ist gut, leeeeeeeeeeckeeer und fein«, gab das Schaf begeistert zurück.

Da erboste sich die Hexe und rief: »Du Schaf wirst Heu essen, denn Schafe essen Heu! Iss das was du hast, sonst werden sie dich schlachten!«

Ite meckerte ängstlich und versuchte widerwillig einen Holm, den sie vom Boden aufgeklaubt hatte. Angewidert kauend murmelte sie: »Aber das Andereeeeeeee …«

Tal schimpfte noch eine Weile mit Ite dem Schaf und als sie sicher war, ihren Standpunkt und die Folgen weiterer Zuwiderhandlung klar zur Sprache gebracht zu haben, wandte sie sich dem Schäfer zu. Sie ließ die psionischen Bänder los und konzentrierte sich auf ihr Nygh, was gar nicht so einfach war, nach dem ganzen Gemeckere.

»Dein Schaf wird Heu essen Uthrand«, sagte sie überzeugt.

»Ite ist nicht mein«, konterte er und fügte dann lakonisch hinzu: »Sie lebt nur hier bei mir und gibt mir dafür ihre Wolle.«

Im ersten Moment musste Tal sich sehr zusammenreißen, denn sie hatte nicht die Nerven, sich mit der Philosophie der kleinen Leute auseinanderzusetzen, aber Ughtred nickte bestimmt und so wiederholte sie nur ihre Worte: »Das Schaf wir wieder fressen.«

Uthrand nickte freudig, schien aber noch nicht ganz überzeugt. Dennoch kramte er in seinen Taschen und hielt der Silberwölfin zwei Hand voll Goldwürfelchen und Gemmen entgegen. Diese starrte ihn an, war dann aber sofort geistesgegenwärtig genug, die dringend notwendigen Ressourcen an sich zu nehmen. Unter diesen Umständen, würde sie noch viele Schafe vom Hungertod retten. Sie überlegte kurz, was das ›Andere Essen‹ gewesen sein könnte, denn ihr kam ein praktisches Geschäftsmodell in den Sinn, aber dann beließ sie es bei der Freude über die soeben leicht erhaltenen Ressourcen.

 

Sie hatten sich bei Uthrand und Ite verabschiedet und wanderten nun im immer noch frühen Morgen einen kleinen Pfad aus Dranought hinaus. Der Weg führte sie nach Nordost und sie waren alle drei schweigsam. Dabei hatten sie nur leichtes Gepäck, da Ughtred den Weg gut kannte und der meinung war, sie würden noch vor Abend zurückkehren.

Als die Sonnen aufgingen, war der Wald von Undorn erreicht und schirmte sie vor der harten Strahlung ab. Einmal begegneten sie Landwächtern in leichten Rüstungen. Die vier Nyghs waren allerdings ordentlich bewaffnet. Sie trugen Armbrüste, Äxte und Lanzen und machten einen überaus wehrhaften Eindruck. Doch trotz ihres stählernen Auftretens grüßten sie die drei Wanderer freundlich und rieten Ughtred, seinen Silberwölfen doch den alten Grabhügel von Undorn zu zeigen. Die drei blieben betreten stehen und dann reagierte Ughtred und nickte höflich, ja, man wäre auf dem Weg dorthin, im Frühling sei es da ja auch besonders schön.

Arglos zogen die Krieger weiter. Sie waren auf dem Weg nach Hause und Ughtred schien darüber besonders beruhigt, denn man unterhielt keine dauerhafte Wache am Grab, sondern sah nur ab und an nach dem Rechten, und wenn sie jetzt gerade oben gewesen waren, würde zumindest heute niemand mehr stören. Er verstummte jedoch sofort und überdachte seine Worte. Stören, ja, er war es, der nach so vielen Millenien die Ruhe der Toten stören würde. Und für was? Für die Grillen zweier Silberwölfe. Ja, ja, für das Leben seines Vaters, versuchte er sich zu korrigieren. Schafe retteten sie für Gold und Steine. Er trat nach einem kleinen Findling und knurrte in seinen Bart.

 

Nach kaum zwei Stunden der Wanderschaft erreichten sie eine Anhöhe mit besonders schöner Aussicht über das Tal von Dranought. Man konnte von hier die vorderen Schutztürme und den Übergang des Gebirges in die weiten Marschlandschaften im Westen sehen. Richtete man seinen Blick jedoch gen Süden, wurde aus dem Horizont das schmale, grau-beige Band Draiyn Andileds. Bedrohlich bedeckte es alles Sichtbare in dieser Richtung. Die drei blieben stehen und Tal sah, wie Kyon sich an die Seite fasste. Die Speerwunde war noch nicht verheilt und ihm war eindeutig das Unbehagen ins Gesicht geschrieben, wieder in die Wüste hinaus zu müssen.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, hatte er plötzlich den Kristall seines Vaters in der Hand und suchte mit flirrenden Augen nach einer bestimmten Stelle. Er sah kurz wieder zum Horizont hinaus und dann legte sich der Text dünn und durchsichtig über das Landschaftsbild.

Leise las er vor: »… Um nun erneut zum Sandmeer zu gelangen, ist es gut, nach Westen auszuweichen. Viele Tage geht es hier im kühlen Waldesschatten und erst wenn südlich Felsengründe weichen führt der Pfad zur Wüstenei.«

Ughtred knurrte: »Die Ruine ist sicher nicht weit von der Marschgrenze entfernt. Sonst hätte das keiner von euch Silberwölfen schaffen können. «

Einen Moment lang sah Tal ins Licht der Sonnen hinaus, dann beschattete sie ihr Gesicht und sagte: »Er hat recht, Herr Baladenschmied. In der Tiefe der Wüste gibt es nichts für uns.«

Der Nygh löste sich von den düsteren Gedanken und machte Kyon ein Zeichen, er solle das Tagebuch seines tollen Vaters wegstecken und ihm folgen. Tal schon Kyon von hinten den Pfad hinauf, aber weder das eine, noch das andere konnte ihn aufheitern. Die Vorstellung von der Wüste war wirklich zu viel für ihn.

Als sie nach einigen Minuten wieder im Wald angekommen waren, zog eine Wolkenschar über den Himmel und verdunkelte die Umgebung. Ughtred knurrte, denn ihm wäre der Sonnenschein lieber gewesen, aber die beiden Silberwölfen waren mit dem Zwielicht zufrieden.

Schließlich deutete der Nygh voraus auf den schmaler werdenden Pfad und sagte mit ehrfurchtsvoller Stimme: »Undorn, das Grab der Alten. Hier ist es.«

Im ersten Moment konnten weder Tal, noch Kyon etwas erkennen, denn vor ihnen lag immer noch der Wald mit seinen trutzigen Bäumen, deren Äste in alle Richtungen abstanden und so ganz anders aussahen wie die schlanken Nadelbäume Kisadmurs. Doch dann sahen sie den sanften Hügel, auf den der Weg sich zuschlängelte und in der Dunkelheit war bald auch das Tor zu erkennen.

Undorn war nichts weiter als ein großer, nicht sonderlich hoher Grabhügel, auf dem darüber hinaus Dutzende von uralten und entsprechend mächtigen Bäumen wurzelten. Würde man diesen Ort von der Rückseite aus besuchen, wäre die Chance, seine Bedeutung zu erkennen, praktisch ausgeschlossen. Man könnte sich oben niederkauern und sein Frühstück genießen, ohne je zu erfahren, dass unter der Rastdecke die ältesten Könige Korezuuls vermoderten. Nur auf der Dranought zugewandten Seite, befand sich eine flache Stelle, die man als Wand bezeichnen könnte, und genau hier führten vier niedrige Treppenstufen aus Stein zu der durchaus beachtlichen Tür.

Für smavarische Verhältnisse war das Tor von Undorn natürlich eher unauffällig. Das große Tor, welches in die Zitadelle von Shishney führte zum Beispiel, maß über zwölf Meter in der Höhe und war gut fünf Meter breit. Seine zwei Flügel liefen nach oben hin spitz zu und bestanden ganz und gar aus dem Material, aus dem auch die Kiehle von Schwanenfedern waren. Es schimmerte unnatürlich und war nur zum Teil opak. Es gab weder Schlüssel noch Funktion, und seine Scharniere bestanden aus purem Silber. In jedem der beiden Flügel war der Geist eines Smavari gebunden worden. Dies war natürlich freiwillig geschehen. Beide hatten sich exakt aufeinander eingestimmt und waren zu einer liebevollen und immerwährenden Einheit verschmolzen. Ihnen allein oblag es, die Torflügel mittels ihrer psionischen Kräfte zu öffnen oder, wenn sie dies entschieden hatten, geschlossen zu halten und mit einem unüberwindlichen Schild zu stärken. Ihre Entscheidungen konnte nicht einmal die Herrin Shishney erzwingen. Niemand kann dies. Sie öffnen und schließen, wie es ihnen richtig erschien. Natürlich taten sie es den Belangen der Obrigkeit zu Gunsten, doch es konnte tatsächlich vorkommen, dass sie eine Fehlentscheidung treffen und das Tor geschlossen blieb, wenn es eigentlich hätte öffnen sollen. Dann bleibt nichts übrig, als zu warten oder höflich auf sie einzuwirken, ihre Entscheidung zu überdenken. Allerdings spräche man in einem solchen Fall im wahrsten Sinne des Wortes gegen eine Wand, denn die Geister von Smavari, die in Gegenstände eingebunden worden waren, unterhielten sich nicht mehr, sie hörten zu, aber sie redeten nicht.

Undorn war anders. Es war gleich zu erkennen, dass dieses Tor unbeseelt und von mondäner Beschaffenheit war. Es bestand aus Kupfer und wie ein Gitter aus Stahlschienen auf. Die Oberfläche war grün und dunkel angelaufen und überall befanden sich Flechten und Moose. Von außen waren keine Scharniere zu erkennen. Wer auch immer dieses Tor geschaffen hatte, es war seine Absicht gewesen, es stabil zu bauen und dies schien ihm gelungen zu sein.

Ughtred war als erstes die vier Stufen hinaufgegangen und legte seine Hand auf das grünspanige Kuper. Er Strich liebevoll darüber und berührte die eher kleine Erhebung, in der sich das Schlüsselloch befand. Kreuzförmig, wie im Tagebuch beschrieben. Als Junge hatte er nie darauf geachtet. Er war oft hier oben gewesen, hatte hier mit seinen Freunden gespielt oder Pilze gesammelt. Er hatte mitten auf dem Hügel das erste Mal ein Mädchen geküsst. Aber auf die Öffnung für den Schlüssel hatte er tatsächlich nie geachtet.

Der Legende nach, hatten die Alten die Grabhalle mit den Helden der Vorzeit gefüllt. Doch Undorn war nicht sonderlich groß. Vielleicht zwanzig Leiber, nicht mehr lagen hier unter dem feuchten Waldboden. Als alle Plätze belegte gewesen waren, hatte man den Hügel mit giftigen Spore geflutet, die Tür geschlossen und den Schlüssel in eine tiefe Erdspalte irgendwo im DranˋOrad geworfen. Kein Nygh wäre jemals auf die Idee gekommen, darüber nachzudenken, dieses Tor jemals wieder zu öffnen.

Ughtred hatte auch noch nie zuvor von eine Schatz innerhalb des Hügels gehört. Ja, es war durchaus möglich, dass man dem einen oder anderen Helden etwas von seinem Hab und Gut gelassen hatte, aber nur wenn es sich für die Gemeinschaft als unbrauchbar erwiesen hatte. Es war in ihre Kultur üblich, die materiellen Besitztümer von Verstorbenen auf die Gemeinde zu verteilen. Jeder durfte sich ein Stück nehmen, egal wie gut er den Verstorbenen kannte und nur was am Ende übrig blieb, würde man dem Grab überantworten. Wenn es niemand anderes wollte, musste es eine ideellen Wert für den Toten haben den wahrscheinlich nur er selbst kannte.

In der Vorstellung Ughtreds war es sehr merkwürdig, dass damals niemand diesen Kristall hatte haben wollen. Eine Karte der ganzen Tia Fe, die alle Schätze dieser Welt anzuzeigen vermochte, das war ja wohl was. Andererseits war sein Volk in solchen Dingen recht eigen. Die Wissenswahrer gaben viele Dinge dieser Art nicht für die Allgemeinheit frei. Er hatte das am eigenen Leib gespürt. In den Archiven bei der Ratshalle im ewigen Stein lagerten sie tausende von Kristallen, Schriftrollen und Büchern und erlaubten es niemandem, sie zu lesen. In diesem Wissen läge eine große Gefahr. Man müsse sich nur die Wüste ansehen, um zu begreifen, dass übermäßiges Wissen zu Tod und Verderben führte. Er hatte dies nicht akzeptieren können. Mehr durch Zufall hatte er einen geheimen Zugang zu den Hallen des Wissens gefunden und war dort eingedrungen. Er hatte gelesen und sich ab und an eine der Kristalle geborgt, um daheim weiter lesen zu können. Nun nannten sie ihn Dieb.

 

Er sah sich nach den Silberwölfen um und sagte dann barsch: »Das ist es.«

Die beiden sahen sich an und schließlich fragte Tal: »Gibt es hier oben noch andere Tore wie dieses?«

Er rieb sich über die Stirn und holte den Schlüssel aus seinem Wams. Er hatte ihn an einer dicken Schnur um den Hals getragen und diese hatte seinen Nacken wund gerieben. Er hätte eine weiche Schnur nehmen können, aber das hatte er nicht gewollt. Nun nahm er den Schlüssel ab. Er würde ihn die ganze Reise über an diesem kratzenden Ding um den Hals tragen. Es würde ihn daran erinnern, dass er Undorn einen Schwur geleistet hatte. Er würde alles, was er jetzt daraus hervor holte, wieder hierher zurückbringen. Im Laufe der Zeit würde sein Nacken verheilen, aber seine Erinnerung an den Schwur würde frisch bleiben. Er würde den Schlüssel ein zweites Mal benutzen und seine Schuld den Toten gegenüber begleichen.

Zögernd hob er die Hand mit dem schweren Kupferschlüssel und berührte mit dessen Ende das Metall des Rahmens. Er klopfte dreimal damit gegen eine der Streben und lauschte einen Moment, als warte er darauf, tatsächlich von innen eine Antwort zu erhalten. Doch dann überwand er seinen Unmut, steckte den Schlüssel in die kreuzförmige Öffnung und erkannte sofort, dass er passte. Ein letztes Mal dachte er über die Drehrichtung und eine eventuelle Kombination nach, aber dann drehte er den Schlüssel langsam nach rechts.

Er lief, wie er erwartet hatte absolut widerstandslos und leicht. Nach zehn Umdrehungen gab es ein leises Klacken. Etwas in der Tür war direkt unter dem Schlüsselloch nach unten gefallen. Die Tür war entriegelt.

Tal sagte: »Und wenn ich doch in North dringe und mit dir komme Nygh?«

Der Angesprochene drehte sich nicht nach ihr um, murmelte aber mit Nachdruck in der Stimme: »Ja, gute Idee, dann wird dein armer Bruder sich in den Dämpfen auflösen und endlich Ruhe finden.«

Die Hexe schwieg, ab er beide Silberwölfe machten einen Schritt von dem Totentor weg, denn Ughtred hatte es nur einen Spalt weit aufgezogen und schon roch die Luft nach etwas seltsam Spitzem, dass ihre Atemwege kitzelte. Der Nygh schnupperte und nickte. Er kannte den Totenpilz und wusste um seine tödlichen Sporen. In diesem Grab, lebte nichts mehr, nicht einmal ein Wurm.

Er straffte die Schultern und zog das Tor weit genug auf, um sich durch die Öffnung zu zwängen. Er hatte keine Lust, auch nur eine Sekunde zu lange hier oben zu verweilen. Am Ende kämen die Waldhüter doch noch zurück und dann würde diese Unternehmung ein jähes und für alle Beteiligten unerfreuliches Ende nehmen.

Als er eintrat, füllten sich auch seine Lungen mit den Sporen des Todes und er konnte fühlen, wie sein Körper sich gegen die Erreger zu wehren begann. Er verspürte keine Angst, aber er wusste auch, dass die Pilze ihm nichts anhaben konnten. Dennoch stieg die Angst in ihm immer höher, als er in die Grabkammer eindrang. Wenn er einatmete, überkam ihn ein stechender Schmerz und veranlasste ihn dazu, nur noch flach zu atmen. Er sah sich um und seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Dann stellte er fest, dass es gar nicht so dunkel war. Winzige, glimmende Pilzköpfe verwandelten die Grube in ein Zauberland aus Wurzeln und toter Erde. Die Bäume hatten sich durch die Decke ins Erdreich gegraben und hingen nun als feine Fäden von der Decke. Und er hatte Recht behalten. Nichts lebe hier unten. Es gab nicht einmal Käfer oder andere kleine Tiere. Einfach nichts konnte diese Konzentration des Pilzgiftes überleben – nur die steinernen Lungen der Skergen.

Vom Eingang zur ersten Liegestelle waren es ein paar Schritte, doch dann kam er zu einem schlichten Sockel, auf dem zwei Skelette lagen. Es war noch Haut an den Knochen und er erkannte in einer der Leichen einen Mann und in der anderen eine Frau. Eng umschlungen ruhten sie hier für die Ewigkeit. Direkt dahinter und gegenüber gab es weitere Sockel mit Toten. Von tiefer Ehrfurcht erfüllt, ging er weiter und zog den Kopf ein, um einer starken Wurzel auszuweichen. Dahinter gab es noch mehr Sockel und Skelette und dann lag da am Boden ein Schädel. Eine der Wurzeln musste ihn von seinem Ruhebett geschoben haben. Ughtred bückte sich und hob ihn vorsichtig auf. Er fand das dazugehörige Skelett und legte den Schädel behutsam dazu. Dann erblickte er etwas golden Glänzendes zwischen den Knochen.

Mit vorsichtigen Bewegungen griff er danach und zog eine unterarmlange Klinge hervor. Er blinzelte und schlug das Kurzschwert gegen seinen Schenkel, um den Dreck abzuschütteln. War dies mit Absicht geschehen? Er hob das Schwert an. Es war wirklich sehr alt. Seine Klinge, der Griff und die Berge bestanden aus Messing. Niemand würde heute eine Waffe aus diesem Material schmieden. Ein Hieb mit einer Stahlwaffe und das Messing würde zerbersten. Aber Ughtred kannte die alten Sagen. Diese Klinge würde alles Untote fernhalten und sogar in Brand stecken. Die alten Helden hatten sie ihm gegeben. Wenn er Undorn verließ, um in der weiten Welt ein Abenteuer zu bestehen, würde sie ihm helfen, den Kristall zurückzubringen. Er musste keine Sekunde länger darüber nachdenken. Dieses Schwert würde seinen Schwur kräftigen.

Festen Schrittes und das Brennen in seinen Lungen ignorierend ging er bis ans Ende der Grabkammer. Hier gab es einen winzigen Sarg, der höchstens für ein Kind gereicht hätte. Der Sargdeckel bestand aus Stein, war aber im Laufe der Zeit zerbrochen und ins Innere gefallen. Er hob zwei der größeren Platten heraus und griff in den Dreck im Sarg. Hier gab es keine Kinderleiche und es hätte ihn auch gewundert, wenn es so gewesen wäre. Doch dann stießen seine Finger auf etwas anderes hartes und er griff zu. Als er die Hand hob, spürte er schon den neuronalen Sog eines Wissenskristalls und ehe er es sich versah, zeichnete der Stein Linien und Farben an die irdenen Wände von Undorn.

Vor Ughtreds Augen bildeten sich Seen, Wälder, Wüsten und Gebirge. Immer feiner wurden die Landstriche und er forschte, suchte und fand. Als er schließlich den Norden entdeckt hatte, flog er über Korezuul hinweg und dann nach Dranought und in den DranˋOrad bis nach Undorn und er sah die Ruhestätte der alten Helden.

Blinzelnd löste er sich von dem Stein und ließ die Bilder in ihn zurückkehren. Dann wandte er sich zum Gehen. Es war Zeit, das Grab zu verlassen.

 

»Im Tagebuch nannte es Lonkaiyth das Aiynari dan Tiba Fe, die virtuelle Karte der Welt«, sagte Tal.

Sie saßen zu dritt um den kleinen Tisch im Hauptzimmer der Schmiede und sprachen mit gedämpften Stimmen. Dem Schmied über ihnen ging es deutlich besser und sie wollten vermeiden, ihn aufzuwecken.

Kyon nickte und sagte: »Soweit ich das verstehe, zweit uns diese Karte die Wegstrecken, die mein Vater in seinem Tagebuch erwähnt.«

Er griff in die Luft über dem Tisch und zog mit den Fingern einen Punkt auf der Karte größer. Die nördlich Grenze der Wüste wurde immer deutlicher und schließlich war der DranˋOran und ein weiterer Berg westlich davon zu erkennen. Direkt unter dem namenlosen Berg befand sich ein Eintrag namens AngˋRin. Genau hier war laut Tagebuch der nächste Anlaufpunkt der Unternehmung. AngˋRin, eine alte smavarische Ruine. Man hatte versucht, sich hier zu etablieren, doch die Wüste und ihre Bewohner hatten die Wölfe nicht in ihrem Revier geduldet und alle die nicht freiwillig gegangen waren ausgelöscht. Heute ist AngˋRin ein Ort des Todes.

»Da ist es«, sagte Kyon. Mitten in der Wüste.

Tal lachte kokett und erwiderte: »Das ist knapp über der Grenze Kyon. Draiyn Andiled ist riesig, das hier ist noch fast Korezuul.«

Er schüttelte verkniffen den Kopf, aber dann sagte Ughtred: »Sie hat recht Barde. Wenn wir wie im Tagebuch beschrieben nach Westen ziehen und in der Marsch bleiben und erst hier«, er deutete auf eine Stelle am virtuellen Berg, »nach Süden abbiegen, sind es höchstens zwei Tage bis zu der Ruine. Das sollte zu schaffen sein.«

Kyon wandte sich ab und rieb sich die Seite. Die Draiyn waren gefährlich, so viel war sicher. Noch eine Begegnung mit ihnen würden sie vielleicht nicht überleben. Er schüttelte den Kopf.

»Zwei Tage sind machbar. Wir rüsten uns besser aus«, sagte Tal und damit war die Sache für sie erledigt.

 

Am nächsten Tag ging Tal zu einer Alchemistin des Ortes und tauschte alchemistische Zutaten. Danach besuchte sie Bilke, die Heilerin und erhielt weitere Dinge die sie brauchte. Als sie jedoch immer mehr eintauschen wollte, gingen ihr die Ressourcen aus. Doch sie musste nur kurz überlegen, wie sie mit diesem Problem umzugehen hatte. Sie ging kurzerhand zur Schmiede zurück, zwängte sich erneut die Treppe hinauf und kroch neben das Bett des Schmiedes.

Sie besah sich die Wunde und nickte. 

»Sieht gut aus, Herr Schmied«, sagte sie lakonisch.

Ughnor nickte und wollte aufstehen, aber die Hexe drückte ihn zurück ins Bett. Er protestierte und erklärte sich für genesen, aber sie sagte: »Nur ich entscheide, wann diese Wunde verheilt ist.«

Er sah sie an. Dann sagte er: »Du willst etwas von mir. Du wirst mich bezahlen lassen, für meine Genesung.«

Sie nickte und sagte: »Du hast sicher schon begriffen, dass dein Sohn uns eine Gegenleistung versprochen hat. Eine Gegenleistung für deine Heilung.«

Ughnor nickte und machte ein Zeichen, dass sie fortfahren sollte.

Also sagte sie: »Wir werden weit reisen und es ist gefährlich in der Wildnis. Also brauchen wir Ressourcen, um uns entsprechend auszurüsten. So ist das.«

Ughnor nickte. »Also gut, ich habe verstanden und ja, ich will helfen. Sie hinter dich, da im Regal liegt eine Kiste. Nimm sie.«

Tal tat wie ihr geheißen und öffnete die schwere Kiste. Im Inneren befanden sich in einem dunkelroten Öltuch vier kurze Einhandmesser. Sie waren von hervorragender Schmiedekunst und die Materialien hätten kaum besser sein können.

»Ich habe sie nur zum Spaß gemacht, um zu testen, ob ich es kann. Sie sind gut, nicht wahr?« sagte der Schmied.

Langsam nahm Tal drei der Messer aus der Kiste und ließ sie in ihre Tasche gleiten. Das vierte beließ sie darin. Dann stellte sie die Schatulle zurück. Der Schmied sagte, sie solle sie ruhig alle vier nehmen, aber die Hexe beließ es dabei.

Wortlos zog sie sich aus der Kammer zurück. Sie hatte genug. Mehr würde sie nicht brauchen und im Grund würde Ughnors Sohn ja für ihr Hiersein bezahlen. Alles zu nehmen, war nicht ihre Art. Welpe, wer alles nimmt, erzeugt Wüsten – die Worte ihrer Mutter gingen ihr durch den Kopf. Sie wollte den Schmied nicht zur Wüste machen.

 

Am nächsten Abend war der Schmied aus seiner Kammer herunter ins Esszimmer gekommen und saß bei seinem Sohn und dessen Gäste. Er fragte, wohin diese Reise gehen würde, aber Ughtred erklärte ihm, dass dies nichts sei, über das sie reden würden. Es brauchte eine Weile, bis der Schmied dies akzeptierte, doch nach einer Weile sagte er nur: »Bringt mir meinen Sohn zurück.«

Kyon und Tal sahen sich an. Dann sagte die Hexe: »Das werden wir Herr Schmied.«

Kyons Blick wanderte zu einem der Fenster und dann hinaus auf die Straße. Es war dunkel. Hier in der Stadt der Nyghs, bedeutete dies nichts. Aber draußen, in der Wildnis, da lauerten Gefahren, die sie sich jetzt und hier nicht einmal im Entferntesten vorstellen konnten. Wie sollten sie dem Alten gewährleisten, seinen Sohn zu schützen? Im Gegenteil, aus seiner persönlichen Sicht war Ughtred der, auf den er selbst hoffte, wenn es hart auf hart kommen würde.

Als er seinen Blick wieder den anderen zuwandte, stellte er erschrocken fest, dass sie ihn alle anstarrten. Hatte er etwas nicht mitbekommen?

Tal sagte: »Ihr auch Herr Barde, oder?«

Ergeben nickte er, denn er wusste ja, dass er nun auch versprechen sollte, den Nygh zu schützen. Seltsam, bei den Lopen war es ihm so einfach gefallen. Aber das war auch vor Draiyn Andiled und den Speeren der Insektenmänner gewesen. 

 

Es vergingen zwei Tage und der Schied genas zusehends. Seine Nachbarn, Kerzenzieher und Seilmacher und ein Waldläufer, freuten sich und brachten jeden Tag so viele Speisen, dass sich Ughtred um nichts weiter kümmern musste. Auch die Heilerin Bilke war zufrieden mit dem Verlauf und lobte die Heilkünste der Silberwölfe. Über Ughtreds Mutter hingegen sprach sie nicht. Er überlegte, ob er sie besuchen sollte, aber dann dachte er an die Probleme, die ihm nach Dranought gefolgt waren. Das Wolfsding in dem Barden, die düstere Zauberkraft in der Hexe, diese Dinge wollte er von ihr fernhalten. Er war ebenfalls traurig, nicht mit seinem Vater sprechen zu können und verbarg das gefundene Kurzschwert. Sie hatten ihn Dieb genannt, doch auch jetzt noch sah er sich nicht als solchen. Er würde den Schlüssel erneut benutzen, soviel stand fest.

Mehrfach sprach er mit seinem Vater. Ughnor wollte wissen, wohin sein Sohn zu reisen gedachte und was er für die Fremden tun solle. Der ältere spürte instinktiv, dass sein Sohn ihm nur nichts von seinen Aufgaben erzählen wollte, weil er sicher war, dass sie ihm nicht gefallen würden. Es war eine sehr beklemmende Situation, ausweglos und voller Gefahren – wie die Wüste, dachte Ughtred.

Am Abend hatte er gerade den Tisch abgedeckt und sein Vater unterhielt sich mit dem Barden. Dieser hatte den Schmied nach Pfeilen gefragt und Ughnor hatte ohne zu zögern eingewilligt, ihm welche zu bauen. Überhaupt hatte er von sich aus den Silberwölfen weitere Ressourcen zugesprochen. Er wollte die Unternehmung, um was auch immer es dabei gehen mochte, so gut es ging unterstützen.

Tal trat neben Ughtred und flüsterte: »Ihr habt doch hier sicher Bücher, eine Bibliothek oder etwas vergleichbares oder?«

Um ein Haar wären dem Nygh Teller und Schüsseln zu Boden gefallen. Was war dies nun wieder? Reichte es nicht, dass sie ihn zum Grabräuber gemacht hatten? Es waren genau die Hallen des Wissens gewesen, die ihm zum Verhängnis geworden waren. Zuerst hatte er die Wissenswahrer höflich nach Büchern über die Welt befragt. Sie hatten wissen wollen, wozu er sie lesen wollte, und er hatte gesagt, des reinen Vergnügens wegen. Wissensdurst sei häufig eine schlimme Krankheit, hatten sie gesagt.

Dann, an einem Sommertag vor einigen Jahreszeiten, hatte er die Wälder über Dranought durchstreift und als ob die Große Mutter ihn geführt hätte, war er zum alten Ausfallschacht über der Stadt gekommen. Er hatte diesen Ort vorher noch nie besucht, aber er kannte ihn von Erzählungen her. Warum er ausgerechnet hierher gekommen war, konnte er wirklich nicht mehr sagen, aber als er ihn gefunden hatte, war ihm sofort bewusst, dass er hier ein Abenteuer erleben würde.

Die Abdeckung des Schachtes war vor langer Zeit eingestürzt und in die Tiefe gefallen. Ughtred hatte den Schaden begutachtet, war um die niedrige Mauer gelaufen und hatte nach einer Möglichkeit hinunter zu steigen gesucht. Früher hatte es zweifellos eine Treppe gegeben. Die Öffnungen in dem runden Schacht für die Stützbalken waren nicht deutlich zu erkennen. Doch die Balken waren längst mitsamt der Stufen und dem Geländer aus ihren Halterungen gefallen und in die Tiefe gestürzt.

Er war an den Rand der Klippe zur Stadt hin gegangen und hatte hinunter gesehen. Über einhundert Meter, vielleicht sogar einhundertundfünfzig, ging es hinunter. Erst dann kamen die ersten in den Stein geschnittenen Gebäudeteile. Von hier oben aus betrachtet, lag die Ratshalle ein wenig rechts, die Halle des Wissens direkt unter ihm und ein großes Vorratslager links davon. Weiter unten und noch etwas weiter links befand sich eine Kriegerunerkunft, die aber schon lange nicht mehr benutzt worden war. Heute lebten die Wächter der Stadt bei ihren Familien in bequemeren Häusern.

Der Schacht selbst befand sich nur zehn Schritte von der Klippe entfernt, eine gähnende Öffnung im gras- und moosbewachsenen Stein des Berges.

Als er das nächste Mal herkam, hatte er eine lange Strickleiter mitgebracht. Zum ersten Mal war er hinunter gestiegen, was sich als keine einfache Aufgabe erwiesen hatte. Hunderte von Stufen und über dreißig Meter hatte er überwinden müssen und dann war die Strickleiter immer noch zu kurz. Er hatte sie versteckt und war anderen Tags erneut zur Stelle gewesen und dieses Mal hatte er einen seitlichen Einstieg erreicht. Er schätzte die Tiefe des seitlichen Tunnels auf ungefähr fünfzig Meter. Leider hatte der Fluchtgang jedoch ein weiteres Hindernis aufgeboten. Nach einigen Metern, die der Tunnel schräg nach unten in den Fels gegangen war, stoppte eine verschlossene Eisentür Ughtreds Forscherdrang. Doch er war angehender Schmied gewesen und auch für diese Tür, hatte er einen Schlüssel geschmiedet. Endlich hatten ihm die Hallen des Wissens offen gestanden. Von der Türe aus waren es nur einige Treppen hinunter, bis zu den ersten schmalen Hallen, in denen die Wissenswahrer ihre Schätze lagerten. Und wie hatte sein Herz gejauchzt, als er diese Schätze bestaunte.

Anfangs war er nur ab und an in den Schacht geklettert, hatte sich auf eine Steinstufe gesetzt und eine alte Schriftrolle studiert. Er hatte gelernt, wie man verschiedene Pflanzensorten miteinander zusammenwachsen lassen konnte, um besseres Obst zu erhalten. In einem Kristall, hatte er gelesen, wie die Kräfte der Physik kompensierbar waren. Es gab Beschreibungen von Umlenkrollen, die so winzig gebaut werden konnten, dass man damit eine Armbrust spannen konnte. Er hatte über das Land gelesen, dass den größten Teil seiner Welt bedeckt hatte, bevor die Wölfe gekommen waren und es in eine Wüste verwandelt hatten. Er hatte alles gelesen und dies hatte ihn wirklich verändert, hatte ihn zu dem Mann gemacht, der er jetzt war.

Irgendwann in der Kältezeit, wäre er beinahe von der Strickleiter gestürzt. Die Seite hatten sich gelockert und eine der Streben war aus ihnen herausgerutscht und alles war glatt und kalt gewesen. Es war nicht wirklich etwas passiert, denn Ughtred hatte sich auffangen können, aber der Schrecken, über einhundertfünfzig Meter in die Tiefe des Berges zu fallen und wahrscheinlich niemals wiedergefunden zu werden, ließ ihn erschaudern. Da hatte er beschlossen, sich die Bücher und Kristalle, die er sich gerade vorgenommen hatte, auszuleihen. Anfangs waren es nur wenige, doch mit der Zeit wurden es mehr, da er es liebte mit Querverweisen zu arbeiten und immer wieder von einem Kristall zu einer Rolle und dann wieder zu einem der dicken Bücher zu wechseln. Und tatsächlich, brachte er die Dinge, die er aus der Halle des Wissens geliehen hatte auch immer wieder in diese zurück.

Doch eines Tages, es war noch in derselben Jahreszeit, in der er begonnen hatte, Kristalle und Bücher zu leihen, stolperte er auf dem Weg zum Berg und eines der ganz großen Bücher rutschte ihm aus der Umhängetasche. Mehrere Passanten auf der Straße sahen dieses Schauspiel und dann waren plötzlich die Stadtwächter um ihn herum gewesen. Es hatte weder einen echten Grund, noch eine Chance zum Leugnen gegeben. Von da an nannten hatten sie ihn Dieb genannt.

 

Ughtred blickte Tal an. Er hob die Schultern und sagte auf Smavarisch: »Wie wichtig ist es euch?«

Die Hexe sah zur Decke der Schiede hinauf und hob die Schultern. Dann zählte sie aus dem Tagebuch auf: »Draiyn, Untote, Riesen, Drachen und eine Reise ins Ungewisse – wie wichtig kann es da sein, sich vorzubereiten Herr Schmied? Ich denke, wir sollten alles tun, um diese Unternehmung zu einem guten Ende zu führen. Gibt es diesen Zugang noch?«

Der Nygh nickte. Man hatte ihn damals nicht befragt und er hatte nichts gesagt. Es hatte gereicht, ihm den Titel Dieb aufzuerlegen. Er hatte die Bücher zurückgegeben und war seither nicht wieder in den Schacht hinunter gestiegen. Aber sie hatte nicht unrecht. Diesmal würden sie ja auch nichts aus der Halle mitnehmen, dafür würde er in jedem Falle sorgen.

»Es ist nicht ungefährlich und ich war lange nicht dort oben. Es gab eine Strickleiter, aber vielleicht haben die Mäuse das Seil gefressen«, sagte er in der Hoffnung, die Hexe würde sich umstimmen lassen, aber natürlich war dem nicht der Fall. Stattdessen sagte sie nur: »Brechen wir auf. Den Barden lassen wir hier. Wahrscheinlich kann er ohnehin nicht lesen.« Sie lachte ihr böses kleines Lachen und Ughtred schüttelte nur den Kopf. Warum er, fragte er sich zum bestimmt eintausendsten Male.

 

Der Wind pfiff ihnen um die Ohren, als sie am Felsgrat über Dranought standen. Tals Mantel flatterte und sie hatte Mühe, ihre Kapuze an Ort und Stelle zu halten. Vorsichtig stellte sie sich seitlich, um dem Licht der Zwillingssonnen nicht voll ausgesetzt zu sein, und spuckte dann in hohem Bogen zur Stadt hinunter. Sie lachte und wandte sich dann dem Nygh neben ihr zu, der fröstelnd die Arme um sich geschlungen hatte.

»Die Strickleiter ist noch brauchbar, soweit ich das sagen kann«, sagte er barsch und ging zu der niedrigen Umrandung des Schachtes. Dann nahm er die Seile und 

In weißer Voraussicht hatte er eine Sicherungsleine aus einem kurzen Stück Seil und zwei Haken mitgebracht. Er reichte es der Hexe und zeigte ihr, wie sie es durch ihren Gürtel ziehen konnte. Von einer Sprosse zur nächsten eingehakt, wäre sie nun vor einem Absturz gefeit.

Sie nickte artig, zog das Ding durch ihren Gürtel und hob dabei umständlich ihren ohnehin seitlich offenen Rock und gab dabei frei, was es eben unter Hexenröcken zu sehen gab. Ughtred war unterdessen über den Rand geklettert, hatte zurückgeblickt, sah, was es zu sehen gab und griff ins Leere.

Als er die nächste Sprosse erwischte, war der Ruck stark genug, diese aus der Schlaufe zu ziehen und er stürzte ab. Mit einem erschrockenen Schrei rutschte er die Strickleiter hinunter und fiel gut und gerne sechs Meter in die Tiefe. Dann drang sein linker Arm durch eine der Sprossenquadrate. Der erneute Ruck, als Ughtred mit der Achsel auf die Sprosse traf, ließ ihn schmerzhaft aufschreien. Seine Schulter gab ein ungutes Krachen von sich und Tal dachte im ersten Moment, er hätte sie sich gebrochen. Doch dann lauschte sie und hörte nur das Keuchen und leise Fluchen des kleinen Mannes.

Sie beugte sich über den Rand und sah ihn unter sich an der Strickleiter hängen. »Wie geht es dir?« rief sie hinunter und wollte sich schon an den Abstieg machen, um ihm zu helfen.

Der Nygh fluchte erneut und rief nach oben: »Arm ausgekugelt. Schulter, meine ich.«

»Ich komme«, rief die Hexe und hob eins ihrer langen, schlanken Beine über die Brüstung.

»Naaah«, maulte der Nygh. »Muss das erst richten.«

»Wie soll das gehen, da unten zwischen den Seilen?« Tal versuchte etwas zu erkennen, aber Ughtred hatte angefangen sich aus der Strickleiter zu entwirren und sie konnte nicht genau sehen was er tat. Zumindest schien er ein weiteres Stück Seil zu benutzen und seinen Arm zu verbinden. Warum hatte er eigentlich keine Sicherung benutzt. Sie spielte mit den beiden von ihrem Gürtel hängenden Haken und stellte ihm die Frage, erntete aber nur einen weiteren Fluch, der irgendetwas mit den Sekundärgeschlechtsorganen der großen Muttergöttin der Nyghs zu tun hatte.

Im Schacht hatte Ughtred unterdessen ein kurzes Band aus seiner Tasche gezogen und es fest um das Handgelenk des verletzten Armes und einem der Zugseile der Strickleiter gebunden. Dann stieg er so weit hinunter, bis sein Arm über ihm ausgestreckt war. Dies dauerte sehr lange, denn um in diese Position zu gelangen, musste er durch die Hölle gehen. Die Schmerzen brachten ihn mehrmals an den Rand der Besinnungslosigkeit, doch als er es endlich geschafft hatte, lenkte er seine Gedanken erneut auf das, was er unter dem Rock oben gesehen hatte und ließ los. Er stürzte diesmal nur wenige Zentimeter, doch der Ruck genügte seinen Arm zu strecken und die Schulter in die richtige Position zu bringen. Es krachte erneut und er schrie. Dann klammerte er sich an die Streben und atmete tief ein und aus und versuchte wieder Herr seiner Sinne zu werden. Verdammte Hexe, konnte sie keinen Lendenschurz unter ihren Röcken tragen wie jedes normale Weib? Wahrscheinlich hatte sie das vorhin mit Absicht getan. Hexen taten eben, was Hexen taten und es gab ja eindeutig einen Grund, warum man sie fürchtete.

Er drückte die Stirn gegen den Holm der Leiter und presste zwischen seinen Lippen hervor: »Ich steige weiter ab.«

Von oben kam keine Antwort, aber er konnte förmlich die starren Blicke ihrer hellen, wässrig grauen Augen auf seinem Rücken spüren.

 

Der Weg durch den Tunnel erschien Tal wie die Enthüllung eines lange gehüteten Geheimnisses. Es roch nach Abwasser und altem Schmutz und sie musste sich zusammenkrümmen, kratzte aber dennoch mehrmals mit dem Rückgrat über den Stein und tat sich weh. Sie hatte sich extra dünn eingekleidet und auf alles verzichtet, was ihr zusätzliche Probleme hätte bereiten können und trotzdem machte ihr das Nyghgelass mit seiner scharfkantigen Enge Schwierigkeiten.

Vor ihr ging der Nygh und selbst für ihn war dieser Weg alles andere als komfortabel. Schließlich kamen sie an die kleine Pforte, von der er gesprochen hatte. Er zückte den beschriebenen Schlüssel, öffnete den Durchgang und keine fünf Minuten später fand sich Tal in einem sehr schmalen, aber zum bersten mit Büchern, Schriftrollen, Steintafeln und Kristallen gefüllten Raum wieder. Im Grund handelte es sich eher um einen langen Gang, der dem Lauf der Klippe folgend angelegt worden war. Auf der Seite nach Dranougth hin, gab es sehr schmale Lichtöffnungen, die nachträglich mit dicken Glasquaderen verschlossen worden waren. Das Material war so dick, dass man die Außenwelt nur noch erahnen konnte. Alles war verzerrt und unwirklich schief. Die andere Seite des tunnelartigen Raumes war mit Regalen, Nischen und kleinen Tischen vollgestellt. Vom Boden bis zur etwa sechs Meter höher gelegenen Decke, gab es tausende und abertausende von Schriftstücken. Extrem schmale Steintreppchen führten zu den oberen Regalen und am Ende des Tunnels, gab es eine breitere Treppe, die in das nächste Stockwerk nach unten führte. Weitere Türen schien es nicht zu geben.

Tal streckte sich und war froh über die Höhe des Raumes. Es war kühl und dennoch eng, aber eine niedrige Decke wäre bei Weitem schlimmer für sie gewesen. 

Vorsichtig nahm sie ein dickes Buch aus einem der Regale und versuchte den Titel zu lesen, aber sie konnte die Schrift nicht entziffern. Es war Nygh, irgendwie, aber auch nicht.

»Das ist die Schrift der Bewohner von Tiradnai«, sagte Ughtred. »Sie sind wie wir und haben eine ähnliche Schrift. Da steht: Die Wunder der Kleinen Welt. Ich glaube es geht um Insekten.«

Die Hexe nickte und murmelte ein leises »Danke« in den kalten Raum. Tiradnai, sie hatte von diesem Land gehört. Es lag nordöstlich und jenseits der großen Gebirge. Was musste dieses Buch gesehen haben, bis es hier zur ewigen Ruhe gebettet worden war?

Vorsichtig legte sie es zurück und fragte: »Wo sind die Schriften über die Feinstoffliche Welt?«

»Keine Ahnung«, knurrte der Nygh.

»Wie ist die Ordnung der Schriften? Themenbasiert oder Alphabetisch?«

»Gibt keine. Sie bringen die Sachen hierher und vergessen sie dann. Nur Bücher, die regelmäßig gebraucht werden, befinden sich im untersten Stockwerk, aber die fand ich nicht so interessant. Wie man einen Kuchen brät weiß ich selbst.«

Sie wartete einen Moment, um ihm die Möglichkeit zu geben, seinem Scherz eine bessere Pointe zu geben, doch es kam nichts. Sie räusperte sich und Ughtred sah sie mit zusammengekniffenen Äuglein an.

»Keine Sortierung? Im Ernst?« fragte sie und merkte, dass sie im Begriff war, die Geduld zu verlieren.

Ughtred sagte verdrossen: »Die schließen das Zeug weg, Frau Hexe. Es ist ihnen egal wo es am Ende liegt, Hauptsache Leute wie wir beide kommen nicht mehr daran.«

Vorsichtig strich Tal über den Ledereinband eines uralten, eindeutig kisadmurischen Buches. Das Leder stammte von einem Quink. Auf dem Rücken stand, in geprägter Scherbenschrift ein einziges Wort: Gas. Sie schlug es auf und traf zufällig die Seite, auf der beschrieben stand, wie man ein Gas erzeugen konnte, dass nicht nur die Atemwege von Lebewesen auflöste, sondern sich auch auf Leder, Gummi und andere Materialien auswirkte. Sie schlug das Buch zu und nickte. Dann sagte sie: »Deine Leute haben kein gutes Bild von uns.«

Er zuckte mit den Schultern und nahm sich ein kleines Büchlein von einem der Tische, auf dessen Umschlag ein Pilz gezeichnet worden war. Er setzte sich auf den Boden – Sitzgelegenheiten gab es nicht – und begann zu lesen. 

Tal nickte und sah sich weiter um. Sie stellte sich auf eine Treppe und griff zu eine weiter oben gelegenen Kristall und zündete ihn. Flugschiffe umsegelten ihre langen Ohren und fuhren an einer schroffen Felsklippe entlang. Es waren moraidische Wellenbrecher. Der Kristall behandelte die Nautik des fernen Landes.

Ein anderer Kristall beschäftigte sich mit der Pflanzenwelt Oriad und Tal dachte daran, dass sie als Welpe immer davon geträumt hatte, die Hauptstadt Oriads zu sehen. Rivenest, die größte Stadt der ganzen weitern Tiba Fe. Nicht so provinziell wie Shishney oder gar Kovarin, wo ihre Eltern lebten. Ihre Großmutter hatte ihr viel über die Bewohner und Sitten von Rivenest erzählt. Sie war eine gebildete Frau und lebte in Angaworth, der Hauptstadt von Kisadmur.

Sie schloss die Augen und überlegte, wie sie in diesem Chaos fündig werden sollte und merkte, wie sie sich auf ihre stets lauernde Verzweiflung zubewegte. Sie wollte lernen, wollte das Feinstoffliche verstehen und möglichst viele psionische Disziplinen meistern, aber wie? Wie sollte sie sich steigern, wenn Akkatha sie aus dem Zirkel verbannte und die dummen kleinen Leute hier ihre Bücher nicht sortierten. Es war zum Verrücktwerden. Die sprachen sich ab. Sollte der Große Fresser sie alle holen und über der Wüste wieder ausscheißen!

Gerade als der Zorn sie überkam, holte sie tief Luft und konzentrierte sich dann. Sie war nicht in dieses kalte Loch geklettert, um unverrichteter Dinge wieder abzuziehen. Sie war Yt`Talan ven Arudsel und sie war eine Hexe des verdammten Doppelmondes und auf keine Fall würde sie versagen. Schlimm genug, dass ihre Eltern sich dazu entschlossen hatten in einer beschissenen Pilzmiene zu leben und Blümchen zu züchten. Sie würde den Namen Arudsel anders behandeln als ihr Vater. Kriegsheld, kurz vor dem Aufstieg zum Sliyn, verdammt und vergessen – was hatte er sich nur dabei gedacht? Sie nicht! Sie würde aufsteigen und etwas aus ihrem Dasein machen.

Mit aller Gewalt konzentrierte sie sich und versuchte zu hören, was in all den Kristallen und Büchern schlummerte. Sie richtete ihr ganzes Sein auf die okkulten Informationen in diesem Raum und als wäre ein Damm gebrochen, kamen sie aus ihren Verstecken. Hier leuchtete ein Kristall auf, ein geflügeltes Wesen schoss von einer Sonne zu einer anderen; dort detonierte ein Planet und gab gewaltige Schrecken frei, die sein Blut von ihren Schuppen schüttelten und sich aufmachten, die Dunkelheit des Alls zu durchqueren. Dann drehten sich die Augen der Hexe nach innen und eine große Vision übernahm die Kontrolle über ihr Dasein. Sie lachte innerlich und ließ sich fallen. Alles für sie, dachte sie noch und öffnete die Schranken zu ihrer Seele.

Flimmernd betritt eine riesige Gestalt mit einer Kapuze und einem langen Stab den Raum. Sie hat drei güldene Augen voller Weisheit und alles an ihr ist Klugheit und Trauer. Hinter der Gestalt folgen andere Aspekte des Kar oder deren Diener und die Prozession endet in der Mitte des schmalen Zimmers. Die Kapuze hebt den Stab und erleuchtet die Welt um sich und Tal herum. Kahl und leer ist diese Welt, unfertig wie sie selbst.

Tal versucht nach dem Vorgang zu greifen, zu verstehen, aber sie ist nicht hier, denn all dies geschieht endlose Zeitalter vor ihrer Geburt.

Dann betritt eine weitere Figur die Szene. Es ist eine gigantische Frau, eine der Urtitanen, mit langem wallenden Haar und riesigen Brüsten. Sie ist elegant und trägt die ganze Schöpfung in ihrem drallen Leib. Verschmitzt glimmende Augen mustern die Kapuze und die drei Augen verlieren an Macht und Klugheit.

Eines der Wesen hinter dem Stab und der Kapuze reicht einen Kristall in die Mitte der Versammlung und die Frau greift danach und hebt ihn an. Die Kapuze nickt und dann legt die Titanin den Stein in eines der Regale über Tal. 

Schnell vergehen Milliarden von Jahreszeiten und alles geht seinen Weg. Endlich wird Tal geboren, verliert ihren Bruder und wandert nach Korezuul. Nun ist sie hier, erwacht und blinzelt mit einem Wissen, dass die Erzeuger ihrer Spezies in ihr Blut gelegt haben. Sie konzentriert sich und beendet willentlich die Vision, denn sie hat genug erfahren.

Ughtred blickte auf, als die Hexe stöhnte. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sie hob die Hand und blickte auf eins der oberen Regale. Dann stellte sie sich auf den Tisch neben dem der Nygh kauerte und langte nach einem der Steine, die ganz oben unter einer dicken Schicht aus Staub und Steinmehl ruhten.

Als der Kristall zündete, schlug er in Tals Geist ein wie ein Blitz bei einem besonders schrecklichen Gewitter. Sie taumelte, rutschte von dem Tisch und schlug hart auf dem Boden auf, aber Ughtreds Bemühungen, ihr zu helfen, nahm sie schon nicht mehr wahr.

In ihrem Gehirn breitete sich der Tri-Binär-Wurm aus, der seit tausenden von Millenien in dem Kristall auf einen neuen Wirt gewartet hatte und der nun versuchte ihren Geist zu verdrängen und die Herrschaft über ihr materielles Sein zu erlangen. Sie hatte sich überrumpeln lassen und der Virus nutzte ihren Schock, um so viele Areale ihrer Synapsen wie möglich zu okkupieren. Doch als sie das Bewusstsein verloren hatte und sich nicht mehr um die äußere Realität kämpfen musste, schlug sie zurück. Die Nanophagen in ihrem Blut regenerierten schnell wie der Wind befallene Teile ihres Gehirns und gaben ihr einen teil der Kontrolle zurück. Dennoch war sie körperlich angeschlagen, als sich ihr Bewusstsein aus den Tiefen der Gedankenwelt zurück nach Oben kämpfte. Sie schlug die Augen auf und sah in Ughtreds Gesicht. 

»Schnell, wir müssen hier raus«, presste sie hervor und fügte hinzu: »Ich werde kämpfen müssen und weiß nicht, wie lange ich wach sein kann.«

Der Nygh verstand zwar nicht, was sie damit meinte, aber er erkannte, dass der Stein ihr  nicht gut getan hatte. Als sie zu Boden gegangen war, hatte sie ihn losgelassen und er war auf den Steinfließen zerborsten. Einen Moment hatte Ughtred gedacht, damit wäre der Bann des Kristalls gebrochen, aber er hatte sich offenbar geirrt. Konnten solche Kristalle ihr Wissen in das Gehirn eines lebenden Wesens übertragen, ohne dass dieses sie lesen musste? Offenbar war genau dies hier geschehen. Er fragte sich, ob sie zu diesem Zweck hierher gekommen war. Hatte sie von dem Stein gewusst?

Er half ihr auf die Beine und schob sie vor sich her. Sie war so riesig und eckte überall an. Dennoch gelang es ihm, sie zuerst zum Schacht und dann auf die Leiter zu bringen. Der Aufstieg war dann eine ganz andere Sache. Stufe für Stufe hakte er das Sicherungsseil ein und schob sie, eng an ihren Rücken gepresst, dem Licht des Himmels zu. Es schien Stunden zu dauern und der Schacht zog förmlich an ihrer beider Leiber. Es war, als wolle die Dunkelheit unter ihnen das gestohlene Licht nicht hergeben. War er nun wieder ein Dieb? Der Kristall war zerstört. Sollten sie doch froh sein. Schließlich schien dieses Ding wirklich gefährlich gewesen zu sein.

Auch der Weg den Bergpfad hinunter und durch Dranought erwies sich als anstrengend. Eine kurze Zeit schien es der Hexe etwas besser zu gehen und sie lief ohne seine Hilfe, aber kaum hatten sie die Innenstadt hinter sich gelassen und waren auf der Straße nach Norden, fiel sie zurück und schließlich ging es nur noch, indem er sie stützte. Sie faselte von den Alten, von den Aspekten des Kar und von der Titanin. Als sie begann, über tiefe Abgründe und die Feuer der Tiefe zu sprechen, schaltete der Nygh ab und konzentrierte sich nur noch darauf, die Silberwölfin möglichst unauffällig in die Schmiede zu bringen.

Dort angekommen, verfrachtete er sie in das Lager, welches man den beiden Gästen in seinem Zimmer hergerichtet hatte. Sein eigenes Bett, welches viel zu kurz war, stand hochkant an der Wand.

Kaum lag sie still, setzte auch schon das Fieber ein und er lief los, um zuerst den Barden zu unterrichten und dann eine Heilerin herbeizuholen. Als er in der Küche seinem Vater begegnete, bat er diesen der Hexe ein nasses Tuch auf die Stirn zu legen und dann stob er aus dem Haus.

Da er Kyon nirgends finden konnte, ging er direkt zu Bilke. Er wartete einen Moment unter dem riesigen Baumhaus und hoffte seine Mutter zu sehen, aber die Große Göttin entschied anders und so nahm er einen Stein und warf ihn nach oben. 

Hensvyth, einer von Bilkes Ehemännern, erschien auf dem Rundweg um das Haus und rief herunter, was es gäbe und Ughtred berichtete von dem Vorfall in der Schmiede. Hensvyth bestätigte verstanden zu haben und würde seine Frau direkt, wenn sie nach Hause käme, unterrichten. Sie würde sicher in Kürze in der Schmiede erscheinen.

Fast eine Stunde warteten Ughtred, sein Vater und Kyon, der nun ebenfalls eingetroffen war, bei offener Tür in der Wohnküche. Ughtred hatte immer wieder das Tuch angefeuchtet, doch das Fieber schien weiter zu steigen. Der Silberwolfhexe war deutlich der Kampf anzusehen, den sie in ihrem Inneren ausfocht. Ihre Wangen waren eingefallen wie bei einer alten Frau und ihre Haut glänzte seltsam nass und silbrig. Als Bilke endlich gegen den Rahmen klopfte, sprangen alle drei auf und redeten durcheinander, bis die Heilerin entschieden die Hand hob und ich in das Zimmer der Patientin zurückzog. Gegen Ughtreds Protest schloss sie die Tür und blieb mit der Hexe allein.

Die Behandlung dauerte mehr als eine Stunde, doch als ich die Tür endlich wieder öffnete, machte die Heilerin einen zufriedenen Eindruck. Sie erklärte, das Fieber sei gesunken und die Silberwölfin schlafe jetzt ruhig. Sie hätte wohl eine Art Schwächeanfall und Bilke wisse nicht genau, welche Art von Krankheiten dieser Art bei den Silberwölfen normal seien, aber da das Fieber sänke, ginge sie von einer baldigen und vollständigen Genesung aus. Sie wolle morgen wiederkehren und nach dem Rechten sehen. Damit verließ sie die Schmiede.

Die drei Männer unterdessen hockten noch lange an dem niedrigen Esstisch und sahen ab und an in das Zimmer hinüber. Die Tür stand nun wieder offen und Tal war gut zu sehen. Meist schien sie still zu schlafen, doch ab und an zappelte sie wie in Krämpfen und Ughtred ging immer wieder hinein und legte ihr ein frisches Tuch auf die Stirn. Seine Nähe schien die Hexe zu beruhigen und so blieb er irgendwann einfach neben ihr sitzen, bis er selbst eingeschlafen war. Kyon holte sein Bettzeug in die Wohnküche und rollte sich hier zusammen. Er konnte ohnehin nichts tun und hatte seine eigenen Probleme.

 

Drei Tage vergingen so. Erst am frühen Morgen des vierten Tages, Bilke war am Vorabend hier gewesen und hatte der Hexe ein neues Medikament verabreicht, kam Tal erstmals wieder ganz und gar zu Bewusstsein. Sie stand leise auf und lehnte sich mit eingezogenem Kopf an die Wand. Auf der anderen Seite des Zimmers lag Ughtred und hatte sich in einer Decke zusammengerollt. Blinzelnd versuchte Tal sich zu erinnern. Ihr Kopf tat schrecklich weh. Vor ihrem inneren Auge konnte sie nach wie vor den Wurm sehen. Dieses Ding war aus dem Speicherkristall in ihr Gehirn gedrungen und hatte es mit einer derart großen Menge Wissens geflutet, dass dieses sie selbst beinah verdrängt hätte. Doch ihre Disziplin und ihre eigenen geistigen Kräfte hatten das Virus zurückgeschlagen und das Wissen Stück für Stück verdrängt und ausgelöscht. Sie hatte hierbei nicht gezögert. Hätte sie versucht besagtes Wissen zu verarbeiten oder gar zu behalten, hätte es ihren Geist überlagert und ausgelöscht. Also hatte sie um sich geschlagen und alles vernichtet, was neu hinzugekommen war, bis die Masse langsam erträglicher wurde. Dann erst war sie selektiver vorgegangen und hatte nur noch die Dinger verbrannt, mit denen sie wirklich nichts anfangen konnte. Die 108 zukünftigen Namen eines ungeborenen Asan hatten in ihrer Welt keine Bedeutung und auch das Wissen um die verschollenen Riga`Yt war ihr unwichtig. Sie waren weg, basta!

Was blieb, waren Informationen über Kettenschlüsse in der feinstofflichen Welt. Sie bettete diese Muster in denselben Bereichen ihres Geistes ein, in denen schon ihre eigenen lagerten und sorgte behutsam für eine akzeptable Ordnung. Der Wurm selbst, die scheußliche Sicherung, die man vor langer Zeit als Falle in dem Kristall hinterlassen hatte, war noch da. Er kroch in ihrem Hinterkopf auf und ab und wartete auf eine Chance, aber ihre eigenen Kräfte ließen seinen Bewegungsspielraum immer geringer werden, bis er sich in einer stecknadelgroßen Schwärze befand und kein Unheil mehr anrichten konnte. Dabei beließ sie es.

Sie musste sehr dringend Wasser lassen und schlich aus dem Zimmer, doch Ughtred wurde wach und rappelte sich auf. Sie deutete auf ihren Bauch und nach draußen und er rollte mit den Augen und lehnte sich gegen die Wand.

 

Viele Tage vergingen. Kyons Bauchwunde verheilte und Ughtred hatte begonnen, eine neue Maske für den Phani zu schmieden. Er war unten in Dranought gewesen und hatte die in der Stirn des schwarzen Mannes eingelassene Schiene vermessen und dann einen Plan gezeichnet. Die neue Maske würde aus leichterem und dünnerem Stahl bestehen und bekäme nur eine dünne Goldschicht. Außerdem würde Ughtred dafür sorgen, dass Odugme in Zukunft in der Lage wäre, die Maske beim Essen so weit nach oben zu schieben, dass er etwas sehen könnte. Nur den Silberwölfen konnte so etwas einfallen, wie eine Gesichtsmaske, die man nur so weit hochschieben konnte, dass ihr Mundbereich in diesem Zustand die Augen bedeckte.

Außerdem versuchte sich der aufstrebende Schmied an einer schlanken Brustplatte für Odugme. Sie würde zwar nur einen Teil seines riesigen Körpers bedecken und hinten nur von einem Lederkreuz gehalten werden, aber es wäre besser als Nichts. Mehrere Tage schmiedete er an dem guten Stück und am Ende zeigte er es Ughnor und der Vater grinste stolz. Dies war die Arbeit, die er gerne sah. Warum konnte sein Sohn nicht einfach hier bei ihm in der Schmiede arbeiten? Er sprach mehrfach die vor Ughtred und seinen Gästen liegende Reise an, doch die Lippen des Jüngeren blieben verschlossen. Ughtred wollte nicht, dass sein Vater in die ganze Sache hineingezogen würde. Je weniger er wusste, umso besser.

Eines Abends fragte Kyon den Schmied, ob dieser ihm die in der Wüste verloren gegangenen Pfeile ersetzten könne, und natürlich sagte dieser zu. Wieder begab sich Ughtred mit seinem Vater in die Schmiede und wieder arbeiteten sie gemeinsam. Die Pfeile waren von außerordentlicher Güte und der alte Schmied war stolz, als er sie dem Silberwolf überreichte.

 

Es vergingen einige ruhige Tage und Kyons Wunde verheilte. Doch seine Angst vor der Wüste konnte ihm niemand nehmen. Er sehnte sich nach dem Haus und seiner Mutter und selbst die Maskenmännlein fehlten ihm auf eine seltsame Weiße. Wahrscheinlich war es einfach dieses Leben generell, für das er nicht gemacht war. Er war kein Abenteurer wie sein Vater.

Als die anderen immer häufiger vom Aufbruch sprachen, versuchte er, interessiert zu wirken und sich einzubringen, aber es fiel ihm schwer. Zumindest schien den anderen sein Missmut nicht aufzufallen, denn sie gingen ganz und gar in Fragen nach genügend Decken, Wasserbeuteln und Lopenfutter auf. Ughtreds Vater hatte ein neues Zelt besorgt, das deutlich leichter als das erste war und es gab auch neue Wasserbehältnisse, mit weniger Fassungsvermögen und dafür stabilerer Außenhaut. Alles Dinge, die für Frau Arudsel und den Dieb wichtig waren. Er sehnte sich nach Shishney.

Als es dann tatsächlich los ging, sträubte sich alles in Kyon. Seine Nackenhaare stellten sich auf und er versuchte den Gedanken an die unglaubliche Entfernung zwischen sich und die Heimat zu verdrängen, aber es gelang ihm nicht. Nach dem Tagebuch sollte man nun, noch weiter nach Westen reisen, um einen Teil der Wüste zu umgehen, aber er wollte nicht nach Westen. Es war ihm egal, ob es auf dem Weg durch Korezuul Marschen und Wasserläufe geben würde. Was spielte das für eine Rolle? Amytorendreck – er wollte auf dem schnellsten Wege nach Hause.

Die Doppelsonnen waren weit über den Horizont gewandert, denn man hatte sich dafür entschieden spät aufzubrechen, um den ersten Reisetag für die Silberwölfen möglichst einfach zu gestalten. Einige Stunden auf den Rücken der verbliebenen Lopen, hier in Dranought gab es keinen Ersatz, dann eine Rast in der Nacht und weiter würde es bis in den späten Morgen gehen. Kyon saß auf dem Rücken eines der Tiere und betrachtete den vor ihm reitenden Phani. Zwischen sich und dem Riesen ging eine Weitere Lope, auf der man North Sarg verzurrt hatte. Er blinzelte und beobachtete, wie sich die Narbe des Riesen, wo der Draiynspeer ihm auf der Rückseite aus dem Leib gedrungen war, bei jeder Bewegung seines Reittieres von einem länglichen, zu einem runden Flecken verzerrt wurde. Im späten Sonnenlicht glänzte die Haut des gewaltigen Mannes. Ughtred hatte ihm die neue Brustplatte und auch die leichtere und deutlich stabilere Maske gegeben und er hatte beides wortlos an sich genommen. Kyon lächelte einen Moment über diese Überlegung. Natürlich hatte er das Zeug wortlos entgegen genommen. Ihm fehlte ja die Zunge, wie hätte er sich da wortreich bedanken sollen? Doch so schnell ihm dieser aus der Sicht der Smavari durchaus lustige Gedanke gekommen war, so schnell verschwand er auch wieder. Warum eigentlich die Zunge herausschneiden, überlegte er. Natürlich wäre es ihm auch recht, wenn seine Sklaven möglichst wenig sprächen, aber dies konnte man ihnen ja auch befehlen. Es war nicht notwendig sie endgültig stumm zu machen. Außerdem hatten Zungen auch ihre erbaulichen Seiten.

Sein Blick ruhte immer wieder auf dem breiten schwarzen Rücken seines Vormannes und er schüttelte den Kopf. Vor noch kurzer Zeit wäre er nie auf die Idee gekommen, sich über solche Dinge Gedanken zu machen. Die Wildnis verzerrte alles. Er musste hier so schnell wie nur irgend möglich weg.

Gegen Abend, es war spät genug für eine erste Rast, kamen sie an einen winzigen, von krummen Bäumen und Schilf bewachsenen Tümpel. Frösche sangen ihre Lieder – und es waren viele Frösche und viele verschiedene Lieder, die alle gleichzeitig interpretiert werden mussten – sodass Kyons Schwermut von dem Gequake überlagert wurde. Gut so, dachte er und biss lustlos in ein Stück Trockenfleisch.

Da kam Ughtred vom Tümpel zurück. Er hatte nach einem Zulauf gesucht, um Wasser aufzufüllen, doch jetzt stand er einige Schritte von Kyon entfernt und redete mit Tal. Er konnte wegen dem Krach der Amphibien nur die Worte Knochen und Horntier verstehen. Also stand er auf und ging zu ihnen.

»Der Reiter war sicher ein Bote aus Roan, der großen Stadt im Westen«, sagte Ughtred gerade.

»Was ist passiert?« Hakte Kyon nach und der Nygh berichtete, von dem Toten, den er auf der anderen Seite des Froschweihers gefunden hatte. Es gäbe die Knochen eines Horntieres, auf denen die Bewohner Roans zu reiten pflegten und den Reiter selbst. Die Knochen seien verstreut, was bedeutete, dass Raubtiere an ihnen genagt hatten. Es war Ughtred anzusehen, dass er viel lieber nach Roan weitergezogen wäre, sei es den Toten nach Hause zu bringen, oder einfach nur dieses Abenteuer mit den verrückten Silberwölfen hinter sich zu lassen aber Kyon winkte nur ab. Was hatte der Verrückte alleine hier draußen gemacht? Sie waren zu viert und es kam ihm schon unerträglich gefährlich vor.

 

In den Nächsten Tagen verhielten sie sich schweigsam. Ihre Route war bekannt und es gab wenig, über was man sich hätte austauschen können. Wie Geister bewegten sie sich in den Schatten der sterbenden Tage und stellten immer wieder unter Beweis, wie schwierig es war, wenn derart verschiedene Wesen und Charaktere miteinander auskommen mussten. Allein schon die Sonnenempfindlichkeit der Silberwölfe war eine Bürde. Ughtred wäre es weit angenehmer gewesen, zu den hellsten Zeiten der Tage zu reiten. Für Tal und Kyon hingegen wäre es alles andere als angenehm gewesen, sich der Gnade der beiden Tagesschwestern zu unterwerfen. Ihre liebsten Zeiten waren die späten Nachmittage, wenn nur noch Hiyween  ihr weißes Licht verbreitete und die Argol Fe den Horizont in verbranntes Rot und tiefes Violett tauchte und die Morgendämmerungen, wenn das kommende Licht nicht mehr als eine Ahnung darstellte. In der Dunkelheit der Nacht waren sie müde und wankten in ihren Sätteln und sobald es zu hell wurde, sahen sie nichts mehr oder beklagten sich über Sonnenbrand.

Ab und an hockten sie gemeinsam am Lagerfeuer und starrten in die sonderbaren und wirren Aufzeichnungen Lonkaiyths. Sie rätselten, was es mit dem Zahnrad auf sich hatte und wie in aller Welt sie in Shishney den Speer Raguels erringen sollten – wenn es diesen überhaupt gab, woran vor allem Kyon zweifelte, denn er wusste am besten, wie Lieder und Sagen entstanden und was man auf ihren Wahrheitsgehalt geben konnte. Die Andeutungen am Ende des Tagebuches ließen sie weitgehend unkommentiert. Die Vorstellung, über Raugnith in einen der Vulkanberge zu reisen, war schlichtweg absurd.

Ughtred fragte sich immer wieder, warum sie es dann taten. Er hatte verstanden, dass die Hexe ihrer Titel beraubt, versuchte sich zu rehabilitieren. Das konnte er noch verstehen, denn auch er war ja ein Gezeichneter und der Begriff ›Dieb‹ würde wohl sein ganzes Leben an seinem Namen kleben bleiben. Warum der verrückte Sohn des ganz eindeutig noch verrückteren Tagebuchschreibers jedoch den irren Worten seines Vaters folgte, begriff der Nygh nicht. Es wollte ihm nicht in den Kopf, warum ein Kind dem eindeutigen Wahn der Eltern folgen sollte. Er hatte Kyons Mutter gesehen und schnell begriffen, dass der Wahnsinn zweifelsfrei in der Familie – oder gar in der Spezies – lag. Alle Silberwölfe waren verrückt. Sie lebten nicht in den selben Sphären wie normale Lebewesen, also waren sie aus diesen verrückt. Was dies aus ihren Geistern machte, war Ughtred nun eindrucksvoll klar gemacht worden. Wölfe krochen aus ihren Rücken und sie begaben sich auf Abenteuerreisen, die nicht die geringste Aussicht auf Erfolg versprachen.

 

Nach mehreren Tagen durch die Marsch, in denen sie immer wieder ihr Trinkwasser an den Zuflüssen von Seen auffrischen konnten, wurde das Land trockener und im Süden wisch der Gebirgsausläufer aus ihrem Blickfeld. Schweren Herzens entschieden sie, dass es an der Zeit wäre in diese Richtung abzubiegen. An dieser Stelle gab Ughtred dem Tagebuch recht. Wenn man von hier oben aus nach Draiyn Andiled wollte, war dies der richtige Weg. Er hoffte nur, dass die Ruine, von der das Tagebuch sprach, auch tatsächlich da war und sie nicht sinnlos durch den Wüstensand reiten und früher oder später verdursten oder von den Draiyn gefressen würden.

Ang`Rin, er hatte von diesem Ort gelesen. Es war aus der Sicht von Korezuul, eine der nächsten, von den Silberwölfen geschaffenen Strukturen in der Umgebung seines Heimatlandes. Vor über zehn Millenien hatten sie versucht hier am Rande der Wüste einen Brückenkopf zu etablieren, doch die Draiyn waren da anderer Meinung. Sie waren in Scharen gekommen, hatten den Himmel verdüstert und jeden Stein, den die Wölfe errichtet hatten, geschliffen und dem Wüstensand zurückgegeben. Die Eindringlinge waren innerhalb kürzester Zeit ausgelöscht worden. Seither lag die Ruine in den Schatten einer tiefen Senke. Tiefenheim nannten die Nyghs diesen Ort. Der Name war nicht nur der Lage wegen gewählt worden. Auch in der Kultur der Korezuulen war die Vorstellung einer unendlichen und finsteren Tiefe ein Begriff und AngˋRin war ein solcher Ort. Dort konnte nichts Gutes gedeihen. Die Silberwölfe hatten sich zweifelsfrei verteidigt und er wusste nur zu gut, zu was sie fähig waren, wenn man bedrohte.

Trotz der fehlenden Lopen kamen sie ganz gut voran. Selbst Kyon schien sich etwas an das Reiten und den Sand gewöhnt zu haben. Gerade hatte Ughtred ein kleines Rinnsal zwischen zwei Gebirgsfalten entdeckt und diesen Ort als Mittagsrastplatz vorgeschlagen, als Kyon mit ausgestrecktem Arm in die Ferne deutete. Tal schien zu versuchen zu erkennen, auf was der Barde deutete, aber es war Ughtred schon früher aufgegangen, dass die Augen der Hexe nicht sonderlich gut zu sein schienen. Sie zuckte mit den Schultern und er rief zu ihrer hinüber: »Ein Draiynlager, wenigstens vier Feuerstellen und garantiert nicht weniger als drei Dutzend der Käfer.«

Kyon ließ Ohren und Schultern herabsinken und wäre er mit einem Wolfsschwanz ausgestattet gewesen, hätte er ihn zweifellos zwischen die Hinterbacken geklemmt. Seine Verletzung war zwar gut verheilt, aber die Angst vor den Gefahren der Wüste steckte ihm tief in den Knochen.

»Wie dürfen kein Feuer machen und sollten sie auskundschaften«, sagte der Nygh mit fester Stimme und ging zu Tal. »Vielleicht sind sie satt. Angeblich bilden sie so große Gruppen mit Lagerfeuern und Zelten eher nach einer erfolgreichen Jagd. Wenn wir Glück haben, lassen sie uns einfach ziehen.«

»Einfach ziehen?« gab Kayon, der ebenfalls näher gekommen war knirschend von sich und fügte dann in Befehlston hinzu: »Wir umgehen das Lager im Westen.«

Ughtred führte seine Finger an das Hexenzeichen auf seiner Stirn und rieb es, als er sagte: »Das würde uns mehr als fünf Tage kosten und zu weit vom Gebirge wegführen. So viel Wasser können die Lopen nicht tragen. Unmöglich.«

»Du bestimmst ganz sicher nicht, ob ich gefressen werde oder verdurste und das Letzte, was ich höre, soll ganz sicher nicht das Bersten meiner Knochen unter den Mandibeln dieser Scheusale sein«, herrschte Kyon den Nygh an.

Dieser konterte nicht minder aufgebracht: »Der Herr Wolff ist sich also sicher als Mumie in der Wüste verschrumpeln zu wollen, nur um etwas später von den Käfern gefressen zu werden. Das ist ja sehr klug von ihm.«

Tal trat dazwischen und sagte: »Können wir uns das erst einmal ansehen, bevor wir uns die einen Tod entscheiden?«

Sie raffte ihren Mantel zusammen und zog sich zum Schutz gegen die Sonne die Kapuze tief ins Gesicht und stapfte durch den Wüstensand.

Gemeinsam überlegen sie, weiter nahe sie dem Lager kommen könnten, eher die Insektenkrieger die bemerken würden. Sie ließen Odugme mit den Lopen zurück und näherten sich den Rauchsäulen der Feuer. In einer Distanz von etwa zweihundert Schritten, sah Kyon, dass immer wieder Draiynspäher von Boden aufstiegen, einige Zeit in der Luft herum flatterten und dann wieder zu Boden sanken. Die drei waren zwischen Steinen und Senken recht gut getarnt, konnten aber nicht sicher sein, unentdeckt zu bleiben. Sie bewegten sich zurück zu ihrem Lager und schließlich entschied sich Tal zum Einsatz ihrer Hexenkräfte. Mit fester Stimme erklärte sie den anderen, wie sie es anstellte, ihren Geist aus ihrem Leib über den Äther in Norths Hülle zu transferieren. Sie nutzte dafür die psionische Disziplin des Astralwanderns und wollte nun in diesem, für reales Leben unsichtbaren Zustand zu den Draiyn geben und sie ausspionieren. Sie hätte das zwar bisher noch nie probiert, ohne die Hülle, aber sie wolle es versuchen.

Kyon und Ughtred kommen sich nicht vorstellen, wie sich so etwas auswirkte, aber Tal machte auch nicht den Eindruck, als wäre ihre Idee verhandelbar. Also begann sie sich ins Zelt und begann sich auf die Aufgabe vorzubereiten. Sie murmelte einige Worte zu ihren Schutzmonden und griff dann in den Raum des Feinstofflichen. Normalerweise versetzte sie hierzu ihren Körper in Stase, aber sie wollte kein Risiko eingehen und schnell zurückkehren können. Also verzichtete sie auf Alchemie und ruckte ihren Geist aus dem Fasern ihres leiblichen Seins.

Zu ihrem Erstaunen funktionierte es schneller und besser als sonst. Wie von einer unwirklichen Schwere befreit, glitt sie aus ihrem Körper in den Negativraum der Astralwelt. Alles Helle wurde dunkel und alle sie durch das Material des Zeltes glitt, erschienen ihr die Sonnen als gewaltige bedrohliche tief schwarze Löcher am Himmel.

Doch was dies der Himmel? War oben noch oben? Sie fiel, doch die Richtung schien seltsam falsch. Mit hoher Geschwindigkeit glitt sie durch die Wüste auf eine der Lopen zu. Deutlich konnte sie dabei die feine goldene Schnur erkennen, die ihren gleißenden Astralleib mit ihrem feststofflichen, nun merkwürdig falschen Körper verband. Und dann fand sie sich plötzlich in Norths totem Fleisch wieder. Sie war unwillkürlich in ihn gefallen und musste sich nun mit Mühe aus ihm heraus kämpfen. Es kostete sie eine unglaubliche Kraftanstrengung North nicht mehr als unten und zentralen Gravitationspunkt wahrzunehmen. Ihr war, als vergängen Stunden, bis es ihr endlich gelang, den Horizont als Anker anzuvisieren und in Richtung des Draiynlagers zu gleiten, doch als sie den Bogen endlich raus hatte, ging es ganz leicht.

Bald umschwebte sie das Lager und machte große Augen. Es waren über fünfzig der Insektenmänner und sie hatten irgend etwas gigantisches erlegt. Das Ding lag in der Mitte ihrer Feuer und musste wenigstens dreißig Meter lang gewesen sein. Von seiner Seite standen gigantische, segelartige Dinger ab und ragten wenigstens zwanzig Meter vom Boden in die Höhle. Um den Kadaver lagen Dutzende getöteter Draiyn im Wüstensand. Der Kampf gegen das riesige Wesen hatte viele Opfer gekostet, doch dies schien den Überlebenden keinerlei Trauer zu bereiten. Im Gegenteil, sie hatten einige ihrer toten Kameraden zu den Feuern getragen und bereiteten sie zusammen mit Fleischbrocken der Beutel als Mittagsmenü zu. Tal schüttelte ihren astralen Kopf und ließ sich von ihrem Goldfaden zu ihrem Körper zurückziehen. Sie hatte genug gesehen. Dieser Draiyn waren satt oder würden es in Kürze sein. Die Jagd war fürs erste vorüber.

 

Als sie die Augen öffnete starrten Kyon und Ughtred die junge Hexe an. Sie wusste nicht, wie es aussah, wenn sie in ihren Körper zurückkehrte. Bei Yartha yr Strontide, ihrer einstigen besten Freundin im Zirkel der Doppelmondhexen hatte es immer ausgesehen, tauche sie aus einem eisigen Gewässer auf. Es dauerte einige Minuten, bis sie wieder ganz zu Sinnen gekommen war, aber dann berichtete sie, was sie gesehen hatte und das sie es für ungefährlich hielt, sich den Draiyn zu nähern. Kyon war sein Unbehagen anzusehen, aber Tal bekräftigte ihre Annahme und auch Ughtred pflichtete bei, dass satte Draiyn angeblich sogar gastfreundlich sein sollten. 

Schließlich gab der Barde kleinbei und sie entschlossen sich, mit Sack und Pack ihr Glück bei den Wüstenbewohnern zu versuchen. Sie luden ihre Ausrüstung auf die Lopen, erklärten dem Phani, er solle mit dem Zeug möglichst weit hinter ihnen bleiben. Dann ritten sie beherzt los.

 

Zu Kyons Unbehagen dauerte es nicht lange, bis die Insekten die kleine Reisegruppe entdeckten. Zuerst waren es die flatternden Späher und bald rotteten sich auch am Boden Insektenmänner zusammen und zeigten mit ihren Chitinklauen auf sie. Schließlich kamen vier besonders große Draiyn herbei und begannen alle vier gleichzeitig mit ihren langen Armen zu winken. Kyons Magen zog sich schmerzhaft zusammen, denn er erinnerte sich nur zu gut an das Verhalten der ersten Draiyn denen er begegnet war. Sie hatten ebenfalls freundlich gewunken, bevor sie ihre Speere geschleudert hatten und mit klickenden Mandibeln auf ihn und seine Gefährten losgegangen waren. Und dann traf ihn der Schock wie ein Fausthieb. Einer der Vier offensichtlichen Anführer, war der selbe Insektenmann, der die Gruppe im Osten angeführt hatte. Deutlich war das dünne Bein zu erkennen, welches ihn sicher noch eine ganze Zeit lang zu einem Unikat machen würde.

»Der Krüppel! Seht doch, dass ist der Mistkerl, der uns entkommen ist«, zischte er den anderen zu. Ughtred hatte es auch bemerkt, aber was sollten sie tun? Wenn sie sich nun abwandten, lösten sie am Ende das Jagdverhalten der Wüstenbewohner aus.

Diese unterdessen machten keine Anstalten zu ihren Waffen zu greifen. Sie wedelten wie Winkerkrabben der moraidischen Küsten und klickten dabei unverständliche Wörter. Tal und Kyon verstanden Kcric nur sehr mäßig. Im Laufe ihrer Erziehung hatten sie einige Phrasen wie ›trc Naidric trc«, was so viel wie ›keine Nahrung‹ bedeutete, beigebracht bekommen, aber eine Sprache, die man selbst nicht sprach, verstand man auch nicht. Ughtred hingegen hatte mehrere Schriften über Draiyn Andiled und seine Bewohner gelesen und sich mehr als nur die Friss-mich-nicht-Ansprache behalten. Er überlegte schnell und begann nun ebenfalls zu winken. Als er sich den Draiyn näherte sagte er »Andiiiled trc noiz noiz« und hoffte die für seine Zunge praktisch unaussprechlichen Begriffe halbwegs verständlich wiedergegeben zu haben. Es bedeutete in etwa, ›das Land ist groß‹ und stellte eine Art freundliche Ansprache dar. Schnell deutete er auf sich und die beiden Silberwölfe und fügte »Traictek ii« hinzu, was die Bezeichnung für Männer. Er hatte gelesen, dass die Draiyn hier draußen auf der Jagd, sich nur aus einem der beiden männlichen Geschlechtern ihrer Spezies zusammensetzten. Die weiblichen und die Angehörigen des zweiten männlichen Geschlechtes wurden in den Draiynstädten als Sklaven gehalten und dienten einfachen Arbeiten und der Fortpflanzung. Nur die Großen Männer hatten das Sagen und Ughtred hoffte, mit seiner Aussage eine Art Gleichstellung zu erwirken.

Die beiden Silberwölfe sahen sich an. Sie waren erstaunt über die linguistischen Fähigkeiten ihres kleinen Diebes. Es steckte doch mehr in dem Nygh, als sie anfangs gedacht hatten, denn seine Sprachkenntnisse waren eindeutig angekommen. Die Draiyn plapperten erfreut drauf los, als wären sie hier draußen am Rande der großen Wüste einem lange verschollenen Freund begegnet. Interessanterweise galt dies auch für den Häuptling mit dem dünnen Hinterlauf. Entweder erinnerte er sich überhaupt nicht, oder es war es war für ihn eine Lappalie, dass die Fremden seine Jagdgruppe ausgelöscht hatten. In Wahrheit hatten die Draiyn wahrscheinlich einfach nur eine sehr abweichende Vorstellung des Konzeptes Gerechtigkeit. Sieger waren die, welche später noch lebten. Unterlegene hingegen wurden gefressen. Die Vorstellung von Schuld gab es im Dasein der Insektenmänner nicht. Sie kannten keine Vergehen innerhalb ihrer Kultur und unterschieden hier draußen auch nicht zwischen Freund und Feind. Waren sie hungrig, fraßen sie, waren sie satt, teilten sie.

Schließlich deutete der größte der vier Häuptlinge – Ughtred erklärte, dass es laut seiner Bücher, recht häufig zu Zusammenschlüssen von mehreren Stämmen käme – einen seiner Krieger heraus, der die Fremden im Lager herumführen und sie später in eins der riesigen und aus abgeworfenen Draiynflügeln bestehenden Zelten einladen sollte. So schlenderten sie durch den verwüsteten Bereich. Ughtred hatte Sorgen wegen des Phani und der Lopen, aber die Insektenmänner gaben ihnen Wasser und behandelten sie ganz wie Ihresgleichen. Sahen sie die Tiere auch als Große Männer?

Der zugewiesene Führer plapperten und klickte in seiner schwer verständlichen Sprache und deutete immer wieder auf das riesige tote Wesen, um dessen Leichnam auch die Draiyn gruppiert hatten.

Plötzlich stieß Tal hervor: »Bei den erkalteten goldenen Eiern des Mirthas, das ist ein Skritii! Die Bastarde haben einen verdammten Riesenamytoren massakriert und jetzt fressen sie ihn auf, als wäre es ein ganz normales Moorschwein.«

Die riesigen Skritii waren die Geisel der Tiba Fe. Die an riesige Insekten gemahnende Amytoren bevölkerten die Lüfte über den Wüsten und Gebirge des ganzen Planeten. Sie landeten nur, um Beute zu schlagen oder zu fressen. Ein ausgewachsenes Skritii konnte eine Länge von bis zu zwanzig Metern erreichen. Meist trieben sie träge mit ihren sechs Flügeln paddelnd dahin. Erspähten sie jedoch Beute, stülpten sie lange Tentakel aus und griffen an. Mit den spitzen Dornen an ihren einzigen Fangbeinen schlugen sie nach ihrer Beute und verbrannten sie gleichzeitig mit der unnatürlichen schwarzen Glut der peitschenden Tentakel. Wehe der Seele, die im Schlund eines solchen Ungeheures endete. Niemand würde es wagen den Dünen von Draiyn Andiled auf einem Reittier zu durchqueren oder eines der Gebirge der Tiba Fe mit einem langsamen Flugschiff zu überfliegen. Zu gefräßig und grauenhaft waren die Amytoren dieser trostlosen Ländereien. Nur die Draiyn wussten mit diesen Fährnissen umzugehen und hatten gelernt den Skritii aus dem Weg zu gehen oder sie gar selbst zu jagen.

Direkt an den Seiten des Kadavers befanden sich die vier Mannschaftszelte, die den Wüstenkriegern als Unterkünfte dienten. So wie die Silberwölfe Probleme mit den Sonnen hatten, schienen die Draiyn die kalten Wüstennächte zu meiden, denn kaum waren die Tagesgestirne hinter dem Horizont verschwunden, zogen sie sich in ihre Notbehausungen zurück und hinterließen nicht einmal Wachen. Kyon, der dieses Verhalten als Erster bemerkte, flüsterte den anderen seine Entdeckung zu, denn er sah in diesem Wissen einen großen taktischen Vorteil.

Der Führer wies immer wieder auf den Amytoren und auf seine Mandibeln und wollte die Gäste damit zur Nahrungsaufnahme ermuntern. Doch alle drei hatten großen Respekt vor den unguten Elementen, die zweifellos in jedem dieser Wesen schlummerten. Vielleicht mochten die Draiyn immun gegen die Schrecken amytorischer Seuchen sein und vielleicht hätte sogar der Nygh mit seiner geradezu übernatürlichen Resistenz das Amytorenfleisch verkraftet, aber aus den Silberwölfen hätte es garantiert zappelnde Mutationen gemacht. Nein danke, aber es gab genügend tote Insektenmänner und die schmeckten ja bekanntlich wie Huhns.

Tatsächlich war es den Draiyn egal, was mit ihren Toten geschah. Sie mischten bewusst aus dem Amytoren geschnittene Brocken mit Armen und Beinen ihrer gefallenen Kameraden und brieten das Ganze an riesigen Spießen aus den Flügelholmen der Beute. So kann es, dass die vier Reisenden in dem Zelt ihrer ehemaligen Feinde kampierten und deren Tote verzehrten. Selbst Ughtred kostete von dem proteinhaltigen Fleisch, denn Nyghs töteten zwar nicht um sich zu ernähren, aber sie nahmen meist alles dankbar an, was die Große Mutter ihnen schenkte. Auf den Amytorenbraten verzichtete er jedoch.

 

Irgendwann im Verlaufe der Nacht begann Tal dann noch, mit den Draiyn Handel zu treiben. Draiynwachs war eine begehrte alchemistische Zutat für Hexenrezepte und sie wollte die Gelegenheit nutzen. Sie selbst hab ihre Pfeife als Waschmittel, denn die hatte ohnehin vor, sich diese lästige Angewohnheit abgewöhnen und wenn sie es nicht schaffen sollte, würde sie Kyons Rauchzeug okkupieren.

Die Draiyn lernten das Rauchen schnell und es schien sie sehr zu belustigen, wenn einer der ihren den Qualm in seinen Kopf sog und dann schier daran verendete. Sie wollten mehr Pfeifen und schließlich zeigte Ughtred ihnen, wie man etwas durchaus Vergleichbares aus dem Chitin der Toten nachbauen konnte. Sie waren begeistert und beschenkten die neuen Freunde mit Waffen, Gelbwein, Wasser und Proviant.

Doch nichts von alledem konnte Kyon täuschen. Er hockte stumm mit eingezogenem Kopf am Rande des Zelteingangs und beobachtete den Zirkus. Er wusste ganz genau, wie weit die Gastfreundschaft der Draiyn reichte. Sie waren satt, aber wie lange würde dies so bleiben? Niemand konnte sagen, ob sie nicht gleich am Morgen Lust auf zartes Smavarifleisch bekämen und dann wollte er so weit wie möglich von diesem barbarischen Treiben entfernt sein. Er sprach in dieser Nacht noch weniger als sonst, aber als die Dunkelheit ihren Höhepunkt überschritten hatten, weckte er die eingeschlafene Hexe und deutete Ughtred mit einem Nicken zum Zelteingang an, dass er nicht länger vorhatte zu verweilen.

Doch wiederherstellen ließen die Draiyn ihre Gäste ziehen. Niemand kümmere sich um die Vier und ihre Reittiere und als am Horizont ein leichtes Flimmern das Nahen der Sonnen ankündigte, war das Lager der Insektenmänner schon nicht mehr zu sehen.

Der Weg führte nach wie vor am Gebirge entlang und wieder hatten die Abenteuer Glück. Noch vor ihrer ersten Rast fanden sie ein Wasserloch und konnten noch einmal ihre Vorräte auffrischen. Doch die Wüste war die Wüste und wie erwartet, wurden die kommenden Reisetage hart. Der Frühling war mild und bescherte verhältnismäßig erträgliche Wetterverhältnisse und einmal regnete es sogar einige Minuten, doch die endlosen Reitstunden, die Eintönigkeit der Reise und die allgegenwärtige Angst vor einer erneuten Begegnung mit den Draiyn oder noch schlimmeren Bewohnern dieses trostlosen Landes, drücken die Stimmung. Kyon war zwar genesen, doch er kämpfte mit einer Fehlhaltung im Sattel und Tal klagte über wunde Stellen und Gliederschmerzen. Odugme litt an den Mangelerscheinungen der ersten Reise und auch ihm machten die endlosen Tage und Nächte im Sattel zu schaffen. Einzig Ughtred schien das alles nichts auszumachen. Er sprach nicht mehr als die anderen, aber wenn er Schmerzen hatte, war es ihm nicht anzusehen und bei jeder Rast kümmere er sich klaglos um die Lopen und das Zelt für seine Gefährten. Er war stets der Erste, der aufstieg und der Letzte, der sich zur Ruhe legte. Unermüdlich schienen die Strapazen der Reise an ihm abzugleiten. Nur tief in den Nächten, wenn er einsam am Feuer saß und sich mit der Zukunft beschäftigte, war er eindeutig uneins mit der Welt. Doch sobald die Realität der täglichen Aufgaben ihn einholte, hob er den Blick und strahlte eine, seinem Volk ureigene, unerschütterliche Zuversicht aus.

 

Der irre Riese

Eines Tages war in der Ferne eine weite Ruinenlandschaft in einer unübersichtlichen Senke zu erkennen. Das Ziel war endlich erreicht. Welche Gefahren würde die Reisegruppe hier in Ang`Rin erwarten?

Es war früher Abend und aus der Entfernung war kein Leben in der Ruine zu erkennen. Kayon holte den Kristall seines Vaters hervor und zitierte: »Hütet euch Wanderer und gebt acht und betretet diesen Totenacker niemals bei Nacht!«

Ughtred nickte und deutete auf eine Felsformation, die sich als Schutz und guter Lagerplatz anbot. Wie viele Male zuvor hatte der Nygh mit Odugmes Hilfe das Zelt auf, kümmere sich um die Lopen und wartete dann geduldig, bis die Silberwölfe sich soweit ausgeruht hatten, dass sie wieder ansprechbar waren. 

Tal kam zuerst aus dem Zelt. Es war stockdunkel und Ughtred hatte ein wenig gedöst. Nun öffnete er die Augen und sah zu, wie sich die Hexe ankleidete. Einerseits war sie schön und ebenmäßig, aber ihre langen Glieder hatten für ihn auch etwas unwirklich Tierhaftes. Die Frauen seines Volkes waren ganz anders. Sie hatten Muskeln und waren stark, schön und widerstandsfähig. Die Silberwölfin war so anders und er hatte nach wie vor Probleme, ihre Gesinnung einzuordnen.

Sie trat zu ihm und deutete auf den kleinen Topf, der an einem Draiynflügelholm über dem Feuer hing.

»Suppe«, sagte er leise und fügte dann hinzu: »Das meiste hat der Große geschlürft.«

Tal nickte, nahm den Holzlöffel aus dem Topf und nippte an der heißen Brühe. Ughtred fragte sich, wie man sich auf Dauer so ernähren konnte. Silberwölfe vertrugen kein Salz und waren generell empfindlich, was die Zutaten ihrer Nahrung betraf. Bei seiner ersten Suppe hatte er dies nicht richtig einzuschätzen gewusst und hätte Kyon beinahe vergiftet. Tal hatte dem Barden eine Tinktur verabreicht und dieser verzichtete mehrere Tage darauf, mit dem Nygh zu sprechen.

Sie nickte erneut, als wolle sie sagen, gut gekocht, doch er wusste, dass man das Erhitzen von Wasser und Draiynfleisch kaum als Kochkunst bezeichnen konnte.

»Kommt er auch?« wollte er wissen, doch Tal hatte sich abgewandt und wanderte mit den Augen den Horizont entlang.

Diese Frau war ihm ein Rätsel. Er hatte in seiner Zeit in Kisadmur viele Silberwölfe und -Wölfinnen kennengelernt, aber die Doppelmondhexe war ein ganz eigenes Exemplar. Mit ihrer schmuddeligen Kleidung, den auf einer Seite angebrannten Haaren und diesem Drang, zu den Schönen und Reichen der Gesellschaft zu gehören, stand sie im krassen Widerspruch zu ihrer eigenen weichen Ader, wenn es darum ging, anderen zu helfen. Seit Tagen redete sie unermüdlich auf Bienenstich ein. Donnerhufs Sohn musste die anderen Lopen anführen, tat sich aber ganz offensichtlich schwer damit. Und was tat die Hexe? Sie versuchte ihm Mut zuzusprechen. Rational denkende Wesen wie die Silberwölfe, reisten auf Lopen durch die größte Wüste der Tiba Fe und unterhielte sich mit Tieren, weil diese Selbstwertprobleme hatten. Außerdem war sich Ughtred mittlerweile absolut sicher, dass Tal seinen Vater auch ohne Gegenleistung gerettet hätte. Vielleicht wäre sie nicht den ganzen Weg von Shishney nach Dranought wegen dem Kranken gereist, aber wenn ein glücklicher Zufall sie nach Korezuul und vor die Schmiede getrieben hätte, wäre sie eingetreten und hätte geholfen. Sie war mehr Diebin als er es jemals sein könnte, wahr eine grimmige Kriegerin, die ohne zu zögern tötete und sie forschte nach Kräften, die kein lebendes Wesen jemals anrühren sollte, aber er wusste genau, dass sie über all diese Dinge hinaus, ein gutes Herz hatte.

Kyon duckte sich aus dem Zelt heraus und streckte Ughtred seinen nackten Hintern entgegen, als er sich seine Kleidung aus der Unterkunft angelnd umdreht und bückte.

Der Nygh verzog das Gesicht und sah weg. Es gab also noch schlimmere Dinge, als die Tiefenmächte der Hexenkunst, dachte er und goss der Suppe etwas Wasser nach, damit sie für den Barden noch bekömmlicher wurde.

 

»Hier«, sagte die Hexe und verteilte an Kyon und Ughtred je zehn kleine Zuckerwürfel. »Das ist Totensüß. Ich habe es nach einem Rezept aus meinen Lehrbüchern des Zirkelhauses zubereitet. Lonkaiyth hat es als Randnotiz erwähnt und geschrieben, dass die Hexen ihm gram wären und er wohl daher keins hätte auf seine Reise mitnehmen können. Aber wir haben es. Eine meiner Ausbilderinnen war der Meinung, dass es eine wirklich starke Wirkung auf Untote habe.«

Sie behielt selbst ebenfalls einige der Würfel und sah die anderen beiden zufrieden an.

»Wie wirkt es auf die Lebenden?« wollte Kyon wissen.

»Es hat ein wenig gefährliches Gift als Basis und besteht ansonsten aus Ingwer und Zucker. Wahrscheinlich würde es euch langsam und qualvoll töten, Herr Musikus«, lachte sie und sah den Nygh an. »Du kannst es ruhig probieren. So wie es aussieht wirken unsere Gifte ja nicht bei Skergenblut.«

Ughtred zeigte die Zähne und erwiderte: »Besser nicht. Man kann nie wissen und was aus den Beuteln der Silberwölfe kommt ist selten gut.«

Sie lachte leise und wollte noch etwas sagen, aber Kyon wies in Richtung der Senke.

 

Zu dritt lagen sie bäuchlings am Wüstenboden und blickten über den Grad in die Senke hinunter. Kyon deutete mit spitzem Finger auf einen Punkt zwischen den Steinen und etwas, dass einst ein Gebäude gewesen sein könnte. Die Grundrisse der Strukturen waren von hier oben schwer zu deuten, aber Kyon hatte recht. Dort, wo sein Finger hindeutete, bewegte sich etwas in den Schatten.

Einen Moment später deutete der Barde erneut hinunter und wieder zuckte eine Bewegung durch die einstigen Straßen. Dann kniff er die Augen zusammen und reckte den Kopf. Langsam kroch er von der Senke weg und flüsterte, dass Wache gehalten werden musste. Ughtred fragte sich einen Moment, warum er sich dann einfach zurückzog, erkannte dann aber den Befehl in dieser Handlung und sah Tal an. Diese hatte gleich begriffen und flüsterte: »Ich passe auf.«

Der Nygh nickte und kroch hinter Kyon her. Tal unterdessen blickte in die Senke hinab und sah überhaupt nichts. Ihre Augen waren nicht gerade ihre Stärke und wären die beiden Männer ein wenig aufmerksamer ihr gegenüber gewesen, hätten sie kommen sehen, was als nächstes geschah.

Sie stand auf, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen und da erkannte sie schließlich tatsächlich etwas, da unten in der Senke. Eine winzige Gestalt bewegte sich aus der Schwärze einer einstigen Häuserwand und trat zuerst auf einen Platz zwischen einem Trümmerhaufen und weiteren trostlosen Wänden, nur um sich dann aus diesem Chaos zu lösen und einen vorher kaum erkennbaren Pfad in Richtung des Grates zuzubewegen, auf dem Tal stand.

Wind trug Sand in die Luft und machte es noch schwerer, etwas auf die Entfernung zu erkennen, aber die Gestalt kam eindeutig den Weg herauf und etwas weiter unten folgte eine weitere. Als Kyon gerade zu Ughtred sprechen wollte, erscholl laut Tals Stimme: »Sie kommen!«

Von diesem Moment an ging alles schnell. Tal zog ihr Schwert und Ughtred lief auf sie zu. Kyon war fast bei den Lopen und rief dem Phani einen Befehl zu, doch dieser schien nicht zu verstehen. Als die Hexe sich wieder dem Grad zuwandte, war die erste der Gestalten oben angekommen. Sie musste noch über zwanzig Meter von ihr entfernt gewesen sein, doch sie holte mit etwas Blitzendem aus und schleuderte es in einem weiten Bogen in die Luft. Flirrend und kreisend flog die Doppelklinge auf Tal zu, verfehlte sie jedoch. Dann war plötzlich Ughtred neben ihr. Der kleine Mann hatte das Kurzschwert aus Undorn gezogen und stürmte auf den Fremden aus der Senke zu. Und als wolle die Wüste von Draiyn Andiled das Tagebuch von Kyons Vater bestätigen, fletschte der einstige Silberwolf, nun zu einer untoten Fratze seines früheren Selbsts verkommen, gierig seine Zähne. Rot glimmende Augen hefteten sich fiebrig auf den Nygh und eine dunkle Langklinge erhob sich, geführt von krallenbewährten dünnen Knochenfingern. Der lebende Tod, Wolfsfänge und unbändiger Hass auf die Lebenden kam auf Ughtred zu, doch dieser wich keinen Deut zurück. Er sprang auf den untoten Silberwolf zu und schwang dabei seine alte Waffe, doch sein Gegner war unglaublich schnell und parierte seinen Hieb mit der eigenen Klinge. Ughtred focht wie ein Berserker, doch wieder und wieder trafen sich die Waffen und das Messingschwert drohte an dem Silberstahl des Toten zu zerspringen.

Plötzlich machte Ughtred einen Ausfallschritt, doch der Untote konterte mit einem scheußlichen Grinsen seines Mumiengesichts und stach dem Nygh das Langschwert in die Schulter, zog es heraus und drosch sofort erneut auf sein Opfer ein. Ughtreds Rüstung fing den größten Teil der Wucht beider Treffer ab, aber er ging zu Boden und verhedderte sich in den gerissenen Gurten des Harnischs. Ein Pfeil zischte über seinem Kopf vorbei und hätte den Untoten getroffen, doch dieser wischte mit dem Schwert durch die Luft und parierte auch den Pfeil.

Zu allem Überfluss war an der Bruchkante der Helm und das flatternde dünne Haar eines zweiten untoten Wolfes aufgetaucht. Ughtred versuchte von seinem Gegner wegzukriechen, aber dieser stakste ihm hinterher, wich einem zweiten Pfeil aus und ramme dem Nygh die Schwertspitze durch die Wade.

Ughtred stieß einen Schmerzensschrei aus und konnte nur noch sehen, wie das abnorme Wesen die lange Klinge zu einem Todesstoß anhob, doch anstelle zuzuschlagen, ließ der Untote seine Waffe in den Sand fallen und packte die zerfledderte Rüstung des Nyghs. Mit verzerrter Fratze rüttelte und zerrte das Wesen an dem Nygh und schließlich gaben die Gurte nach und der Harnisch flog in die Luft. Doch der Untote war noch nicht mit Ughtred fertig. Wieder bückte er sich nach dem Nygh und grub seine langen, zersplitterten Nägel in sein Fleisch. Er zerriss die Oberbekleidung und wühlte in Ughtreds Sachen, bis endlich ein zusammengeknotetes Tuch zum Vorschein kam.

Eine Sekunde schien die Tiba Fe still zu stehen. Dann ließ der Angreifer aus dem Schattenreich den Nygh in den Sand plumpsen. Er hatte was er wollte. Gierig zerfledderten die langen Spinnenfinger das Tuch und brachten kleine gezuckerte Würfelchen hervor. Totensüß, dachte Ughtred. Das Zeug wirkte. Im gegensatz zu dem Messingschwert. Manche alten Legenden schienen zu stimmen, andere nicht. Doch hatte er den Toten überhaupt mit der Klinge getroffen? Das Monster hatte sich derart schnell bewegt, dass er nicht sicher war, einen Treffer gelandet zu haben.

Er rutschte rückwärts von dem aufrecht über ihm stehenden Wesen weg. Hinter sich hörte er Tal etwas rufen und als er aufblickte, sah er den zweiten Toten. Vierzehn mal vierzehn, ging es ihm durch den Kopf. AngˋRin musste übersät von diesen unheiligen Bewohnern sein.

Und da kam auch schon der zweite auf die Anhöhe gewankt. Er bewegte sich ruckhaft, schien den Nygh kurz ins Visier zu nehmen, huschte dann aber auf den ersten Angreifer zu und packte den Beutel, den dieser sich mit einer seltsam lebendigen Geste vor das Gesicht drückte. Sofort kam es zu einem wilden Gerangel. Die beiden aus der Anderwelt zurückgekehrten Unwesen rauften sich, schlug mit Krallen nacheinander und zogen sich an den strähnigen Haaren.

Dies war der Moment, um die Bühne zu verlassen, dachte sich Ughtred und kam auch schon auf die Knie. Er wandte sich den anderen zu und sah  nicht, wie ein dritter Untoter den Grad erreichte. Doch Kyon war zur Stelle. Er hatte einen der Zuckerwürfel an einem Pfeil befestigt und schoss diesen nun über den Kopf des Nygh hinweg in den Wüstensand dem neuen Untoten vor die Füße. Sofort stürzte sich dieser darauf und war zumindest für eine Weile abgelenkt. Auch Tal hatte von ihren Würfeln geopfert und in die Gegend geworfen, aber sie hatte sich verschätzt und suchte nun nach dem Zeug. Doch was der Sand hatte, gab er nicht wieder her.

Stattdessen machte sie einen Schritt auf die Rangelnden zu, hob die Chentaiklinge ihres Bruders hoch über den Kopf und schlug in einem weiten Bogen zu. Knochen splitterten und ein Schädel flog durch die Luft und aus der Sicht der Hexe war der Gerechtigkeit an dieser Stelle genüge getan. Als sie Ughtred auf sich zuhumpeln sah, beließ sie es dabei und packte den kleinen Schmied an der Schulter.

Kaum eine Minute später sprangen die drei auf ihre Lopen und galoppierten davon. Irgendwo hinter ihnen war das Totensüß aufgebraucht und der erste der toten Silberwölfe hob sein fleckiges, ausgemergeltes Haupt. Er schnupperte in der Luft, als wäre er auf der Suche nach weiteren Leckereien, doch die Beute hatte sich schon zu weit entfernt. Er keuchte etwas, als wolle er einen Befehl aussprechen, doch dann ließ er die Schultern sinken und wandte sich der Ruine zu. AngˋRin gehörte den Toten. Wenn die Eindringlinge wiederkamen, sollten sie neue Leckereien mit sich bringen. Sonst würden sie selbst gefressen werden.

 

Tal kniete neben Ughtred und hob das verletzte Bein an. Der Nygh knirschte mit den Zähnen und sagte: »Das wars dann wohl«.

Die Hexe lachte und schüttete eine stinkende Flüssigkeit über die lange blutende Wunde und Ughtred gelang es nicht, einen Schrei zu unterdrücken. Das Zeug brannte wie Nesselfarn und der Hexe schien das Ganze auch noch Spaß zu machen.

Er fluchte leise, doch dann wurde ihm mulmig im Magen und er hatte Mühe, sich nicht zu übergeben. Als er wieder zu der Hexe hinsah, hatte diese gerade etwas langes Dünnes in die Wunde gleiten lassen, doch er fühlte keinen Schmerz mehr. Das Ding schien sich in seinem Fleisch zu winden und plötzlich erschienen winzige schwarze Nadeln, die sich von innen durch die Wundränder bohrten und sein gemartertes Fleisch zusammenzogen. Schließlich schloss sich die Verletzung wie von Geisterhand und wieder einmal wunderte sich der Nygh über die fremdartigen Hexenkräfte der Silberwölfin. Diese bestrich die Wunde mit einer nach scharfen Kräutern stinkenden Paste und der Nygh machte sich erneut auf Schmerzen gefasst, doch diese blieben aus. Stattdessen überkam sein Bein eine wohlige Wärme und er hatte das Gefühl, die Verletzung war gar nicht so schlimm gewesen, wie sie im ersten Moment ausgesehen hatte.

Kyon erschien in seinem Blickfeld und hob fragend eine Augenbraue.

»Stirbt er?« wollte der Barde wissen.

Tal sah ihre Arbeit an und hob dann ihr schmales Gesicht, als sie antwortete: »Irgendwann, ja. Aber nicht heute und schon gar nicht an dem Kratzer.«

Ughtred sagte nichts. Er ließ sich nach hinten sinken und schloss die Augen. Tote und die Aussicht auf einen Riesen, einen irren Riesen darüber hinaus. Was tat er hier? Er folgte einem Verrückten, der seinerseits auf der Spur eines Verrückten durch die Wüste taumelte und bei sich hatten sie eine noch verrücktere Hexe, die jeden Dämon der Unterwelt anbeten würde, nur um ihre Reputation zurück zu erlangen. Er hatte einst seine Heimat verlassen, als man ihm die seine genommen hatte. Sicher hätte er auch wilde Abenteuer bestehen können, um den Titel Dieb loszuwerden, aber die Dinge, die diese beiden hier taten, überstiegen sein Fassungsvermögen.

 

Als es endlich hell genug geworden war, einen erneuten Versuch in Richtung der Ruine wagen zu können, stand Ughtred auf und belastete sein Bein. Der Verband saß fest und er hatte tatsächlich keinerlei Schmerzen. Was auch immer die Hexe ihm eingeflößt hatte, es wirkte gut.

Er bückte sich nach den Resten seiner Rüstung, die er die ganze Zeit in einer seiner verkrampften Händen gehalten hatte. Müll, dachte er und ließ die Brocken zu Boden gleiten. Vielleicht würde sich später eine Gelegenheit ergeben, den Harnisch zu reparieren, hier und jetzt fehlten ihm einfach die Mittel dazu. Dann betrachtete er das Messingschwert. Es hatte tiefe Scharten, wo die Wolfsklinge seine Angriffe pariert hatte. Immerhin war es nicht gebrochen. Aber eine wirkliche Auswirkung schien es auch nicht gehabt zu haben. Den alten Sagen nach hätte es den Untoten verbrennen oder auf sonst eine Art auslöschen sollen. Doch sowohl das Schwert als auch das Monster schienen anderer Meinung gewesen zu sein.

 

Als Tal sich die Wunde am nächsten Morgen erneut angesehen hatte, war sie barsch zu dem Schluss gekommen, dass der Patient als genesen eingestuft werden konnte. Ughtred hatte Schmerzen, konnte aber  tatsächlich auftreten.

»Und die Fema`don?« fragte Kyon gerade, als der Nygh seine Sachen zusammen suchte.

»Was ist das?« wollte der kleine Mann wissen.

Tal antwortete. Der Name Femaˋdon bedeutete vergangene Wölfe. Es war eine traurige Bezeichnung für die ehemaligen Bewohner von AngˋRin. Ughtred verstand und nickte und dann brummte er: »Na in meinem Fall wird man sich kaum auf meine Klinge und meinen Schwertarm verlassen können. Die haben es mir gezeugt, die vergangenen Wölfe.«

»Jetzt ist Tag. Sie fürchten die Sonnen«, sagte Tal geschäftig und zog ihre Jacke über, denn sie teilte die Meinung der Untoten zu den Tagesgestirnen.

Kyon machte sich ebenfalls fertig und deutete auf Odugme und seinen Draiynknüppel. Es dauerte nur wenige Minuten, bis sie mit den Lopen erneut an dem Ort des Zusammentreffens mit den Bewohnern der Ruine ankamen. Kyon stieg ab und hob etwas auf. Von den Toten gab es keine Spur. Aber sie hatten eins ihrer Schwerter zurückgelassen.

Kyon hob die lange Klinge hoch und deutete schließlich damit auf den Phani. Dies war eine Waffe für einen so großen Mann, die seinen Kräften würdig erschien. Odugme trat näher, ließ seine Keule in den Sand fallen und griff das Heft des Schwertes. Dann machte Kyon wortlos den ersten Schritt in Richtung Senke.

Sie brauchten über eine halbe Stunde, um einen guten Weg in die Ruinenstadt hinunter auszubaldowern. Direkt unter dem Grad gab es mehrere noch als Gebäudestrukturen erkennbare Gesteinsbrocken. Als Kyon sie eine Weile beobachtet hatte, deutete er auf einen ihrer Schatten. Tal kniff die Augen zusammen, erkannte aber natürlich nichts, aber Ughtred nickte und flüsterte die neu gelernten Worte: »Femaˋdon«

Die Untoten mieden das Licht der Sonnen, aber sie schienen nicht alle zu schlafen. In Kyons Schatten hatte sich eindeutig einer der Verdammten bewegt. Vielleicht war er auch nur tiefer ins Dunkel gekrochen, weil er sich mit seiner Tagesunterkunft verschätzt hatte, aber er schien nicht der einzige zu sein. Jetzt, wo Kyon wusste, worauf er zu achten hatte, deutete er noch vier oder fünf Mal in eine der kantigen Ecken oder etwas höheren Ruinenbruchstücke. Dies war der falsche Weg.

Stattdessen entschieden sie sich für einen Umweg nach Osten. Im Tagebuch war ohnehin ständig die Rede von dieser Richtung. Hier gab es eine übersichtlichere Fläche mit weniger Gebäuderesten. Sie rutschten also den Pfad durch den Sand hinunter zum Beginn der Senke und wandten sich sofort wieder von der einstigen Anlage ab. Östlich schienen zwei große freie Felder gewesen zu sein. Hier bewegte sich nicht.

Einige Zeit schlichen sie durch das Licht des frühen Morgens und Ughtred konnte den beiden Silberwölfen genau ansehen, dass sie wie ihre verfluchten Kameraden hier draußen wünschten, es wäre dunkel. Zum Glück war es noch früh in der Jahreszeit und die Argol Fe hatte, wie ihre Schwester, noch lange nicht ihre volle Kraft wiedererlangt. Der Winter hatte die beiden Schwestern geschwächt und es würde noch eine Weile dauern, bis sie ihre volle Kraft wiedererlangt hätten. Dann würden sie den Sand unter ihren Grimmen Gesichtern zum Glühen bringen und kein Abenteurer hätte eine Chance, bei Tage hierher zu kommen.

Plötzlich duckte sich Kyon, der einige Schritte voran gegangen war, und hob eine Faust. Er wusste nicht, warum er dieses Zeichen machte und was es letztendlich bedeutete, aber es kam ihm einfach richtig vor und siehe da, selbst die blinde Tal und ihr hirnloser Riese schienen es verstanden zu haben, denn auch sie gingen in Deckung und warteten ab, was es gab. Ughtred schob sich näher an den Barden heran und dieser hatte seine Hand nach seinem Bogen ausgestreckt. Völlig lautlos glitt das Höllending aus dem Köcher, entfaltete sich und hätte dem Nygh beinahe mit der scharfen, sich spannenden Sehne ein Ohr abgesäbelt. Kyon deutete mit dem Oberholm des einrastenden Bogens in eine Richtung den Pfad hinunter und Ughtred fluchte leise über die Wolfsaugen seines Gefährten. Er kniff die eigenen Augen zusammen und erkannte im flimmernden Grau des Sandes sich bewegende Dreiecke. Was war dies nun wieder für eine Teufelei?

Kyon flüsterte: »Amytoren. Wenigstens sechs, eher mehr. Sie bestehen aus Hautlappen oder Flügeln, aber ich will es gar nicht so genau wissen.«

Ughtred deutete nach Süden, wo der Pfad auf dem sie sich befanden ebenfalls weiterzugehen schien und offenbar sogar direkter zu der großen Senke führte. Das Gelände war offener, man würde sie sehen können. Aber Amytoren waren ein Argument. Also verließen sie den ursprünglichen Weg und rutschten eine Etage tiefer und direkt auf eins der großen Felder zu. Kyon blickte zurück und sah, wie drei der Dreiecke sich überschlugen und den Boden zu schlagen begannen. Es waren Flügel. Sie mussten hier weg. Amytoren die aussahen wie drei aneinander genähte Dreiecke und weder Kopf noch Glieder aufwiesen, waren dennoch Amytoren. Niemand konnte sagen, welche Scheußlichkeiten sie für ihre Opfer bereit hielten, denn eines war so sicher wie der Sonnenaufgang über der Tiba Fe: Amytoren hatten immer mit Scheußlichkeiten aufzuwarten.

Ughtred war vorausgegangen und Kyon erklärte der verdutzten Hexe, was vorgefallen war. Sie versuchte die Dreiecke auch zu sehen, aber Kyon packte sie an der langen Kapuze ihres Mantels und zerrte sie hinter sich her. Sie maulte, weil es hier ja vielleicht um wichtige Zutaten für ihre Hexensüppchen gehen konnte, aber Kyon war nicht zum Spaßen aufgelegt und wollte AngˋRin so schnell wie irgend möglich hinter sich lassen.

Stolpernd und rutschend gelangten sie an den Rand des offenen Feldes und Kyon war dieser Weg fast noch unbehaglicher als die dichtere Ruine. In den Schatten fühlte er sich wohl. Hier war er der Wut der Glutschwestern ohne Schutz ausgesetzt. Aber andererseits waren hinter ihnen die Untoten und über ihnen Dreieckamytoren. Er setzte einen Fuß auf die Lichtung und wunderte sich. Der Boden schien zu vibrieren. Was war dieses nun wieder für eine Teufelei? 

Er sah genauer hin. Da waren Halme, es sah aus wie vertrocknetes Stroh. Das Zeug lag überall im Sand, ja es war fast flächendeckend. Er bückte sich und wollte eins aufheben, doch in diesem Moment ging wieder eine Vibration durch den Boden und der Halm, nach dem er gegriffen hatte, stellte sich auf und richtete sich auf ihn. Es sah aus wie Eisenspäne auf einer magnetischen Oberfläche. Die Vibration wurde stärker und Kyon schrie: »Zurück!«

Im selben Moment lösten sich unzählige der Halme und schossen durch die Luft. Wie fingerlange Nadeln zischten sie von unbekannten Zwischenraumkräften geschleudert umher und machten die Luft zu einem flirrenden Chaos. Kyons Mantel wurde mehrfach durchbohrt und er sah, wie einer der Halme Ughtred an der Schulter ritzte. Auch der Phani hatte einen abbekommen und zog ihn sich aus dem Muskel seines Unterarmes. Sie traten erneut den Rückzug an und das Feld schien sich zu beruhigen.

»Abwehrmaßnahme«, flüsterte Tal.

Kyon schüttelte den Kopf und sagte: »Kommt mir eher wie eine Angriffswaffe vor. Das haben unsere Leute gemacht. Sie haben das Zeug von Flugschiffen über der Wüste abgelassen, um irgend etwas in Schach zu halten.«

Tal nickte und flüsterte dann: »Anderer Weg?«

Kyon deutete mit dem Bogenholm hinter sie. Zwar müssten sie sich wieder in Richtung der eigentlichen Ruine bewegen, aber das Feld war unpassierbar. Wenn die Dinger erst richtig loslegten, würden sie aus jedem lebenden Wesen ein Nadelkissen machen. Außerdem schien es Kyon nicht mehr weit zu der von seinem Vater beschriebenen Senke zu sein. In Richtung Strukturen gab es rechts von ihnen ein großes Ruinenfeld. Hier stand einst eindeutig der im Tagebuch vorkommende Formerturm. Die andere Seite sah zwar übersichtlicher aus, aber Kyon wagte es nicht, am Rand des Nadelfeldes entlang zu gehen. Dann besser den direkten Weg, auch wenn es hier Schatten gab und die Untoten sie sicher schon beobachteten. Krach hatten sie ja zu genüge gemacht. Er ärgerte sich ein wenig, weil er diesen Umstand nicht Tal und dem Phani in die Schuhe schieben konnte.

So leise und so schnell wie möglich führte er die Gruppe auf die Trümmer des Turmes zu. Da war auch noch eine alte Werft zu erkennen. Schiffsrümpfe lagen über einem Platz verstreut. Sie sahen aus wie die Gerippe riesiger Amytoren und Kyon musste an die Draiyn und ihre Beute denken. Doch dann knirschte Glas unter seinem Stiefel und er erschrak erneut. Sofort blieb er stehen und wartete darauf von irgend etwas durchbohrt zu werden, doch der Impakt blieb aus. Er betrachtete den Sand und nickte. Schwarzes Glas hatte sich mit den Steinen und dem Dreck vermengt. Es waren die Scheiben des Formerturmes. Er musste riesige Sonnensegel aus dunklem Glas gehabt haben und diese waren vor langer Zeit zerborsten und hier auf die Straßen herab geregnet.

Ein tiefes Brummen ging von der Ruine aus und als Kyon seinen Kopf hob, sah er einen dünnen Blutfaden aus Tals Nase rinnen.

Schnaufend deutete er auf ihr Gesicht und sie hob fast gleichzeitig die Hand, um ihrerseits auf ihn zu zeigen. Er wischte sich das Blut vom Mund und nickte grimmig. Der Turm, oder irgend etwas unter dem Turm arbeitete noch. Millenium um Millenium griff dieses Ding in die Membran der Anderwelt und mischte die hiesige Biosphäre mit dem keimenden Lebensquell anderer Realitäten. Kein Wunder, dass es hier Untote und Amytoren gab. Sie hatten die Kontrolle über den Turm verloren und seither schuf er Anomalien des Lebens.

Und er wirkte natürlich auf die Silberwölfe. Ihr Dasein war das Chaos der Anderwelt und der Turm griff direkt in ihre Lebenskraft und begann sie erbarmungslos für seine Zwecke zu entfremden. Kyon sah schnell zu Ughtred hinüber, doch der Nygh schien wieder einmal unbehelligt davonzukommen und auch der Phani hatte kein Nasenbluten. Kyons Ohren schmerzten mittlerweile und sein Blick fiel auf den dunklen Flecken auf Tals Rock. Am Saum rann dünnes Blut ihren Knöchel hinab. Sie mussten auf der Stelle von hier verschwinden!

Ughtred deutete auf die Senke und begann ein Seil an einem Metallträger zu befestigen, doch Tal schob sich vor ihn und nahm ihm das Seilende aus der Hand. Sie lächelte ihm seltsam freundlich zu und zeigte ihm ihr blutiges Zahnfleisch. Dann machte sie einen kleinen Sprung und rutschte die Rampe in die Dunkelheit hinunter.

Die Öffnung war riesig. Ein Teil des Tunnelsystems musste mehrere tiefer gelegene Stockwerke unter sich begraben haben. Der so entstandene Raum lag vorher sicher deutlich höher. Niemand hätte sagen können, ob das Ganze nun weit genug zusammengesackt war, um eine stabile Endlage erreicht zu haben. Aber es spielte ohnehin keine Rolle. Zum Glück war die Schräge, die in die Dunkelheit hinab führte nicht allzu steil und Ughtreds Seil half, den Abstieg zu kontrollieren.

Als Kyon den Nygh vor sich in der Dunkelheit verschwinden sah, schob der den sich zusammenfaltenden Bogen in den Köcher zurück und machte dem Phani ein Zeichen den anderen beiden zu folgen. Dieser nahm das schwert an der Handberge und packte das Seil mit der freien Pranke. Ungeschickt rutschte er auf seinen bloßen Füßen die Steinschräge hinab und Kyon zog es beim Gedanken von winzigen Splittern in Fußsohlen das Gemächte zusammen. Er schüttelte den Kopf und rutschte hinterher, dankbar Stiefel aus Quinkleder an den Füßen zu tragen.

 

Schon nach wenigen Schritten herrschte in den unterirdischen Trümmern die absolute Finsternis. Es war so dunkel, dass Ughtred eine Lampe aus seinem Rucksack kramte. Die beiden Silberwölfe schienen noch einigermaßen sehen zu können, aber mit der Lampe ging es natürlich besser.

Die ursprüngliche Tunneldecke war an so vielen Stellen eingebrochen, dass man die Form des Gebäudes kaum noch erahnen konnte. Überall ragten Metallstützen, scharfkantige Gitter und zersplitterte Steine aus der trockenen Erde. Bei jedem Schritt rieselte Sand aus den Rissen und immer wieder ruckten an der Decke Steine nach. Es gab weder Stützen noch stabile Bereiche, und mehrmals erfüllte das berstende Krachen von Steinen den Tunnel.

Nach einer gefühlten Unendlichkeit führte eine ebenfalls gebrochene Steintreppe in einem flachen Winkel noch ein Stockwerk tiefer und dann wurde der Haupttunnel schmaler und Öffnungen deuteten einstige Räumlichkeiten an. Allerdings waren die ersten dieser Bereiche komplett eingebrochen und überall lag Schutt und Schmutz auf dem Boden und machte das Vorankommen schwer. Erst ein Stück weiter schienen die ursprünglichen Formen der Struktur erhalten geblieben sein und überall gab es Türen aus Holz und längst erloschene Beleuchtungsanlagen. Auf dem Boden lagen nun neben den Steinen, die auch hier aus der Decke gebrochen waren, unzählige Skelette und lange nutzlos gewordene Ausrüstungsgegenstände.

Gerade wollte Tal sich unter einem eingesunkenen Türsturz hindurch bücken und dachte darüber nach, was die seltsame Metallkonstruktion in dem dahinter liegenden Raum vorstellte, da sah sie aus dem Augenwinkel wie Kyon hinter sich deutete. Tal versuchte etwas zu erkennen, nahm aber nur die Bewegung im Gang hinter ihnen war. »Femaˋdon«, fluchte sie leise.

Sie griff nach ihrem Schwert, ließ die Hand aber sofort wieder sinken. Die Räume waren einfach viel zu beengt und verwinkelt für eine Klinge dieser Länge. Stattdessen zog sie ihren Langdolch und duckte sich endlich in den Raum hinüber.

Hinter dem Durchgang lag ein weiterer Korridor, der so dunkel war wie die Tiefe des Oriadischen Golfes, und in dieser Schwärze kam plötzlich ebenfalls etwas in Bewegung. Auf der anderen Seite der schmutzigen Kammer gab es zwei weitere Öffnungen und dort in der Dunkelheit lauerten sie.

Kyon deutete auf eine der Türen und machte eine schnelle Bewegung mit seinem Zeigefinger. Weiter, einfach weiter – einen Kampf gegen die Untoten würden sie hier unten nicht überleben. So nahmen sie die Beine in die Hand und rannten los. Die Trümmer waren gefährlich und mehr als einmal schrammte Kyon an einem abgebrochenen Steinrahmen oder einem Teil einer der namenlosen alten Maschinen entlang.

Die Femaˋdon schienen ihnen auf Abstand zu folgen, doch je weiter sie durch die Trümmer in Richtung Osten gelangten, desto weniger schienen sie zu werden. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit in der Finsternis, erstarben alle Laute und als Kyon anhielt und lauschte, konnte er nur noch die Schritte seiner Kameraden hören. Er sah ich um und betrachtete die Umgebung. Ughtred war ebenfalls stehen geblieben und leuchtete in Kyons Richtung.

Dieser berührte mit der Stiefelspitze eine Kiste aus einem fremdartigen Material. Als der Deckel zu Boden glitt, griff Kyon hinein und hob einen silbernen Gegenstand heraus. Es war merkwürdig, denn das Silber kitzelte ihn nicht an den Fingern. Er berührte das Ding mit der Zunge und auch jetzt gab es keine Reaktion. Das war kein Silber. Es sah so aus, aber es war aus einem anderen Metall. Außerdem sah es extrem ungewöhnlich aus. Er hatte es sofort als Waffe erkannt, denn es hatte einen gebogenen Griff und einen Abzug wie eine Handarmbrust und auch einen Lauf für einen Bolzen, aber hier war auch schon das Problem. Der Lauf war ein rundum geschlossenes Rohr und es gab weder Sehne noch Bogen. Er schüttelte den Kopf und wollte die Funktion des Dings erkunden, aber da spürte er ein seltsames Ziehen aus einer anderen Ecke des Raumes.

Es gab hier auf dem Boden verbogene Gitter und an den Wänden zeugten schwere Scharniere von dem einstigen Nutzen der Räume. Es mussten Zellen gewesen sein. Kyon bückte sich in den Schutt einer der Räumlichkeiten und schob eine Platte aus demselben Material wie die Kisten beiseite. Darunter lag, an die Wand gelehnt, ein Skelett. Dieser Tote war tot im realen Sinne des Wortes. Das Ziehen in Kyons Schädel kam von den Knochen. Er bückte sich erneut und griff in den Dreck und die verteilten Knöchelchen einer Hand und als er den Schmutz zwischen den eigenen Fingern aussiebte, blieb ein einzelner dünner Knochen mit einem massiven smavarischen Ring daran zurück. Er schüttelte die Hand aus und ließ achtlos den Knöchel zu Boden fallen. Dann hob er den kalten Stein des Ringes vor sein Zielauge und nickte wissend. Smavarischer Zauberring des Todes; irgendetwas perverses, dachte er und schob den Fund in eine seiner Taschen.

Irgendwo krachte ein Stein zu Boden und Ughtred zappelte mit der Lampe. Kyon nickte ihm zu und stieg aus der ehemaligen Zelle. Dann schnappte er sich den Rest aus der Kiste der seltsamen Waffe. Es handelte sich um einen vergammelten Ledergurt mit einer Art Holster, in den die Waffe eindeutig hineinpassen zu schien. Er stopfte das ganze Zeug in seinen Umhängeschlauch und duckte sich unter dem gebrochenen Türsturz hindurch, um den anderen zu folgen.

 

Mehrere hundert Schritte ging es noch unter der Erde durch die Ruine von AngˋRin und immernoch schienen die Toten hinter den Besuchern ihres Reiches her zu sein. Doch sie kamen nicht näher und als vor Tal endlich ein Licht zu sehen war, rief sie: »Wir haben es geschafft!«

Kyon war ein ganzes Stück hinter ihr, hörte ihren Ruf aber dennoch, aber leider konnte er ihren Euphemismus nicht teilen. Selbst wenn sie an einer weiteren Konfrontation mit den Femaˋdon vorübergegangen waren, das Tagebuch sprach eine ziemlich eindeutige Sprache zur Thematik des eigentlichen Herrn dieses Reiches. Außerdem hatten sie die Bleidecke nicht mit hier herunternehmen können. Das Ding war viel zu schwer und hätte sie behindert. Sollten sie den Riesen also tatsächlich besiegen können, der Schild, das Ziel ihres Vorstoßes in diese Totenwelt, würde irgendwie transportiert werden müssen und niemand konnte sagen, wie die Untoten reagierten, wenn der Riese weg wäre. Egal wie, egal was, er spürte die Angst, in sich aufsteigen. Untote, Riesen, der, also der Chaosschild aus alten Kriegszeiten, eine ebenso göttliche wie verfluchte Waffe – wie zur Anderwelt sollte er das schaffen? Er war ein Barde, ein einfacher kleiner Prinz in einem verschlafenen Reich, dessen Blütezeit längst vorübergegangen war. Er verfluchte seinen Vater und alle Männer des Hauses Yˋshandragor. Was hatten sie, was hatte er sich nur bei alledem gedacht?

Blinzelnd trat er neben Tal und den Nygh ins Licht der Doppelsonnen hinaus. Er hatte eine Art Arena betreten, deren Wände aus Schutt und alten Schiffsteilen zu bestehen schienen. Das Dach war eingebrochen, aber die Trümmer schienen zur Seite geräumt worden zu sein. Der ganze Raum hatte einen ungefähren Durchmesser von wenigstens dreißig Schritt und das Loch in der Decke war nur unwesentlich kleiner. Auf der anderen Seite befanden sich noch mehr Schutt und Trümmerteile aus Stein. Obenauf hatte man eine Art Plattform errichtet und auf dieser wiederum stand ein gewaltiger Tron aus Schrott und Müll. Auf diesem riesigen Stuhl hockte der Riese Sigron. Und keine Beschreibung konnte seiner Schrecklichkeit gerecht werden.

Jetzt wo sie ihn sahen, erkannten Tal und Kyon ihn sofort als das was er war. Er entstammte nicht dem Geschlecht der Riesen in diesem Sinne. Es gab keine Riesen auf der Tiba Fe, zumindest keine großen. Tatsächlich waren die Nyghs den Skergen zugehörig und dies galt auch für alle echten Riesen. Diese Wesen waren Kinder uralter Titanen, doch Sigron, war keiner von ihnen. Bei ihm handelte es sich um einen Drajorn. Er war ein Eltwesen, von anderen Eltwesen zur Riesenform gezüchtet und pervertiert. Die Smavari früherer Tage hatten nicht nur an Tieren geforscht und Amytoren und schlimmere Dinger aus ihnen gemacht, sie hatten auch ihr eigenes Blut für ihre perversen Versuche missbraucht und neben vielen anderen, wahrscheinlich noch unaussprechlicheren Schrecken, züchteten sie auch die Drajorn. Sie machten sie zu grausen Kriegsbestien, mit einem unstillbaren Hunger auf Tod und Verderben und wenn sie die gewaltigen Wesen nicht mehr brauchten, warden sie was auch immer von ihnen übrig war auf den Müll. Kyon hatte einmal gehört, dass es viele Kriege zwischen seinen Leuten und den Draiyn gegeben hatte, bevor das Land zu einer echten Wüste geworden war. In diesen Kriegen hatte man eine Unzahl der Chaosriesen ins Feld geschickt und sie Insektenmänner vertilgen lassen. Doch als der Krieg nicht mehr zu gewinnen war, hatte man die Drajorn auch hier ihrem Schicksal überlassen. Viele von ihnen waren umhergeirrt und zugrunde gegangen. Doch Sigron schien den Schild gefunden zu haben und mit dessen Hilfe hatte er die Millenien in der Wüste überlebt.

Und da war er. Unterhalb der Plattform, als hätte ihn Sigron unachtsam fallen lassen, ragte die Rundung des Chaoschildes aus dem Schutt der Arena. Er sah nicht besonders aus und gab auch weder ein Brummen noch sonst etwas von sich und war von Schmutz bedeckt.

Kyon hob die Hand und sein Bogen schlitterte aus dem Köcher in die Luft und entfaltete sich klackend. Hinzu kam einer der Pfeile, der in einer fließenden Bewegung in Kyons Hand landete. Neben ihm zog Tal das Chentaischwert und ihr Rüstungshandschuh mit dem Shimwas darin begann in rauer Vorfreude zu brummen. Selbst Odugme hob sein Totenschwert auf seine massigen Schultern und grunzte angriffslustig und nur Ughtred rieb sich mit der Hand über die Stirn. Er stierte vor sich auf den Boden und schüttelte den Kopf. Für ihn war ein Kampf alles andere als erbaulich. Das Töten an sich machte ihm keine Freude und er verstand den Zusammenhang zwischen den Silberwölfen, dem Schild und dem riesigen Wesen da hinten auf seinem Thron einfach nicht. Andererseits hatte er auch keine Wahl. Was sollte er tun? Er konnte die anderen kaum in den Tod rennen lassen. Also griff er zu den Griffen seiner beiden Wurfäxte und zog sie ohne Elan aus dem Gürtel. Er wog sie in einer Hand und ließ sie einmal um ihre eigenen Achsen kreisen. Dann nahm er eine in jede Hand, griff fest zu und straffte die Schultern. Als er aufblickte, war der Riese gerade aufgestanden und er spürte, wie ihm die Spucke ausblieb.

Kyon verzog die Lippen zu einer Grimasse und zischte: »Verdammter Quinkdreck, das Ding ist fast zwanzig Schritte groß. Wie sollen wir den nur besiegen?«

Doch Tal knurrte in einer fremdartig verzerrten Stimme: »Wir stutzen in uns zurecht!«

Dann stürmte sie los.

 

Der Riese spuckte in den Sand und knurrte böse. Dann machte er einen Schritt von seiner Plattform in die Arena herunter und spuckte aus. Mit einer steifen Bewegung griff er nach etwas, dass im Schutt zu seinen ruderbootgroßen Füßen gelegen hatte und als er sich diesmal aufrichtete umfasste seine über zwei Lopen große Faust eine Keule, deren Kopf aus den Rammspornen mehrere Schiffe bestand. Das Ding wog zweifelsfrei mehr als eine Tonne und machte ein fauchendes Geräusch, als der Drajorn es es hoch über seinen Kopf hob. Dann donnerte es in den Wüstensand und schickte eine Schockwelle in die Arena hinaus.

Tal sprang über die umherfliegenden Trümmer, sprang über einen großen Stein und erreichte den Riesen. Sie schrammte mit der Klinge über das Knie des Giganten und duckte sich unter seiner Pranke hinweg. Als sie hinter die Gefahrenzone getreten war, stieß sie die Chentaiklinge bis zur Hälfte in die Wade Sigrons.

Gleichzeitig flogen Kyons Pfeile. Einer traf die zerfetzte Kutte des Riesen, explodierte in einem lauten Knall und prallte an der dicken Haut darunter ab. Der Zweite traf in das weiche Fleisch im Augenwinkel und Sigron grunzte genervt. Ughtred rannte neben Odugme her und während Kyon nachlud und Tal erneut mit dem Schwert wirbelte, kam er nahe genug und schleuderte seine Wurfäxte. Leider verursachten auch diese Waffen nur wenig Schaden und er erkannte, dass es nun die Zeit für seine schwerere Handaxt gekommen war. Er wollte das Ding gerade unter seiner Kutte hervorziehen, als der Gigant einen Ausfallschritt machte und ihn unglücklich mit dem Handrücken streifte. Der Nygh wurde durch die Luft geschleudert und pralle einige Meter weiter auf den Wüstensand. Da stieß auch der Phani mit seiner Klinge zu, doch auch dieser Angriff schien den Riesen nur wenig zu beeinträchtigen.

Erneut flogen Pfeile und diesmal trafen zwei davon in eins der Augen des Riesen. Er brüllte und als Tal in die Feinstoffliche Welt griff und dort das Schmerzzentrum des Riesen bearbeitete, taumelt er. Dieser Zustand ielt zwar nur eine Sekunde, aber er hob seine Keule und fuchtelte damit ungezielt durch die Luft. Hätte statdessen Odugme, der direkt in Reichweite snd getroffen, wäre dieser zerfetzt worden. 

Kyon brüllte: »Wir müssen ihn in Bewegung halten. Lenkt ihn weiter ab. DIe Angriffe schwächen ihn.«

Gesagt getan schlug Ughtred mit der Axt zu, doch der Riese trat nach ihm und traf. Der Nygh flog mehrere Schritte durch die Luft und polterte in den Dreck. Als er ausgeschlittert war, raffte er sich auf und spuckte Sand und Blut. Dann kniff er die Augen und die Zähne zusammen und stand auf. Jetzt war er sauer.

Unterdessen war auch Tal erneut gestreift worden und zu Boden gegangen, doch sie war sofort aufgesprungen und trieb dem Riesen die Klinge in die Verse. Noch mehr Pfeile flogen und auch Odugme versuche zuzuschlagen, doch die Bewegungen des Phani hatten nichts Kriegerhaftes. Er mochte geschult darin sein, den Schambereich von Hexen mit feinen Klingen zu enthaaren, doch das Kriegshandwerk mit Langschwertern lag ihm ganz offensichtlich nicht.

Kyon brüllte erneut etwas und schoss weitere Pfeile und auch Tal hackte weiter auf den Dajorn ein und wich dessen Keule aus. Ein Treffer und sie wäre Geschichte, dachte Kyon und verfiel in blinden Aktionismus. Ohne zu denken stürmte er auf einen kleinen Fels zu, ließ seinen Bogen fallen und zog die fremdartige Waffe, die er in den Katakomben gefunden hatte.

Er sprang mit einem Fuß auf den Stein, drückte sich ab, hob die Waffe und schlug auf den kleinen Hahn am Ende des Laufes, während sein Finger instinktiv fünf Mal den Abzug zu sich zog. Das Donnern war unwirklich und ohrenbetäubend. Die Waffe ruckte in Kyons Hand und spuckte Feuer. Doch was auch immer aus ihrem Rachen kam, grub sich in Mund und Augen des Riesen.

Wieder schrie Sigron und wieder hackte Tal auf seine Verse ein und diesmal drang sie durch das Fleisch und spürte den Ruck, als eine der Sehnen nachgab. Der Gigant stolperte und hätte beinahe den Phani zerquetscht, aber Ughtred rammte den großen schwarzen Mann zur Seite. Dann kniete Sigron im Dreck und der Nygh wandte sich dem riesigen Kopf des Irren Riesen zu und holte mit seiner Axt aus. Immer wieder hackte er auf das Ohr des Monsters ein und schrie in die Fontäne des spritzenden Blutes hinein.

Einige Schritte entfernt tat es ihm Tal gleich. Sie stach zuerst in die weiche Seite unter dem Arm des Riesen und wich erneut seiner Pranke aus. Dann sprang sie auf die Schulter und stieß ihre Klinge in den faltigen Hals. Sie machte noch einen Schritt und landete neben dem Kopf des Riesen. Dann rammte sie ihm die Klinge tief ins Ohr und Sigron gab ein schmerzerfülltes Wimmern von sich. Es war, als verließen ihn die Kräfte der Wüste. Der Schild, was auch immer dies bedeuten mochte, schien das Ende einer Ära erkannt zu haben. Er löste sich von dem gigantischen Eltwesen und gab Sigrons Geist frei. Dies schwächte den Gefallenen noch mehr.

Immer und immer wieder stieß sie wie eine Verrückte zu und schrie ihre Hexenflüche heraus, doch das Schwert wurde bei dieser grausen Arbeit nicht von ihr geführt. Es war der Shimwas, dessen Aufgabe das Töten war. Der Stein glühte und gab ein geistloses Schrillen von sich. Da war nichts Gezieltes in dieser Wut, es handelte sich um das reine Wüten der ungezügelten elementaren Kraft des Tötens. Der Stein war ein feuerspuckender Berg und eine Flutwelle, die Felder und Häuser verwüstete. Er brannte in lichterloher Vernichtungskraft. Der Stein hörte auch nicht auf, als das unechte Leben des Riesen längst in den Sand der Arena gesickert war. Immer und immer wieder trieb der Seelenstein Tals Körper an, weiter auf den Sterbenden einzuhacken und Tal verlor schließlich endgültig die Kontrolle. Sie hackte und stieß und Ughtred, der nicht von dem Shimwas beeinflusst wurde, tat es ihr gleich. Diese Sache musste hier enden. Der Riese musste hier enden.

 

Kyon hockte auf dem Stein von dem er abgesprungen war und betrachtete die Waffe in einer Hand. Er hatte den Mechanismus gefunden, mit dem man das trommelförmige Magazin aus ihrem Korpus schwenken konnte und nun untersuchte er die seltsamen Bolzen dain. Sie waren noch warm, als hätten sie in der Waffe gebrannt und fünf von ihnen waren leer. Die Sechste endete in einer sanften Rundung, die nichts von einem Armbrustbolzen hatte. Er zuckte mit den Schultern, entfernte die leeren Bolzen und fummelte neue aus seiner Tasche. Es waren noch wenigstens zehn davon bei dem Gürtel gelegen und jetzt war er heilfroh, dass er sich die Zeit genommen hatte, sie einzustecken.

Er blickte auf, als ein Schatten sich über ihn legte. Tal war über und über vom Blut des Riesen bedeckt. Sie leckte sich über die Lippen und machte eine wegwerfende Bewegung in die Richtung des Massakers. Kyon nickte und sie streckte ihm die Hand entgegen und zog ihn von seinem Stein. Dann gingen sie gemeinsam zu den Überresten des Riesen.

»Was ist das?« fragte sie. 

»Eine Waffe. Ich habe sie zusammen mit einem Ring unten in den Tunneln gefunden. Hat geholfen.«

Er zog den Ring aus einer Tasche und hielt ihn kurz hoch. Die Hexe beäugte das Funkeln kurz, sagte aber nichts.

Ughtred und Odugme standen im Schlamm aus Blut und Sand. Immer mehr der dunklen Flüssigkeit sickerte aus den unzähligen Wunden des gefällten Monsters. Dann tippte Kyon den Phani an der Schulter an und deutete auf den Schild. Odugme ging mit festen Schritten hinter Kyon her und blieb dicht hinter ihm bei dem Schild stehen.

»Hol das Ding aus dem Schutt«, befahl Kyon dem Phani und dieser setzte sich ohne zu zögern in Bewegung. Er brachte einen großen Stein zum Umkippen und zog dann so lange an der Kante des Schildes, bis er ihn frei hatte. Dann drehte er ihn um und Kyon sah ihn sich an. Er maß fast zwei Schritte im Durchmesser, bestand aus einem golden glänzenden Metall und auf seiner riesigen Oberfläche prangte ein uraltes, aus Pfeilen und Linien bestehendes Chaossymbol aus den Zeiten der Aspekte des Kar.

Kyon lauschte in sich, konnte den Schild aber nicht fühlen und deutete daher auf Tal. Odugme schien zu verstehen und trug den Schild zu seiner Herrin, doch plötzlich blieb er mitten in der Bewegung stehen. Kyon wollte schon einen Befehl geben und den Phani zurechtweisen, doch dieser ließ den Schild zu Boden gleiten, blickte kurz in den Staub und nahm dann seine vergoldete Maske aus der Stirnschiene. Dann besah er sich das gute Stück und schließlich führte er es an seinen Mund und biss dann mit aller Macht hinein. Zähne splitterten und als er noch einmal zubiss knackte sein Unterkiefer. Blut spritzte und Odugme stöhnte, aber er wankte nicht und machte Anstalten, noch mehr Schaden anzurichten.

Ughtred konnte es nicht fassen, reagierte aber als Erster. Er stürmte auf den Phani zu und wie im Kampf rammte er ihn um. Odugme strauchelte, fiel und verlor die Maske. Blut spritzte durch die Luft und traf auf seine Brust und Ughtreds Bart.

Dann war Tal neben ihnen und zerrte den Schild einige Schritte in die Arena hinaus. Der Schild blieb in der Sonne liegen und Tal war, als höre sie ein leises Flüstern in ihrem Kopf, doch sie hatte keine Zeit. Schnell wandte sie sich wieder Odugme zu und sah, wie Ughtred dem großen Mann den Schaft seiner Handaxt auf der weniger verletzten Seite zwischen die Backenzähne presste, denn der Bann war längst nicht gebrochen. Der Phani versuchte immer noch, seine Kiefer zusammenzupressen, doch dann ließ er langsam nach. Er zitterte und stieß ein klägliches zungenloses Wimmern aus. Dann schloss er die Augen und erschlaffte.

Kyon trat neben ihn und sagte leise: »Da hatte mein Erzeuger offensichtlich nicht übertrieben. Der Schild hat nicht die beste Wirkung auf die Sterblichen. Er ist nur für die Elt und auch wir sollten uns vorsehen Frau YtˋTalan.«

Die Hexe streckte ihm eine Hand entgegen und er holte eins der medizinischen Versorgungskästchen hervor und gab es ihr. Während sie den gebrochenen Kiefer untersuchte und zwei schnell härtenden Schienen auf der linken Seite einbrachte, sagte sie: »Die Bleidecke. Es war richtig sie zu besorgen.«

»Wir müssen ab jetzt das Tagebuch ernster nehmen, sonst endet das böse«, flüsterte Kyon und sah dann Ughtred in die blassblauen Augen. »Gut gekämpft Dieb«, sagte er und wandte sich dann dem Schuttberg und dem Sitz des nun toten Irren Riesen zu. Ein Chaosschild reichte ihm nicht. Der Ausflug in die Ruine von AngˋRin sollte sich noch ein bisschen mehr lohnen. Sie würden jede Ressource benötigen, wenn sie die Schwarze Perle erringen wollten. Das hier war erst der Anfang. Sie mussten sich verbessern, schnell und effizient.

 

Itsh der Jägermond raste auf seiner schnellen Bahn über den Himmel und warf seine seltsamen, fliegenden Schatten über den beigen Sandboden, während hoch über ihm der düster braune Drawn in seiner langsamen Bahn dahin zog. Tal betrachtete ihr Werk. Sie hatte Odugmes Kiefer mit einem Versatzstück aus sich selbst formendem Gold versehen, doch der Situation und dem Ort geschuldet, war das Ergebnis alles andere als perfekt ausgefallen. Der Kiefer saß schief und musste auf der linken Seite, wo ihn die Schienen hielten, am Gelenk mit einem weiteren Versatzstück fixiert werden. Mehrere große Tropfen des intelligenten Goldes waren dem Phani auf die breite Brust getropft und hatten hier eine lange, nun ebenfalls golden glänzende Narbe hinterlassen. Außerdem fehlten dem Phani alle Vorderzähne und auf der linken Seite hatte er zusätzlich drei Backenzähne verloren. Nun lag er in Tals eigene Decke gewickelt dicht beim Feuer und hatte Fieber.

Sie strich ihm über die geschwollenen Lippen. Mein schönes Statussymbol, nun bist du nicht mehr so schön, dachte sie. Doch dann nahm sie das kochende Wasser vom Dreibein und begann ein entzündungshemmendes Präparat zu mischen. Sie hatte das noch nie sonderlich gut hinbekommen und Akkatha hatte sie mehr als einmal für ihre Nachlässigkeit gerügt, doch Tal hatte sich nie vorstellen können, wozu sie die Fertigkeit das Zeug zu brauen jemals benötigen würde. 

»Nun ja, wenn einmal euer Phani vom Chaosschild angeleitet in seine eigene Maske beißt und sich so den Kiefer zertrümmert, könnte es eventuell von Nutzen sein«, machte sie zynisch die Stimme ihrer Mentorin nach.

»Wird er wieder?« Ughtred hatte ihr die ganze Zeit über assistiert und nicht einmal die Zeit gefunden, seinen geflochtenen Bart von Sigrons Blut zu befreien.

Die Hexe starrte durch den Spalt in den Rachen des Phani und murmelte: »Phani sind zäh. Wie deine Leute Skerge.«

»Und geistig?«

Sie überlegte einen Moment und nickte dann. Zur Bestätigung knurrte sie: »Wo nicht viel ist, kann nicht viel kaputt gehen.

Ughtred beließ es dabei.

 

Sie brauchten den ganzen restlichen Tag und einen Teil der Nacht, um den Schild und den Phani zu bergen. Der Schild war so schwer, dass die beiden Silberwölfe ihn nur über den Wüstensand schleifen konnten. Schließlich befestigten sie ein Seil an den innen gelegenen Griffen und ließen eine der Lopen die Hauptarbeit leisten. Im Lager wickelten sie die Bleidecke um das Artefakt, aber Kyon war unglücklich. Was hatte sich sein Vater bei der Sache mit dem Schild gedacht? Er versuchte es zu verstehen, aber es gelang ihm nicht. Er selbst war nicht einmal ein Krieger und die Hexe bezog ihre Kampfeskraft offensichtlich aus einem Shimwas. Das bedeutete, dass sie im Grunde auch keine Kriegerin war und wenn sie zusammen nicht stark genug waren den Schild anzuheben, wie sollte sie allein mit dem Ding zurandekommen? Hinzu kam das Flüstern. Es mochte stimmen, dass Elt nicht so anfällig für die Chaoskraft des Schildes waren, aber dies war keine Garantie für Immunität. Der Nygh, den sonst nichts umhauen konnte zum Beispiel reagierte prompt auf den Schild. Kaum war er in seine Nähe geraten, begann er auch schon wirres Zeug zu murmeln und verdrehte dabei die Augen. Wie lange würde es dauern, bis er selbst oder Tal ebenfalls der Beeinflussung durch die Chaoskräfte erlagen?

Tal war wie immer viel zuversichtlicher als er. Sie aßen am Lagerfeuer die Reste der Draiyn und überlegten, wie es mit dem Schild weitergehen sollte, als sie einfach sagte, sie würde schon stärker werden. Irgendein Mittelchen, oder ein anderer Shimwas oder sie müsse eben trainieren – irgend eine dieser Optionen würde sicher genügen. Sie war schließlich eine Doppelmondhexe und denen gelang früher oder später jeder Streich. Kyon schluckte seine Antwort herunter, stand auf und ging in die Wüste hinaus. Er hatte Heimweh. Nichts war, wie es sein sollte. Sie hatten einen altersschwachen Riesen getötet, der in Wahrheit ein Elt gewesen war und nun hatten sie eine mächtige Waffe – oder einen Schutz – errungen, der sie aber auszulöschen drohte und zu allem Überfluss befanden sie sich immer noch in einem der gefährlichsten Länder der Welt.

Später im Zelt lag Tal neben ihm und schien zu schlafen. Sie sah schön aus, weil sie ausnahmsweise nicht in dieser ihr eigenen tierhaften Verknotung eingeschlagen zu sein schien. Er überlegte kurz, ob er genügend Kraft hätte, sie zu beglücken, entschied sich aber dagegen und legte sich einfach neben sie. Er war so erschöpft, dass er sofort einschlief und nicht bemerkte, wie die junge Hexe sich neben ihm aufrichtete und etwas vom Boden des Zeltes aufhob. 

Sie beugte sich über ihn und tropfte ihm eine winzige Menge ihrer Staseflüssigkeit auf die schön geschwungene Unterlippe. Es war weniger als nötig und würde hoffentlich nur ein paar Stunden wirken. Sofort wurde sein Atem ruhiger und setzte dann fast ganz aus. Wie üblich verfärbte sich die Haut des Betroffenen leicht grau und wurde wächsern. Vorsichtig kniff sie ihn in die Wade und dann begann sie, Kyons Taschen zu durchsuchen. Es dauerte einige Zeit, aber dann fand sie den Ring. Sie wusste genau um was es sich hier handelte, denn in Hexenkreisen war der Zeithammer der Einäugigen Hexe geradezu legendär.

Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete sie das rötliche Metall und den unscheinbaren flachen Stein. Dies war einer der, zu Recht gefürchteten smavarischen Zeitringe, die mit düstersten Kräften ausgestattet, Raum, Zeit und Realität verändern konnten und wie auch immer das Ding in die Wüste gekommen war, auf keinen Fall würde dieser Einfaltspinsel ihn tragen oder gar benutzen. 

Sorgfältig versteckte sie das Artefakt in ihren eigenen Taschen. Sie wagte es nicht, ihn hier und jetzt anzustecken. Smavarische Zauberringe waren nicht nur mächtig, sondern auch sehr gefährlich, denn sie hatten einen eigenen Willen und versuchten oft, die Kontrolle über ihre Besitzer zu erlangen. Außerdem wusste sie noch nicht genau, wie sie mit Kyon umgehen sollte. Sie konnte ihn nicht gut einschätzen und vielleicht würde er böse werden, wenn er heraus bekam, dass sie ihn vergiftet hatte, um den Ring zu stehlen. Männer konnten da erstaunlich jähzornig reagieren.

 

Am nächsten Morgen kam sie allein aus dem Zelt und ging nackt zu Ughtred. Dieser wachte sofort auf und sah sie an. 

»Er ist erschöpft und kann jetzt noch nicht aufbrechen«, sagte sie und wippte unschuldig von seinem Fuß auf den anderen. 

»Odugme?« fragte der Nygh und versuchte, ihre Blöße zu ignorieren.

»Nein, der Sliyn.«

»Kyon?«

Sie kratzte sich an der linken Brust und blickte zum Himmel hinauf. Dann raunte sie: »Nein, der Sliyn von Sliynwald.«

Ughtred sah sie an und fragte verwirrt: »Wer?«

»Kyon, Kyon kann nicht aufstehen. Er fühlt sich schwach und muss ruhen.«

Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ging ebenfalls ins Zelt zurück. 

Der Nygh schüttelte den Kopf und blickte ihr misstrauisch hinterher. Aber gut, etwas Ruhe würde in jedem Fall auch Odugme gut tun. 

 

Als Kyon erst am nächsten Morgen mit steifen Gliedern aus dem Zelt gekrochen kam fehlten ihm die gut dreißig Stunden der Stase. Tal und Ughtred, die am Feuer sitzend zu ihm aufblickten lächelten beide erfreut. Ughtred fragte nach seinem Befinden und Tal stand auf, um ihm mit etwas Gelbwein die schwarzen Lippen zu säubern. Ughtred beobachtete die Szene, sagte aber nichts. Er verstand das merkwürdige und alles andere als natürlicher Verhältnis zwischen den Silberwölfen nicht, aber dass Tal hier etwas zu vertuschen zu versuchte war unübersehbar.

 

Die Heimreise gestaltete sich alles andere als einfach. Der Schild musste immer wieder von einer Lope zur nächsten weitergereicht werden und Odugmes Verletzung verheilt langsam. Er schien geistig abwesend zu sein und musste am Lopensattel festgebunden werden. Ughtred kümmerte sich um ihn, aber unter diesen Umständen kamen sie nur quälend langsam voran.

Kyon hatte Bedenken den selben Weg in Richtung Marsch zu nehmen, den sie aus dem Norden nach AngˋRin genommen hatten und bat den Nygh daher sich möglichst nahe des Gebirgsausläufer zu halten. Dennoch kamen sie bald auf die Höhe des Draiynlagers und sahen aus der Ferne die Rauchsäulen. Sie besprachen sich kurz, ob sie das Risiko eingehen sollten, ihre Vorräte bei den Insektenmännern aufzufrischen, entschieden sich aber dagegen. In der Dunkelheit der Nach schlichen sie sich davon und hofften Draiyn Andiled so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Doch bei der nächsten Rast nahm Ughtred den beiden Silberwölfen diese Hoffnung. Sie hatten beide vergessen, dass es keinen noch kürzeren Weg als über Irith Adnor geben würde und bis dorthin waren es nach der Marsch in Korezuul wenigstens zwölf Tage. So bewegten sie sich die meiste Zeit schweigend voran. Tief in den jeweils eigenen Gedanken versunken kämpften sie mit ihren inneren Dämonen. Nach zwei Tagen ging ihnen das Wasser zur Neige, doch dann regnete es einige Zeit und Ughtred fing das Regenwasser mit einer Decke auf. An einem anderen Tag fanden sie durch puren Zufall essbare Knollen und einmal gelang es Kyon eine Schlange zu erlegen. Mehr und mehr akklimatisierten sie sich und wurden zu dem, was das Tagebuch Abenteurer zu nennen pflegte.

Als Kyon ein Loch in seinen Hosenboden geritten hatte und Ughtred ihm stumm das Kleidungsstück aus der Hand nahm, um es zu reparieren, blieb der Silberwolf einfach nackt im Wind der untergehenden Sonnen stehen und blickte auf die Endlosigkeit hinaus. Die Sonnenstrahlen stachen nach seiner Haut, doch er war nicht mehr bleich und empfindlich. Er spürte das leichte Bitzen wohl, doch es machte ihm nichts mehr aus.

 

Nach der Marsch, in der sie ihre Vorräte problemlos aufbessern konnten, kam der Pfad nach Süden, der sie erneut in den Pass aus dem Tagebuch führen würde. Viele Tage ritten sie durch Schluchten und suchten verzweifelt nach den selben Wasserstellen, die ihnen auf der Herreise gedient hatten. Doch es war, als hätte sich die Landschaft verändert und geizte mit ihren Gaben.

Kurz vor dem Pass ließ Kyon, der seiner guten Augen wegen stets den Zug anführte, mit einem schroffen Befehl anhalten. Er deutete in die Ferne, aber weder Ughtred, noch Tal konnten etwas erkennen.

»Da hocken zwei Späher auf einem Felsen«, sagte er ruhig und ließ seinen Bogen aus dem Köcher in seine Hand gleiten. Langsam wie ein erwachendes Insekt und völlig geräuschlos entfaltete sich der Bogen und nahm seine kriegerische Form an.

»Vielleicht sind sie satt«, sagte Tal. 

Kyon nickte und gab Befehl weiter zu reiten. Man würde sehen, was kommt.

Als sie in Sichtweite der Draiyn kamen, rief Tal ihnen einen Gruß zu und beide drehten sich verwundert nach der Reisegruppe um. Das ganze hatte etwas groteskes, als wollte man Draiynkrieger nur höflich nach dem Weg fragen. Doch tatsächlich kamen sie von ihrem Ausguck heruntergeflattert und boten den Fremden in der ihnen typischen Gastfreundschaft von ihrem Proviant an. Ehe Kyon verneinen konnte, schaffte einer der beiden aus einem Versteck am Fuße des Felsens ein Netz hervor und brachte daraus mehrere Drayinglieder und einen verrotteten Lopenschädel hervor.

Kyon blickte ernst zu Boden, als er flüsterte: »Ich habe es mir anders überlegt. Bringen wir sie um!«

Er hob geschmeidig seinen Arm und wollte einen Pfeil abschießen, doch Tal kam ihm zuvor. Wie eine Klingentänzerin der Chentai wirbelte sie zu den Insektenmännern herum und hatte plötzlich ihr langes Schwert in Händen. Sie traf den vorderen der Draiyn so unglücklich am Halsansatz, dass sich ein Teil des Kopfes löste und dann krachte die Klinge in den Brustpanzer des zweiten Kriegers und zertrümmerte diesen. Beide gingen zu Boden und zuckten besinnungslos und Tal holte erneut aus und hackte auf sie ein. Wie eine Furie drosch sie auf die knirschenden und splitternden Panzer ein, bis eindeutig kein Leben mehr in den am Boden liegenden war.

Als sie aufblickte, hatte sie klebrig gelbes Insektenblut in den Haaren und an der Wange und Kyon und Ughtred sahen sie an. Vor allem dem Nygh war anzusehen, was er dachte. Wer war der Werwolf, wer die Frau? Kyon schien unschuldig an seiner inneren Mitreisenden zu sein, aber diese Hexe hier, genoss ihre Bluttaten. Er rieb sich über das Zeichen auf seiner Stirn und drängte die Lopen zurück. Es war nicht nötig, dass die Tiere den Schädel zu sehen bekamen.

Kyon bückte sich danach, hob ihn auf und schleuderte ihn über den Felsen. Dann machte er sich daran, von den Draiyn zu retten, was zu retten war. Als sie etwas später Draiynsuppe aßen und Ughtred den Phani mit einem Löffel fütterte sagte Kyon zu Tal: »Der Shimwas ist stark.«

Die Hexe griff nach einem Stück schimmligen Nyghbrotes, warf es dann aber zu den Lopen hinüber.

»Wer ist es?« fragte Kyon nun direkt.

Sie blickte ins Feuer und versuchte, wie immer, wenn sie nervös war, das Nest in ihrem Haar zu lösen.

»Wir sollten das irgendwann einmal abschneiden«, sagte Kyon und deutete mit der Spitze seiner Pfeife, die er gerade hervorgeholt hatte, auf ihre Frisur.

»Ich habe es nicht gewollt«, flüsterte Tal. »Es war ein Unfall. Ich wollte es gut machen.«

Kyon starrte ins Feuer. Dann drückte er ein Stück Quinktaback in den Pfeifenkopf und nahm einen brennenden Halm Gestrüpp aus dem Feuer. Er sah sie nicht an und sagte nichts und als er es endlich geschafft hatte seine Pfeife zu entzünden, blies er den auch in den sternenübersäten Nachthimmel.

»Ich wollte, das es gut wird«, murmelte Tal erneut, aber Kyon schwieg und rauchte.

 

Viele Tage später, sie hatten einen Großteil der Strecke hinter sich gebracht und waren am DranˋOrad entlang nach Nordosten gezogen, stellte sich Kyon im Sattel auf und deutete in die Wüste hinaus. Es war früh am Abend und sie hatten vor den Weg nun in einem Rutsch zu beenden. Lopen und Reiter waren dünn geworden. Das Gebirge hatte sie zwar einigermaßen mit Wasser versorgt, aber es hatte nicht gereicht, sie bei Kräften zu halten. Lippen waren aufgesprungen und die kleinsten Kratzer und Wunden verheilten immer schlechter. Einmal wurde Rehlein von einer Dreibeinigen Wüstenspinne gebissen und Tal hatte ein Antidot brauen müssen, um sie zu retten. Odugmes Wunden verheilten ebenfalls schlecht und Tal selbst hatte eine schlimme Prellung von dem Kampf in der Arena, die ihre Probleme beim Reiten machte.

Doch nun war es endlich vorbei. Irith Adnor lag vor ihnen und sie konnten es einfach nicht fassen, es geschafft zu haben. Sie berieten kurz, ob sie ihre Lager aufschlagen und erst nach einigen Stunden der Ruhe durch den Vortex gehen sollten, doch als sie sich ansahen, wanderten ihre Blicke automatisch auch über die Wüste und da wurde ihnen klar, dass sie hier nichts mehr verloren hatten. Niemand sollte sein Glück überstrapazieren und wer Draiyn Andiled überlebt hatte und eine Chance sah, dieses Land der endlosen Qualen zu verlassen, sollte dies auf keinen Fall hinauszögern.

 

Beklemmend phal leuchtete der Vortex in seinem schrägen Auslass zwischen der heruntergesackten Decke und der eingestürzten Wand am rande des Dünenkamms. Ughtred hatte zwei Lopen neben sich stehen und wartete, bis der Chaosschild vor ihm in der Subraummembran verschwunden war. Kyon hatte darauf bestanden, dass Tal zuerst durch die Anderwelt ging. Er wollte das Durchkommen des Artefaktes sicherstellen und traute nur ihr zu, dies zu vollbringen. Wenn der Schild das Chaos aus dem Dazwischen in die Realität zu tragen vermochte, wie würde er da erst auf der anderen Seite wirken? Doch der Schild blieb ruhig. Es war eher, als dämpfe die Anwesenheit der Membran seine schreckliche Macht.

Es kam dem Nygh wie eine Ewigkeit vor und er erinnerte sich an seine Gefühle, als er vor so vielen Tagen zum ersten Mal in seinem Leben durch einen Vortex gegangen war. Er hatte Angst verspürt, aber die Angst um seinen Vater hatte alle anderen Gefühle überlagert. Diesmal hätte er sich gezielt fürchten können. Tal hatte ihm von den Grauen Wächtern erzählt, die auf der anderen Seite ihr grauenhaftes halbreales Dasein fristeten und in Form riesiger Tentakelknäul nach Beute Ausschau hielten. Sie seien ähnlich wie Amytoren, nur ungleich älter, stumpfsinnigen Halbgöttern ohne Herz und Hirn gleich, einzig und allein auf der Suche nach Seelen realer Lebensformen. Er hatte sie gesehen. Sie hatten ihre Tentakel in den Wänden des organisch schimmernden Tunnels bewegt, zweidimensional, doch real genug für ihn. Seltsamerweise hatte er seine Ängste in der Wüste zurückgelassen. Als Kyon ihm ein Zeichen gab, klopfte er Rehlein mit der Hand auf die Flanke und machte einen Schritt in die Anderwelt.

 

Was für ein Kontrast? Dachte Tal, als sie aus dem Dreck des zusammengebrochenen Gebäudes zwischen die Dornenhecke eines nassen Strauches trat. Bienenstich schnaubte freudig und packte übermütig eine Ranke und biss sie ab. Es roch nach Feuchtigkeit, Schimmel, Farnen, Pilzen und dem würzigen Harz der riesigen schwarzen Bäume. Tal schrie und ihr Schrei hallte durch die Wälder Kisadmurs. Sie war daheim.

Von hier aus waren es höchstens zwei Wegstunden zur Einöde und dann zwei, drei Tage nach Ilanwaiyn. Als sie das erste Mal in dem kleinen Ort angekommen waren, hatte sie ihn als provinzieller als Kovarin, den Ort, in dem sie mit ihren Eltern und Northrian ihre Kindheit verbracht hatte, eingestuft.

Jetzt bedeutete das Heim der Hirsche am Rande der Zivilisation von Kisadmur die Rückkehr aus der Hölle. Sie hatte früher so einige Geschichten über die Wüste gehört. In allen Büchern beschrieben Hexen öde Welten voller Sand, in denen sie nach wertvollen Zutaten für ihre Zauber gesucht hatten. Keine von ihnen hatte Tal vermitteln können wie es dort in wirklichkeit war. Ein Wort hätte mehr ausgesagt als all die Abenteuerbeschreibungen: Sand. Der Sand war schlimmer als Amytoren, Untote und Draiyn. Diese Wesen hatten sie bedroht, doch sie war nicht unbewaffnet gewesen. Der Sand hingegen hatte sie aufgescheuert und quälte sie noch jetzt. Er würde sie wohl für den Rest ihres Lebens quälen. Er war überall und fügte ihr in jeder Situation Schmerzen zu und da war nichts, dass sie hätte tun können.

In der Einöde wurden sie von den Wirtsleuten begrüßt. Die Quink beäugten sie noch neugieriger als beim ersten Mal und trauten sich nicht zu fragen, wo sie all die Zeit gewesen waren. Nordöstlich er Taverne gab es nichts. Selbst die Waldläufer blieben auf der bewohnteren Seite des Waldes.

Tomnuk richtete den dreien Grüße von Ulithan bor Trynordt`orbenith und Grogtkro aus. Der Silberwolf sei genesen und vor vielen Tagen aufgebrochen. Der Wirt bot den Reisenden seine Zimmer an, doch sie nahmen das Angebot nicht in Anspruch. Ihre Erinnerungen an die Einöde waren nicht die Besten und sie wollten die frische Luft des Waldes genießen. So schlugen sie ihr Lager auf dem Platz vor dem Haus auf und schliefen bei den Lopen.

Am nächsten Tag rasteten sie mehr oder weniger aus traditionellen Gründen an dem Baum, an dem nun nur noch die obere Hälfte des toten Hobgoblins hing. Wölfe und Schweine hatten den Rest gefressen und die Knochen im Wald verstreut. Tal besah sich den Totem am Baum und nickte grimmig. Sie hatte auf der Reise Übleres gesehen und dies hier war für sie nun ihre Abenteurerrealität. Das Tagebuch sprach von deutlich schlimmeren Gefahren, aber sie würden vorbereitet sein.

Die Sonnen standen für die Verhältnisse der Silberwölfe hoch am Himmel, doch die Lopen kannten den Weg und freuten sich auf ihr Zuhause. Dennoch lag auch eine stille Last auf der Reisegruppe. Leben für Leben, hatte es gehießen und Donnerhuf und die anderen hatten das ihre für die Überlebenden gegeben. Nun war die Gruppe auf dem Weg in ihr Heim, doch die Toten würden für immer in Draiyn Andiled verweilen.

Wind war aufgekommen und feiner Schneeregen wurde von den Hängen des Gebirges im Osten über die Stadt geweht. Je näher die Reisegruppe Ilanwaiyn kam, umso schwerer schienen allen die Herzen zu werden. Sie erreichten das untere Stadttor und Kyon rief die Quinkwächter an, es zu öffnen. Die Straßen waren weitgehend verlassen und nur eine Handvoll diensteifriger Quink kümmerte sich um morgendliche Geschäfte. An der Wache saß ein Silberwolf und trank heißen Faltersud. Als die kleine Karawane an ihm vorüberzog, stand er auf, um zumindest den Schein zu wahren, für die Sicherheit des Ortes zu stehen.

Kyon nickte dem Krieger huldvoll zu und ließ keine Frage offen, dass diese Reisegruppe trauerte und nicht angesprochen werden musste. Der Mann verstand und nickte freundlich. Ein wenig verwunderte dies Kyon, doch er sagte nichts und wollte gerade mit seinen Leuten weiterziehen, als aus dem Schatten des Wachhauses eine weitere Person trat. Es war ebenfalls eine Kriegerin und sie stellte sich mit dem Namen Smiseylyg Nyni yr Y`Warias vor. Wieder hielten die Reisenden an und hörten, was die Silberwölfin zu sagen hatte.

»Ihr seid die Doppelmondhexe«, begann sie und deutete mit dem Kinn auf Tal, doch bevor die Angesprochene etwas erwidern konnte fuhr die Wächterin fort: »Ich habe ein alchemistisches Problem und brauche eure Hilfe.«

Kyon wollte etwas sagen, aber Tal kam ihm zuvor. Sie interessierte sich für jede Frage zur Thematik Alchemie. Doch die Wachtherrin wandte sich erneut an Kyon. Sie betonte seinen Titel Sliyn und bot an, die Reisegruppe ohne weitere Untersuchungen weiterzuziehen lassen, wenn ihr geholfen würde. Tal war abgelenkt, denn sie musste dringend ihre Notdurft verrichten und da dies hier noch länger dauern würde, tat sie dies in der Wache.

Unterdessen fragte die Wächterin den Sliyn, ob die Hexe ihm Untertan wäre, damit sie einschätzen könne, wie sie über ihn zu erpressen sei. Kyon spielte mit, denn diese Vorgehensweisen waren typisch für sein Volk und er fand die Frau auf eine raue Art sympathisch. Ja, die Hexe tue was er sage und ja, er wäre einverstanden, die Dienste der Hexe gehen den sofortigen Durchlass zu tauschen. 

Als Tal zurückkam, war das Geschäft besiegelt, aber sie selbst hatte das Ganze gar nicht ganz verstanden, denn sie hätte der Stadtwächterin auch so geholfen. Sie fragte nach dem Problem, aber Kyon wollte zuerst die Lopen abladen. Tal könne später zum Tor zurückkehren.

 

Die Lopenleihe lag am östlichen Rand von Ilanwaiyn, was bedeutete, dass man den ganzen Ort durchqueren musste. Als die ersten Quink an den Straßenrändern stehen blieben und einer von ihnen sogar an den Fingern die Zurückkehrenden abzählten, wurden Kyons Augen feucht. Dann erreichten sie das Bogentor, umrundeten die Kaschemme und kamen auf die Straße, die bei Ileandis Aarunaiydt Haus endete. Der Lopenhirte kam gerade die Stufen eines der Stützsäulen seines Heims herunter und hob eine Hand. Er humpelte stärker als noch vor der Abreise der Karawane und er schien gebeugt zu gehen. Als die Lopen ihn sahen, brachen sie aus und stürmten auf ihn zu. Nur Bienenstich haderte. Er gab ein klägliches Stöhnen von sich und schlich dann erst den anderen hinterher.

Trotz der Trauer, war der Empfang herzlich. Smiraiyg war ebenfalls aus dem Haus gekommen und hatte sofort die Hände vor das Gesicht geschlagen, als sie nach Donnerhuf Ausschau hielt und verstand, dass er gefallen war. Bjurk kam zwischen einer Herde anderer Lopen hervor, die unter dem Haus ihren Ruheplatz hatten und auch diese Tiere kamen nun näher, um die Neuigkeiten zu erfahren. Alle stützten die Überlebenden und sprachen ihnen Trost zu, doch Bienenstich drückte sich eng an Tal und die anderen wollten immer wieder von Ughtred gestreichelt werden. Als Bjurk endlich Wasser und frisches Heu anbot, löste sich die Stimmung ein Wenig und Smiraiyg deutete nach oben und versprach Essen und Wärme.

Kyon sah YtˋTalan an und fragte sich, ob es der Hexe genau so wie ihm ging. Er hatte fürs Erste genug Wärme erfahren und genoss die kühle Luft Kisadmurs. Wenn er das Tagebuch richtig deutete, würde sein Vater sie nicht noch einmal in die Wüste schicken und dafür war er zutiefst dankbar.

Er wollte die Treppe hinaufgehen, doch da stand Ileandis plötzlich neben ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. Einen Augenblick durchfuhr Kyon ein Schreck. Er fürchtete eine Sekunde, der Lopenhirte würde ihm einen Vorwurf machen. 

Ileandis sah ihn ruhig an. Dann flüsterte er leise: »Leben für Leben, so ist es Brauch.«

Behutsam nahm er die Hand von Kyons Schulter und fügte hinzu: »Ich werde immer wieder Lopen für euch vermitteln Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor.

»Ich danke euch Ileandis Aarunaiydt und ich wünschte, ich könnte euch bei euren Zielen behilflich sein«, erwiderte Kyon und fühlte, wie sich der Knoten in seinem Magen zu lösen begann.

Der übrige Tag in der Lopenleihe war von Gastfreundschaft und Erleichterung und nach wie vor ein wenig von der traurigen Wehmut um den Verlust der Lopen erfüllt. Am Abend jedoch, wollten die drei ihre weitere Reise buchen. Sie hatten einen langen Weg vor sich und brauchten ein Schiff, dass sie nach Südost mitnahm. 

Kyon und Ughtred hatten Glück. An der Hafenplattform lag ein zwar etwas schäbiger, aber offensichtlich flugtüchtiger Zweimaster und als er die Mannschaft nach dem Kapitän fragte, wurden sie an Bord gelassen und vor diesen geführt.

Die Knarrende, so der Name des Schiffes, wurde von Kapitän Yurst Ildan Murnail befehligt und auf Anfrage lachte dieser und bestätigte, dass er zumindest nach Elaiyney wolle. Er hatte einen durchgehenden Auftrag von der hiesigen Obrigkeit nach dort und wollte gerade aufbrechen. 

Unterdessen war Tal zur Stadtwache zurückgekehrt und Bjurk begleitete sie dabei. Smiseylyg, sie Wächterin verstand die Geste, denn der mächtige Quink war in ganz Ilanwaiyn bekannt. Sie verlor keine Zeit und erklärte, dass sie Probleme mit einem Gift hatte, weiches einfach nicht am Silberstahl ihrer Waffen halten wollte. Tal betrat die kleine Kellerküche unter der Wache und sah sich Smiseylygs Rezeptur an. Sie lächelte die ganze Zeit, weil sie immer wieder versuchte, den schwierigen Namen der Kriegerin im Geiste fehlerfrei vorzubeten und es einfach nicht schaffte. Als die Wächterin sich vorgestellt hatte, war da irgendwo ein W oder V in ihrem Namen versteckt verwesen. Wahrscheinlich ein V anstelle des zweiten Ypsilons. Aber in der Schreibweise gab es in Smiseylyg kein V. 

Tal beförderte ein winziges Bröckchen Draiynwachs aus einer ihrer Taschen zutage und erklärte der Hobbyalchemistin ihren Fehler. Sie hatte Bienenwachs benutzt, doch dieser hatte einfach nicht die richtige Konsistenz, um an Silberstahl hatten zu bleiben. Jeder Hexe wusste diese. Sie schenkte Smiseylyg das Wachs aus Draiyn Andiled und sie trennten sich freundlich. Doch Tal merkte sich die Sache am Tor. Sie war keine Frau die schnell vergaß und obwohl sie den Handel erfüllt hatte, würde sie das Verhalten der Stadtwächterin nicht vergessen. Man sah sich schließlich immer zweimal in der Unendlichkeit.

 

Die Knarrende machte gute Fahrt und das Wetter versprach stabil zu bleiben. Die Reise ging über Orith Verias und am Morgen überflog das Schiff Feynbaiyd und einige Stunden später Verith Kiriyn. Gegen Nachmittag verdunkelte sich der Horizont im Westen und die Mannschaft lockerte die Gravitationsanker, um etwas höher zu steigen und vor dem aufkommenden Unwetter ans Ziel der Reise zu gelangen.

Die Sonnen hatten sich schon zur Ruhe gelegt, als die Knarrende die westliche Landeplattform von Elaiyney ansteuerte und die Werftmannschaft träge reagierte. Trübe Lampen wurden entzündet und die Haltetaue um hohe Messingpoller gewickelt. Der Kapitän rief Befehle und hielt nach dem Hafenmeister Ausschau. Doch dieser war nirgendwo zu finden und so gingen die Passagiere ohne jegliche Kontrolle von Bord.

Nur Ughtred zögerte noch und wartete, bis der Kapitän etwas Zeit fand. Er wollte so schnell wie möglich weiter nach Shishney, denn für ihn war das Ganze hier alles andere als ein Urlaub. Er hatte sich überlegt, den Kapitän nach einer weiteren, direkten Passage zu fragen und war darüber hinaus bereit, die dafür notwendigen Ressourcen aus der eigenen Tasche zu zahlen. Tatsächlich erklärte sich Kapitän Yurst Ildan Murnail sofort bereit, jederzeit Elaiyney zu verlassen und nach Shishney zu fliegen. Er handelte alles in allem achtzehn Ressourcen aus und Ughtred freute sich über das schnelle Geschäft. Dann verließ auch er mit federndem Schritt die Knarrende und folgte seinen Kameraden. 

 

Die Katakomben von Diry

Wie bei ihrem ersten Besuch begaben sich Tal und Kyon in den Hanfbogen und Tal erkundigte sich sogleich nach dem Stadtwächter Thorill Aar`ar, dem sie mit seinem wunden Fuß geholfen hatte. Die Schankfrau wollte gerade etwas erwidern, da öffnete sich in einem karmischen Ereignis genau in diesem Moment die Tür und Thorill betrat die Kaschemme.

Er bückte sich unter dem Türsturz hindurch und blickte auf. Dann erkannte er die späten Gäste und ein Lächeln stahl sich auf seiner sonst eher harten Lippen.

Er war nicht gerade ein schöner Mann, wie Tal fand, aber mit seinem Schmiss auf der Wange, den überlangen weißen Augenbrauen und der harten, leicht gebogenen Nase, hatte er etwas Tragisches und sie mochte das Tragische. Darum winkte sie ihn direkt zu ihrem Tisch und rückte zur Seite, was ihn mehr oder weniger zwang, sich dicht zu ihr zu sitzen.

In Gedanken überschlug sie, wann sie das letzte Mal mit einem Mann geschlafen hatte und blieb ein wenig erschrocken bei der Episode an Bord des Piratenschiffes hängen. Sie nippte an ihrem Faltersud und sah ein wenig verschämt über den Tassenrand zu Kyon hinüber. Dann zuckte sie mit den Schultern und erkundigte sich nach dem Fuß des Stadtwächters. 

Thorill bedankte sich der Nachfrage und wollte schon den Stiefel ausziehen, um der Hexe den Erfolg ihrer Kur vor Augen zu führen, sah aber im Gesicht von Kyon Nygh, dass dies zu viel des Guten wäre.

Kurz darauf kam auch Ughtred durch die Tür der Kaschemme und setzte sich an den Tisch. Er bestellte Gerstensaft, der sonst wahrscheinlich nur von Quink konsumiert wurde, und lehnte sich zurück. Er freute sich darauf, den Silberwölfen von seinem Erfolg mit der Schiffspassage zu erzählen, wollte aber dem Gespräch mit dem Stadtwächter nicht zuvorkommen. Er hatte wohl bemerkt, wie interessiert Tal an dem Mann war und irgendwie erfüllte dies ihn mit einer Art morbiden Faszination. 

Die drei Silberwölfe gerieten ins Plaudern und nach einer Weile beklagte sich der Wächter über die, aus seiner Sicht viel zu lockere Handhabe der städtischen Sicherheit seitens der beiden Fürstenschwestern. Kyon hakte nach und Thorill erzählte von einer Räuberbande, die seit einiger Zeit die Wälder um Elaiyney unsicher machte und zwischenzeitlich sogar vorgelagerte Höfe angriff. Skok, der Anführer der Räuberbande, sei ein geflohener Quinksklave. Er sammelte offenbar immer mehr Gesindel um sich und hätte eine alte Kaverne namens Diry in den Wäldern bezogen. Er selbst, Thorill, hätte schon mehrfach angeboten, sich der Sache anzunehmen, aber die beiden Fürstinnen weigerten sich, ihre militärischen Kräfte dieser Sache zu widmen.

Kyon fragte, ob wenigstens mit einer Belohnung zu rechnen wäre, wenn sich Außenstehende bereit erklärten, die Räuber auszuheben, und der Stadtwächter stellte tatsächlich eine hohe Belohnung in Aussicht, für die er aus der eigenen Tasche bürgte.

Ughtred war entsetzt, denn er bemerkte sofort Kyons Interesse an der Sache und er sah seine Idee mit der Knarrenden in die Binsen gehen. Außerdem war er alles andere als begeistert, erneut einen Abstecher in die Wildnis zu machen, aber Kyon wies auf den Vorteil weiterer Ressourcen hin. Er hatte das Tagebuch mittlerweile mehrfach gelesen und offensichtlich erkannt, wie schwierig sich die zukünftige Unternehmung ohne entsprechende Zahlungsmittel gestalten würde. Jeder Kapitän würde versuchen, sie zu schröpfen, wo es nur ging und, er legte keinerlei Wert auf billige Kaschemmen und von Flöhen verseuchte Unterkünfte.

Der Nygh wollte noch etwas sagen, aber Kyon kam ihm zuvor und verkündete abenteuerlich: »Wir machen das, Herr Stadtwächter. Die Räuber sind Geschichte.«

Ughtred schwieg und sah den Angesprochenen an. Dieser nickte erneut und deutete mit seinem Becher auf den Schild. Das riesige Ding lehnte, in die klobige Decke eingewickelt, an einer der Wände. 

»Was ist mit dem da?« fragte Thorill.

Kyon zuckte mit den Schultern und Tal sagte auch nicht. Der Wächter sah sie an. Nach einer Weile unterbrach er das peinliche Schweigen und sagte: »Ich kann ihn verwahren. Bei meinem Wort, ich bringe ihn an einen sicheren Ort. Wenn ihr Elaiyney verlasst, bekommt ihr ihn zurück, aber hier herumtragen solltet ihr ihn auf keinen Fall.«

Einen Moment überkam Kayon die Antwort, sie könnten das Ding ohnehin kaum anheben, aber dann sah er Tal an und sie nickte nur zustimmen.

Dann verwies Thorill auf eine Lopenleihe am östlichen Stadtrand. Er sagte, man wisse ja, wo man ihn fände, und verabschiedete sich höflich. Er stand auf und ging zu dem Schild. Tal, Kyon und Ughtred sahen ihn interessiert an. Sie waren mehr als gespannt, wie er sich mit dem Schild schlagen würde. 

Der Stadtwächter schob seinen Arm in die Halterung des Schildes und stemmte ihn an seine Seite. Er schnaufte und nickte anerkennend, doch dann trug er ihn zur Tür der Kaschemme.

Uhtred beobachtete Tal, die dem Silberwolf hinterher starrte und dann legte er seine Stirn in seine gefalteten Hände. Schließlich akzeptierte er das ihm zugewiesene Karma. So standen alle drei auf und machten sich daran, ihrer Wege zu gehen. Die Wirtin ließ sie ziehen, denn sie erinnerte sich an die großzügige Entlohnung dieser Gäste bei deren letzten Besuch und erhob darum keine Bezahlung für dieses Mal.

 

Auf dem kleinen Platz neben der Schiffsplattform blieb Kyon stehen und sah grübelnd zur Knarrenden hinauf. Die Segel waren nun alle gebunden und die Gravanker heruntergefahren. Er sah Tal an und sagte schließlich: »Yt`Talan, wenn es euch nichts ausmacht, würde ich gerne noch etwas erledigen. Ich würde später zur Leihe nachkommen.«

»Klar, Herr Katha`Kyon«, konterte die Hexe die gestellte Ansprache und stolzierte auch schon davon. 

Ughtred überlegte kurz, folgte dann aber Tal und sagte: »Osten ist in dieser Richtung Frau Hexe.«

Kyon lachte und ging zur Landeplattform hinauf. Er wollte zwar die Sache mit den Räubern unbedingt erledigen, aber er wollte auch gerne mit der Knarrenden weiter in Richtung Shishney fahren. Er fand den Kapitän des Schiffes sympathisch und hatte darüber hinaus die Idee, nach einem Handelsauftrag für das Schiff zu suchen, um noch mehr Ressourcen für die Unternehmung zu sichern.

Kurzentschlossen fragte er sich zum Hafenmeister durch und ging zu dessen Kontor. Keine zwei Stunden später befand er sich auch schon wieder an Bord des Schiffes und wartete auf den Kapitän, der sich schon in seine Hängematte zurückgezogen hatte. Als er jedoch Kyon sah, lachte er und fragte direkt, ob es losgehen solle. Kyon war verwundert, aber dann erzählte ihm Kapitän Yurst Ildan Murnail von der Abmachung mit dem Nygh seines Gegenübers und nun musste Kyon ebenfalls lachen. 

Als nächstes berichtete Kyon von der Sache mit den Räubern und Yurst zuckte mit den Schultern und erläuterte, dass er mehr oder weniger in Elaiyney zuhause sei und es nur selten eilig hätte, den Ort zu verlassen. Als er von dem Auftrag hörte und Kyon ihm zehn Prozent bot, schlug er ohne zu zögern ein. Er versprach Kyon, sich um die Ladung zu kümmern – es handelte sich um weiches Bernsteinholz, für eine Baumaßnahme in Shishney erwartet wurde – und dann auf die Rückkehr der Passagiere von ihrem Ausflug in den Wald zu warten. Bernsteinholz würde schließlich in zwei, drei Tagen kaum schlecht werden.

Gut gelaunt verließ Kyon die Knarrende und fragte sich zu der Lopenleihe im Osten Elaiyneys durch. 

 

Ughtred schlurfte hinter der Hexe her. Das war ja wieder einmal perfekt gelaufen. Er konnte nur hoffen, dass der Kapitän des Schiffes ihm nicht zürnte, wenn er erfuhr, dass es erst einmal nicht losgehen würde. Außerdem war ihm die Vorstellung, sinnlos nach Räubern zu suchen und diese dann auch noch anzugreifen, mehr als zuwider.

Sie verließen den unmittelbaren Stadtbereich und kamen auf einen gepflasterten Weg, der auf ein offensichtlich großes Anwesen zuführte. Eine Mauer grenzte das Gut von Elaiyney ab, und das hohe zweiflügelige Gitter lag auf dem Boden unter dem Torbogen. Hinter der Mauer gab es eine verwilderte, von hohem Gras bewachsene Koppel, doch von Lopen fehlte jede Spur. Der Weg führte auf ein gewaltiges mehrstöckiges Herrenhaus zu, dessen Giebeldach vom Gewicht der Zeit eingesunken war. An mehreren Stellen wiesen die morschen Schindeln große Löcher auf und machten deutlich, wie es um den generellen Zustand des Gebäudes stand. Die Mauern waren marode und die meisten Fenster zerbrochen und mehrere der vielen hohen Kamine waren eingestürzt und hatten noch mehr Schäden verursacht.

Der Pflastersteinweg führte auf einen kleinen Platz an der Frontseite des Hauses. Hier gab es eine breite, ausgetretene Sandsteintreppe vor einem gewaltigen Tor aus grünem Holz. Letzteres machte trotz seines Alters einen trutzigen Eindruck, doch diese Haltung brachte wenig, da sich einige Schritte daneben ein breiter Riss in der Hausmauer befand. Auf der rechten Seite, am Hauptgebäude entlang, führte der ursprüngliche Weg zu einem direkt an das Haus angrenzendes kleines Nebengebäude. Schon aus der Ferne war es als Schmiede zu erkennen. Rauch stieg aus einem niedrigen, aber sehr breiten Kamin auf und auf der zum Weg gelegenen Seite gab es eine breite Öffnung in der Mauer. Hier standen ein Holzblock mit einem Amboss und mehrere Holzgestelle mit Metallteilen und Werkzeugen. Im offenen Bereich der Schmiede saß eine Silberwölfin auf einem Schemel und beugte sich über eine Werkbank aus armdicken Holz. Sie hatte einen winzigen Hammer in der Hand und starrte auf einen dünnen Metallstab. Plötzlich zischte ihr Auge und brannte in glühendem Rot und dann begann auch das Metall zu glühen und sie biss die Zähne zusammen. Dann begann sie vorsichtig auf den Metallstreifen zu schlagen und formte einen Bogen daraus. Ein Ring entstand.

Als sie Tal und Ughtred bemerkte, schloss sie ihr brennendes Auge und sah auf. Beide waren froh über die Entscheidung der Schmiedin, zuerst das Auge zu schließen und dann auf zu blicken. Tal wollte sich überhaupt nicht vorstellen, welche Kräfte in der Frau wüten mussten, wenn sie mit ihrem Blick Metalle zum Glühen bringen konnte.

Sie stellte sich und den Nygh und dann auch noch ihren Phani, der treu Norths Sarg hinter sich herzog, vor und nannte ihr Begehr.

Die Schmiedin stellte sich als Sivuril Trysh vor und nickte. Dies hier sei tatsächlich die örtliche Lopenleihe und gerade als sie dies sagte tauchte auch schon der Kopf eines jungen Kreuzhorns im Hinterfenster der Schmiede auf. Sivuril lachte über die Neugierde des Tieres und rief nach jemandem namens Fegrith. Es dauerte nicht lange, da erschien ein sehr junger Smavari und die Schmieden stellte ihn als Fegrith dan Waraiyth vor. Er würde die Gäste in das Herrenhaus begleiten, wo sie sich frisch machen und ausruhen könnten. Später würde es etwas zu essen geben. Tal informierte die Schmieden von Kyon, auf den die Reisegruppe warten müssen und Sivuril nickte. Das Essen würde ohnehin noch ein, zwei Stunden brauchen und die Lopen würden schließlich auch nicht weglaufen. Also ließen sich Tal und Ughtred von Fegrith in das große, kalte Haus führen und Odugme schlurfte ihnen hinterher.

Die Zimmer und Flure des verlassenen Hauses waren riesig und kalt und Ughtred fragte, wem das Anwesen gehörte, aber der junge Silberwolf murmelte nur etwas Unverständliches und Ughtred beließ es dabei. Er bekam ein Zimmer mit einem gigantischen Kamin zugewiesen und begann diesen zu bestücken. Da sich Tals Zimmer direkt nebenan befand, hoffte er, mit einem Feuer beide Räume aufwärmen zu können. Als er das Holz knisternd brannte, setzte er sich auf eine der Fensterbänke und blickte auf die Koppel hinaus. Das Glas war schmutzig und er rieb mit dem Arm darüber, um sich eine Stelle zu schaffen, durch die er hindurch sehen konnte. Draußen standen mehrere Zackenhörner und zwei der größeren Lopen, deren Namen er sich nicht merken konnte.

Unterdessen setzte sich Tal auf das riesige Bett in ihrem Zimmer. Der Putz war von den Wänden gefallen, aber es ließ sich noch erahnen, in welchem Prunk die einstigen Herren dieses Hauses gelebt hatten. Sie fröstelte ein wenig, konnte aber an einer der Wände bald das Prasseln Ughtreds Kaminfeuers hören. Eine Weile starrte sie nur an die hohe Decke, aber dann entschied sie sich für ein wenig Körperhygiene. Sie sah Odugme an. Seit der Sache mit dem Schild hatte er keine Maske mehr getragen. Er war entstellt, aber das fand sie nicht so schlimm.

Mit etwas klammen Fingern kramte sie ihr winziges Doppelmesser mit den stark gebogenen Klingen aus ihrer Tasche und legte es neben sich auf das Bett. Sie zog ihren Mantel aus und begann das Obergewand und die Lederriemen aufzuknöpfen. Der Waffengurt machte ihr Schwierigkeiten, aber nach einem Moment des Ärgers zog sie den Bauch ein und drückte ihn ohne die Schnalle zu öffnen über die Taille. Sie hatte eindeutig Gewicht in der Wüste gelassen und das gefiel ihr nicht. Es war nicht gehörig von einem Land, ihr etwas zu nehmen. Länder hatten den Smavari zu geben!

Als sie endlich nackt war, zog sie gegen die Kälte eine ihrer Decken über den Oberkörper und befahl dann: »Odugme, rasiere mich!«

Der große schwarze Mann hatte sich in eine Ecke des Raumes gesetzt und seine Herrin beobachtet. Wenn ihr Nacktsein ihn in irgendeiner Weiße erregte, verriet sein Äußeres nichts davon. Jetzt stand er auf und trat an das Bett heran. Langsam nahm er die Doppelklinge zwischen die Finger und kniete sich zwischen Tals Beine. Dann strich er über ihren Schenkel und näherte sich mit der Klinge ihrer Haut. 

Tal hob den Kopf dann sah sie sein Zittern. Tal hob den Kopf und zischte wie eine wütende Schlange und er hielt still. Die Hand mit der Klinge zitterte wie die eines Greises. Sie schloss die Augen und als sie sie wieder öffnete, schüttelte sie resignierend den Kopf. 

»Lege dich neben mich auf das Bett Phani. Um meine Schönheit, kümmere ich mich wohl besser selbst. Sie nahm ihm das Hexenmesser aus der Pranke und bückte sich zu ihren Beinen. Alles muss man selbst machen, dachte sie und verfluchte dabei ein wenig jähzornig den Stadtwächter Thorill. Der hätte das mit der Rasur auch machen können. Da hätte ihr auch ein bisschen Zittern nichts ausgemacht.

Sie rasierte sich oberflächlich und schnell, bestrich ihre Haut mit etwas Balsam aus ihrem Fundus und rieb sich den Rest unter die Arme. Sie schnüffelte an sich, konnte sich aber nicht überwinden, in der Kälte Wasser zu benutzen. Stattdessen streckte sie sich neben dem riesigen Körper des Phani aus, verdrehte sich, krümmte sich zusammen und kroch dann in einer absolut unmöglichen Position in die Armbeuge des Riesen. So schlief sie ein und Odugme lauschte auf ihr leises Knurren, dass sie stets von sich gab, wenn sie in der Traumwelt weilte. Es dauerte noch eine Weile, dann wechselte auch er hinüber in dieses fremde und dennoch nahe Land des Schlafes. Hier war er frei. Sein Gesicht war schön und er war ein Mann und nichts und niemand gab ihm auf, eine Maske zu tragen. 

 

Es war dunkel und dichter Nebel lag über den gepflasterten Wegen Elaiyneys, als Kyon seine Geschäfte beendet hatte und sich den Weg zu der Lopenleihe beschreiben ließ. Eine alte Quink deutete eine Straße hinunter und winkte dann, er solle nur immer in diese Richtung gehen.

Froh gemuht tat er wie ihm geheißen und nach einer Weile kam er zuerst an einer Stadtmauer, dann an einer mit nur zwei Quink besetzten Wache und schließlich einem großen Hof vorbei. Nach dem Hof gab es nur noch wenige Häuser und es war deutlich, dass er den Hauptteil des Ortes hinter sich gelassen hatte. Links und rechts des Weges befand sich unbebautes Gelände, welches nur von struppigem Gras und kleinen dornigen Büschen bewachsen war. Er sah sich um, konnte aber im immer stärker werdenden Nebel nichts erkennen. Einmal, er war schon eine ganze Strecke von der Stadt entfernt, dachte er, eine Bewegung hinter sich gesehen zu haben, aber dann sah er links von ich das Huschen von Tentakeldachsen und zuckte mit den Schultern. Die Tiere waren harmlos und würden ihn sicher nicht angreifen. 

Vor sich schälte sich die bedrohliche Silhouette eines riesigen Gebäudes aus der Nebelwand. Die Fenster wirkten wie leere Augenhöhlen und die großen Doppelflügel des Haupttores wirkten wie ein griesgrämig nach unten gezogenes Maul eines Titanen. Auf leisen Sohlen näherte er sich dem Gebäude und plötzlich hörte er einen Schrei. Sofort flog der Bogen in seinen ausgestreckten Arm und begann zu rennen.

 

Tal lag flach auf dem Rücken ihres Bettes und sah aus dem Augenwinkel den reglosen Leib ihres Phani neben sich. Er hatte sein goldenes Geschlecht nicht abgenommen. Ohne Maske sah er mit den Halteschienen in seinem Kiefer und dem goldenen Zwischenstück im Knochen seltsam normal für sie aus. Er war nun nicht mehr das unbezahlbare Statussymbol der ersten Tage. Er hatte Kratzer und die minderten seinen Wert. Für sie selbst machte dieser Umstand aber den Umgang mit ihm viel leichter. Es war, als müsse sie nicht mehr vorsichtig sein und darum konnte sie ihren Besitz ohne Ängste genießen.

Das Zimmer war von kaltem Nebel erfüllt und sie fragte sich, ob sie ein Fenster geöffnet hatte und wenn ja, warum sie es getan haben könnte. Dann versuchte sie zu begreifen, warum sich ihre Welt so steif anfühlte und jetzt bemerkte sie endlich, dass sie außerstande war, sich zu bewegen.

Ihre Augen waren offensichtlich nicht betroffen, denn sie konnte ja ihre Aufmerksamkeit von dem Nebel im Zimmer auf den Männerkörper neben sich richten, aber warum gelang es ihr nicht, sich aufzusetzen?

Sie überlegte, ob es vielleicht der Chaosring sein könnte. Hatte sie ihn angesteckt und war unter seine Kontrolle geraten? Im Zirkel hatte sie den Namen des Ringes gelernt. Die Einäugige Hexe hatte ihn Erunsard den Zeithammer getauft.

Vorsichtig sprach sie in Gedanken den Namen des Rings und versuchte zu erkennen, ob sich ihr Geist in einer Traumwelt des Artefaktes befand, aber dann erschrak sie. Da war eine Bewegung über ihr. Sie versuchte etwas zu erkennen, aber ihre schlechten Augen spielten ihr sicher einen Streich. Hockte das eine nackte Frau an der Decke?

 

Ughtred fühlte sich unwohl. Zwar hatte er das Feuer im Kamin in Gang gebracht, aber das Zimmer war viel zu groß, um sich schnell aufzuwärmen. Oder war es einfach nur zu groß für ihn? Er fragte sich, ob es nicht die Welt war, deren Größe er unterschätzt hatte und die ihm nun zusetzte. 

Unruhig ging er zu einem der Fenster, dessen Glas zum Großteil zerbrochen und durch Latten ersetzt worden war. Scherben knirschten unter seinen Fußsohlen. Er zog sich auf das Fensterbrett hinauf und starrte auf das im Nebel liegende Grundstück hinaus. Am Rande seines Blickfeldes konnte er zwei Tentakeldachse sehen, die versuchten, einen alten Holzverschlag zu öffnen. Wahrscheinlich hatte man hier vor langer Zeit Huhns gehalten. Silberwölfe hielten Tiere, um sie zu mästen und dann zu essen, eine Vorstellung, die in Korezuul undenkbar war. Man nahm was die Große Mutter gab, aber man sperrte es nicht ein und quälte es auch nicht.

Plötzlich hörte er ein Geräusch an der Decke und seine Nackenhärchen stellten sich auf. An der Decke, im Stock über ihm oder aus dem Nachbarzimmer – er versuchte zu orten, wo das Geräusch hergekommen war, und richtete sich auf. Dieses Haus hatte etwas Bedrohliches und dies lag nicht nur an seinen Ausmaßen.

Wieder knackte etwas, und dann war da ein Ziehen in der Luft. Er kannte dieses Gefühl. Es kam immer in ihm auf, wenn etwas Unnatürliches vor sich ging. Jedes Mal, wenn die Hexe eine ihrer Zauberkräfte wirkte, zog es ihm in die Hoden und jetzt war es nicht anders. Und dann war da der Schrei.

 

Tal versuchte genauer zu erkennen, was da an der hohen Decke über ihr vor sich ging, aber ihre Sicht wurde vom Nebel getrübt. Warum war da Nebel in ihrem Zimmer?

Jetzt schwebte die Frau – es war eindeutig eine dürre, nackte Frau mit schlauchförmigen Brüsten und knochigen Gliedern – zu ihr herab und Tal war auf eine groteske Weiße froh, denn nun konnte sie zumindest erkennen, was vor sich ging.

Eine Sekunde später jedoch, wünschte sie, nie gesehen zu haben was da von der Decke zu ihr herabschwebte. Es war tatsächlich eine Frau. Einst wird sie eine Smavari gewesen sein, doch nun war sie ein Ding aus der Anderwelt. Ihre blutlosen Gebeine hatten etwas Spinnenhaftes und ihr Gesicht hatte jede Schönheit verloren. Mit starren Augen der Blutgier ließ ich das Wesen zu Tal herab und geiferte Sabber auf ihre nackte Brust. Der Rachen das Dings war weit aufgerissen und zeigte mehrere Reihen messerscharfer Zähne und als es endlich auf Tals Bauch gelandet war, beugte es sich über sie und leckte an ihrem Hals. Tal spürte, wie Blut zu rinnen begann und das Wesen, diese widerliche Bluttrinkerin trank aus ihr. Mit aller macht versuchte sie zu schreien, aber die Blutsaugerin hatte das Selbe mit ihr getan, wie sie selbst es mit Kyon in Draiyn Andiled gemacht hatte. Sie war in einer Art psionischer Stase gefangen und konnte sich nicht rühren. Verzweifelt wehrte sie sich, doch körperliche Impulse hatten keinerlei Wirkung.

Der Nebel wurde immer dichter und Tal merkte, wie er sich in ihren Geist schlich. Sie würde sterben. Das Ding unter der Treppe, hatte schon einmal von ihr gekostet und nun würde es seine Arbeit vollenden. Es würde ihr Blut und schließlich ihre Seele trinken und dann auf ewig mit ihren Alpträumen spielen. Erging es North so in dem Shimwas? Sie schüttelte sich und schrie in sich hinein, wehrte sich mit aller Kraft, aber je mehr sie versuchte hinaus zu dringen, umso mehr erstickte sie der Nebel.

Plötzlich sah sie Akkathas rote Teufelsaugen vor ihrem inneren Ich. »Was … Habe … ich … euch … beigebracht … Tochter … ?«

Die junge Hexe kämpfte mit den Tränen, doch dann kam eine fast unerträgliche Härte über sie. Die Mutterhexe hatte ihr beigebracht, aus allem, selbst aus der schlimmsten verzweiflung, Energie zu ziehen. Aus Angst und Verzweiflung konnten Hass und Wut gezogen werden und derart kanalisiert, waren diese beiden grimmen Schwestern machtvolle Verbündete. Tal konzentrierte sich auf ihre Gefühle und tatsächlich begann sich ihre Angst zu wandeln. Da war etwas urwüchsiges in ihr, etwas, dass in allen Hexen schlummerte und es konnte jederzeit durch die Oberfläche brechen. Wieder schrie sie, und dieses Mal öffnete sich ihr physischer Mund und übertrug einen Teil des Schreis in die Kälte des Zimmers. Gleichzeitig griff Tal in die feinstoffliche Welt, öffnete ihre inneren Augen und sah das Andere. Der Vampir hockte auf ihr und hob verwundert den Kopf. Dann packte Tal die feinstofflichen Stränge des Stasezustandes und ließ ihrer eigenen Kraft freien Raum. Die Aufhebung brach sich Bahn durch ihre Seele und erfüllte ihre ganze innere Welt. Einen kurzen Moment entstand eine Blase, als Kraft und Antikraft aufeinander prallten, doch dann zerbarst dieses Konstrukt und schleuderte die dürre Blutsaugerin aus Tals Lager. Sofort holte Tal tief Luft und schrie erneut und diesmal schrillte all ihr Hass und ihre Wut durch die morschen Gemäuer des Herrenhauses.

 

Kyon rannte durch eine unwirkliche Welt aus flimmernden Lichtern und waberndem Nebel. Er hatte längst den Boden unter den Füßen verloren und erkannte auch nicht mehr die Richtung in die er lief, aber da er den Weg nicht verlassen hatte, glaubte er nach wie vor auf das große Gebäude zu zulaufen. Dann blitzte plötzlich ein weißer Strich vor im auf und er versuchte im letzten Moment seitlich auszuweichen. Wie in Zeitlupe erschien die Fratze einer Frau vor ihm und bleckte ihre Haifischzähne. Als er an ihr vorbei glitt, berührten ihre langen Finger seine Wange und öffneten dabei seine Haut. Blut spritzte in den Nebel und er zog einen Pfeil durch den doppelten Rahmen seines Bogen, doch die dürre Gestalt war längst im dichten Nebel verschwunden. Freudlos langsam ließ er den Pfeil von der Sehne. Er wischte sich über die Wange und starrte auf das Blut auf seiner Handfläche.

 

Als Ughtred mit hoch erhobener Axt in das Zimmer stürmte, war schon alles vorbei. Tal hockte auf ihrem zerwühlten Bett und ihr Hals und ihr weißer Busen waren von ihrem Blut bedeckt. Er suchte nach einem Loch in der Decke oder den Wänden, fand aber nichts. Was auch immer Tal angegriffen hatte, es war weg. Die Episode mit der Treppe fiel ihm ein und er wunderte sich nicht mehr. Die Welt der Silberwölfe war voller Perversionen und Hexereien. 

Vorsichtig ging er zu dem Bett, legte seine Axt auf den Boden und besah sich den Schaden. Tal starrte ihn erbost an und einen Moment hatte er Angst, sie würde ihn angreifen. Stattdessen begann sie zu keifen. Sie beleidigte Elaiyney, dann das Wesen unter der Treppe und schließlich schwor sie ewige heiße Rache an dem blutsaugenden Ding. 

Ughtred war froh. Wer in der Lage war, derart zu fluchen, konnte kaum schwer verletzt sein. Er besah sich die Wunde näher und begann sie mit der Decke zu säubern, aber Tal wischte mit einer wütenden Handbewegung durch die Luft und machte seine Bemühungen zunichte.

Schließlich betrat Kyon das Zimmer. Tal sprang auf und ließ die Decke zu Boden fallen. »Bei Mirthas goldenen Glocken, die scheiß Blutsaugerin ist euch auch begegnet. Ich hoffe sie hat einen eurer Brandpfeile gefressen.«

»Leider nicht«, erwiderte Kyon und besah ihren blutigen Leib.

»Noch alles dran?« fragte er lakonisch, bückte sich nach der Decke und rieb sich damit über die eigene Wange. 

 

Etwas später, Ughtred war in das Nachbarzimmer gegangen, hatte aber beider Türen offen gelassen, saßen Tal und Kyon auf dem Bett und ließen sich von dem Phani reinigen. Er hatte Wasser gefüllt und es zumindest auf Zimmertemperatur gebracht und Tal ertappe sich dabei, wie sie sich nach der Hitze der Wüste sehnte.

Odugme tupfte gerade helles Blut von Kyons Wange und der Barde biss mit hängenden Ohren die Zähne zusammen. 

Sie fragte sich, ob der die vier dünnen Narben stehen lassen würde. Wahrscheinlich nicht. Er war eitel und würde seine Heilungskräfte nutzen, um den kosmetischen Schaden zu beheben. Schade eigentlich, ein kleiner Schmiss würde ihn männlicher wirken lassen. 

»Ich habe euch in der Wüste vergiftet und den Hexenring gestohlen«, sagte sie ruhig und hätte ihn in diesem Augenblick am liebsten geküsst. 

Er sah an ihr vorbei und raunte emotionslos: »Ah wirklich?«

»Das Ding unter der Treppe muss weg. Die Tiba Fe ist nicht groß genug für dieses Monster und mich«, sagte Tal bestimmt und fügte dann hinzu: »Ihr müsst mir helfen sie auszulöschen.«

Kyon nickte stumm. Er griff mir seinem Geist in den Äther und zupfte mit spitzen Nägeln an den Schicksalsfäden, doch alles, was er in Verbindung mit sich fand, war die Wildheit des Wolfes. Er konnte diese Kräfte frei lassen, doch sie unterwarfen sich nie seinem Willen. Eine Kanalisierung, wie Yt`Talan sie zu vollziehen wusste, war ihm nicht möglich. 

»Und ihr müsst mir beibringen, die Fäden zu knüpfen, anstelle nur mit ihnen zu spielen. Wir werden das brauchen – für alles was wir noch vorhaben.«

Sie strich ihm das immer noch vom Nebel nasse Haar aus der Stirn und nickte. »So machen wir das.«

 

Sivuril Trysh, die Schmiedin, nickte betrübt und riet direkt ab. »Dieses Wesen, die Frau unter der Treppe, ist älter als die älteste Smavari auf der Tiba Fe. Sie stammt angeblich von einer weit entfernten Welt und kam mit den ersten Siedlern hierher und schon damals soll sie eine Bluttrinkerin gewesen sein. Niemand kann es mit ihr aufnehmen und selbst die Fürstenschwestern lassen sie gewähren.«

Kyon, Tal und Ughtred, der gerade eben hinzugekommen war, sahen die Schmiedin an.

Einen Moment schwieg sie. Dann fügte sie hinzu: »Es ist, wie es ist. Niemand in Elaiyney und wahrscheinlich auch anderswo, kann etwas gegen sie tun, aber es scheint auch gar nicht wirklich notwendig.«

»Nicht notwendig?« Brauste Tal auf. »Das Miststück hat mich angegriffen. Ich finde es ziemlich notwendig etwas gegen sie zu tun.«

»Aber ihr lebt doch noch.«

Tal funkelte Sivuril böse an. »Das ist ja allerliebst«, zischte sie. »Was müsste sie tun, um es notwendig zu machen, mir den Kopf abbeißen?«

»Sie hat noch nie jemanden getötet. Zumindest keinen von uns. Ein, zwei Mal sind Quink zu Schaden gekommen, aber die waren alt und ich bin sicher, es war unbeabsichtigt«, sagte die Schmiedin.

Es war Tal anzusehen, dass sie innerlich brodelte und Kyon wechselte das Thema.

»Wir würden bald aufbrechen, ihr wisst nicht zufällig jemanden, der sich uns anschließen würde?« fragte er in freundlichem Ton.

Die Angesprochene sah aus, als überlege sie noch, wie sie Tal weiter beruhigen könnte, doch dann schob sie den Gedanken beiseite und antwortete: »Naja, ich selbst könnte mit euch kommen.«

Kyon lächelt, als hätte er gehofft, die Schmiedin rekrutieren zu können. Er sah sie an und sein Blick streifte über das Feuerauge.

Sie nickte und sagte ruhig: »Es war ein Luge, der mir dies antat.«

»Wie könnt ihr es zu eurem Nutzen einsetzen?« fragte Kyon ganz offen.

»Es kann eingesetzt werden, aber es kostet mich viel. Aber wie auch immer, ich bin bereit mit euch zu ziehen, denn das Leben in Elaiyney füllt mich nicht aus und ich habe selbst Bedürfnisse, die nur mit Ressourcen erfüllbar werden. Ich bin dabei.«

Tal sah zum hinteren Bereich des Anwesens, wo sie die Stallungen vermutete. Auf der Weide spielten mehrere Lopen mit dem jungen Smavari, den sie gestern kennengelernt hatten.

Die Schmiedin folgte ihrem Blick und sagte: »Nein, Fegrith wird nicht mit in den Dirywald gehen. Sicher nicht. Er bleibt und sieht nach den Lopen.«

Die Hexe nickte und zuckte mit den Schultern. Dann sagte sie: »Dann ist das so. Wann brechen wir auf?«

 

Keine drei Stunden später wischte sich Kyon die niedrigen Zweige von Nadelbäumen aus dem Gesicht und betastete dann die frische Wunde auf seiner Wange. Tal hatte ein Pflaster aufgebracht und die Haut darunter juckte. Was noch alles? dachte er und versuchte dem Gestrüpp besser auszuweichen. Die Lope unter ihm, er hatte den Namen vergessen und wurde bei dem Gedanken schmerzhaft an Donnerhuf erinnert, stolperte immer wieder, denn der Grund des Dirywaldes war holprig und von Steinen durchsetzt. Kyons Rücken schmerzte und er fragte sich, was er sich dabei gedacht hatte, diesen Auftrag anzunehmen. Einerseits sah er kein Problem darin eine Quinkräuberbande auszuheben, andererseits, hatte er den Weg dorthin mit der Wüste verglichen und übersehen, das man im Hier und Jetzt immer die aktuelle Situation am realsten und alles Vergangene eben als vergangen war nahm. Er fröstelte ein wenig und sah zu dem Nygh vor sich auf. Wie machte das der kleine Mann nur? Der Kerl kraulte seiner Lope den Nacken und betrachtete mit eindeutigem Interesse die Umgebung. Er fror nie, schwitzte nie und wahrscheinlich litt er nicht einmal Hunger oder Durst. 

Seitlich hinter ihm ritt die Schmiedin. Den Phani hatten sie im Anwesen gelassen und Kyon war ganz froh darüber, auch den Sarg nicht sehen zu müssen. Er überlegte, ob er Tal bitten sollte, an dieser Stelle gelegentlich eine endgültige Entscheidung zu treffen. Man könnte Northrian zur Ruhe betten. Oder ging das überhaupt? Würde das Fleisch überhaupt Ruhe finden? Er hatte einmal gehört, dass die Nanophagen, welche totes Fleisch belebten, für immer in ihren Wirten blieben, und nichts diesen Zustand beenden könnte. Aber stimmte das? Feuer änderte alles. Er dachte an das Auge der Schmiedin und seinen Vater. Drachenfeuer, konnte wirklich alles beenden.

 

Die Kühle des Morgens genießend hatte Tal die Augen geschlossen und ließ sich von Regentanz, ihrer Lope, durch den Wald schaukeln. Ab und an strauchelte das mächtige Tier, aber Tal konnte die Fehltritte mittlerweile vorhersehen und glich sie mit geschmeidigen Bewegungen ihrer Hüfte aus. Sie mochte das Reiten mittlerweile. Ihr Verhältnis zu den Lopen war anders als das Kyons. Für sie war das Band zu diesen Tieren weniger aus Ehre, denn aus Zuneigung geknüpft. Sie verstand, warum Smavari und Lopen in Symbiose miteinander lebten. Diese Tiere waren Stolz und hatten einen kämpferischen Charakter. Sie waren wie Wölfe mit Hörnern.

Irgendwo im Gewirr der senkrechten dunklen Striche aus Stämmen und Nadelzweigen schrie ein Vogel und als sie die Augen öffnete, konnte sie kurz neben sich eine Bewegung wahrnehmen. Sie kniff die Augen zusammen, hatte aber den Fokus längst verloren. Seit ihrem Aufbruch in Shishney war ihr erstmals klar geworden, wie schlecht sie im Vergleich zu anderen zu sehen schien. Dennoch, sie hatte etwas gesehen. Da war etwas im Wald, das ihnen folgte.

Ohne Hast lenkte sie Regentanz an der Lope der Schmiedin vorbei und schloss zu Kyon auf. Er musste es ja weit besser wahrgenommen haben als sie.

Auf gleicher Höhe angekommen sah sie den Sliyn an und sagte: »Jemand folgt uns.«

Kyon wandte ihr den Kopf zu und nahm die Hand von seiner Wange. Er blinzelte an ihr vorbei und blickte in den Wald hinaus, als bemerke er erst jetzt, dass er sich in der Wildnis befand.

»Irgendwo da draußen ist ein Löwe. Er ging eine Weile mit uns, aber er ist klug und sucht sich sicher eine leichtere Beute«, sagte er gelassen und in seinem typisch arroganten und allwissenden Ton.

»Ein Löwe? Ich habe noch nie einen gesehen, aber was auch immer ich gesehen habe, es war kein Löwe.«

»Ihr habt etwas gesehen

Er sprach das Wort mit einem deutlich humoristischen Unterton aus, der Tal ärgerte. Sie wusste genau, dass es falsch war, sich von solchen Gefühlen leiten zu lassen, aber sie tat sich immer noch schwer mit ihrem Verhältnis zu Kyon. Er war ein Sliyn, stammte aus dem Hause eines Sliyn und benahm sich wie einer. Sein Mantel war neu und schön, seine Ausrüstung glänzte und in den Kaschemmen zahlte er. Sie hatte nicht einmal eine Frisur.

»Wenn ich sage, ich habe etwas wahrgenommen, dann habe ich das auch«, sagte sie gereizt.

Der Barde hob sich aus dem Sattel und blickte sich um. Er konzentrierte sich und Tal erkannte, dass er sie ernst nahm. 

»Ich sehe nichts und ich spüre auch nichts, aber wir sollten vorsichtig sein. Eure Wahrnehmung blickt in andere Sphären als meine. Wir werden die Augen offen halten.«

Sie überlegte kurz, ob sie noch etwas sagen sollte, beließ es aber dabei und gab ihrer Lope zu verstehen, sich zurückfallen zu lassen.

 

Einen Tag ging die Reise durch den Wald. Immer wieder mussten die Reiter absteigen und zu Fuß gehen. Steinmeere und dichtes Unterholz machten den Weg schwierig und ohne die Karte aus Undorn hätte man die Katakomben von Diry niemals finden können. Immer wieder musste Ughtred sich die Karte von Tal geben lassen. Er wunderte sich ohnehin, dass Kyon den Kristall der Hexe gegeben hatte. Die ganze Zeit hatte er gedacht, der Barde wäre so eine Art Fürst und hätte deshalb das Sagen und er benahm sich auch irgendwie so. Aber dann wieder, überließ er das mächtigste ihrer Artefakte der Hexe. Das Verhältnis der beiden Silberwölfe war ihm ein Buch  mit sieben Siegeln. 

Zur Mitternacht des ersten Reisetages ließ Kyon anhalten und sagte ihm, er solle ein gutes Lager suchen. Zu Befehl, dachte Ughtred, aber dann musste er innerlich lachen, weil er wusste, dass Kyon ihm nicht wirklich Befehle erteilte. Das war auch so etwas Merkwürdiges. Der Silberwolf war eben ein Silberwolf und Ughtred war für ihn wahrscheinlich nicht mehr als eine Lope, aber warum auch? Wenn er in sich selbst hinein horchte, konnte er dieses Gefühl auch wahrnehmen. Die Lopen waren Tiere, aber sie waren auch treu, mutig, schön, intelligent und sie gaben ihr Leben für die ihrer Reiter. Sie taten es, wegen einem tausende von Millenien alten Schwur, den vor langer Zeit ihre Vorfahren mit den ersten Silberwölfen der Tiba Fe geschlossen hatten, und sie hielten sich immer noch daran. Warum sollte man Tiere minder schätzen als Nyghs und Silberwölfe?

Er deutete auf einen umgestürzten Baumriesen und den durch dieses Ereignis frei gewordenen Platz. Der Boden war zwar von Steinen übersät, aber es würde gehen und er hatte auch keine Lust mehr weiter zu reiten.

»Hier ist es so gut wie anderswo«, sagte er in gebrochenem Smavarisch und stieg direkt ab.

Kyon nickte und hob den Arm in seiner Lieblingsgeste. Als er die Hand zur Faust ballte, hielten alle Lopen an, als kannten sie alle diesen militärisch anmutenden Befehl.

Als alle abgestiegen waren, begannen sie sogleich das Lager aufzubauen. Ughtred sammelte etwas Reisig und wollte gerade ein Feuer entzünden, als Sivuril im Vorübergehen ihr Auge aufflammen ließ und den von ihm aufgeschichteten Haufen in Flammen aufgehen ließ. Er blickte zu ihr auf, verzog das Gesicht zu einer Grimasse und begann wenigstens Steine um die Feuerstelle zu legen.

Unterdessen hängte Kyon seine Hängematte zwischen die schwarzen Stämme zweier Bäume. Er hatte das Ding in Elaiyney einem alten Quink abgetauscht, denn er hatte genug vom steinigen harten Boden. Es war ihm ein Rätsel, wie Tal unter solchen Umständen schlafen konnte, aber ihre dünnen Knochen schienen aus Gummi zu sein und seine nun einmal nicht. Er grinste, als er sah, wie die Hexe versuchte ihr Zelt aufzubauen und kläglich versagte. Die Stangen und Häute sahen aber auch wirklich kompliziert aus. Er überlegte, ob er dem Nygh befehlen sollte ihr zu helfen, aber da kam ihm Ughtred auch schon zuvor. Er hasste den Altruismus des kleinen Mannes. Was bildete sich der Kerl nur ein? Was sollte er erreichen? Dachte er am Ende etwa die Smavari würde ihn eines Tages zu sich ins Zelt lassen?

Er stutzte bei diesem Gedanken und überlegte kurz. Aus seiner Sicht war der Nygh so hässlich wie ein Pest verseuchter Hobgoblin. War es möglich? Er selbst hatte einmal vor langer Zeit Sex mit einer jungen Quink gehabt, unter Drogeneinfluss und – zumindest redete er sich das ein – weil er eine Wette verloren hatte. Aber Tal mit dem Nygh – das fand er grotesk. Na ja, grotesk musste nicht schlecht sein, war ja schließlich ihre Sache. 

Er beobachtete die beiden und sah zu, wie Tal sich wie immer vor dem engen Zelt entkleidete und ihre Decke hinein schob. Die Reise hatte sie noch dürrer werden lassen, aber er wusste, dass dieser Eindruck täuschen konnte. Smavarische Frauen konnten ihre Leibesmaße noch stärker beeinflussen als Männer. Eben kommen sie knabenhaft und maskulin daher und im nächsten Moment wölben sich ihre Mieder bis zum Zerplatzen und die Taillen werden schmal wie bei Wutwespen.

Egal, sie war nicht sein Fall und gut. Also stieg er in seine Hängematte und war froh, dieses Thema abgeschlossen zu haben. Sogleich schief er ein und träumte von ihr.

 

Als Ughtred die Reisegruppe weckte, war es noch dunkel, aber die Sonnenschwestern betasteten mit ihren ersten Strahlen die Spitzen der Baumwipfel. Er begann das Lager zu räumen, packte Ausrüstung auf die Lopen und stieß dabei überhaupt nicht aus Versehen gegen Kyons Schlafstätte. Der Barde knurrte wie der Wolf, der er war, und einen Moment bereute Ughtred seinen Spaß. Er versuchte etwas in der Hängematte zu erkennen und war erleichtert, als Kyons verschlafenes Gesicht über dem Rand erschien. Er sah zwar böse aus, aber immerhin war er normal – also was auch immer für einen Silberwolf normal galt.

Laut Karte waren die Katakomben noch etwa eine Tagesreise entfernt. Dies würde bedeuten, sie kämen am Ende ihrer Kräfte dort an. Also beschlossen sie, ein Stück vorher erneut zu rasten und sich auszuruhen. Gesagt, getan, sie brachen auf und kamen auch gut voran. Tal fühlte sich immer noch beobachtet. Das Gefühl verstärkte sich zwar nicht, war aber eindeutig. Sie sagte nichts mehr, aber sie war vorsichtig. Wenn sie sich tatsächlich nur am Rande des Reviers eines Waldlöwen befanden, erschien ihr dies gefährlich genug, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass es sich hier um etwas anderes handelte. Es war etwas Feinstoffliches und sie erwog, in den Astralraum zu blicken, um sichergehen zu können, nicht von etwas aus der Anderwelt verfolgt zu werden. Da ihr Gefühl aber nicht an Dringlichkeit zunahm, verwarf sie die Idee. Psionische Vorgänge kosteten viel Kraft und konnten viele Tage brauchen, bis sie erneut zum Einsatz kommen konnten. Sie wollte sich ihre Kräfte aufsparen. Eine Gruppe von Räubern erschien ihr zwar alles andere als gefährlich – zumindest verglichen mit den Bewohnern der Wüste – aber man konnte nie wissen.

Gegen Mittag erreichten sie eine kleine Lichtung mit einem Bach und entschieden, genau hier zu rasten. Sie waren noch ein ganzes Stück von ihrem Ziel entfernt, aber den Rest der Strecke würden sie zurücklegen können, ohne alle Kräfte aufzubrauchen. Wieder schlug Ughtred das Lager auf und wieder verbrachten sie mehrere Stunden ohne Zwischenfälle im Wald von Diry. Es war fast, als schütze sie eine übergeordnete Kraft und Tal überlegte, ob es dies war. War da etwas in den Wäldern, dass auf sie aufpasste, weil es wollte, dass sie ihr Ziel erreichten? Sie dachte an das, was der Stadtwächter gesagt hatte. Ein Waldläufer oder eine ganze Jagdgruppe sei angegriffen worden. Konnten es die Geister der Toten sein, die hier eine Möglichkeit zur Rache sahen und deswegen ihren Weg sicher gestalteten? Sie lächelte bei diesem Gedanken, denn sie war eine Silberwölfin und Rache war ein starkes Motiv in der Welt der Smavari.

 

Ausgeschlafen bestiegen sie einige Stunden später die Lopen und bereiteten sich auf die letzte Etappe des Weges vor. Sivuril zog ihren langstieligen, sehr schmalen Hammer aus dem Gürtel und prüfte die spitze Seite. In der Dunkelheit glomm der Silberstahl unter dem Blick ihres Drachenauges rötlich.

Ughtred bewegte seine Lope neben sie und fragte: »Schmerzt es?«

»Nur wenn ich dabei lache«, scherzte die Schmiedin, die ihn seit ihrer ersten Begegnung wie ihresgleichen behandelte, was für eine Silberwölfin mehr als außergewöhnlich war. 

Der Nygh sah sie an und schüttelte den Kopf. Er würde diese Wesen nie verstehen. Konnten sie nichts ernst nehmen? Oder nahmen sie alles zu ernst?

»Na lustig wird das nachher sicher nicht werden«, sagte er schließlich. 

»Na dann habe ich ja Glück.«

Nur wenige Stunden darauf kamen sie an eine kleine Anhöhe und eine der Lopen stolperte über einen Steindeckel, der am Boden lag. Sie stiegen ab und untersuchten das Ding und erkannten es als eine Art Tor, welches einen Zugang der Katakomben verschloss. Ohne Werkzeug war das Ding jedoch unmöglich zu bewältigen. So beschlossen sie, die Lopen ein Stückchen abseits lagern zu lassen und sich das Gelände genauer anzusehen. Kyon zog einen seiner speziellen Pfeile aus dem Köcher und sofort sprang ihm der Bogen in die ausgestreckte Hand. Er zog die Sehne durch und schoss den Pfeil in steilem Winkel in die Luft. Dann drehten sich seine Augen nach oben und sein Geist wurde mit dem Pfeil in die Höhe gerissen. Die anderen staunten, als er zusammenzuckte und sagte: »Der Pfeil ist gegen einen Felsen im Nordosten geprallt. Wir sind ein kleines Stück zu weit. Ich habe zwei Quink vor einer Art Höhleneingang und eine weitere Abdeckung wie die vorhin gesehen.«

Tal erwiderte: »Ich werde im Astralraum dort hingehen und die Lage sondieren.«

Er verdrehte die Augen, weil er dann ja den Pfeil umsonst geopfert hatte, aber er sagte nichts. Stattdessen nickte er und deutete in die Richtung, von der er gesprochen hatte.

Tal erinnerte sich an ihren Ausflug in die Anderwelt, als sie in Draiyn Andiled in der gleichen Situation gewesen waren. Diesmal war der Sarg weit entfernt und sie hatte eine bessere Vorstellung von den Richtungen und Kräften. Sie setzte sich auf den Boden, zog die Beine unter sich und schloss die Augen. Kurz darauf drang sie mit dem Geist in den Astralraum, griff nach den entsprechenden Fäden und befreite sich aus ihrem Leib. Es dauerte nur eine Sekunde, da drehte sich auch schon wieder die Richtung der Gravitation, aber dieses Mal wehrte sie sich nicht, sondern nutzte die Kräfte, um sich voran zu bewegen. Es gelang ihr derart gut, dass sie schneller als Kyons Pfeil durch den Wald raste und sich binnen einer Sekunde im Lager der Räuber wiederfand.

Sie erkannte ein fast ausgebranntes Lagerfeuer und die beiden Räuber, von denen Kyon gesprochen hatte. Der Eingang stand offen und sie zog sich hinein und erkannte mehrere am Boden liegende Gestalten. Da waren die massigen Leiber von wenigstens zwei Jukrey zu sehen und ebenfalls zwei Midyar. Hinzu kamen vier oder fünf Quink, von denen gerade einer aufgestanden war. Sie zog sich zurück und untersuchte noch schnell die Umgebung. Sie selbst bemerkte es gar nicht, aber die Geschwindigkeit, in der sich ihr Astralkörper bewegte, machte aus ihrem Ausflug eine Sache von wenigen Minuten.

Die zweite Bodenplatte, die Kyon gesehen hatte, war eher ein Loch, denn der Stein war vor langer Zeit zerbrochen und in die Tiefe gestürzt. Sie glitt nach unten, aber plötzlich spürte sie etwas im Gesicht und erschrak. Wie konnte sie etwas spüren? Sie war im Astralraum. Es war wie ein Spinnennetz. Panisch wichte sie sich mit ihrer feinstofflichen Hand übers Gesicht und da war ein Faden. Es war eine Art Faser, genau so astral wie ihr Leib. Hier ging etwas nicht mit rechten Dingen zu. 

Sofort brach sie ab und ließ sich von ihrem Goldfaden zu ihrer physischen Existenz zurückziehen. Im Rückzug erkannte sie nahe dem Loch eine Gruppe von halbtransparenten Hobgoblins, die offenbar schliefen. Sie fragte sich, warum sie die nicht vorher gesehen hatte, aber in diesem Moment öffnete sie auch schon die Augen und sog schmerzerfüllt die Luft ein. Etwas war in ihrem linken Augen und versuchte es heraus zu reiben. Ughtred hielt ihre Hand fest und griff nach dem Ding, erwischte es aber nicht und erst als sie es selbst erneut versuchte, bekam sie es zu fassen und zog es langsam aus ihrer Augenhöhle. Es wand sich und als es heraus war, wickelte es sich wie eine hauchdünne Schlange um ihren Finger und drohte ihn einzuschneiden; doch Tal hatte flink einen winzigen Beutel für ihre alchemistischen Zutaten hervorgezogen und zwang das Ding nun hinein. Sie lächelte grimmig als sie das Beutelchen zuzog und zischte: »Hab ich dich.«

Die anderen sahen sie mit großen Augen an und dann begann sie mit ihrem Bericht. 

Räuber, Midyar, Hobgoblins und noch waren die meisten von ihnen in einer Höhle. Und was war das für ein Loch und was hatte die astralen Fäden verursacht?

Kyon zog einen Pfeil aus dem Köcher und sagte: »Das ist ein sehr wirksamer Giftpfeil. Ich traue mir zu, mich nahe genug heran zu schleichen, um den Pfeil in den Eingang der Räuberhöhle zu schießen. Das wird sie aufmuntern.«

Die Schmiedin nickte und sagte: »Ich gehe mit Frau YtˋTalan direkt hier entlang zum Lagerfeuer und Ughtred kann am Rand dieses Hügels in Richtung des Lagers gehen.«

Sie deutete in die beiden Richtung und die anderen waren einverstanden. Tal zog ihr Kreuzschwert und der Shimwas in ihrem Kampfhandschuh beginn dumpf zu brummen. Sie fühlte wie er die Kontrolle über ihren Körper übernahm. Es war ein gutes Gefühl. Es war das Einzige, was von ihrem Bruder übrig geblieben war.

Ughtred zog ein Wurfbeil und nahm seine Handaxt in die Linke. Er hasste diese Situation. Was hatte er mit den Räubern zu tun? Aber egal, mitgefangen, mitgehangen. Vorsichtig strich er an dem niedrigen Hang entlang und folgte Tal und Sivuril, die ein Stück vor ihm einen Teil ihres Weges mit ihm gemein hatten. Doch dann rutschte Tal eine Böschung hinunter und die Schmiedin blieb entgegen des ursprünglichen Plans bei dem Nygh. 

Etwa im selben Moment hatte Kyon seine Position für den Bogen erreicht. Er konnte das Ziel nicht sehen, aber er holte die Erinnerung des Sichtpfeiles hervor, legte an und schoss ballistisch ins Ungewisse. Der Pfeil flog über die Baumwipfel und gerade als Tal den ersten Blick auf das Lagerfeuer erhaschte, prallte der Pfeil auf den Boden vor dem Höhleneingang. Ein feiner Dunst stieg auf und die im selben Moment heraus kommenden Räuber begannen erbärmlich zu husten.

Tal machte mehrere Schritte zwischen den Bäumen hindurch, griff mit ihren Astralen Fingern ins Feinstoffliche und entließ eine ihrer schrecklichsten Disziplinen aus dem Äther. Sie wie Tentakel glitten ihre unsichtbaren Finger zwischen der Membran des Subraumes hindurch, erfassten die umstehenden Räuber und bohrten sich in deren Schmerzzentren. Ohne Gnade drückte die Silberwölfin zu und trank den Schmerz von Quink, Midyar und Jukrey. Männer und Frauen schrien und wandten ich am Boden.

Einer, der nicht in der Reichweite des Giftnebels gestanden hatte und ihrem mentalen Angriff offenbar entgangen war, erblickte Tal und stürzte auf sie zu, doch Sivuril, die dicht hinter der Hexe her rannte, fluchte, öffnete ihr Auge und ein gleißender Feuerstrahl zerschnitt Äste, zwei Männer und Felsen. Sie selbst prallte zurück und schrie. Etwas war schief gegangen und sie hatte recht behalten: das Feuer hatte sie etwas gekostet. Tal sah aus dem Augenwinkel, wie der Kopf der Frau in Flamen stand und ein Teil ihres Schädelknochens als Schlacke in die nahestehenden Bäume spritzte. Sie wollte der Schmiedin helfen, aber da kam einer der Räuber zwischen den Bäumen auf sie zu gerannt. Der Kerl schrie und hob einen smavarischen Säbel aus Silberstahl. Sein Unterkiefer war aus purem Gold und Tal war sich sicher, den Anführer der Räuber gefunden zu haben.

Die Bäume standen dicht und sie konnte nur mit einem Rückhandschlag von unten nach oben angreifen und traf ihr Ziel daher nur ungenau. Der Quink schrie, aber seine Lederrüstung hatte das Schwert abgefangen und als er nun selbst zuschlug, machte Tal eine schnelle Seitwärtsbewegung, 

Unterdessen tauchte vor Ughtred einer der riesigen Midyar auf und holte mit seiner Keule aus. Der Nygh warf sein Beil, doch der Echsenkrieger fälschte es in der Luft ab und schlug seinerseits zu. Ughtred gelang es auszuweichen und sah hinter dem Riesen eine Quinkfrau mit einem Bogen. Im ersten Moment schien sie unentschlossen, doch dann hob sie den Bogen und wartete auf ein freies Schussfeld. Der Kampf dauerte quälend lang. Ughtred wich immer wieder aus, doch der Midyar war erstaunlich flink und schaffte es die Angriffe des Nyghs zu parieren. Selbst als Ughtred endlich einen Treffer landete, schien er kaum durch die dicke natürliche Panzerung des Wesens zu dringen. Immer wieder schlug er zu und machte schließlich eine Rolle vorwärts, als die Bogenschützin auf ihn schoss. Schreiend schlug er nach der Verse des Reptilkriegers, traf und zwang seinen Gegner endlich zu Boden. Die Schützin hatte mehrere Pfeile abgeschossen, doch sie verstand eindeutig nichts von diesem Handwerk und als das Glück den Midyar verließ, entschied sie, es ebenso zu machen und floh. 

Kyon sah sich plötzlich von Hobgoblins umringt, doch diese schienen vor etwas zu fliehen. Sie kamen aus der Richtung, in der er die Öffnung im Boden gesehen hatte und er wollte gar nicht wissen, was sie verängstigte. Als einer der Grünen Kerle in seiner Nähe durchs Unterholz hetzte, hob er den Bogen und schoss einen Pfeil nach ihm. Er traf mitten ins Ohr des Flüchtenden, aber anstelle den Kopf zu zerreißen, drang er mitten hindurch und kam auf der anderen Seite wieder heraus. Das Rotauge schrie lauter und rannte wie von Furien gehetzt weiter. Kyon brauchte eine Sekunde, das Gesehene zu verarbeiten, dann musste er lachen und machte sich ebenfalls auf den Rückweg. Er hatte den Überblick über den eigentlichen Kampf verloren und wollte auf keinen Fall dem Bewohner des Loches im Waldboden begegnen. Hobgoblins waren nicht unbedingt die mutigsten Waldbewohner, aber hier hatte sie etwas wirklich in Panik versetzt und er musste überhaupt nicht wissen, um was es sich dabei handelte. Also nahm er ebenfalls die Beine in die Hand und sprang behend über einen umgestürzten Baum und am Rande eines Sees entlang in Richtung der Anderen.

Im selben Moment hatte der Räuberhauptmann seine Lage erkannt. Seine Männer krochen von kosmischem Schrecken erfüllt zwischen Dornenhecken herum und pissten sich ein, oder lagen als verbrannte Leichen zwischen den selben. Er schrie wuterfüllt auf und hob seinen Säbel, aber die Hexe kam ihm zuvor und rammte ihm den Knauf ihres langen Schwertes in den Hals. Dann machte sie eine halbe Drehung mit dem Arm, brachte die Klinge in eine aufrechte Position über seine Schulter und zog sie mit einer ruckartigen Bewegung zu ich zurück. Der Quink merkte nicht was passierte, denn der Stoß hatte ihn hart getroffen und als nun sein Hals durchgeschnitten wurde, entglitt ihm die Realität und seine Seele verließ seinen geschundenen Leib.

Ughtred rannte der Bogenschützin hinterher und sah, wie sich plötzlich Tals Silhouette vor ihr erhob und da blitzte auch schon das Schwert der Hexe auf und zerteilte den Brustkorb der Unglücklichen. 

Dann war der Kampf vorüber. Tal hatte sich ohne große Hoffnung zu Sivuril begeben, doch als sie den blutigen Kopf der Schmiedin anhob, sah sie verwundert, dass sich die schreckliche Wunde schon weitgehend geschlossen hatte. Die Drachenschuppe war eine mehr als seltsame Krankheit. Sie erzeugte Qualen, entstellte, schien aber auch die Regeneration zu beschleunigen und im vorliegenden Fall hatte sie wohl darüber hinaus die Klauen des Todes abgewehrt.

Als Kyon hinzu kam, holte er sofort eine der Medpacks aus der Tasche und Tal machte sich an die Arbeit.

Unterdessen durchsuchte Kyon die Unterkunft von Skoks Bande und packte die wenigen Habe der Räuber in einen schmutzigen Schlafsack. Er hätte mehr erwartet, nachdem man die Taten der Räuber beschrieben hatte. Wo waren die Reichtümer, die Waffen und Schätze, die sie ihren Opfern abgenommen hatten? Nur der güldene Unterkiefer des Hauptmanns selbst schien von Luxus zu zeugen, doch den hatte er ganz sicher nicht hier im Wald erhalten. 

Dann drängte Ughtred zum Aufbruch und Kyon gab ihm Recht. Irgend etwas anderes ging hier im Diry um und sie waren sich beide einig, überhaupt nicht wissen zu wollen, um was genau es sich dabei handelte. 

 

Die Rückreise verlief schweigsam und ohne nennenswerte Ereignisse. Die kleine Reisegruppe war etwas von den Vorkommnissen bei Diry benommen. Sie hatten die Räuber wohl besiegt und nun würde hier draußen wieder Ordnung herrschen, aber was hatte diese Leute zu ihrem Tun getrieben? Sie waren ihren Herren entkommen und hatten sich versteckt – nicht mehr und nicht weniger.

Ughtred hatte Angst um Sivuril Trysh. Sie hielt konnte sich eigenständig im Sattel halten, was erstaunlich genug war, doch er fürchtete bei jedem Fehltritt ihrer Lope, dass sie stürzen könnte. Ihre Verletzung sah mehr als Böse aus und Tal hatte ihre linke Gesichtshälfte mit einem tonartigen Material bestrichen und grob ihre Züge nachgebildet. Er fragte sich, ob sie je wieder wie eine Frau aussehen würde, aber die Regenerationskräfte der Silberwölfe waren ebenso erstaunlich wie ihr ganzes Dasein und er wollte nicht Schwarz sehen.

Fast drei Tage brauchten sie für den Rückweg, denn die Schmiedin konnte auch auf den Geraden nicht schneller reiten, doch dafür ging es ihr bei der Ankunft in der Stadt bedeutend besser. Erst vor einigen Stunden hatte die Hexe den harten Tonverband gelöst und durch normale Binden ersetzt und weitere Medizin verabreicht und Sivuril hatte aufgeatmet und vorsichtig gelächelt.

Leichter Nieselregen lag über dem Land, als die kleine Karawane durch das südliche Tor von Elaiyney einkehrte. Die Wächter, zwei stattliche Quink hielten sie nicht auf und die Schmiedin dirigierte den Tross direkt zum alten Herrenhaus. Dazu mussten sie Elaiyney zwar im Osten wieder verlassen, doch sie hatten darauf Wert gelegt, dass die Wächter ihre Ankunft verkündeten. Sie waren Helden und mussten entsprechende Vorkehrungen treffen, bevor sie ihren Anspruch vor die Fürstenschwestern bringen konnten.

In der Lopenleihe kam ihnen Fegrith mit besorgtem Blick entgegen und half Sivuril aus dem Sattel. Zusammen mit Tal geleitete er sie in die Unterkunft in der kleinen Schmiede, denn sie selbst wohnte nicht in dem großen leeren Haus. 

Gleichzeitig versorgten Ughtred und siehe und staune Kyon die Lopen. Sie nahmen die Sättel und Packgestänge ab und bedankten sich für die Gutmütigkeit der Tiere.

Ughtred sah verstohlen zu, wie Kyon zuerst zögerlich, dann ganz und gar bei der Sache mit der Hand über Feuerodems Flanke rieb und sich leise mit einer alten smavarischen Formel bedankte. Das gewaltige Orey`Orevi nickte freundlich und es war, als bestätige es den jahrtausende alten Schwur zwischen diesen ungleichen Spezies.

 

Früh am nächsten Morgen, das ferne Schnattern von Tentakeldachsen hatte ihn geweckt, ging Kyon hinunter zu der Schmiede und klopfte zögerlich an Sivurils Schlafzimmertür. Er wartete jedoch nicht, sondern trat direkt ein. Die junge Frau lag nackt auf ihrem Lager und hatte den Verband gelockert und Kyon trat hinzu und bot seine Hilfe an. Gemeinsam legten sie neue Gaze auf und versorgten so die schreckliche Wunde.

Sivuril verhielt sich dabei ganz ohne Scheu, denn erstens war sie es gewohnt, mitleidig angesehen zu werden und zweitens wusste sie, noch würde die Drachenschuppe sie nicht holen kommen. Selbst diese schwere Verletzung würde verheilen. 

Kyon musterte den fast androgynen Körper der Schmiedin. An ihrem Hals hatten rötliche Schuppen die Haut ersetzt, doch auch am linken Oberarm und am Rücken waren die Spuren des Lugen weit fortgeschritten.

»Wie lange?« Fragte er direkt, doch sie zuckte nur mit den Schultern und sagte stattdessen: »Wir müssen über nachher reden.«

»Nachher?«

Sie versuchte ein Lächeln, aber die wulstige Narbe, die derzeit ihre Wange beherrschte, ließ es zu einer schmerzverzerrten Grimasse werden und Kyon hob abwehrend eine Hand.

Dennoch sagte sie mit so wenig Mimik wie möglich: »Die Schwestern, wir werden wohl heute noch eine Einladung erhalten und müssen dort unsere Heldentat vorbringen.«

Nun war es Kyon, der sein Gesicht verzog.

Sivuril blickte über seine Schulter und hob grüßend die Hand. Als Kyon sich umdrehte, standen Tal und der Nygh im Türrahmen. Sie traten ungefragt ein und die Hexe begann sogleich die Wunde der Schmiedin zu untersuchen, war aber mit dem Voranschreiten der Regeneration zufrieden.

»Was müssen wir vorbringen?« Fragte sie in den Raum, denn sie hatte den letzten Teil der Unterhaltung mitgehört.

Sivuril zog sich frösteln eine Decke über die Schultern und erklärte das bevorstehende Prozedere. Die beiden Ayn würden die Heldengruppe zu sich ins Turmhaus laden. Dort würde man befragt werden und schließlich eine Forderungen vorbringen.

»Forderungen? Was bedeutet denn Forderungen?« wollte Tal wissen.

Sivuril antwortete: »Nun, in Fällen wie diesem, in denen Helden freiwillig eine Großtat vollbringen, dürfen sie vor ihre Fürsten treten und sich etwas wünschen. So ist es Brauch.«

Kyon rieb sich die Nasenwurzel und schüttelte den Kopf. Die Bräuche zur generellen Thematik Helden gingen ihm gehörig aufs Gemächt. Andererseits wollte er auch keine Chance ungenutzt lassen, die Ressourcen ihrer Unternehmung auf dem höchstmöglichen Stand zu halten. 

»Na, dann machen wir das so«, sagte er und verließ grußlos den kleinen Raum.

 

Erst am späten Nachmittag ließ sich die Obrigkeit Elaiyneys dazu herab, ihre Helden zu begrüßen. Ein Quinkkrieger kam zum Herrenhaus und klopfte an der offenen Schmiede. Da niemand da war, versuchte er es bei der Seitentür des Herrenhauses und hier hörte ihn schließlich Ughtred. 

Er führte den Mann zu Kyon, der gerade seinen Bogen inspizierte. Der Barde hörte sich an, was der Stadtwächter zu sagen hatte und winkte ihn wortlos hinaus.

Ughtred grinste grimmig unter seinem Bart. Das konnte ja heiter werden, wenn der junge Sliyn nun vor die Fürstenschwestern trat. Er konnte sich wenig unter diesen Begriffen vorstellen und hatte keine Ahnung, wer oder was genau die Ayn waren, aber er wusste genau, dass es eine Grenze gab, die einfache Silberwölfe von anderen unterschied. Tal und Kyon und auch Sivuril oder der Junge hinten bei den Stallungen, sie waren einfache Silberwölfe und damit aus seiner Sicht gerade seltsam genug. Ihre Fähigkeiten waren ihm fremd und er konnte sich nicht vorstellen, wie sie im Inneren funktionierten, aber sie waren dem, was er noch als normale Lebewesen bezeichnen würde, am nächsten.

Dann aber waren da die anderen Silberwölfe. Sie waren alt, hatten sich im Laufe der Zeit verändert, Mächte und Disziplinen gelernt und sich immer weiter von der Normalität des Lebens entfernt.

Er hatte unzählige Geschichten von ihnen gehört. Ihr Gott, oder eine Art Avatar eines Gottes, sollte in der Lage sein, wirklich alles, was er mit der Hand berührte oder auch nur willentlich ansah, in pures Gold zu verwandeln. Ughtred war weder ein sonderlich gläubiger, noch ein dummer Mann. Er hatte viel gelesen, viel gelernt und war sich sicher, dass eine Materietransmutation von zum Beispiel Fleisch zu Gold alles andere als ein den Gesetzen der Realität angehöriger Vorgang war.

Aber diese Wesen machten sich ihre eigenen Realitäten. Er sah es ja schon bei Tal. Die Hexe griff regelmäßig in das Normale ein und formte es nach ihrem Willen und er war sich absolut sicher, dass sie in diesen Dingen, wie in den meisten anderen, eine blutige Anfängerin war.

Bei diesen Gedanken fröstelte ihn, denn er wollte sich gar nicht vorstellen, zu was die Fürstinnen dieses Landes oder auch nur die, dieser Stadt vollbringen konnten.

Einige Minuten später standen Kyon, Tal, Ughtred und Sivuril vor der Schmiede im leichten Regen und traten von einem Fuß auf den anderen. Alle überlegten, was es noch zu sagen gäbe, aber dann siegte das schlechte Wetter und sie machten sich wortlos in Richtung des Turmhauses auf.

Dieses erwies sich als unspektakulär. Es hatte nichts mit der Einzigartigkeit der Zitadelle von Shishney gemein und war einfach nur ein langgezogenes Haus, auf das man nachträglich zwei Steintürme gesetzt hatte. Quink hatten es erbaut und es wies keinerlei smavarische Raffinessen auf. Die Mauern des lang gezogenen Hauptgebäudes waren im Fachwerkstil errichtet worden und die Türme selbst, die immerhin wenigstens sieben Stockwerke zu haben schienen, bestanden aus geschichteten Steinen.

Angekommen, ließ man sie erneut warten. Sie hockten dicht an dicht auf einer Bank in einem Vorzimmer und wurden neugierig von den beiden Quinkwächtern beäugt. Man hatte offenbar vergessen ihnen etwas anzubieten, oder es war im Hause der Fürstinnen einfach unüblich, Gäste zu bewirten.

Keiner der vier sagte etwas. Sie saßen nur da und grübelten, was sie sagen sollten, wenn sie vor den Fürstinnen stünden.

Nach über einer Stunde endlich, wurde das breite Innentor zum Festsaal des Turmhauses geöffnet.

Der besagte Saal war ebenso einfach gehalten, wie das Haus von außen erwarten ließ. Es gab einen langen Tisch, der fast den ganzen Raum durchmaß und dem Eingang gegenüber eine etwa drei Stufen höher gelegene Empore. Hier standen zwei Holzstühle mit geschnitzten Lehnen, so weit voneinander entfernt, wie es der Saal zuließ.

Auf dem linken Stuhl saß eine Frau, deren Liebreiz kaum zu übertreffen war. Sie trug einen kurzen Harnisch, der kaum an ihre Hüfte reichte und hohe Stiefel, die ihre langen Beine betonten. Obwohl sie jung aussah, war sie auch üppig und trotz ihrer weiblichen Foren wirkte ihr Gesicht ernst und streng. Ihr dunkles Haar war glatt und vor allem ihre ausgebleichten Augen machten es schwer, ihr tatsächliches Alter einzuschätzen.

Auf dem anderen Stuhl hatte ihre Schwester Platz genommen und die beiden hätten nicht unterschiedlicher sein können. Auch diese Ayn trug einen Harnisch, doch hatte sie darüber einen dunkelgrauen Waldläufermantel gezogen, unter dessen Kapuze blendend weißes Haar hervorquoll. Ihre Lippen waren ein wenig spitzer und die Gesichtszüge nicht ganz so perfekt wie bei ihrer Schwester, doch auch sie war eine Frau von großer Schönheit. 

Ein Quink trat vor die Fürstinnen und stellte die Gäste vor und dann gab die linke der Damen zu verstehen, dass Kyon, der einzige in der Gruppe von Adel, sich nun ebenfalls vorstellen dürfe. Dieser tat wie ihm geheißen.

Einen langen Moment herrschte Ruhe im Saal. Beide Ayn betrachteten die vier ungleichen Gestalten und es war ihnen anzusehen, dass sie der Sache alles andere als positiv gegenüberstanden. Dann brach die linke Ayn das Schweigen.

»Ich, Ayn Siychnifee yr Sornweth, frage diese Sliyn, was steht er hier mit seinen Vasallen vor der Obrigkeit von Elaiyney?« Ihre Stimme war barsch und es war ihr anzumerken, wie ungehalten sie von diesem Besuch war.

Kyon blickte auf und brauchte eine Sekunde, sich zu sammeln, doch dann sagte er mit genügend fester Stimme: »Wir haben der Räuberbande im Dirywald ein Ende gesetzt und sind hier, dies unter Beweis zu stellen.«

Er hob einen der Midyarköpfe aus einem Sack und stellte ihn, klebrig von halb getrocknetem Blut, auf die große Tischplatte. 

Gleichzeitig zog Tal den goldenen Unterkiefer des Räuberhauptmanns hervor und legte ihn daneben.

Die beiden Fürstinnen betrachteten Kurz die dargebotenen Artefakte.

Dann sagte Ayn Siychnifee: »Und was hatte man euch dafür versprochen?«

Kyon antwortete, dass ein Wächter ihnen Ressourcen versprochen hätte und dass er auch froh wäre, Elaiyney und seinen Einwohnern diesen Gefallen getan zu haben, doch Sivuril gab ihm einen Schubs und erst dann fügte er hinzu, dass er ebenfalls die Erfüllung eines Wunsches erwarte, denn so war es smavarischer Brauch in Kisadmur.

Die Fürstin sah ihn fest an und streckte sich dann. Mit eher gelangweilter Stimme erklärte sie, die Wache würde geben, was versprochen wurde und nun solle der Geringste seinen Wunsch vortragen, damit man diese Sache hinter sich bringen könne.

Sie deutete mit einem langen Fingernagel auf Ughtred und sagte: »Du bist ein Nygh. Wahrscheinlich ein Dieb, wie ich vermute und du wirst als erster deinen Wunsch vorbringen.«

Der Angesprochene hörte sich die Worte der Silberwölfin an und blieb innerlich gelassen. Er war es mittlerweile gewohnt, dass diese Leute ihn zu provozieren suchten, doch nichts, was sie sagten, konnte ihn noch überraschen oder verärgern.

Ruhig und mit freundlicher Stimme sagte er: »Ich hörte von den Wunderwerken der silberwölfischen Schmiedekunst, hohe Dame. Und ja, offensichtlich scheine ich ein Dieb zu sein. Daher wünsche ich mir eines eurer vorzüglichen Sichtgläser, mit denen Man Wände und Schlösser zu durchschauen vermag.«

Sein Smavarisch war holprig, aber er hatte die Worte geübt und brachte sie reibungslos hervor.

Die Ayn nickte und sagte: »So soll es geschehen, gebt diesem ein Sphärenglas aus einer der hiesigen Schlüsselschmieden. Er kann gehen.«

Ughtred unterdrückte den Impuls, noch etwas zu sagen oder sich gar zu verneigen, wendete sich ab und ging festen Schrittes auf die Ausgangstür des breiten Saales zu. Die Quinkwächter öffneten den Durchgang und leiteten den Nygh in das Vorzimmer, wo er zu warten hatte.

Als nächstes sprach die Fürstin Tal an. Ihre Schwester sah einen Augenblick auf, sagte jedoch nichts.

»Ihr seid die Doppelmondhexe aus dem Hause Arudsel, die Tochter des Ilaiydan ven Arudsel.«

Es war nicht klar, ob diese Rede eine Frage oder eine Aussage darstellen sollte und als sie den Namen von Tals Vater aussprach, war da ein Schmerz in ihren Augen, den jeder im Saal spüren konnte. Jeder außer Tal selbst.

Unerwartet und ohne ein weiteres Wort erhob sich die Kriegerin. Dann sagte sie etwas Unverständliches und verließ den Saal durch eine hohe Tür auf der Seite ihres Stuhles.

Tal hob die Augenbrauen, denn sie hatte nichts gesagt und verstand nicht recht, was gerade vorgefallen war. Dann sah sie zu der anderen Ayn hinüber, die sie für die ehemalige Geliebte ihres Vaters hielt. Sie verstand nicht, was diese Dinge mit ihr zu tun hatten und sie hatte auch generell Probleme damit, zu erfassen, warum diese längst vergangene Beziehung überhaupt noch eine Rolle spielte.

Die Fürstin in dem Waldläufermantel blickte sie unter ihrer Kapuze hervor an. Dann sagte sie: »Euer Vater war in diesem Hause gut bekannt.«

Tal antwortete: »Ich gehe nicht in meines Vaters Kleidung und ich teile nicht seine Wege.«

Da erhob sich die Ayn und schob ihren Umhang vom Kopf. Ihre Augen funkelten und sie sagte: »Euer Vater und damit sein Haus haben meine Schwester verraten. Nicht nur im Sinne der Liebe, sondern mit Leib und Seele. Er brach einen Schwur, an der Seite meiner Schwester zu Kämpfen und sie zu lieben.«

Verwirrt musste Tal feststellen, dass sie die Schwestern verwechselt hatte. Diese hier war die Zauberin, die den Handschuh geschaffen hatte und die andere war die, mit der ihr Vater eine Beziehung unterhalten hatte. Doch dann überkam Tal auch eine innere Wut. Was sollte das? Ihr Vater hatte eine Entscheidung getroffen und er war frei, wie jeder Smavari über sein Dasein zu entscheiden.

Sie straffte ihre Haltung und sagte: »Mein Vater ist ein Ehrenmann. Er mag eure Schwester verlassen haben, aber es waren die Greuel, die ihn dazu anleiteten, kein Schalk oder andere niedere Gründe.«

Die Weißhaarige senkte den Blick. Dann sagte sie: »Auch ihr müsste eine Belohnung erhalten und euer Wunsch ist es, euch zu stärken.«

Einen kurzen Moment ärgerte es Tal, dass die Fürstin dieses Gespräch um die Tadellosigkeit ihres Vaters einfach so beiseite wischte, aber da war etwas in den Augen der Frau, dass sie beruhigte. Sie sah zu, wie die Ayn eine Hand ausstreckte und ein Quink in teurer Kleidung aus einer Tür nahe ihres Stuhles trat. Er trug ein Kissen, auf dem ein Diadem lag, welches aus dünnen Kronenspitzen, die von einem schmalen Band gehalten wurden, bestand. Es sah sehr alt aus und das Silber, aus dem es zweifelsfrei einst gefertigt wurde, war schwarz angelaufen.

Die Ayn, Schmiedin des Shimwas ihres Vaters und zweifelsfrei eine große Zauberin sagte: »Dies ist Orn ven Soud`laiylee, die Krone der Blauen Schlange von Tragieth. Sie war die Königin des Westens und eine mächtige Zauberin und tötete Dur`Hagmaor, einen der Todesprinzen des gefürchteten Dur`Kranz. Möge ihr Diadem nun euch dienen.« 

An dieser Stelle der Geschichte hatte Tal, wie so oft, offenbar nicht richtig zugehört, doch wenn der stumpfe blaue Stein in der längsten Spitze des Krondiadems glomm unheilig im Lichte des Saales und der Hexe war klar, dass dies ein mehr als besonders Geschenk der Ayn an sie war. Warum sie es jedoch ausgesucht hatte und warum sie eine derart beschenkte, die aus einem Haus stammte, welches das ihre doch nach eigener Aussage geschnitten hatte, blieb ihr verschlossen.

Die Ayn streckte die Hand nach dem Diadem aus und im selben Moment hörte es auf, auf dem Kissen des Quink zu liegen und begann damit, in ihrer Hand zu sein. Dann wandte sie sich an die junge Hexe und wieder griff sie in die feinstoffliche Welt. Das Diadem hörte auf, in ihrer Hand zu liegen und begann stattdessen auf Tals Haupt zu ruhen. 

Vorsichtig berührte Tal das Artefakt und schon nahm der Shimwas darin neuronalen Kontakt zu ihrem Leib auf und sie fühlte, wie seine Energie durch ihre Adern floss. Es war überwältigend und Tal dankte der Fürstin. Sie überlegte einen Augenblick, wie sie noch einmal auf die Situation mit den Schwestern und ihrem Vater kommen könnte, doch dann verkniff sie sich jedes weitere Wort und trat einen Schritt zurück. 

Als wäre nichts geschehen, hatte sich die Zauberin Kyon zugewandt. »Euer Wunsch Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor?«

Kyon sah sie an und sagte gerade heraus: »Meine Rüstung ist schäbig für einen Helden wie mich. Sie drückt und reibt mein zartes Fleisch und mir dünkt, dies müsste nicht so sein. So gebt mir besseres Rüstzeug, Herrin von Elaiyney.«

Die Ayn sah ihn einen Moment lang abschätzend an ehe sie erwiderte: »Ich, Ayn Orphineth yr Sornweth gebiete, dass dieser Sliyn ein Rüstzeug erhalte, welches seinen schönen Leib nicht länger drücken mag.«

Damit war Kyon für sie abgehandelt und sie wandte sich entgegen der ursprünglichen Aussage, nach der Reihenfolge des Standes vorzugehen, der Schmiedin Sivuril Trysh zu.

»Euer Wunsch«, fragte sie mit eindeutig gelangweilter Stimme.

»Herrin, wie schon einmal zuvor, bitte ich um meine Freistellung, Elaiyney verlassen zu können. Ich bitte um eure Unterstützung für meine Reisen.«

Die Zauberin lächelte grimmig und sagte: »Zweimal habt ihr nun diesen Wunsch geäußert und ich entscheide. Kommt ein drittes Mal vor diesen Stuhl und ich werde euch helfen. Nicht früher.«

Sivuril senkte den Blick und es war ihr anzusehen, dass sie keinesfalls glücklich mit der Situation war, doch sie schwieg und trat ebenfalls einen Schritt zurück.

Die Fürstin machte erneut ein gelangweiltes Gesicht, dann wandte sie sich ab und verschwand wie ihre Schwester aus dem Saal.

Der Quink in der wertvollen Robe deutete auf die Tür aus dem Saal und Kyon verzog kurz das Gesicht zu einer genervten Grimasse und ging.

Draußen standen sie vor dem Turmhaus und blickten sich gegenseitig an. Ughtred fragte Sivuril was sie sich gewünscht hatte und sie erklärte es ihm. Die Drachenschuppe, die in ihr wütete, war angeblich nicht ganz und gar unheilbar. Sie kannte zum Beispiel einen Nygh in Dorbag, der Hauptstadt von Korezuul, der behauptete, es gäbe medizinische Ratgeber in den Hallen des Wissens seiner Stadt, in denen es um entsprechende Heilmittel ginge. Ähnlich verhielte es sich mit anderen Orten, doch auf die Anfrage, warum sie dann noch hier in Elaiyney wäre, sagte sie betrübt: »Vor langer Zeit bat ich Ayn Orphineth yr Sornweth darum von ihr in der Kunst des Schmiedehandwerks ausgebildet zu werden und sie ließ mich mit ihr zusammen diesen Shimwas anfertigen.«

Sie deutete auf Tals Kriegshandschuh. Dann fuhr sie fort: »Als Gegenleistung verpfändete ich meine Arbeit an die Ayn und Elaiyney, so lange, bis Orphineth mich frei gibt.«

Sie sah Kyon an. »Ihr habt es gehört. Eine weitere Heldentat fehlt mir zur Erfüllung meiner Pflicht.«

Der Barde sah sie an und überlegte einen Moment. Man hielt sie hier auf, obwohl sie nur ihrer Heilung entgegenstreben wollte. Sein Blick glitt über ihre verwüstete linke und dann über die unversehrte, rechte Gesichtshälfte. 

Schließlich sagte er düster: »Wenn sie euch nicht ziehen lassen, werden wir wiederkommen und euch helfen, diese dritte Sache zu erledigen.«

Sivuril sah ihn an und ihr gesundes Auge leuchtete. Ohne ein weiteres Wort streckte sie sich auf die Zehenspitzen, packte seinen Hals und küsste ihn leidenschaftlich auf den Mund. Ihre Zunge drang stürmisch gegen seine Zähne und als er sie hochhob und sich ihr ergab, setzte er sich mit ihr auf den Armen in Richtung des Herrenhauses in Bewegung.

Ughtred und Tal blickten den beiden hinterher, aber nur einen Augenblick. Dann wandte sich Tal ab und ging wortlos in Richtung der Wache. Allein sah nun der Nygh den beiden Silberwölfen hinterher und setzte sich müde auf die Stufe einer niedrigen Treppe vor einem der Häuser. Silberwölfe, wer konnte sie verstehen?

 

Tal verbrachte mehrere Stunden bei Thorill Aar`ar in dessen Stube in der Wache. Er hatte sich als wenig einfallsreicher Liebhaber erwiesen, aber Tal war zwischenzeitlich Kummer gewöhnt und konnte daher kaum wählerisch sein. An einer der kargen Wände von Thorills Unterkunft lehnte der Schild in seiner Bleidecke und brummte ab und an böse. Mi1 verkniffenem Gesicht fragte sie sich, wie dieses Ding ihnen helfen sollte. Wie sollte es dabei helfen, dass Akkatha sie in den Zirkel zurücknahm?

Sie lag nackt auf dem Bett und spielte mit dem Nest in ihrem Haar. Der Wächter stand am offenen Fenster und blickte in die kalte Morgenluft hinaus. Er schnupperte unter seiner Achselhöhle, zuckte mit den Schultern und rief einen Quinksklaven, der etwas zum Essen bringen sollte. Tal stand auf und begann, sich anzukleiden. Sie unterhielten sich nur kurz. Später würde man den Schild holen. Der Stadtwächter fragte, ob er erneut in sie einkehren solle, doch sie lehnte freundlich ab. Da ging er unverrichteter Dinge.

Kaum war er fort, öffnete sich erneut die Tür und der Quink, den er gerufen hatte, trat ein. Er stellte etwas Undefinierbares auf ein Schränkchen und holte schnell einen Besen, um den Boden zu reinigen. Tal sah ihn einige Sekunden lang an und schickte ihn dann grimmig hinaus.

 

Als Kyon die Augen öffnete, war es schon Tag. Er lag in Sivurils Bett und war sich seiner Gefühle nicht sicher. Die letzten Stunden hatte er erbaulich empfunden, aber da war noch etwas anderes. Die Schmiedin war vom Schicksal gebeugt. Hatte er aus Mitleid mit ihr geschlafen? Ihre Verletzung machte sie hässlich, aber sie war nicht schwach. Dennoch hatte er das Gefühl, sie in der Hand zu haben. 

Antriebslos blieb er liegen. Was mochte der Tag schon bringen? Er würde warten, bis die Fürstinnen ihm seine Belohnung aushändigten.

Nach kaum einer Stunde, die Krähen beschwerten sich längst lauthals über den Tag, öffnete sich die Zimmertür und Sivuril trat ein. Sie trug nur ein Tuch um die Hüften und setzte sich zu ihm aufs Bett.

»Wollt ihr euch nicht stärken?« fragte sie freundlich und kniff ihm dabei in einen Zeh.

Er schüttelte den Kopf und ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Sie hatte auf einen neuen Verband verzichtet und die Kruste über ihrem zugeschwollenen Auge war verschorft und rot. Er versuchte, sich auf den Rest ihres Körpers zu konzentrieren, hatte aber Mühe damit.

Sie fragte ihn, was er vorhätte und er sagte, dass er warten wolle. Warten wäre ein dehnbarer Begriff.

»Ich muss ja auf meine neue Rüstung warten. Die baut sich sicher nicht von alleine«, sagte er nach einer Weile.

»Die baut sich wahrscheinlich überhaupt nicht«, konterte sie.

Er sah sie an und wollte etwas sagen, aber sie kam ihm zuvor: »Die werden euch warten lassen und nichts tun. Wenn ihr nicht nachfragt, bleibt ihr für immer hier. Sicher, es gäbe Schlimmeres, aber Elaiyney und eine verkrüppelte Schmiedin gegen Shishney eintauschen? Wollt ihr das?«

Langsam setzte er sich im Bett auf und zog sich eine der dünnen Decken über den Schoß. So also lief der Tentakeldachs. Er hätte es wissen können. Also gut, würde er das Spiel der Ayn eben mit spielen.

Mit müden Bewegungen stand er auf und suchte nach seinen Sachen. Dann ging er an seiner Gastgeberin vorbei in den offenen Schmiedebereich, wo auch eine Wassertonne stand. Er wusch sich und als es ihm zu sehr fröstelte, trocknete er sich mit schmutzigen Lappen ab und zog sich an. Draußen standen eine Hand voll Lopen im Morgennebel und glotzten zu ihm herüber. Er hob kurz die Hand und murmelte unhörbar: »Leben für Leben.«

 

Kyon wollte gerade gehen, da kam Ughtred aus dem Herrenhaus und winkte ihm zu. Der Nygh sah wie immer ausgeschlafen aus und als er fragte, was Kyon vorhätte, erklärte ihm dieser die Situation. Kurzerhand beschloss Ughtred seinen Kameraden zu begleiten und so zogen sie gemeinsam los.

Vor dem Langhaus waren die Straßen wie leergefegt. Weit und breit war niemand zu sehen und der Dramaturg in Kyons Blut sagte ihm, dass die beiden Damen dieses Szenario extra für ihn ausgearbeitet hatten.

Verärgert klopfte er an den linken der beiden Türflügel und wartete fast eine Minute, bis er im Inneren schlurfende Schritte vernahm und sich schließlich ein handbreiter Schlitz auftat. Der Quink, der zu ihm herausblickte fragte barsch: »Was?«

Es juckte ihm in den Fingern den missratenen Kerl mit einem Pfeil zu entlohnen, aber stattdessen stellte er sich und Ughtred vor, vergaß nicht seinen Titel zu nennen und erklärte den Grund seines Hierseins.

Der Quink schob den schmalen Spalt zu und Kyon konnte ihn davon schlurfen hören. Er sah sich um. Wie machten sie das? Hatten sie den Leuten verboten, ihren Geschäften nachzugehen? Nicht einmal Krähen hockten auf den Giebeln der nächststehenden Häuser. Weiter unten konnte er die Geräusche des täglichen Lebens hören, aber hier oben auf dem Platz vor dem Haus der Fürstinnen und in den nahegelegenen Straßen rührte sich nichts. Die Zeit schien stehen zu bleiben und er trat genervt von einem Fuß auf den anderen und Ughtred setzte sich auf einen Stein an einer Wegbegrenzung. Über zehn Minuten warteten sie so.

Kyon begann schon zu erwägen, ob man ihn vergessen hätte. Gerade hatte er die Faust geballt, um erneut zu klopfen, als sich die Eisenschiebe des Spaltes erneut mit einem Rucken öffnete und der Quink erschien. Dann wurde von innen eine Lederplatte durch die schmale Öffnung geschoben. Es folgten das Gurtsystem, die Jacke und der Brustharnisch, alles aus weichem Material, so dass es ohne weitere Probleme durch den Spalt passte. Zuerst war er wie gelähmt, doch dann nahm er die Rüstung entgegen, denn er wollte sie nicht vom Boden aufheben müssen. Kopfschüttelnd wollte er noch etwas sagen, doch dann nahm er die Rüstung unter den Arm und machte sich auf den Weg.

Ughtred schüttelte den Kopf und ging dann schnellen Schrittes dem Barden hinterher. Er wollte etwas sagen, aber Kyon war verärgert und da ließ man ihn wohl besser in Ruhe.

Als sie bei der Wache vorüber kamen, hockte da die alte Wachherrin vor dem offenen Stall und drehte Pfeile. Sie sah auf und schob ihr Tuch, welches sie sich vor den Mund gebunden hatte, zurecht. 

»Könnt ihr meine alte Rüstung gebrauchen? Ich habe eine neue, denn ich bin ein Held«, sagte Kyon sarkastisch und deutete auf den Harnisch, den er am Leibe trug. 

Das Geschäft war schnell getätigt und die Wachherrin rief nach einem Quink, der einige Ressourcen brachte. Dann zog Kyon seine alte Rüstung aus und begann die neue anzuprobieren. Sie war weicher, aber als er die ersten Stücke anhatte, kam ihm das Ganze alles andere als unschieriger oder beweglicher vor.

Sunchineph, die Wachherrin erklärte ihm, dass die Rüstung innen wattiert sei und dass er seinen Waffenrock nicht benötigte, wenn er sie trug. Er betrachtete die Innenseite und zog seinen schweren Waffenrock aus. Nun passte die neue Rüstung vorzüglich und er konnte ihr Gewicht kaum spüren. Sie war nicht mehr als eine etwas dickere Lederjacke und stand ihm ausgezeichnet.

»Wenn ihr in den Krieg gegen die Gorden zieht, könnt ihr den Waffenrock immer noch darunter tragen«, sagte die Alte belustigt und hockte sich wieder auf ihren Schemel.

Kyon fiel auf, dass sie zwar ständig Pfeile zu bauen schien, aber nirgends ein Bogen oder die fertigen Pfeile zu sehen waren. Auch Pfeilspitzen gab es keine. Er hob kurz die Schultern, tat dann aber so, als prüfe er nur die ungewohnte Rüstung und ging dann grußlos davon.

Als sie an der Anlegestelle für die Flugschiffe vorüber kamen, wanderten Kyons Augen zu der vermaledeiten Treppe neben der Kaschemme hinüber und er langte sich an die Wange. Dann sah er zu den Pollern und Anlegebrücken hinauf und legte den Kopf schief. Was stimmte hier nicht?

Er machte ein paar schnelle Schritte zur Plattform hinauf, nahm drei Stufen auf einmal und rannte schließlich auf die letzte Rampe hinauf. Als er oben angekommen war, blickte er sich hektisch um. Wo bei allen goldenen Schwänzen war die Knarrende?

Ughtred holte auf und blickte sich ebenfalls um. Er wollte gerade fragen, doch der Barde kam ihm zuvor.

»Hey du«, brüllte Kyon nach einem Arbeiter und der Quink wandte sich ihm erschrocken zu.

»Wo ist die Knarrende?«

Der Mann sah ihn ängstlich mit seinen milchig weißen Äuglein an und deutete dann auf eine Lagerhalle auf der anderen Seite der Plattform.

»Sie wird wohl kaum in dem Schuppen, sein du Kreatur, oder hat man sie demontiert?« ereiferte sich Kyon und unterdrückte dabei den Impuls, den Quink zu schlagen.

»Hafenmeisterei«, jammerte dieser und zog den Kopf ein, als wäre er eine aufrecht gehende Schildkröte.

Kyon kniff sich in die Nasenwurzel und schluckte seinen Zorn herunter.

Ughtred sagte: »Kann es sein, dass sie nur einen Rundflug macht?«

Kyon schüttelte den Kopf und sagte leise: »Das Bernsteinholz macht keine Rundflüge. Es ist wertvoll und der Kapitän weiß das genau.«

Ughtred verstand. Man hatte sie geprellt.

 

Die Hafenmeisterei war ein kleines Gebäude über einer flachen Lagerhalle. In den Gassen lungerten überall Quink herum und beobachteten die beiden Fremden. Der Große, ein Silberwolf in gängiger Kleidung, fiel nicht weiter auf, aber der Kleine erregte durchaus Aufsehen. Er war weder ein Kind noch ein Quink und auch kein Hobgoblin oder sonst ein Rotauge aus den Wäldern oder Sümpfen. Die Arbeiter musterten Ughtred neugierig und versuchten ihn einzuordnen.

Als Kyon die Treppe zum Büro hinaufstieg, bereute er im Grunde schon sein Hiersein. Er hatte eine ziemlich genaue Vorstellung, was ihn erwartete. Dennoch öffnete er ohne anzuklopfen die Tür und betrat den niedrigen Raum. 

Hinter einem erstaunlich großen Tisch, dessen Tischplatte aus einem integralen, mehr als zehn Zentimeter dicken Block Bernstein geschnitten war, hockte eine schmale Gestalt und studierte einen Datenkristall. Der Mann stellte sich als Yywirn dan Skurmith, der Hafenmeister vor und fragte, was seine Gäste wollten.

Ughtred musterte die Tischplatte während Kyon nach der Knarrenden fragte und bekam nur mit einem Ohr mit, dass der Hafenmeister Kyons Vermutung bestätigte. Das Schiff hatte vorgestern schon abgelegt und war in Richtung Süden geflogen. Es sei unbekannt, wann es wieder nach Elaiyney käme.

»Aber ich dachte, der Kapitän hätte hier sein Einkommen und auch eine Unterkunft«, hörte Ughtred den Barden fragen. 

»Dies mag sein, aber Kapitän Yurst Ildan Murnail, wie im Übrigen die meisten Luftschiffkapitäne, hat in vielen Häfen ein Einkommen und wenn ich betrachte, wie aufgebracht ihr seid, würde ich die Wahrscheinlichkeit seiner Wiederkehr in der nächsten Zeit eher gering einschätzen.«

Kyon wurde immer zorniger und sagte: »Beschreibt mir dennoch, wo ich das Haus des Kapitäns finde.«

Der Hafenmeister betätigte eine kleine Klingel und erklärte, ein Kleinquink würde unten bereitstehen, den Herrn zu führen.

Die Tischplatte schien tatsächlich aus einem Stück geschnitten zu sein und wieder musste der Nygh erkennen, was für seltsame Wesen die Silberwölfe doch waren. Sie hatten ein seltsames Verhältnis zur Natur und zu den Konzepten Schönheit und Ästhetik. Es gab keinen Baum auf der Tiba Fe, der einen Bernstein hervorbringen konnte, aus dem diese Tischplatte geschnitten werden könnte. Die Nyghs kannten auch keinen Weg, Bernstein derart nahtlos miteinander zu verbinden. Wie auch immer die Silberwölfe es gemacht hatten, es konnte kaum ein einfacher und kostenloser Vorgang gewesen sein. Dennoch befand sich dieser größte geschnittene Bernstein, den er jemals gesehen hatte, in einem schäbigen Büro eines Hafenmeisters und nicht etwa in den Hallen der Fürstinnen. Dort hatte er nichts gesehen, dass auch nur annähernd so wertvoll in seinen Augen gewesen wäre. Aber da lag sicher der Knackpunkt: in seinen Augen. Er schüttelte den Kopf. Silberwölfe konnte man nicht verstehen.

»Hallo? Herr Dieb, wir gehen«, riss ihn Kyon aus seinen Gedanken.

Draußen erwartete sie ein Quinkjunge, der noch keine Unterkieferplatte sein Eigen nannte. Er nuschelte etwas und deutete die Gasse hinunter. Das Anwesen des Herrn Yurst Ildan Murnail lag nicht weit von der Hafenmeisterei entfernt. Das windschiefe Haus war ebenfalls auf einer Lagerhalle erbaut worden und die meisten der Fensterscheiben fehlten oder waren notdürftig mit schimmeligem Leder oder nassem Papier verdeckt worden. Es stand eindeutig leer. Kyon rieb sich die Nasenwurzel und gab auf.

 

Später saßen die Reisegefährten in Sivuril Tryshs kleiner Schmiede und der junge Lopenhirte Fegrith brachte ihnen eine kalte Platte mit smavarischen Speisen. Kyon hatte den anderen von ihrem Verlust erzählt und Tal stopfte sich Fischhappen in den Mund, während sie sagte: »Müssen wir halt ein anderes Schiff nehmen.«

Ughtred kicherte über ihre Ungezwungenheit, aber der Barde konnte über die Sache mit der verlorenen Ladung überhaupt nicht lachen.

»Ich mache das«, sagte die Hexe mit vollem Mund und Kyon rollte mit den Augen. Für ihn hatte das Ganze keine Eile mehr. Im Gegenteil, die Knarrende würde vielleicht eines Tages nach Elaiyney zurückkommen und er verspürte nicht üble Lust, hier auf sie zu warten. 

Tal und er unterhielten sich noch eine Weile über die Wichtigkeit ihrer Weiterreise und die Hexe brachte verschiedene Gründe vor, allen voran, dass sie schließlich nicht gefahrlos in Elaiyney weilte. Dieses Argument ließ Kyon schließlich gelten, zog sich aber zurück und hatte keinerlei Lust, sich selbst um die Weiterreise zu kümmern.

»Wie ein schmollender Welpe«, sagte Tal in die Runde, nachdem er sich auf sein Zimmer zurückgezogen hatte.

Ughtred unterhielt sich mit der Schmiedin. Ihr Auge verheilte erstaunlich gut und sie wollte schon wieder kleinere Arbeiten verrichten. Für den Nygh war sie ganz anders als die übrigen Silberwölfe. Vielleicht lag es an ihrer Berufung. Die Lopenhirtinnen und -hirten schienen generell fleißiger und vor allem altruistischer als ihre Zeitgenossen zu sein. Er fragte sie, ob es möglich wäre, sich um die Zähne des Phani zu kümmern und sie nickte interessiert. Er hatte schon begonnen das Gebiss des Versehrten auszumessen, aber als er den großen schwarzen Mann bat den Mund zu öffnen und nach einer Lehre griff, schüttelte die Schmiedin den Kopf. Sie stand auf und reckte sich und dann glomm ihr verkrustetes Auge auf. Einen Moment hatte Ughtred angst, sie würde Odugme verletzen. Doch seine Besorgnis erwies sich als unbegründet. Nachdem sie die Schäden von allen Seiten betrachtet hatte, bemerkte sie kurz und bescheiden, sie habe ein perfektes Gedächtnis und könne nun die Prothesen aus dem Kopf heraus erstellen. Gemeinsam machten sie sich ans Werk. 

 

Tags darauf schlenderte Yt`Talan über die Plattform des Wurzelhafens, die zu den Anlegestellen der Schiffe führte. Von tiefem Misstrauen erfüllt, ging sie am Hanfbogen vorüber und vermied es auch nur einen einzigen Blick auf die Treppe zu werfen, die hinunter zur Alchemistenstraße führte. Es war früh am Morgen und die Tagesgestirne waren gerade erst aufgegangen. Vielleicht fühlte sie sich deswegen nur minder bedroht, weil sie irgendwie davon ausging, dass die Blutsaugerin nur bei Dunkelheit unter ihrer verfluchten Treppe hervorkam. Zum Glück spielte auch das Wetter mit und ließ den Morgen einigermaßen freundlich daherkommen. 

Auf der Anlegeplattform war nicht viel los, aber Tal fiel sofort ein neues Schiff auf, dass gestern eindeutig noch nicht hier vertäut gelegen hatte. Es sah ganz anders aus als die anderen Flugschiffe und lag mit seinem Rumpf direkt auf den Planken, anstelle einige Schritte darüber zu schweben. Überhaupt machte es den Eindruck, nicht aus Flugholz, sondern vielmehr aus Blech und anderen Materialien zu bestehen, aber seine eindeutig auffälligste Eigenheit war ganz klar seine Farbe. Es war ganz und gar in einem tiefen Fuchsiarot gehalten.

Seine Masten waren einklappbar, was darauf hindeutete, dass es sich um einen Sternenseglern handelte und an den Seiten des schmalen Rumpfes gab es je eine gewaltige Feuerlanze. Tal fragte einen der Werftarbeiter nach dem Namen des Schiffes und dieser nannte es die Gefährliche. Sie mochte den Namen des Schiffes und entschied sich, nach seiner Reiseroute zu fragen, doch der Arbeiter kannte diese nicht und so entschied sich Tal kurzerhand an Bord zu gehen und selbst nachzufragen.

Auch das Deck der Gefährlichen glänzte rot und selbst ihre kleinsten Verbundteile und Taue waren in dieser Farbe gehalten. Tal war gespannt auf den Kapitän, der zweifelsfrei ebenfalls eine schillernde Persönlichkeit sein würde. 

Ein Matrose, natürlich ein Quink in roter Uniform, erklärte sich bereit Tal der Kapitöse vorzustellen. Sie war fast ein wenig enttäuscht, denn es hätte ihr irgendwie besser gefallen, wenn ein Mann sich zu der ungewöhnlichen Färbung des Schiffes gestellt hätte. Als die Kommandantin der Gefährlichen jedoch aus dem flachen Bugaufbau herauf gestiegen kam, war Tal entschädigt. Seltsamer als sie, hätte ein männlicher Kapitän auch nicht sein können.

Der Quink stellte seine Herrin als Kapitöse Rotgold vor. Es handelte sich bei ihr um eine feminin angelegte Droidin. Sie trug nur einen roten Mantel und ihr makelloser glatter Leib bestand ganz und gar aus rot lackiertem Metall. Nur die künstlichen Augen schienen aus von innen beleuchteten blauen Edelsteinen zu sein und musterten den Gast des Schiffes mit einer seltsamen Mischung aus Aufmerksamkeit und der typischen Gleichgültigkeit künstlicher Personen.

Tal nickte, stellte sich vor und fragte dann gerade heraus: »Du bist eine Droidin. Wie kannst du ein Schiff befehligen? Oder ist dein Herr in Elaiyney und ich muss warten, bis er zurückkehrt?«

Rotgold antwortete mit einer angenehm verständlichen Stimme, der dennoch ihr künstlicher Ursprung anzuhören war: »Tatsächlich steht die Gefährliche unter meinem alleinigen Kommando. Ich bin eine Droidin der Klasse Dy`Danaiy. Meine individuelle Freiheit erlangte ich Kraft einer Entscheidung von Chayil`si Merisay yr Urt, der Herrin von Angaworth und ihr Siegel bestätigt diesen Anspruch.«

Sie deutete auf ein Wachssiegel an ihrem Mantel und Tal fragte sich, warum die Herrin von ganz Kisadmur dieser künstlich erschaffenen Frau den Status der Freiheit gab. Sie hatte nie zuvor gehört, dass ein Droide derart eingestuft worden war und als sie Rotgold nach dem Grund für dieses Vorgehen fragte, erklärte diese, dass die Entscheidungen einer Chayilˋsi niemals in Frage gestellt werden durften.

Tal schüttelte abwehrend den Kopf und sagte schnell, es läge ihr fern, etwas am Status der Droidin rütteln zu wollen. Sie hatte nur aus reiner Neugierde gefragt und fand das Thema interessant. Doch jetzt war weit wichtiger, wohin die Gefährliche als nächstes aufbrechen würde und ob sie in der Lage wäre, einige Passagiere aufzunehmen.

Kapitöse Rotgold stellte sich als überaus freundlich, ja sogar fast unterwürfig heraus. Tal nahm an, dass ein Freibrief kaum genügen würde, um die generelle Prägung einer künstlichen Person zu ändern, hielt sich aber zurück und versuchte die Droidin nicht in Verlegenheit zu bringen, nur weil sie selbst eine Smavari war.

Es dauerte nur noch wenige Minuten, da waren die beiden handelseinig und da Rotgold keinerlei Entlohnung für die Überfahrt nach Uraiyd verlangte, fiel Tal ein Stein vom Herzen. Kyon würde hochzufrieden sein, denn der Verlust seiner Handelsreise nagte an ihm und wenn er nun auch noch Ressourcen verloren hätte, wäre ihm dies sicher sauer aufgestoßen. Sie lachte und fragte Kapitöse Rotgold, ob sie sich in Uraiyd auskenne. Man wäre auf der Suche nach einem Alchemisten und tatsächlich verwies die Droidin auf eine Frau namens Aaiynych Nyrndadt yr Con`Gabur, die dieser Berufung folge. Tal konnte ihr Glück kaum fassen. Sie hatte damit nicht nur die Überfahrt klar gemacht, sondern war darüber hinaus auch noch ihren persönlichen Plänen nachgekommen. Sie wollte ihre Zutaten unbedingt aufstocken, denn ihr Hexenbuch kannte viele Vorschläge eine Reise, wie die ihre, angenehmer zu gestalten. Es war an der Zeit, das Wissen der Doppelmondhexen zu nutzen, aber dafür waren nun einmal viele Zutaten vonnöten.

 

Den Mittag dieses Tages verschliefen alle, denn sie waren immer noch erschöpft von ihrem Ausflug nach Diry und selbst Ughtred erledigte nur wenige Aufgaben, die er sich vorgenommen hatte und döste danach eine Zeit lang auf der Weide der Lopen im Licht der Tagesschwestern. 

Am Nachmittag saßen alle beisammen und sahen sich Odugmes Zähne an. Sivuril Trysh hatte ganze Arbeit geleistet und auch Ughtred war stolz auf sein handwerkliches Können. Er freute sich, dem Hünen zumindest ein wenig geholfen zu haben. Das goldene Gebiss konnte natürlich nicht die natürliche Schönheit des Phani zurückbringen, aber er würde wieder feste Nahrung kauen können und seine Kiefer waren nicht mehr annähernd so entstellt wie nach der Verletzung. Odugme selbst blickte wie stets recht gleichgültig drein und Tal fragte sich, ob er unter seiner Haut, seinem Fleisch und seinen Muskeln auch ein Droide war.

Dann erzählte sie von der Gefährlichen und Kapitöse Rotgold. Ughtred stellte interessiert Fragen, denn er hatte noch nie einen Droiden und schon gar keinen weiblichen gesehen, aber Tal viel auf, dass sowohl Kyon, als auch die Schmiedin sich seltsam zurückhielten. Bei ihm vermutete sie, ging es nach wie vor um den Verlust seiner eigenen Idee der Handelsreise, aber warum Sivuril mit einem anhaltenden Schweigen auf Tals Geschichte reagierte verstand sie nicht.

Einen Moment zögerte sie, doch dann überkam sie eine kindliche Wut auf Kyon und fragte ihn daher, was er an ihrer Reisemöglichkeit auszusetzen hatte und als der Angesprochene erneut von der Sinnlosigkeit der ganzen Sache anfing, platzte ihr der Kragen. Sie schimpfte und nannte ihn egoistisch, denn schließlich wollte Ughtred auch sicher zurück nach Korezuul, ganz zu schweigen von ihr selbst, denn sie wollte unbedingt in den Schoß ihres Ordens zurückkehren.

Kyon hörte sich all dies an, winkte ab und wollte schon gehen, als sein Blick auf Sivuril fiel. Die Schmiedin hatte sich von dem Gespräch abgewandt und blickte auf die nun im Dämmerlicht liegenden Weiden hinaus. Anstelle zu gehen, ging er zu ihr hinüber und Tal, die eben noch etwas sagen wollte, schwieg und folgte ihm stattdessen leise. Ihr war durchaus aufgefallen, dass Kyon sich etwas aus Loyalität machte. Er mochte die Schmiedin, weil sie sich für ihn und seine Sache aufgeopfert hatte. Warum konnte er sich nicht selbst ebenso verhalten? Es war fast, als verlange er von anderen genau das, was er selbst nicht zu geben vermochte. Sie schwieg und blieb in angemessener Entfernung stehen, wollte aber auch nicht verhehlen, dass sie zuhörte.

Kyon rückte nahe an Sivuril heran und strich ihr mit der Hand über den Nacken. Mit tonloser Stimme fragte er: »Was ist mit euch Schmiedin?«

Es war ihm anzumerken, dass er die förmliche Redeweise als Schutz für sich selbst nutzte.

Sivuril wandte sich nicht um. Sie brauchte einen Moment, aber dann sagte sie: »Ihr wolltet eine Heldentat tun, um mir zu helfen. Wisst ihr noch? Wenn ihr nun geht, wohin auch immer, werde ich bleiben müssen und zwar wahrscheinlich sehr lange. Die Schwestern werden mich nicht gehen lassen und früher oder später wird mich die Drachenschuppe schlucken.«

Ihre Stimme klang müde, ein wenig traurig, aber gefasst. Es war ihr anzumerken, dass hier die Smavari aus ihr sprach, nicht die Lopenhirtin. Verzweiflung war eine schreckliche Kraft und ihre Krankheit, gab ihr jedes Recht, verzweifelt zu sein.

»Was meint ihr damit?« fragte Kyon.

Müde erklärte sie, dass die Schwestern ihr ja beschieden hatten, die nur dann frei zu geben, wenn sie eine weitere Großtat für sie vollbrachte, doch Großtaten wuchsen ja nicht an den Bäumen. Als Kyon gesagt hatte, er selbst würde eine solche Tat erbringen, hatte Sivuril für eine kurze Zeit Hoffnung geschöpft. Sie wollte reisen, Kisadmurs Heiler aufsuchen, etwas tun gegen die Drachenschuppe. 

Kyon schüttelte den Kopf, weil er selbst sich das Ganze irgendwie anders vorgestellt hatte, aber andererseits, wenn die beiden Krähen in ihrem schäbigen Turmhaus eine weitere Heldentat wollten, würde er ihnen eben eine geben.

Wortlos wandte er sich ab, nahm seinen Bogen auf, der an der Außenwand der Schmiede gelehnt hatte, und stapfte in die aufkommende Dämmerung davon. Tal sah ihm nach und überlegte, ob sie noch etwas zu der Schmiedin sagen sollte, entschied sich aber dagegen. Stattdessen winkte sie Ughtred, der eben im Begriff gewesen war, Kyon zu folgen.

»Lasst ihn das mal alleine machen. Wird ihm gut tun. Vielleicht hilft ihm eine Lektion der Fürstinnen dabei aus seinem Welpenstatium herauszugelangen.«

Der Nygh sah Kyon hinterher, entschied sich aber dafür, auf die Hexe zu hören. Er wollte mit seinem Handeln nicht noch mehr Ärger zwischen die beiden verrückten Silberwölfe bringen. Ein wenig mutlos ging er zu Odugme und untersuchte weiter den Heilungsverlauf der eingebrachten Prothese.

 

Als Kyon beim Turmhaus der Fürstinnen ankam war er ein wenig überrascht. Er hatte sich schon einen Spruch zurechtgelegt, den er ausstoßen wollte, wenn das Tor erneut geschlossen gewesen wäre, aber dieses Mal stand es offen und drei Quinkwächter lungerten im Torhaus herum. Kaum näherte er sich, standen sie auf und gaben mit Verbeugungen zu verstehen, dass sie den Abend überleben wollten. So gab er mit einem letzten Rest an Höflichkeit zu verstehen, dass er zu den Fürstinnen vorgelassen werden wollte, schritt dabei aber in das Torhaus hinein und machte Anstalten ohne eine weitere Einladung das Haus zu betreten. Die Drei tummelten sich ihn zu überholen und schließlich verstellte der Kastellan in seiner Robe seinen Weg. 

Kyon räusperte sich und machte Anstalten, nach seinem Kriegsbogen zu greifen, aber der für einen Quink erstaunlich dünne und große Mann verneigte sich ebenfalls und erklärte, der Gast solle ihm folgen.

In der großen Halle ging Kyon eine Weile auf und ab. Seine Laune war derart schlecht, dass er sich geradezu auf die Konfrontation mit den Schwestern freute. Was sollten sie ihm antun? Sie würden ihn kaum mit Flüchen belegen. Was hätten sie ihm schon zu bieten? Etwa einen Fluch, der bewirkte, dass er die ganze Tiba Fe bereisen musste, im Gefolge seines toten Geliebten und dessen Schwester, die in jeder ihrer Kampfbewegungen bezeugte, dass sie den Geist des Toten gefressen hatte? Einen schlimmeren Fluch konnte er sich im Augenblick nur schwer vorstellen. 

Die Tür zur Linken riss ihn aus seinen Gedanken und Ayn Siychnifee yr Sornweth, die Kriegerin betrat die Halle. Sie trug nun nur noch eine einfache Schleppe, die ihren gertenschlanken Leib kaum verhüllte und ihr Haar war zu einem lockeren Knoten nach oben gesteckt. Vier Silbernadeln hielten es an Ort und Stelle. Wie nahezu alle Smavari war sie schön und ebenmäßig, etwas, dass Kyon am wenigsten an seiner Spezies schätzte. Er liebte mehr das Außergewöhnliche, Abstrakte und Besondere. Doch als sie näher trat, waren es einige hauchdünne Narben auf der linken Wange und ihre notorisch heruntergezogenen Lippen, die ihre Schönheit mit ihm versöhnte.

Sie sah nicht so aus, war aber mindestens achtmal so alt wie er selbst. Sie hatte an Kriegszügen teilgenommen und zweifelsfrei schlimme Dinge getan und unzählige Leben genommen. Er zögerte einen Moment, doch dann war es wieder der Zorn, der ihn leitete, als er sagte: »Es geht um die Schmiedin Sivuril Trysh. Sie steht in eurer Schuld und eure Schwester sagte, sie müsse eine weitere Tat für das Reich vollbringen, ehe ihr sie aus ihrer Schuld entließet.«

Die Ayn sah ihn mit bleichen Augen an, verzog keine Miene und nickte stumm. Ihr Gesicht war weder Frage, noch Antwort.

Kyon hob die Augenbrauen, warf sich in die Brust und sagte: »Nun, ich will diese Tat für euch tun, eine Heldentat für die Ayn von Elaiyney. Gebt die Schmiedin frei.«

Die Kriegsfürstin sah ihm direkt in die Augen. Ein langes Schweigen erfüllte den Raum. Kyon dachte an die Draiyn in der Wüste, an die wandelnden Toten und an den verrückt gewordenen Riesen. Dann plötzlich nickte sein Gegenüber. Ihr Gesicht verriet ein gewisses Erstaunen, als hätte sie nicht damit gerechnet, solche Heldentaten fühlen zu können – zumindest nicht bei einem wie ihm. Hatte sie seine Gedanken gelesen oder gar in sein Herz gesehen? Waren alle Wölfinnen Hexen. Am liebsten hätte er ausgespuckt aber plötzlich öffnete Ayn Siychnifee ihre schönen Lippen und sagte: »Wir nehmen eine eurer Heldentaten für uns in Anspruch. Die Schmiedin Sivuril Trysh ist hiermit frei. Ihr könnt gehen.«

Sie rührte sich nicht. Ihre Haltung stand für ihr Hausrecht. Er würde gehen, nicht sie.

Kyon sah sie an. War es das? Er hatte damit gerechnet, von nun an in ihrer Schuld zu stehen. Was hatte sie davon, eine schon begangene Heldentat zu besitzen? Ging dies überhaupt? Er hatte nicht das Gefühl, eine verloren zu haben. Wie auch, wie bei allen Wesen der Anderwelt sollte man getane Taten verlieren?

Verwirrt bedankte er sich, kam dabei nicht umhin dieser seltsam mächtigen Frau auf die Nippel ihrer Brüste zu starren, die sich durch den nahezu nichts verhüllenden Stoff ihrer Robe drückten und hatte alle Mühe sich von diesen unsichtbaren Ketten zu lösen. Er schüttelte sich wie ein räudiger Wolf und versuchte seinen Kopf zu befreien, und dann stand er wieder in dem Torhaus bei den Quink und atmete die frische Nachtluft.

Ein dünner Nebel war aufgekommen und Kyon versuchte seine Gedanken zu ordnen. Doch dann tat er, was er immer tat, wenn er in die Netze der Mächtigen geraten war: er pfiff leise eins seiner Lieder und versuchte dabei, eine Strophe aus seinen kürzlichen Erlebnissen dazu zu erfinden.

 

Sivuril standen Tränen in ihrem gesunden Auge, als es zwei Tage drauf Abschied nehmen hieß. Die Gefährliche würde am frühen Morgen nach Süden aufbrechen. Ughtred hatte der Schmiedin Lebewohl gesagt, sich bei Fegrith und den Lopen verabschiedet und war dann mit Odugme vorausgegangen. Nun standen Tal, Kyon und Sivuril am eingefallenen Torbogen des großen Anwesens und blickten auf die Weideflächen hinüber.

Die Schmiedin wandte sich Kyon zu, küsste ihn und sagte: »Ich stehe tief in eurer Schuld Sliyn.«

Doch Kyon lächelte nur als er sagte: »Wir sehen uns sicher wieder und haben erneut einen Phani dabei, der repariert werden muss.«

Tal verzog das Gesicht, umarmte Sivuril und deutete beim Umdrehen mit dem Zeigefinger auf Kyon, als wolle sie ihn verfluchen. Dann ging sie ohne ein weiteres Wort dem Nygh hinterher.

 

Die Fahrt mit der Gefährlichen verlief weitgehend ereignislos. Sie hob am frühen Morgen ab und zischte mit ihrem seltsamen Antrieb in Windeseile gen Süden. Eben wurde Ughtred Zeuge, wie die Mannschaft zwei Masten aufrichtete und nun doch noch die ebenfalls roten Segel in den Wind stellte. Er blickte auf die schroffen Gebirgslande Kisadmurs hinunter und sehnte sich nach seiner Heimat. Wie lange war er nun schon hier im Reich der Silberwölfe? Er hatte ganz vergessen, wie es war, ein echter Nygh zu sein. Doch dann zuckte er mit den Schultern und wandte sein vom Wetter gegerbtes Antlitz dem Süden zu. Weit vor sich glaubte er schon den Rauch von Uraiyd zu erkennen und versuchte sich vorzustellen, was es dort nun wieder zu erleben geben würde.

In einem weiten Bogen näherte sich das Schiff der Landestelle und ein Matrose gab mit einer Fackel Leuchtsignale. Auf der Plattform erwiderten Arbeiter den Gruß, doch dann erkannte Ughtred, dass sie dem Schiff anzeigten, wo es hernieder gehen sollte. Stimmt, dachte er, die Gefährliche landete ja. Und da hörte er auch schon das Knarren der Landefüße, die von starken Motoren bewegt, aus ihren Ruhepositionen gefahren wurden. Keine drei Minuten darauf setzte das Schiff auch schon auf und die Mannschaft ließ die im Abendwind knatternden Segel herunter.

Kapitöse Rotgold erschien an Deck und überwachte die Arbeiten. Kein Wort kam aus ihrem bewegungslosen Gesicht. Jedes ihrer Mannschaftsmitglieder schien bis auf den kleinsten Punkt zu wissen, was von ihm erwartet wurde. Jeder verrichtete seine Aufgaben mit einer fast unnatürlicher Präzision. Ughtred fragte sich, ob die Quink irgendwie verändert worden waren, denn so etwas würde er den Silberwölfen zutrauen, schließlich war ihre ganze Spezies eine Kreation der Langohren. Aber es schien viel eher, als lenkte die künstliche Frau ihre Leute durch Ruhe und Kontinuität als mittels psionischer Hexenkräfte oder Schlimmerem.

Schließlich war die Gefährliche vertäut und eine metallene Planke (oder eher Treppe) verband sie mit der Plattform, auf der sie ruhte. Nachdem die Arbeiter ihre Aufgaben erledigt hatten, unterhielten sie sich mit den Matrosen und halfen ihnen, das Schiff zu entladen. Als Kyon an Deck kam, er hatte den ganzen Flug verschlafen, wanderte sein Blick über die Warenladung und verfinsterte sich. Tal trat neben ihn, rückte ihr Kleid zurecht und brachte ihre Brüste in eine bequeme Position.

»Da sind wir«, sagte sie mit einem Lächeln und gab ihm einen Klaps auf die Schulter.

Er brummte nur und schlurfte zur Treppe. Bei Kapitöse Rotgold blieben die beiden stehen. Kyon fragte nach einer empfohlenen Unterkunft und dann wollte er wissen: »Seid ihr eigentlich eine richtige Frau?«

Tal und die Droidin sahen ihn an, doch ehe die Hexe ihn rügen konnte, sagte Rotgold: »Wenn ihr dies auf das Geschlechtliche bezieht, muss ich verneinen. Ich wurde ausschließlich für logistische Aufgaben erschaffen. Mein Leib kann keinerlei dem Weiblichen zugeordnete Funktionen erfüllen.«

Tal sah Kyon böse an, doch dieser hob die Hände und rief: »Was? Wäre sicher ein außergewöhnliches und interessantes Erlebnis geworden sich mit einer wie ihr zu paaren.«

Tal schüttelte den Kopf und murmelte im Gehen: »Mit einer künstlichen Frau würde der Herr Sliyn sich in den Decken wälzen, aber nicht mit einer einfachen Hexe.«

Doch Kyon hatte sie gehört und konterte: »Wenn die Hexe wenigstens eine Frisur hätte oder ein bisschen mehr auf ihre Garderobe achtete, würde sie sicher mehr Herrenblicke auf sich ziehen.«

»Was habt ihr nur immer mit meinen Haaren?« giftete sie ihn an und verfing sich mit einem ihrer Ringe direkt in dem Nest auf ihrer rechten Kopfseite. Sie fluchte leise und sah noch einmal zu Rotgold hinüber, doch die Droidin hatte sich längst ihrem Schiff zugewandt.

 

Kyon hatte nach einer Kaschemme gefragt, war aber auf das Irtas Rawaiy, das Haus der Ruhe verwiesen worden. Erfreut hatte er seine Schritte direkt in die angegebene Richtung gelenkt. Ein ›Haus‹ hätte er hier nun wirklich nicht erwartet. Und tatsächlich, das Irtas Rawaiy versprach für einen kleinen Ort wie Uraiyd nicht zu viel. Es war nicht groß und klemmte zwischen einer Reihe von Unterkünften und windschiefen Lagern, aber selbst seine Fassade zeugte von etwas Eleganz und den Schönheiten smavarischer Sitten.

Da es keinen Türsteher gab – was Kyon schon wieder betrübte, denn dies bedeutete zwangsläufig, dass jeder eintreten konnte – gingen Tal, Ughtred und der Barde hinein. Den Phani ließen sie mit Norths Sarg draußen vor der Tür, doch Ughtred, der sich an diese Unsitte einfach nicht gewöhnen konnte, versprach sogleich, dem schwarzen Mann etwas zu Essen herauszubringen. 

Der Besitzer des Hauses war ein schmaler Mann namens Umarias Marn yr Swaraiythis. Er begrüßte Kyon als Sliyn und seine Gefährten als dessen Vasallen. Tal machte ein verächtliches Gesicht und vergaß nicht, klarzustellen, dass sie eine Hexe des Doppelmondes war und einem Sliyn in nichts nachstünde, doch dies war dem Hauswirt egal. Er wies Kyon eine große Kammer und zwei Helfer und eine Helferin zu. Für Tal gab es ebenfalls ein Zimmer, doch auf die Nachfrage, ob man ihr auch Helfer schicken sollte, lehnte sie ab. Ughtred verblieb im Schankraum und kümmerte sich wie versprochen um das Essen für den Phani.

Tal wollte in jedem Fall den Ort erkunden und sich um die Auffrischung ihrer alchemistischen Zutaten kümmern. Sie sah Kyon an und fragte: »Kommt ihr mit? Ich gehe in die Stadt und suche nach Material für die Reise.«

»Naaaahhh«<, antwortete der Barde müde und deutete mit dem Daumen auf die Tür, die vom Schankraum in die Unterkünfte führte. »Aber wenn ihr mit der Ausrüstung kein Glück haben solltet, findet ihr ja vielleicht wenigstens jemanden, der sich mit Haaren auskennt«, fügte er ohne große Aufmerksamkeit hinzu.

Wortlos stand sie auf und raffte ihren Lendenschurz, um über seine Knie steigen zu können. Sie gab ihm einen Stoß mit dem Ellbogen, aber er reagierte nicht darauf. Im selben Moment erschienen eine junge Frau und ein schöner schlanker Mann und neigten ihre Köpfe. Es waren die Helfer, die Kyon bestellt hatte. Er wandte sich direkt ab, erhob sich, Tal von sich schiebend und ging wortlos zu den beiden hinüber.

Sie blickte auf die Dielen des Schankhauses herab und dachte darüber nach, ihre Doppelklinge nach Kyon zu werfen. Oder am besten gleich das Schwert ziehen? Der Raum war nicht hoch genug für die lange Klinge, also entschied sie, sich den Idioten einfach ziehen zu lassen. Als sie das Haus verließ, kam sie zwangsläufig an Ughtred und Odugme vorüber.

»Sagt Herr Nygh, findet ihr auch, dass meine Frisur schäbig wirkt?«

Ughtred sah zu ihr auf und ein kleines Grinsen stahl sich auf seine Lippen. Er lachte selten und auch ein Lächeln fand sich nicht oft zwischen seinem Barthaar.

Höflich antwortete er in gebrochenem Smavarisch: »Nun, ich bin mir sicher, eine Frisur würde euch zweifellos stehen.«

Sie starrte ihn an und ließ seine Worte ankommen. Dann wandte sie sich ab und stolzierte wortlos in die nun von Öllampen erhellten Gassen Uraiyds davon.

 

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie im Gewirr der kleinen Sträßchen den Platz fand, den man ihr empfohlen hatte. Trotz der beschaulichen Größe des Ortes, waren seine Gassen verwinkelt und man konnte sich leicht verlaufen. Es war mittlerweile stockdunkel und es kam Tal so vor, als gäbe es immer weniger Laternen, je näher sie sich dem Alchemistenplatz näherte. Als sie schließlich in die bisher düsterste Straße begab, fehlte tatsächlich jegliches Licht und sie hatte Mühe überhaupt etwas zu erkennen. Wo waren die Monde, wenn man sie brauchte? 

Der Platz war nicht sehr groß und seine Pflastersteine ebenso uneben wie die Dächer der Häuser. Überall fehlte das Fensterglas und Ziegeln lagen auf dem Boden herum und machten das Gehen gefährlich. Einmal hätte sie sich tatsächlich beinahe an einer der vielen Scherben geschnitten. 

Nichts regte sich. Sie versuchte zu erkennen, welches der windschiefen Häuser bewohnt war, konnte aber nur eine alte Quink sehen, die auf einer der Treppen kauerte. Die Alte sah aus wie eine Schildkröte und nestelte mit ihren alterskrummen Fingern an den Schalen irgendwelcher Früchte herum. Sie hatte eine Schale neben sich stehen und schien das Zeug zu schälen. Tal fragte sie, warum sie im Dunkeln arbeitete und die alte konterte mit einem trockenen Lachen, dass ihre Welt für immer dunkel geworden sei. Da erkannte Tal, dass sie Blind war und wollte schon gehen, aber schließlich fragte sie doch noch nach dem Alchemisten.

Zitternd deutete die Quink zwischen zwei Häuser. Das eine hatte noch alle Fenster und die Tür war geschlossen. Beim anderen hingegen fehlte das meiste Glas und die Tür stand ein Stück auf. Es sah aus, wie der schief klaffende Rachen eines Totenschädels und da wusste Tal, welches der Häuser ihr Ziel sein würde. War sie eine Ayn wie Kyon ein Sliyn? Natürlich nicht. Er bekam Helfer in einem Haus der Ruhe. Sie würde dafür ein Abenteuer erleben. Sie war eine Doppelmondhexe, die brauchten keine weiteren Titel oder Helfer. Sie halfen sich selbst. Andererseits hatte sie sich in letzter Zeit viel zu oft selbst geholfen. Kyons Worte kamen ihr in den Sinn. Ohne es zu wollen, fuhr sie sich mit den Fingern durch ihr wirres Haar. Vielleicht sollte sie doch tätig werden.

Ohne sich zu verabschieden, verließ sie die alte Schildkröte und ging auf das Haus mit der offenen Tür zu. Der Platz hatte in der Mitte einen alten Brunnen, von dem aus ein tiefer Riss durch den Boden verlief. Beinahe wäre sie gestolpert, denn es war wirklich sehr dunkel. Besagten Riss umgehend erreichte sie das Haus und erkannte allein schon an dem beißenden Geruch, der hier herrschte, dass sie an Ort und Stelle war. Mit spitzen Fingern drückte sie die Tür etwas weiter auf und lugte in die Dunkelheit des Eingangsbereiches. Leider konnte sie kaum etwas erkennen, also zückte sie ihr Feuerzeug und entzündete es. Im Schein der züngelnden Flamme musterte sie den Verkaufsraum des Alchemistenladens. Oder hätte sie sagen sollen, des ehemaligen Ladens? Der einstige Tresen war eine Müllhalde. Überall am Boden lagen Scherben verstreut und kleine Knochen zeugten vom Befall durch Nagetiere und anderes Ungeziefer. In den Regalen standen noch einige Fläschchen und Tiegel mit vergammelten Zutaten und sie wollte schon gehen, als sie im Nebenraum ein leises Scharren vernahm.

»Hallo?« flüsterte sie so leise, dass es möglichst niemand hören würde, aber dann überkam sie die Neugierde. Sie drückte sich an dem Verkaufstisch vorbei, stieg über einen umgefallenen Stuhl und musste eine kleine Truhe verschieben, um zu dem Durchgang in das angrenzende Zimmer zu gelangen. Sie schnüffelte und versuchte zu erkennen, nach was genau es hier roch. Rattenscheiße, ganz klar, und Weihrauch, Myrrhe und irgendein anderes Kraut, dass ein wenig wie Urin roch. Aber da war noch etwas, etwas Vergammeltes, Totes in der Luft. 

Der Nebenraum war vollgestopft mit Kisten und Regalen und auch hier gab es in der Mitte des Zimmers einen großen Tisch mit allerlei Unrat auf seiner Tischplatte. Der Boden war sogar noch unpassierbarer. Dutzende von Flaschen in Körben und offenen Kisten standen überall herum und Tal kam nicht umhin, sich über den Reichtum an Zutaten zu wundern, der hier verstreut lag. Waren all diese Dinge vergessen worden?

Doch dann sah sie ihn. Am Tischende, tief an der Lehne herunter gerutscht, lag mehr, als er saß, der Körper eines offenbar toten Smavari. Er trug nur eine offene dünne Robe und seine Rippen standen hervor und machten umso deutlicher, dass sich sein Brustkorb nicht bewegte. Im Schein ihres Feuerzeuges betrachtete sie das eingefallene Gesicht des Toten. Er war mehr mumifiziert als verwest und wies Zeichen von Einbalsamierungsvorgängen auf. Interessant, dachte die Hexe und berührte mit einem Fingernagel die Wange des Toten.

Doch wie sehr erschrak sie, als die dünnen Lieder des Mannes zu flattern begannen und sein Brustkorb sich in einer schrecklich künstlichen und unnatürlichen Bewegung ausdehnte, um Luft in die verdorrten Lungen zu ziehen. Sie stolperte zurück, stieß einen kleinen Beistelltisch mit einer Vase um und konnte sich gerade noch am großen Tisch festhalten, um nicht selbst zu stürzen.

Der Tote blickte sie mit unverhohlener Neugier an. Sein schmales Gesicht glomm unwirklich in der Dunkelheit und Tal bemerkte, dass sie ihr Feuerzeug fallen gelassen hatte. Schnell bückte sie sich, hob es auf und entzündete eine Stehlampe auf dem Tisch. Als der Raum hierdurch etwas heller geworden war, musterten sich die beiden ungleichen Gestalten. Tal dachte an die Untoten in der Wüste von Draiyn Andiled und erschauderte. Würde dieser hier gleich aufspringen und versuchen ihr die Kehle aus dem Leib zu reisen? Aber nichts dergleichen geschah. Der dürre Mann hockte auf seinem Stuhl und schien mühe zu haben, sich an seinem unechten Leben festzuhalten. Er hatte begonnen zu atmen, aber es war klar zu erkennen, wie schwer ihm dieser Vorgang fiel. Es schien auch, als täte er es nur zur Beruhigung seines Gastes. Untote brauchten nicht zu atmen. Sie waren tot. Natürliche Vorgänge spielten für sie keine Rolle mehr.

Tal entschied sich dafür, sich ordnungsgemäß vorzustellen. Schließlich war sie in dieses Haus eingedrungen und es war egal, ob sein Bewohner nun tot oder lebendig war, er war nach wie vor der Hausherr.

»Mein Name ist YtˋTalan ven Arudsel, ich bin eine Doppelmondhexe aus Shishney und suche nach dem Alchemisten von Uraiyd«, sagte sie mit etwas dünner Stimme.

Der Tote richtete sich mit einigen Schwierigkeiten auf und holte besonders tief Luft. Er wollte sprechen, aber Tal machte sich auf einen Angriff gefasst.

Doch dann sagte er hohl: »Mein Name ist Bethaeyk Myrthias dan Hargahul und ich bin ein Alchemist. Dies ist mein Laden. Wie kann ich euch helfen?«

Es dauerte einen Moment, bis Tal sich in der Lage fand, normal – wenn man das so sagen konnte – mit dem Toten zu sprechen, doch sie nahm sich zusammen und versuchte professionell mit der Situation umzugehen. Werwölfe, Riesen, Untote, sie kannte all diese Dinge aus frühester Kindheit und hatte gelernt damit zu leben. Also brachte sie ihre Einkaufsliste zum Vorschein und gemeinsam begannen sie im heillosen Durcheinander des kleinen Geschäftes nach den benötigten Dingen zu suchen. Erst als sie bei den Reinen Dämpfen von Hyn angelangte, stutzte Hargahul. Er erklärte, die Zutaten für diese Alchemie gäbe es, wie der Name schon sage, nur in Hyn selbst.

Tal sah ihn an. Sie kannte den Ort nicht, aber dann holte sie die Kristallkarte hervor. Kyon hatte sie ihr überlassen, nachdem sein Interesse an der Unternehmung so offensichtlich geschwunden war. Sie ärgerte sich bei dem Gedanken, doch dann deutete der Alchemist auf einen Punkt im Westen Kisadmurs und dann auf Uraiyd.

»Da ist es, und da, nicht weit von Uraiyd, lebt der Schrat im Walde. Er kann euch helfen, er besitzt das Wissen, wie man Hyn betreten kann.«

Im flackernden Licht der Lampe stellte Tal immer mehr Fragen und je mehr der Untote erzählte, umso profunder empfand sie seine Aussagen. Er beschrieb ihr verschiedene alchemistische Rezepte, von denen sie zwar gehört hatte, die aber nicht in den Aufzeichnungen der Hexen zu finden gewesen waren, die sie bisher gelesen hatte. Stunde um Stunde verbrachte sie in dem nach Moder und Tod riechenden Haus und am Ende hatte sie einen Entschluss gefasst. Wenn sie diese schwere Reise bestehen wollte, wenn sie die Perle von Angband tatsächlich finden wollte, würde sie soviel Hilfe benötigen, wie irgend möglich. Hyn war ein Quell mächtiger Alchemie. Somit führte für sie kein Weg daran vorbei. Mit einer Sache hatte Kyon recht. Sie mussten sich nicht beeilen. Die Perle würde ihnen sicher nicht weglaufen.

Als sie sich endlich verabschiedete, hatte es draußen zu regnen angefangen. Sie schob ihre Kapuze über den Kopf und zögerte. Schließlich wandte sie sich noch einmal um und sagte: »Herr Alchemist, ihr kennt nicht zufällig jemanden, der sich mit er Kunst der Haarpflege auskennt?«

Die toten Augen des Angesprochenen glommen im Dämmerlicht seines Zimmers. Tal hörte ihn keuchen, als hätte er seine Lunge längst wieder in den Ruhezustand versetzt und mühe sich nun, sie erneut zu aktivieren.

»Ich dachte schon, ihr würdet danach fragen«, kam es aus der Dunkelheit. 

Tal rollte mit den Augen. Was hatten nur alle mit ihren Haaren? Beinahe wäre sie einfach gegangen, aber der Tote kam ihr zuvor.

»Tatsächlich wohnt hier am Platz eine Kollegin meinerseits. Sie ist nicht nur ebenfalls in unseren Künsten bewandert, sondern sollte euch auch bei eurem schlimmen Problem behilflich sein können.«

»Wo?« schnarrte Tal ungehalten. ›Schlimmes Problem oder was?‹

»Es ist von meiner Türe das fünfte Haus auf der linken Seite. Es duftet immer nach frischen Blumen. So schön.«

Diesmal ging sie.

Tatsächlich waren es nur wenige Schritte bis zu der beschriebenen Adresse und wirklich, das Haus hatte einen winzigen Vorgarten und es roch nach Blumen. Sie klopfte an den alten Türrahmen und wartete im Regen. 

Als sich die Tür öffnete, stand eine Frau darin, die Tal nur wenig älter als sich selbst geschätzt hätte. Allerdings war es ja bekanntlich nahezu unmöglich, eine Smavari anhand ihres Aussehens auf ihr Alter festzulegen, aber im vorliegenden Fall war sie sich sicher, nicht vor einer uralten Hexe zu stehen.

Sie wollte sich vorstellen, aber die Alchemistin lotste sie zuerst in das Haus. Sie war schließlich nass genug.

Drinnen kam ihr die Hausherrin erneut zuvor. Sie stellte sich als Aaiynych Nyrndadt yr Con`Gabur vor und freute sich, als sie erfuhr, dass ihr Nachbar sie empfohlen hatte. Kurzerhand lud sie ihren Gast ein, es sich in einem der Quinkledersessel gemütlich zu machen und zu erzählen, was eine Doppelmondhexe in der Provinz zu tun hatte. So unterhielten sich die beiden Frauen eine ganze Weile, tranken Faltersud und fachsimpelten über die optimale Zubereitung alchemistischer Produkte. Als Tal endlich auf ihr ›Problem‹ zu sprechen kam – es war ihr peinlich und am liebsten hätte sie vermieden darüber zu sprechen – lächelte Aaiynych Nyrndadt und sagte warm: »Natürlich kann man da was machen. Es wird zwar einiges an Haar kosten, aber ihr werdet, wenn ich mit euch fertig bin, eine Frisur haben.«

»Klingt bedrohlich«, sagte Tal und nahm einen großen Schluck Faltersud.

»Ach was, unter meiner Schere ist noch niemand gestorben«, konterte die Alchemistin und stand auf, um ihr Werkzeug zu holen.

Es vergingen über drei Stunden und Aaiynych Nyrndadt fluchte wenigstens achtmal so sehr, dass Tal nun wirklich Angst bekam und im geheimen Gegenflüche murmelte, aber als der erste Hahnenschrei erscholl und die Tagesgestirne ankündigte, trat Aaiynych Nyrndadt einen Schritt zurück und sagte mit gespieltem Stolz: »Ta taaaaaaa!«

Tal stand aus dem Sessel auf und ging zu dem Wandspiegel, der dem Raum wahrscheinlich als Unraumtür diente. Sie betrachtete sich und strich über die ausrasierte Haut unter dem Haarschnitt. Kurz, aber symmetrisch und irgendwie fesch sah sie aus. Etwas jungenhaft, aber nicht schlimm und die Haare würden wachsen. Sie konzentrierte sich und gab all ihre Gedanken in die Haarwurzeln und fühlte sie sprießen. Sie fühlte sich gut.

Mit einem spöttischen Grinsen auf dem Gesicht wandte sie sich ihrer neuen Freundin zu und fiel ihr um den Hals.

 

Es war schon heller Tag, als Tal uns Irtas Rawaiy zurückkehrte und dort ihren Phani und Ughtred vorfand. Der Nygh hatte Odugme in das Haus geholt und ihn mit Nahrung versorgt. Jetzt war er gerade dabei, eine wunde Stelle in seinem Unterkiefer zu untersuchen und versuchte mit einer seiner feinen Feilen eine minimal überstehende Stelle an der Prothese zu glätten. 

Tal trat hinzu und setzte sich an den Tisch. Sie sah eine Weile stumm zu, dann öffnete sie ihren Gürtelbeutel und beförderte eine Paste zutage. Sie schob den winzigen Tiegel zu Ughtred und dieser öffnete ihn und nahm etwas des Inhaltes auf seinen Finger, um es auf dem Zahnfleisch des schwarzen Mannes zu verteilen. 

»Meine Ressourcen schwinden«, sagte die Hexe. Sie wollte diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Wenn sie erst einmal den Nygh überzeugt hätte, im Wald nach dem Schrat zu suchen, würde es leichter werden, mit dem störrischen Barden zu reden.

Ughtred sah mit fragendem Blick auf. Dann sage er: »Ihr habt euer Haar machen lassen.«

Sie lächelte, fasste aber unwillkürlich an die Stelle, an der sich noch vor kurzer Zeit das ›Nest‹ befunden hatte.

Sie erzählte Ughtred von dem Schrat und der alchemistischen Möglichkeiten, die ein Abstecher in den Wald bieten würde. Die Reise nach Hyn selbst würde natürlich sehr lange dauern, aber sie würde sich ohne Zweifel lohnen. Ughtred hörte sich alles an. Die Möglichkeit, alchemistische Ausrüstung aufzustocken, erschien ihm durchaus sinnvoll. Außerdem konnte er sich die eigentliche Fahrt nach wie vor nur schwer vorstellen. Er hatte zwar das Tagebuch von Kyons Vater überflogen, aber wirklich verstanden hatte er es nicht. Zahnräder, Gräber, Feueressen, all dies erschien ihm unermesslich groß und er konnte sich einfach nicht vorstellen, all diese Abenteuer zu bestehen. Da war die Idee, einen Alchemisten im nahegelegenen Wald zu finden, ein eher harmloser Vorgang.

 

Etwas später saßen sie an einem kleinen Tisch im Haus der Ruhe und aßen geröstete Feuerzwiebeln und Riesenkriecher in Sauerteighüllen. Ughtred verzichtete auf die Insekten, langte aber um so gieriger bei den Zwiebeln zu. Er mochte scharfes Essen und bekam in Kisadmur nicht oft Dinge, die ihm wirklich schmeckten. Er musste grinsen, denn die Silberwölfe konnten die Feuerzwiebeln nur essen, wenn sie eine Sahnesoße dazu genossen. Scharfe Gewürze hatten eine ähnlich heftige Wirkung wie Alkohol auf ihren Metabolismus und dennoch konnten sie nicht davon lassen. Sie waren so seltsam.

»Ihr habt eure Haare machen lassen«, sagte Kyon gerade und Tal antwortete gelassen: »Es wurde mir empfohlen.«

Ughtred musste lachen und hob seinen Gerstensafthumpen.

Wie erwartet hatte Kyon nur wenig Interesse an dem Ausflug in den Wald, aber andererseits war ihm das Vorankommen in der eigentlichen Sache ebenfalls nicht zeitlich relevant. Er zuckte mit den Schultern und sah den Nygh an.

»Wenn es ihm nichts ausmacht. Schließlich wird er ja alt und faltig und hat nicht ewig Zeit«, sagte er und lächelte böse.

Ughtred grunzte und nickte in seinen Krug. Er kannte ja mittlerweile den kruden Humor der Silberwölfe.

Nachdem dies geklärt war, winkte Tal einer der Helferinnen und fragte nach einer Lopenleihe in Uraiyd. Die Helferin musste nicht überlegen, sondern deutete auf einen der anderen Tische. Tal sah hinüber. Ein Mann mit düsterem Gesicht saß neben einer seltsam jung und dennoch alt aussehenden, sehr bleichen Frau. Sie aßen gemeinsam aus einer großen flachen Schüssel und schienen ein Paar zu sein. 

»Die beiden sind Lopenhirten«, sagte die Helferin und schenkte Kyon dabei Gelbwein nach.

Tal stand auf und ging wortlos zu dem Tisch hinüber. Dort angekommen, stellte sie sich vor und wartete, bis die beiden es ihr gleich taten.

»Dies ist Zoraiyet bor Zoraitreynith und mein Name ist Snyirath D`Fenur. Wenn ihr Lopenhirten sucht, seid ihr bei uns richtig.«

Die hellhaarige, bleiche Frau sah Tal nur kurz an, doch dann flirrte ihre Aufmerksamkeit durch den Raum. Ihre Augen blinzelten und ihr Geist war wie eine Motte, die ständig von Licht angezogen, hin und her flatterte. Tal legte den Kopf schief und versuchte, sie geistig zu erfassen, aber da war nur Wirrheit und Chaos in dem schönen Gesicht. Sie war ein Welpe oder zumindest verrückt. Irgendwie war sie Tal sofort sympathisch.

Kurzerhand lud Tal die beiden an ihren Tisch ein. Helfer kamen und begannen, das Geschirr zu organisieren. Schließlich saßen alle beisammen und konnten mit den Verhandlungen beginnen.

Der Lopenhirte Snyirath nickte Kyon freundlich zu und sagte: »Ich rieche Lopen an euch. Hinzu kommt euer Rang. Ich werde bei unseren Lopen für euch sprechen.«

»Wir können selbst mit Lopen sprechen«, sagte Kyon hochmütig.

Der Hirte nickte und nahm einen Schluck Gelbwein.

»Wichtiger wäre für uns ein Führer.« Kyon sah den Mann an und wartete auf eine Antwort. Wenn er durch seine schroffe Art ungehalten war, zeigte er es nicht.

Schließlich sagte er: »Ich bin Lopenhierte und Jäger Herr Sliyn. Wenn ihr es wünscht, führe ich euch durch den Wald.«

Es war Brauch, dass ein Smavari dem anderen half, gerade wenn der eine einen Titel trug und der andere nicht. Es war aber ebenfalls Brauch, dass Smavari sich eigen verhielten und Bräuche brachen, wenn sie ihnen zuwider waren.

Kyon nickte huldvoll und deutete mit dem Kinn auf die Begleiterin des Hirten.

»Und sie? Sie ist nicht bei klarem Verstand, oder? Fickt ihr sie?« fragte er und sah Snyirath herausfordernd in die Augen.

»Ich passe auf sie auf«, sagte der Angesprochene ohne einen Anflug von Ärger in der Stimme.

Zoraiyet wandte Kyon ihr ebenmäßiges und unnatürlich bleiches Gesicht zu. Dann streckte sie die Zunge heraus und schnappte sich eine der Zwiebeln von seinem Teller. Ehe jemand reagieren konnte, stopfte sie sich das Gemüse in den Mund und kaute darauf herum. Saft troff über ihr Kinn und ihre weißen Brüste und sie lachte wie ein Welpe. Dann kam die Wirkung der Gewürze über sie und schon spuckte sie das zerkaute Gemüse über den Tisch und griff nach der Sahnesoße, um in großen Schlucken davon zu trinken.

Tal lachte und half ihr, doch Kyon fand die Sache weniger lustig.

»Sie wird uns nur aufhalten und alle Rotaugen des Waldes auf uns ziehen«, sagte er zu dem Hirten und schüttelte missmutig den Kopf.

»Ich reise nicht ohne Sie«, sagte Snyirath und es war ihm anzusehen, dass er an diesem Punkt nicht verhandlungsbereit war. 

Ughtred sah Kyon an, dass er die Sache am liebsten abblasen würde und sagte: »Das wird schon klappen und Lopen mögen es, wenn ihre eigenen Hirten mit von der Partie sind oder?«

Kyon rollte mit den Augen und sah zu der Verrückten hin. Tal versuchte gerade ihr langes Haar von der Soße zu befreien und sie schnupperte dabei an den frisch geschnittenen Haaren der Hexe.

Vor Resignation seufzend zuckte der Barde mit den Schultern. Also gut, dann eben mit der Irren, sagten seine Augen und der Hirte hob seinen Gelbwein an den Mund und sah ihn über den Rand des Kruges an. Eine Abmachung war getroffen worden. Ughtred nickte. So machten sie es, die Silberwölfe.

 

Die Huhns des Birked

Der Pakt mit den Lopen von Uraiyd war schnell geschlossen. Zuerst wollte Wildauge, der Alpha der Zackenhörner, nicht auf Kyons Anfrage eingehen, aber Wedelohr, seine Gefährtin, wurde mit Tal handelseinig. Einerseits witterten die Tiere den Hauch der Gefahr, der die Abenteurer und ihre Unternehmung umwehte, aber sie waren wilde Lopen von Kisadmur und zu was wären ihre Hörner gut, wenn nicht zu Abenteuerreisen durch die Wildnis?

So kam es, dass die kleine Reisegruppe erneut zum Aufbruch blies und zwar an einem kalten Morgen, denn die Lopen wollten den Abstieg aus dem Ausläufer der Odoreys, auf dem Uraiyd erbaut worden war, möglichst bei Tageslicht bewältigen. Zuerst erschien dies den Silberwölfen mehr als unangenehm, aber der Wald im Süden der Berge war düster und hielt die schädlichen Kräfte der Geschwistersonnen auf Distanz. Nasse Spinnweben zogen sich quer über den Trampelpfad und die Luft war nass und kalt. Aus den Schatten zwischen den Bäumen waren Vogelstimmen zu hören und ab und an erscholl das heisere Röhren einer wilden Lope von den Felsen herab.

Der erste Reisetag verlief ereignislos – wenn man vom starken Regen absah, der mit der Dunkelheit hereinbrach. Kyon wollte zuerst in seiner Hängematte schlafen, denn die verdrehte Haltung der Hexe und der dafür verantwortliche mit Wurzeln durchzogene Waldboden, machten ihm zu schaffen. Als sich jedoch die Himmelsschleusen öffneten und die Welt um ihn herum binnen weniger Minuten noch mehr durchnässten als es der klamme Tag schon getan hatte, entschied er sich doch zu Tal ins Zelt zu begeben. In der Dunkelheit musterte er die junge Wölfin. Wenn sie sich nicht bemühte, sah sie knochig aus. Ihre Haare waren nun zu einer Frisur geschnitten, aber adrett hätte er sie dennoch nicht genannt. Er fühlte sich an North erinnert, dessen Leichnam draußen in seinem modrigen Holzsarg ruhte. Adrett war er auch nicht gewesen. Damals hatte Kyon eher auf die provinzielle Schönheit des Landwolfes reagiert. Der feine Akzent, dieses ungespielte Unwissen, wenn es um die Sitten der Städte ging – diese Dinge hatten den Sliyn für Northrian eingenommen. Aber Tal war irgendwie ganz anders. Sie verhielt sich nicht provinziell, sondern eher, grob. Er wusste nicht wie er sie anders wahrnehmen sollte. Einer der Richter von Shishney ließ sich täglich auf einem übergroßen Hammer als Stuhl von einem riesigen Kampfdroiden zum Marktplatz tragen. Ungewöhnliches Verhalten gab es auch in den Städten zu genüge. Aber den toten Bruder in einem Sarg mit auf eine Reise zu nehmen erschien Kyon selbst für eine Smavari exzentrisch. Außerdem trug sie mit absoluter Sicherheit die Seele Norths in dem Shimwas ihres Vaters. Er wusste nicht genau, ob sie den Vorgang kannte, den Shimwas zu leeren, aber er war sich absolut sicher, dass sie es gar nicht erst in Erwägung zog. Ihre Ganze Art hatte etwas gnadenloses und wenn er so darüber nachdachte, hatte er sogar ein wenig Angst vor ihren Launen. Sie war zweifelsfrei mächtig und wie alle Mächtigen Smavari hatten die Würmer der Anderwelt ihr Gehirn in einen löchrigen Lopenkäse verwandelt.

Durch den schmalen Spalt des Zeltausgangs konnte er die beiden Lopenhirten sehen. Sie hatten ihre Lager unter einem stämmigen Baum aufgeschlagen. Dicht beieinander hatten sie sich in ihre Felle und Decken gerollt und schliefen schon. Der Nygh hatte die Wache, aber zumindest der Jäger schien sehr diszipliniert zu sein. Wenn er dies doch nur über sich selbst behaupten könnte. Er war wach wenn er schlafen sollte und wenn es zur Wache ging, überkam ihn die Müdigkeit. Dieses ganze Abenteurerleben war so anders als … ja als was? Als sein eigentliches Leben? War er tatsächlich nur ein Barde, der mit leichtgängigen Liedchen um die Aufmerksamkeit von ressourcenstarken Höflingen buhlte? Der Gedanke ärgerte ihn und er schob Tal in eine andere Position, um mehr Platz für sich selbst zu haben.

Als er schließlich einige Stunden später von Ughtred zur Wache geweckt wurde, lag die Hexe quer über ihm.

 

Zwei weitere Tage vergingen im Wald und die Reisegruppe und die Lopen gewöhnten sich aneinander. Am dritten Tag, kurz vor der nachmittäglichen Pause, kam der Tross plötzlich ins Stocken. Wedelohr hob den Kopf und gab ein warnendes Wimmern von sich und Snyirath D`Fenur machte ein Zeichen, dass allen bedeutete, still zu sein. Sofort war Kyon von seiner Lope herunter und hob die Hand. Sein Kriegsbogen entfaltete sich mit einem Klacken und alle sahen ihn böse an.

Dann erfüllte lautes Knurren und ein heiseres Bellen den Wald.

Snyirath flüsterte: »Arwölfe. Wir sind in ihrem Revier.«

Tat und Ughtred sahen beide gleichzeitig Kyon an. Doch dieser zögerte nicht und hob in seiner mittlerweile typischen Geste die Faust. Der Jäger sah ihn fragend an aber Ughtred flüsterte schnell: »Es bedeutet, anhalten, der Führer muss denken!«

Kyon lauschte in den Wind. Argol Fe und Hiyween standen im Westen über den Baumwipfeln, aber sie waren nur noch matt leuchtende Bälle, die kaum noch Schatten warfen. Das Unterholz war dicht, aber im Süden konnte man immer wieder in die unteren Lagen Kisadmurs blicken. Unten in dem weiten, schönen Tal wandten sich Flüsse zwischen einsamen Hügeln und den endlosen Marschen des Plagensumpfes. Als die Tagesschwestern zögernd sanken, stieg ein dünner Nebel aus den Sümpfen auf.

»Sie sind ganz nah«, sagte Snyirath, aber Kyon machte eine zornige Handbewegung, die ihm zum Schweigen brach. Langsam, wie eine Waldkatze kroch Zoraiyet neben ihn und rieb ihren Kopf an seinem Oberschenkel.

Er sog noch einmal die Luft ein, dann war der erste Wolf zwischen den Bäumen zu sehen. Das Tier maß wenigstens zwei Meter vom Boden zu seinem Rücken und seine gebogenen Stoßzähne waren länger als Kyons Arme. Der Arwolf senkte den Kopf, schnupperte am Boden und schrammte dann mit einem der Stoßzähne an der Rinde eines Baumes entlang. Er war etwa dreißig Schritte von der Gruppe entfernt und die Lopen wurden von Sekunde zu Sekunde nervöser. Arwölfe jagten in Rudeln von wenigstens fünf Individuen und tatsächlich trat ein Stück weiter ein Weibchen zwischen Bäumen und einem abgebrochenen Felsen hervor. Sie war kleiner als der Rüde, sah aber fast noch gefährlicher aus, denn sie war schlank und kräftig und ihr Blick sprach von Hunger und Gier.

Doch gerade als Kyon eine Entscheidung gefällt hatte, spürte er die Erschütterung von etwas wirklich Großem im Waldboden und hinter dem weiblichen Arwolf betrat das größte Raubtier die Szene, dass Kyon je zu Gesicht bekommen hatte. Allein der Kopf des Monsters war größer als der Brustkorb seiner Gefährtin. Seine Stoßzähne waren beinlang und hatten den Durchmesser von Kyons Oberschenkeln. Das gigantische Alphatier, denn dies musste er sein, der Herr des Waldes, hob seinen gewaltigen, zottigen Kopf und gab ein Knurren von sich, dass allen die Mägen zusammenzog. Es war eine Aussage: dieser Teil des Waldes gehört mir allein!

Kyon nickte zustimmend, dann öffnete er seinen Geist, griff in die Membran und zog seinen sphärischen Begleiter in die Realität. Als dünne Nebelschwaden materialisierte sich ein grauer, durchsichtiger Wolf neben dem Smavari und gemeinsam gingen sie auf die Arwölfe zu. Fliehe nie, kommuniziere, sprich ihre Sprache. Kyon wünschte sich, er wäre in der Lage die Sprache der Arwölfe wirklich zu sprechen, so wie Tal, aber er war einer von ihnen, das musste genügen.

Als er sich den Tieren näherte, kamen zwei weitere von ihnen in Sicht und es war klar, dass eine kämpferische Auseinandersetzung Kyons Ende bedeuten würde. Diesen Wesen hatte er nichts Physisches entgegenzusetzen.

Der Alpha senkte den Kopf und zog die Lefzen hoch. Er zeigte sein unglaubliches Gebiss. Dampf stieg aus seinem Rachen in die kalte Abendluft auf. Seine Augen sagten: meine Regeln oder der Tod!

Kyon senkte den Blick und sein psionischer Begleiter umgab ihn mit der Aura der Waldwölfe. Bitte, König des Waldes, erhöre meine Bitte. Wir erheben keinen Anspruch auf dein Reich. Lass uns ziehen, nimm dein Mahl aus deinem Land. Lass uns ziehen.

Als dies sagte Kyon nicht wirklich. Er sprach keine smavarischen Worte aus und vollführte auch keine Handbewegungen. Es war seine Haltung, sein ganzes Verhalten und seine ihm eigene Art. Doch er sagte noch viel mehr. Er sagte auch: ich bin der Mannzahn, Smavari, Beherrscher dieser Welt, in der euer Wald nur ein geringer Teil ist und ich bin Zerstörer, Mörder und Vernichter – seht Draiyn Andiled, war dieses Land nicht eins ein Wald wie der eure? Seht es euch an, dies geschieht mit jenen, die sich gegen die Silberwölfe stellen.

Der große Arwolf schüttelte seinen Kopf und zerstob dabei mit seinen Stoßzähnen einen dünnen Baum. Rinde, Staub und Dreck erfüllten die Luft und einen Augenblick dachte Kyon, es wäre vorbei. Die Aktion wäre die optimale Ablenkung für einen alles vernichtenden Angriff gewesen und Kyon schloss mit seinem Leben ab. Doch dann hob der Riese den Schädel und knurrte abfällig. Zerstörer oder nicht, dein Fleisch ist dünn und deine Muskeln schwach, ich bin hier dein Alpha.

Kyon nickte freundlich und senkte seinen Blick noch tiefer. Er und sein Psiwolf gaben ihre Nacken preis und als er vorsichtig wieder aufsah, zogen sich die Arwölfe langsam in die Wälder zurück. Sie würden nicht weit sein, würden ihr Revier beschützen, aber sie machten eine Ausnahme. Die Silberwölfe und ihr seltsames Rudel durften passieren – jetzt, gleich.

 

Am selben Abend lagerte die Reisegruppe an einer Steilklippe mit einem unglaublichen Blick auf das weit entfernte Flachland. Als Drawns kränkliches Licht den Süden überflutete, war sogar die Kante der Wüste zu erahnen. Ughtred hatte die Stelle als Lagerplatz vorgeschlagen und Snyirath hatte zugestimmt. Sie hatten zwar den Einflussbereich der Arwölfe noch nicht hinter sich gelassen, aber hier gab es weit und breit weder deren Losung, noch die, größerer Beutetiere. Nachdem der Nygh das Zelt für seine Silberwölfe aufgebaut hatte, kümmerte er sich mit Odugme um die Lopen. Der Phani war zwar noch nicht ganz genesen, aber er schien gute Fortschritte zu machen und konnte sogar schon ein wenig kauen. Die Prothese war stabil und schien nur noch erträglich zu schmerzen.

Kyon hatte das Zelt und dann den Nachthimmel betrachtet. Es schien trocken zu bleiben und er entschied sich für die Hängematte. Die beiden Lopenhirten suchten sich eine Sandkuhle am Waldrand als Lagerstelle aus und Snyirath bereitete ein Lagerfeuer vor. Etwas später saßen alle nahe bei den prasselnden Scheiten und unterhielten sich leise. Ab und an war in der Ferne das Heulen der Arwölfe zu hören und dann verstummten die Unterhaltungen eine Weile und es wurde still.

Irgendwann trat Zoraiyet neben Kyon und kauerte sich nieder. Sie hatte sich als erstaunlich nützlich erwiesen. Trotz ihres kindlichen Verhaltens schien sie sich bestens in der Natur auszukennen. Sie fand Pilze und Beeren, wo andere sie übersahen, und mehr als einmal fing sie mit bloßen Händen Vögel und streckte damit ihren Proviant.

Ughtred beobachtete durch das langsam niederbrennende Feuer die beiden Silberwölfe und war gespannt was passieren würde. Kyon hatte bisher kein Interesse an der Frau gezeigt. Ughtred hatte ihn als wählerisch aber durchaus aktiv kennengelernt. Hinzu kam die Egalität, die er dem Geschlecht oder gar der Spezies seiner Sexualpartner zuteil werden ließ. Er selbst fand Zoraiyet sehr schön. Ihre grazile Ebenmäßigkeit und die geradezu transparent helle Haut machten sie zu einem Lichtwesen, einer echten Smavari. Und dann war da noch ihre Abgewandtheit von der Welt. Sie sprach nur sehr selten und dann in einzelnen Worten wie man es sonst nur von Kleinkindern gewohnt war. Bei ihr hatte dieses Verhalten etwas seltsam Erhabenes. Nichts schien ihr etwas anhaben zu können. Sie lebte in einer anderen Dimension, in ihrer eigenen Welt. Obwohl Ughtred die Silberwölfinnen schön fand, fühlte er sich eher nicht zu ihnen hingezogen. Zu sehr war diesen Wesen ihre Arroganz und die Egalität allem gegenüber, dass nicht von ihrer eigenen Art war anzumerken. Zoraiyet war zwar nicht arrogant, aber dafür schien ihr alles um sie herum noch egaler zu sein, als es schon bei normalen Silberwölfen der Fall war.

Er sah stumm zu, wie Kyon sich eine Pfeife anzündete und Zoraiyet sich plötzlich auf etwas zu konzentrieren schien. Würde sie Kraft ihrer Gedanken die Pfeife zum Glimmen bringen? Diese Wesen steckten voller Überraschungen, dachte Ughtred und sah gebannt zu. Doch plötzlich veränderte sich Kyons Gesichtsausdruck und Zoraiyet schien sich zusehends zu entspannen. Dann richtete der Barde seinen Blick auf den Boden. Zoraiyet stand auf, schüttelte sich und stolzierte davon. Sie hatte direkt neben Kyon ihre Notdurft verrichtet.

Ughtred wusste nicht, was er davon halten sollte. Er musste lachen, unterdrückte aber den Impuls und gab, vor die Szene nicht mitbekommen zu haben. Demonstrativ blickte er über die Klippe hinaus und tat so, als bewundere er den Nachthimmel.

Tal hingegen, die offenbar auch zugesehen hatte, lachte und stand auf. Sie sagte nichts und ging kopfschüttelnd zu ihrem Zelt, in dem sie ja alleine nächtigen würde.

Als Ughtred seine Aufmerksamkeit wieder Kyon zuwandte, saß der Barde immer noch an derselben Stelle. Es schien dem Nygh, als könne nichts diesem sturen Mann die Ruhe rauben.

 

Zwei Reisetage später erreichten die Abenteurer eine Hügellandschaft in einer Niederung. Es war hier noch deutlich feuchter als weiter oben in den Gebirgsausläufern und wirklich alles schien von Moos überwachsen zu sein. Es war schon dunkel, als Kyon auf einen der Hügel deutete und leise sagte: »Da scheint Rauch aufzusteigen«.

Wie immer hob er die Faust und brachte damit die Lopen, die diese Geste mittlerweile kannten, zum Stehen.

Tal stieg von Wedelohr und trat neben Kyon und Ughtred, die nebeneinander geritten waren.

»Ich sehe mir das mal an. Wo ist der Rauch?« sagte sie und kniff die Augen zusammen.

Kyon konnte sich ein Grinsen nicht verwehren und wollte sicher eine Bemerkung über die schlechten Augen der Hexe zum Besten geben, aber Ughtred kam ihm zuvor und deutete zwischen den schwarzen Nadelgehölzen hindurch.

»Da drüben Frau Hexe«, flüsterte er und stieg nun ebenfalls ab.

Und auch die anderen ließen sich leise von ihren Lopen gleiten und gaben den Tieren zu verstehen, keinen Mucks von sich zu geben.

Tal hatte sich schon auf den Weg gemacht, und Kyon entfaltete langsam und für seine Verhältnisse erstaunlich leise seinen Bogen.

Aus der Distanz beobachteten sie, wie die Hexe sich um einen der niedrigen, von Gras und Moosen bewachsenen Hügel herum bewegte und dann auf eine Stelle neben sich deutete. Sie zeichnete mit den Händen ein Viereck in die Luft und deutete damit an, dass es hier ein Fenster gäbe. Unter den Hügeln schien sich eine Behausung zu befinden. Als sie sich jedoch umdrehte, stockte Kyon der Atem. Sofort hatte er einen Pfeil in der Hand und zielte auf einen der Bäume und jetzt sah es auch Ughtred. Der Baum war gar kein Baum. Er war ein knorriges Wesen von fast drei Metern Größe, dass nur wie ein Baum wirkte und sich jetzt eher zu einer Art Troll auseinanderfaltete.

Ughtred hätte beinahe geschrien, aber Tal hatte das Wesen nun auch entdeckt, doch anstatt ihr riesiges Schwert von der Schulter zu reisen, hob sie beschwichtigend die Hände und verbeugte sich vor dem Waldbewohner. Es musste der Schrat Birked sein.

Ughtred trat näher, aber Kyon gab den anderen mit einer Geste zu verstehen, dass sie mit den Lopen zurückbleiben sollten. Erst dann ging er geduckt der Hexe und dem Nygh hinterher.

Als er die beiden eingeholt hatte, sah er gerade noch, wie das große, aber sehr dürre Wesen sich müde auf den Rand des Hügels niedergelassen hatte. Seine Haut schien aus der Borke eines Baumes zu bestehen und seine Haare standen steil zum Nachthimmel hinaus und waren mit den Nadeln der Bäume durchwirkt. Die Augen des Schrates sahen bleich und tot aus. Trotzdem machte er im Grunde keinen gefährlichen Eindruck. Er sah vielmehr traurig oder zumindest verdrossen aus.

Langsam näherte sich Kyon den dreien und hörte gerade noch, wie der Schrat in gedehntem Smavarisch sagte: »Huuuuhns, die Huuuuuuhns. Niiiicht sicheeeer ooob alle daaaaaaa.«

Tal wiederholte: »Ihr wisst nicht ob all eure Huhns da sind?«

Ughtred sah Kyon an und deutete in den Wald. Nur wenige Schritte von dem größten der Hügel, an dessen Flanke der Schrat nun saß, befand sich eine Art Pferch und oben auf den behauenen Holzbrettern hockte ein Huhn mit braunem Gefieder. Kyon kniff die Augen zusammen und gewahrte weiter draußen zwischen dem schwarzen Gehölz noch mehr Huhns. Einige Schritte neben dem Pferch, durch Moos und Kletterpflanzen getarnt, gab es noch einen Pferch und dahinter einen weiteren. Er versuchte die Pferche und die Tiere zu zählen, aber im Dunkeln fiel es ihm schwer.

Unterdessen sagte Tal: »Wenn wir euch helfen eure Huhns zu zählen Herr Schrat, helft ihr dann auch uns bei unserer Reise?«

Der Schrat sah sie mit toten Augen an und kaute auf seiner holzigen Lippe, bis sie faserig aufsprang. Dann nickte er und sagte: »Iiiiihr zählen, iiiiich machee Gescheeeeeeenk.«

Tal sah Ughtred und Kyon an und deutete in den Wald. 

»Wir müssen sie einfangen, sonst bekommen wir niemals raus, wie viele es sind!« sagte sie und legte ihr Schwert und ihren Mantel ab. Dann lief sie in die Dunkelheit hinaus und versuchte eins der Federtiere zu fangen.

Kyon verzog das Gesicht und ließ den Bogen sinken. Fast wäre ihm der Kampf lieber gewesen. Doch dann legte er seine Waffe neben das Scherbenesserschwert und stapfte der Hexe hinterher.

Ughtred schüttelte den Kopf. Dann ging er zu den Lopen zurück, erklärte den beiden Hirten was sich zugetragen hatte und begab sich zu einem der Packtiere. Er suchte sich Proviant aus, den er am besten zerbröseln konnte. Erst als er genug davon in seine Umhängetasche gepackt hatte, ging er zum Schrat und seinen Gefährten zurück. Irgendwo in der Dunkelheit hörte er Tal fluchen. Wieder schüttelte er den Kopf und begab sich zu einem der Pferche. Er öffnete das Gatter aus Riedzweigen, streute eine Hand voll von dem Proviant auf den Boden und machte leise: »Puuut put put put put, puuuuuuut put put …«

 

Es stellte sich bald heraus, dass die Huhns sich gegenseitig nicht leiden konnten. Kaum hatte Tal eins der Tiere in einen Pferch gehoben und Kyon setzte ein anderes hinzu, gerieten die Tiere in streit, hacken aufeinander ein und flogen schreiend aus der oberen Öffnung der Umzäunung. Dann aber schienen andere auch ganz gut miteinander klar zu komme. Ughtred hatte mit seiner Lockmethode mehrere braune Vögel in einen der Pferche befördert und beruhigen können. Erst als er ein Graues hinzu gab, kam es zu lautem Gezeter und alle Huhns entflohen dem Pferch. Es war also offenbar tatsächlich eine Frage der Gefiederfarbe. Braune Huhns mochten keine grauen, aber mit den schwarzen schienen sie zu harmonieren. 

Ughtred teilte seine Erkenntnis mit den beiden Silberwölfen und sah Kyon an, was dieser am liebsten mit den Vögeln gemacht hätte, ganz egal welcher Farbe ihr Gefieder war.

Schließlich aber hatten sie den Bogen heraus. Sie begannen die Tiere zu sortieren und bekamen so einen Überblick über ihre Anzahl. Sie packten Huhns in Pferche, korrigierten sich und zählten und als die Tagesschwestern schon den westlichen Rand der Baumwipfel berührten sagte Tal fragend: »Ich komme genau auf einhundertvierundvierzig.«

Kyon nickte genervt, da er offenbar auf dasselbe Ergebnis gekommen war und auch Ughtred schien einverstanden zu sein. Sie lauschten. Nach dem Gegackere und dem hin und her Gerenne, war im Wald Ruhe eingekehrt. Die Huhns saßen ganz und gar zufrieden in ihren Pferchen und nur ab und an gab eines von ihnen ein leises Gackern von sich.

Ughtred zuckte mit den Schultern und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Sagen wir es ihm«, schnaufte er.

Tal nickte und ging zu dem riesigen Schrat, der wie versteinert auf einem alten Baumstamm hockte.

Sie wedelte mit der Hand vor den toten augen des Waldwesens und sagte: »Es sind 144 Huhns Herr Schrat und ihr braucht euch wohl nicht zu sorgen.«

Birked blickte auf und etwas wie Leben trat in seinen uralten Blick. »144 Huuuuhhns sind eeeees«, gab er keuchend von sich. »Iiiihhhr haaaabt guuuuut gezääääähhlt. Daaafüüühhhhr wiiiill Biiirkeeeed geeeeeben.«

»Wir wollen das Holz von Hyn Herr Schrat. Habt ihr welches?«

Der alte Waldbewohner bedauerte verneinen zu müssen, erklärte aber, er verfüge über ein Mittel, welches Lebewesen wie den Silberwölfen gestattete den Sumpf von Hyn zu betreten und auch ohne Folgeschäden wieder zu verlassen. 

»Eeeeees iiist daaaas Waaaassser deeeer Reiiiiiiiinheiiiiiit«, fügte er in seiner langsamen und gedehnten Sprache hinzu.

Tal kannte dieses Mittel nicht, nickte jedoch, denn sie wollte die Zutaten aus Hyn unbedingt und war bereit, eine Reise dorthin zu machen. Mit dem Toten Holz von Hyn würde sie ein mächtiges Rezept umsetzen können. Sie würde ein Gebräu daraus erstellen, welches sie alle stärker, schneller und sogar klüger machen könnte. Wenn die restliche Unternehmung ein Erfolg werden sollte, waren Hilfsmittel dieser Art einfach unerlässlich.

Sie verbrachten fast die ganze Nacht bei dem Wohnhügel des Schrates und ruhten sich aus. Am frühen Morgen, nahmen sie einen großen Kürbis von dem Schrat in Empfang. Er versicherte, dass man mit diesem Trank die giftigen Dämpfe von Hyn kaum spüren würde.

Sie verabschiedeten sich von Birked und führten die Lopen einige Schritte in den Wald. Dann hielten sie an, denn für die beiden Lopenhirten endete hier der Weg. Sie hatten zugesagt, die Reisenden bis zu der Unterkunft des Schrates zu führen und diese Aufgabe war erfüllt.

Vor allem Zoraiyet war es anzusehen, wie gerne sie weiter mitgegangen wäre. Um diesen Wunsch klar zu kommunizieren, hob sie ihren Rock und zeigte Kyon und Ughtred ihr Geschlecht. 

Der Nygh sah ein wenig benommen in die Dunkelheit der Bäume hinaus, aber Kyon, der wenig oder kein Mitleid mit der Frau hatte, verabschiedete sich einfach höflich und nahm keine weitere Notiz von der Sache. Snyirath D`Fenur nickte dem Sliyn zufrieden zu und tröstete sein Mündel, denn Zoraiyet hatte angefangen zu weinen. Auch Tal tröstete die große schlanke Frau und schließlich erklärte der Hirte, er und Zoraiyet würden nur zwei der Lopen für die Rückreise nach Uraiyd benötigen und die anderen in der Obhut des Sliyn belassen. Sie würden die Reisenden sicher an jedes Ziel in Kisadmur bringen.

Als Zoraiyet und Snyirath zwischen den geraden, schwarzen Stämmen der Bäume verschwanden, sah Tal zu Ughtred hinunter. Beide waren traurig und die Hexe musste sogar ihre Tränen unterdrücken. Doch schon hörten sie Kyon sagen: »Weiter, wir haben nicht den ganzen Frühling Zeit. Ich will zurück nach Shishney.«

Ughtred rieb sich über die Stirn und ging zu den Lopen. Nur Tal blieb noch einen Moment stehen und sah den Lopenhirten hinterher, doch sie waren schon in der Dunkelheit verschwunden.

 

Arunen des Moorath

Die Reise durch den Wald gestaltete sich als weit weniger beschwerlich als die nach Koresuul. Es war zwar nach wie vor recht kalt und vor allem in den Nächten kam es immer wieder zu Nieselregen oder gar stärkeren Regenfällen, aber nichts von alledem war mit den Martern der Wüste zu vergleichen. Selbst wenn die Sonnen an ihren jeweils höchsten Stellen standen, drang ihr sengendes Licht nur selten bis zum Waldboden und die Silberwölfe konnten sich problemlos mit ihren Kapuzen vor ihnen schützen. Trotzdem behielt die kleine Reisegruppe ihre gewohnte Zeiteinteilung ein. Gegen Mitternacht rasteten sie und schliefen mehrere Stunden, während immer einer von ihnen Wache hielt. Dann brachen sie auf und marschierten bis Mittags. Dazwischen legten sie nur kurze Pausen ein, doch zur Mitte eines jeden Tages bauten sie erneut ihr Lager auf und schliefen eine Weile. Ihre Nahrungsvorräte waren auf die Lopen verteilt und da die Tiere sich hier im Wald praktisch komplett autark ernähren konnten, war genug Platz für das Essen der Zweibeiner. Dazwischen reicherte Kyon ihr Essen mit der Jagd nach Kleinwild an und Ughtred und Tal fanden immer wieder essbare Pilze, Kräuter und Beeren.

Sie unterhielten sich wenig und wenn, dann besprachen sie die Inhalte des Tagebuches. Persönliches trat eher in den Hintergrund. Kyon bat Tal ihn im Umgang mit den feinstofflichen Disziplinen zu schulen und so saßen sie häufig in kurzen Pausen beisammen und meditierten über die Zwischenwelt. Meistens versorgte Ughtred in diesen Zeiten die Lopen oder versuche Odugme im Schwertkampf zu trainieren. Leider war die riesige smavarische Waffe des Phani bei weitem zu groß für den Nygh und so war es auch hier eher Tal, die als Lehrerin und Sparringspartnerin gefragt antreten musste.

 

Vier Tage und Nächte vergingen, da hob Kyon, der an der Spitze des Trupps ritt, die Hand und ballte sie zur Faust. Fast gleichzeitig rieb sich Ughtred die Stirn, bemerkte die instinktive Reaktion und ärgerte sich darüber.

Vor ihnen breitete sich ein dichtes Schilfmeer aus. Der Boden war schon vor einem Tag immer feuchter geworden und Ughtred hatte Bedenken angemeldet, ob man die sumpfigen Lande nicht lieber südlich umgehen solle. Jetzt nickte er und rutschte von seiner Lope, um die Bodenverhältnisse besser einschätzen zu können.

»Denke, vor uns liegt ein See«, sagte er mit rauer Stimme und deutete auf das Schilf. »So viel Schilf gibt es nicht ohne eine entsprechende Wasserfläche.«

Kyon lenkte seine Lope ein Stück nach Links und sagte: »Vielleicht möchte der Herr Dieb sich seinen See anschauen. Zumindest die Lopen könnten Wasser brauchen.«

»Und ihr ein Bad«, knurrte der Nygh unhörbar. Er begriff nicht, wie ein Volk sich selbst als das edelste und elitärste der ganzen Welt betrachten konnte und es dann fertig brachte, jegliche Hygiene vermissen zu lassen. Er hatte die Silberwölfe beobachtet. Wenn sie sich wuschen, dann träufelten sie einige Tropfen Wasser hinter die Ohren und rieben sich das Gesicht mit den feuchten Händen ab. Fertig, sauber, nach Rosen duftender Silberwolf. Er schüttelte den Kopf, beim Gedanken an das Zelt, welches er jede Nacht aufbaute und das zwischenzeitlich alles andere als nach Rosen duftete.

Er stapfte über den nassen Grund in Richtung des Schilfwaldes und versuchte möglichst keine Geräusche zu machen, aber natürlich verursachten seine Beinlinge auf dem nassen, morastigen Boden schmatzende Laute.

Am Wasser angekommen, versuchte er, die Größe des Sees einzuschätzen. Auf der Kritallkarte war der See ein kleiner blauer Fleck, aber es war schon nach dem Maßstab ersichtlich gewesen, dass dieses Gewässer gigantisch sein musste. Und wirklich, es lag ein leichter Nebel über dem grünen Wasser und es war ganz und gar unmöglich, ein gegenüberliegendes Ufer oder auch nur die Küstenlinie zu seiner Rechten auszumachen. Sie mussten sich zum Glück ziemlich südlich des Sees befinden, denn hier, wo er stand, zog sich das Ufer nach Südwesten und bot mehrere Einstiege zum Wasser, die auch die Lopen nutzen konnten. 

Er stand noch eine Weile da, dann erleichterte er sich und ging zu den anderen zurück. Wie fast immer, seit er mit den Silberwölfen unterwegs war, hatte er ein ungutes Gefühl, immer dann, wenn sich ein Landschaftsmerkmal änderte oder ein neuer Reiseabschnitt begann. Aber wer hätte es ihm verdenken können? Allein was dem armen Odugme widerfahren war, konnte man als Katastrophe bezeichnen und Ughtred war immer wieder erstaunt, dass er bisher immer mit Kratzern davongekommen war.

Bei den anderen berichtete er, wie er die Lage des Sees einschätzte und dass er zuerst einmal die Lopen zu tränken gedachte. Die Reiseroute sah er im Südwesten. Um den See im Norden zu umrunden wurden sie viele viele Tage brauchen.

Kyon war einverstanden und Tal hatte nicht richtig zugehört. So bewegten sie sich ein Stück am Schilfwald entlang, bis sie eine offene Stelle fanden, an der sie die Lopen ans Wasser lassen konnten. Die Tiere tranken und Ughtred regte an, Rast zu machen und die Gelegenheit zu nutzen, sich ausgiebig zu waschen. Letzteres machte er dann auch und Odugme tat es ihm gleich. Die Silberwölfe hingegen beließen es bei ihrer üblichen Katzenwäsche.

Einige Zeit später, Ughtred und Kyon und der Phani schliefen und Tal hielt Wache, blitzte plötzlich etwas im See auf. Tal erhob sich leise und machte ein paar Schritte in Richtung des Ufers, aber sie konnte nicht sagen, was dieses Licht an der Wasseroberfläche verursachte. Sie überlegte einen Moment und wollte sich keine Blöße geben. Kyon hatte sie mehr als einmal ihrer schlechten Augen wegen aufgezogen und sie musste zugeben, dass seine Spitzen sie mehr ärgerten, als sie es zulassen sollte. Trotzdem ging sie zu den Schlafenden zurück und stieß den Barden mit der Fußspitze an.

»Was?«

»Im Wasser blitzt etwas.« Tal streckte sich und besah sich Kyon. Es hatte geregnet und dann zumindest kam er zu ihr ins Zelt. Er war nackt und schön. Warum schlief er nicht mit ihr? Sie wusste, dass er in North verliebt gewesen war. Er mochte Männer. Aber sie wusste auch, dass er, seit sie ihn kannte, auch in verschiedenen Situationen Frauen gehabt hatte. Ihre Frisur hatte sie aufgebessert und ansonsten war sie ja wohl auch ganz passabel. Sie war weder in ihn verliebt, noch hatte sie seine Zuwendung sonderlich nötig, aber sie hätte dennoch gerne gewusst, warum bei allen Asan er sein Ding in eine Droidin gesteckt hätte, es aber nicht bei ihr tat. 

»Was blitzt«, holte seine Stimme sie aus ihren Gedanken. Ach richtig, da war ja wieder einmal etwas Seltsames.

Sie erzählte ihm, was sie gesehen hatte und sah seinem Gesicht an, dass er gleich wieder etwas über ihre schlechten Augen sagen würde.

»Geht es nicht etwas genauer?«

Sie grunzte und wandte sich ab. Ughtred war von allein aufgewacht und zog sich gerade seinen Wams über. Der Nygh war wenigstens ein vernünftiges Wesen und hatte nicht den Geist eines störrischen Zackenhorns.

Sie ging zu ihm und erzählte ihm ebenfalls – freundlich – von dem Blitzen im See und dann ging sie mit wiegenden Schritten zum Ufer zurück.

Es dauerte nur eine Minute, bis auch Ughtred zum See kam. Er rieb sich die Stirn und beschattete dann seine Augen, um besser sehen zu können.

»Da sind Leute im Wasser«, sagte Kyon hinter ihnen und ließ das vertraute Klacken seines Bogen hören.

Er kniff die Augen zusammen und fügte hinzu: »Es sind vier, ein Mädchen und drei Männer.«

»Wie wollt ihr das erkennen?« fragte Tal schnippig und er antwortete indem er ihre Stimme nachahmte: »Weil eine der Gestalten Titten hat werte Hexe.«

Tal hatte nicht einmal sehen können, dass da überhaupt Personen waren. Sie hatte ihre Aussage gar nicht auf das angenommene Geschlecht bezogen. Ein wenig beschämt blickte sie an sich herunter und murrte: »Und was machen sie?«

Kyon wollte etwas erwidern, aber Ughtred kam ihm zuvor: »Das Mädchen winkt uns zu. Sicher eine Falle.«

»Garantiert«, sagte Kyon und ließ einen Pfeil auf der Bogensehne erscheinen.

Tal konnte immer noch nichts erkennen. Sie räusperte sich und sagte dann: »Vielleicht sind sie auch freundlich.«

Sie diskutierten noch einen Moment, entschieden sich dann aber dafür einfach weiter zu ziehen. Wer die Leute im See auch immer waren, sie würden sicher alleine klar kommen und es war nicht notwendig, weitere Gefahren einzugehen.

So holten sie die trinkenden Lopen zusammen und bauten ihr Lager ab.

 

Einige Stunden Später, die Umgebung wurde zunehmend dunkler, kamen sie erneut an das Ufer des riesigen Sees. Ughtred studierte ihre Karte. Der Moorath, so der Name des Gewässers, weitete sich zweifellos noch viele Tagesreisen nach Westen aus. Er versuchte in etwa festzulegen, wo am Südufer sie sich gerade befanden, aber das war schwer zu sagen. Der winzige blaue Fleck auf der Kristallkarte hatte nichts mit der gigantischen Realität zu tun. 

Plötzlich hörte er schon wieder das Klacken von Kyons Kriegsbogen und seine Hand glitt unwillkürlich zu einem seiner Wurfbeile im Gürtel.

Er suchte in den Schatten nach Tals Silhouette und sah sie vom Ufer in Richtung Lopen laufen. Sie hatte nichts an und wollte sicher ihre Notdurft verrichten, als Kyon seine Waffe gezogen hatte. Beim Lager bückte sie sich und hob das riesige Schwert ihres Bruders von dessen Sarg.

Das sah nicht gut aus.

»Sie haben Speere«, hörte er die Hexe zischen.

Er zog seine beiden Wurfäxte und machte sich kampfbereit. »Hobgoblins?« fragte er.

Kyon schüttelte den Kopf. Dann rief er: »Es sind die vier von vorhin.«

Gemeinsam gingen sie ans Ufer des Sees. Die vier Gestalten waren weit draußen im Wasser. Selbst wenn sie einen Speer aus dem Wasser heraus schleudern könnten, wäre es ein Leichtes gewesen, diesem auszuweichen. Doch die Seebewohner machten keine Anstalten ihre Waffen zu werfen. Stattdessen schienen sie zu beraten und kamen dabei langsam näher. Als sie in Waffenreichweite waren, hob Kyon den Bogen, aber die Frau unter ihnen hob beschwichtigend die Hand und sagte etwas in einer fremdartig anmutenden, schnarrenden Sprache. Tal horchte auf. 

»Das ist Baves, ich kann sie verstehen. Es sind Arunen. Sie sagt, dass sie Hilfe brauchen.«

Tals Mentorin im Hexenzirkel hatte ihr von den Arunen erzählt und ihr die Grundlage ihrer Sprache beigebracht. Baves war dem SMavarischen verwandt. Tal hatte nie verstanden, warum Akkatha ihr aufgetragen hatte diese tote Sprache zu erlernen. Jetzt kam es ihr fast so vor, als ob die Hexenkönigin vorhergesehen hatte, das ihre Schülerin eines Tages auf Arunen träfe.

Die Arunen waren Eltwesen wie die Smavari und gehörten wie sie zu den ältesten Wesen des Universums. Zumindest lernten dies so die Hexen des Doppelmondes. Sie waren halb SMavari, halb Fisch, etwas muskulöser und auf jeden Fall deutlich wilder und urtümlicher als die Silberwölfe. Ihre Zähne waren gleichmäßig und zackig spitz und im Gegensatz zu den Smavari hatten sie nach unten ausgerichtete lange Ohren. 

Die Frau, die offenbar die Anführerin der vier Arunen war, stellte sich als Bleik, die Tochter der Anführerin ihres Stammes, vor. Die anderen drei hießen Arnun, Hanuve und Maran.

Für Tal hatte Bleik etwas seltsames an sich. Arunen hatten grünlich blaue Haut und waren tierhaft und kamen schließlich mit Fischschwänzen daher und aus ihrer Sicht waren sie zwar durchaus anmutig, aber nicht unbedingt anregend. Aber als sie Kyons und Ughtreds Blicke sah, wurde ihr klar, dass die beiden Männer ganz eindeutig anders über das Fischmädchen dachten.

War ja klar, dachte sie, riss sich aber zusammen und fragte Bleik, bei was genau ihr Stamm Hilfe benötigte. Das Mädchen antwortete stockend und versuchte so deutlich wie möglich zu sprechen. Arunen konnten sich an Land nur schleppend fortbewegen und Probleme in dieser Umgebung waren für sie offenbar nur bedingt lösbar. Seit einiger Zeit schien es eine Stelle im See zu geben, an der es zu schlimmen Verunreinigungen kam und diese schienen das Wasser und seine Bewohner zu vergiften. Die Quelle dieses Übels befand sich aber offenbar an Land.

Tal übersetzte so gut es ging und erklärte Kyon und Ughtred, wie schwierig es den Arunen fällt, an Land zu agieren. Sie ging auch nicht mehr davon aus, dass die Wasserbewohner eine Gefahr für ihre Unternehmung darstellten. Man könne sich die Stelle, um die es ging, ja einfach einmal ansehen, denn der Ort läge ohnehin auf ihrem Weg.

Kyon schüttelte genervt den Kopf und es war ihm anzusehen, dass er am liebsten einfach weitergeritten wäre. Dann aber glitt sein Blick zurück zu der schönen Arune und verweilte einen Moment auf ihren wohlgeformten Brüsten. Er nickte unverhohlen und sagte: »Gut gut, sehen wir uns die Sache an.«

Tal erklärte den Arunen, dass man sich dazu entschlossen hätte, ihnen zu helfen, worauf Bleik in die mit Schwimmhäuten versehenen Hände klatschte und nach Nordosten deutete. Dort befände sich das Lager ihres Stammes und man könne sich dort an einer unbewachsenen Stelle am Ufer treffen, die mitgebrachten Tiere essen und das weitere Vorgehen planen.

Tal stockte einen Moment. Dann lächelte sie müde. Zum Glück brauchte sie nicht lange, den Arunen das Missverständnis zu erklären und so die Lopen zu retten. Ansonsten blieb es dabei: man würde weiter ziehen und sich beim Lager des Stammes treffen.

Das Lager gestaltete sich als größer als erwartet. Auf Holzstangen aufgezogene Tücher deren Zusammensetzung nicht erkennbar war, bildeten mehrere Baldachine unter denen Frauen mit Kindern Spielten. Wenigstens dreißig junge Frauen und Männer waren mit Speeren und seltsam gebogenen Dolchen aus einem chitinartigen Material bewaffnet. Sie machten zwar im Augenblick keinen gefährlichen Eindruck, wirkten aber entschlossen und durchaus in der Lage ihren Stamm zu beschützen. Es war offensichtlich, dass die Frauen hier mehr zu sagen hatten als die Männer, was aber offenbar nicht an der Harmonie der Gruppe zu nagen schien. Im Gegenteil, die männlichen Arunen schienen sich durchaus in Anerkennung zu suhlen, taten dabei aber ohne zu zögern, was die Frauen ihnen auftrugen. Sie waren noch deutlicher als bei den Smavari oder Nyghs stärker als ihre Frauen, aber ihre körperliche Stärke schien sie in keiner Weis über die Klugheit ihrer Frauen zu erheben.

Bleik sah ihrer Mutter Etivel, der Stammesführerin, wirklich ähnlich, aber der älteren Kriegerin fehlte die jugendliche Grazie ihrer Tochter. Sie war schön wie die Natur des Waldsees und strahlte eine geradezu übernatürliche Stärke aus. Freundlich lud sie die Gäste unter ihren Sonnenschutz ein. Zwei der jungen Männer und einer der älteren brachten Schalen aus harten Blättern mit Beeren und rohen Fischbrocken herbei. Dann kamen weitere Frauen und Männer hinzu und brachten ebenfalls Nahrung mit. Alle griffen zu, tauschten und aßen schließlich gemeinsam. Ihre spitzen Fischzähne gruben sich in das rohe Fleisch und zeichneten sie als gefährliche Fresser aus.

Tal ließ die Arunen keine Sekunde aus den Augen. Sie hatte schlimme Geschichten über diese Wesen gehört. Ihre Sprache zu verstehen würde nichts helfen wenn sie ihr das Fleisch von den Knochen nagten. Männer fressende Seebestien, die nichts als Knochen und umherirrende Seelen übrig ließen.

Kyon fragte nach dem Problem, der verseuchten Stelle im See, aber die Matriarchin schüttelte ihr langes Farnhaar und erklärte, zuerst wolle man ausruhen und die Arunen müssten ihre Gäste eine Weile beobachten, um zu entscheiden, ob man sie nicht doch noch verspeisen sollte.

Humor hatten sie also auch noch, dachte Tal und stand auf, um sich die Beine zu vertreten. Die lange Reise hatte sie rastlos werden lassen. Früher wäre ihr der Weg von ihrer Kammer zur alchemistischen Küche zu viel gewesen und sie erinnerte sich, einmal zu ihrer Meisterin gesagt zu haben, sie hätte am liebsten direkt neben ihrem Bett eine Kühlgrube und ein Klosett. Jetzt schaffte sie es kaum noch mehr als zehn Minuten still sitzen. Reisen war Bewegung und sie hatte mittlerweile gelernt, dass sich der Stillstand wie eine halbseitige Version des Siechtums anfühlte. Ihr Blick wanderte zu den Lopen und dem Sarg, in dem ihr Bruder ruhte. Sie seufzte.

Etwas weiter spielte Ughtred am Ufer mit einer Gruppe von Kindern. Als versuche er, sie zu fangen, ließ der die kleinen glitschigen Wesen durch seine starken Arme gleiten, packte ab und an eins von ihnen und warf es in hohem Bogen in den See zurück. Sie quiekten und lachten lauthals und bissen ihn unter Wasser in die Waden, dass es sogar Blutete. Er konnte gut mit Kindern umgehen. Tal wunderte sich, warum er hier war. Er hätte in Koresuul mit eigenen Kindern spielen können. 

Als sie zu Kyon hinüber sah, entstand ein Kloß in ihrem Hals. Er saß auf einem Baumstamm, der ins Wasser ragte und ein schöner junger Mann massierte ihm die nackten Füße. Kyon lächelte den Arunen an und obwohl die beiden sich offenbar nicht unterhalten konnten, schienen sie sich dennoch auf eine andere, einfachere Art zu verstehen. Sie wandte sich ab und ging langsam zu Odugme hinüber. Er saß am Ufer und blickte regungslos auf den See hinaus. Als sie bei ihm ankam sah er auf und erwartete ihre Befehle, doch sie sagte nichts, zog sich aus und setzte sich neben ihn. Dann rutschte sie vor ihn und ließ sich ihre Haare waschen. Die Hände des Riesen waren sanft und geschult in solchen Dingen und Odugme schien sie gerne zu verwöhnen. Doch er war ein Sklave und Tal wusste durchaus, dass er gar nicht anders konnte als ihr zu dienen. Sie wollte aber nicht bedient werden. Sie wollte etwas anderes.

 

Die Sonnen war untergegangen und Ughtred hatte Holz gesammelt und ein kleines Feuerchen entfacht. Langsam kamen die Arunen wieder zusammen. Etivel trug nun eine Art Krone aus Tang, Knochen und Fischhaut. Sie beschrieb die Situation. Seit zwei Jahreszeiten floss ein Stück weiter westlich etwas Giftiges in den Moorath. Pflanzen und Tiere wurden krank und gingen schließlich ein. Die Arunen hatten das Ufer untersucht und waren sogar ein Stück an Land gerobbt. Das giftige Wasser kam mit einem kleinen Bach aus der Dunkelheit des Waldes. Es hatte eine Schneise des Todes hinterlassen. Überall hatten sich die Bäume und das Unterholz rötlich gefärbt, die Luft roch nach Galle und etwas unbekannt Scharfem und überall lagen tote Tiere am Boden. Doch die Seebewohner waren nicht weit genug gekommen, um die Quelle des Übels zu finden. Sie konnten sich nicht weit von ihrem nassen Zuhause entfernen. Diejenigen, die an der Expedition teilgenommen hatten, waren krank geworden und es hatte eine ganze Weile gedauert, entsprechende Antidote zu finden, um sie zu heilen.

Kyon fragte, was die Anführerin vermutete, doch diese konnte oder wollte keine Mutmaßungen anstellen. Was auch immer dort hinten in der Finsternis des Waldes lauerte, es war gefährlich und tötete das Land und den See.

Er nahm einen Schluck des Beerensafts, welches die Arunen ausschenkten und gab zu verstehen, dass er und seine Mitreisenden beim Aufgang der Tagesschwestern aufbrechen würden, um im Wald nach dem Rechten zu sehen. Die Lopen würden sie hier am Ufer lassen. Er gehe davon aus, dass die Vierbeiner nicht von den Arunen gegessen würden.

Die Moorathi überlegten einen Moment, legten die schönen Köpfe schief, hoben fragend die Ohren und machten Schnuten. Dann lachten sie alle und versprachen artig zu sein und die Tiere wie ihre Lieblingsfische zu beschützen.

Kyon war alles andere als Glücklich über den Humor der Seebewohner, aber er wusste, dass man ihnen zumindest in der aktuellen Situation vertrauen konnte. Schließlich wollten sie etwas von ihren landbewohnenden Gästen und waren nicht dumm.

 

Die Sträucher am Rande des Waldes knospten und noch erhellten die Strahlen der Sonnen den Waldboden. Ein bitterer Ostwind wehte durch das Gesträuch und pfiff den Wanderern um die Ohren. Das Wetter hatte sich ein wenig verschlechtert, aber das spielte keine Rolle. Sie waren schließlich nicht zum Spaß hierher aufgebrochen.

Kurze Zeit später färbte sich der Boden rötlich und viele der Sträucher waren verdorrt und wiesen matschig nass herunterhängende Blätter auf. Ughtred deutete auf eine Stelle am Boden. Eine Kröte lag auf dem Rücken und ihr aufgedunsener Bauch wimmelte von Maden. Die Augen waren rote Klumpen, die weit aus dem Schädel hervortraten. Tal kauerte sich neben das Tier und berührte es mit einem Stöckchen.

»Ich weiß nicht was für ein Gift die Kröte getötet hat, aber es ist nichts aus meinem Repertoire.«

Sie nahm einen Klumpen der schleimigen Blätter auf und roch daran, ließ ihn aber sofort wieder fallen.

»Bei allen Asan, das Zeug ist wirklich extrem«, zischte sie.

Ughtred roch auch an den verdorrten Blättern und berührte sie dann mit der Zunge. Als Tal dies sah, wollte sie ihn warnen, aber dann erinnerte sie sich, dass der Nygh ja immun gegen die meisten Umweltgifte war. Aber musste er das Zeug ablecken?

Ughtred sah zu ihr herüber und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Er wusste natürlich auch nicht, um was es sich hier handelte, aber auf ihn schien es sich nicht auszuwirken.

Kyon ließ seinen Bogen aus dem Köcher springen. Er war vorsichtiger geworden und wollte sicher gehen, nicht in eine Falle zu tappen. Aus seiner Sicht konnte für diese Sache hier nur ein Amytor oder zumindest etwas Vergleichbares verantwortlich sein. In jedem Fall würde er nicht zögern, seine übelsten Pfeile zu nutzen, denn er hatte kein Interesse daran, wie die tote Kröte zu enden.

Zu viert schlichen sie durch den Wald. Nach nur wenigen Schritten hörte sie das leise Plätschern des Baches, von dem die Fischleute gesprochen hatten. Der Boden machte eine immer verdorbeneren Eindruck, je näher sie dem Gewässer kamen. Die Pflanzen waren zu rötlichem Matsch geworden und selbst die dem Bach zugewandten Baumseiten hatten sich rot gefärbt und ihre Rinde verloren. Überall lagen tote Amphibien, Schlangen und Vögel am Boden. Auf die Insekten schien sich das Gift nicht annähernd so verheerend auszuwirken. Sie taumelten um die Kadaver der anderen Tiere und labten sich an deren Aas. Kaum waren die vier aus dem Unterholz in den lichteren Bereich des Baches getreten, erhoben sich Wolken von geflügelten Wesen und umschwirrten die Störenfriede. 

Kyon deutete den Bach hinauf, der in einer Rechtsbiegung im Wald verschwand. Wie eine riesige rote Wunde zog sich das vergiftete Areal nach Südosten. Je weiter sie gingen, desto toter wirkte das Areal. Selbst Insekten schien es hier nicht mehr zu geben. Überall lagen umgestürzte verfaulte Bäume im Unterholz. Die Luft stank nach Moder, Gift und Galle.

Plötzlich war ein lautes und seltsam klagendes Geräusch aus der Richtung aus der der Bach kam zu hören. Es schmerzte in den Ohren und hatte etwas geisterhaft Unwirkliches. Das Stöhnen wiederholte sich noch einige Male, verstummte dann aber. So leise wie möglich bewegten sich die vier Reisenden den Bach hinauf und duckten sich, als sie an die Biegung gelangten. Kyon machte sein Faustzeichen. Der deutete auf Tal und dann auf die linke Seite des Bachlaufes. Ughtred und Odugme schickte er vor sich auf der rechten Seite weiter. Er selbst ging den beiden geduckt hinterher und legte vorsorglich einen Pfeil ein, während er einen zweiten in der Hand behielt.

Als er aufsah, stockte ihm der Atem. Vor ihm weitete sich der vergiftete Wald zu einer Art roten Lichtung aus Matsch und verdorbenem Holz. In der Mitte dieses Chaos aber kauerte ein mit struppigem Fell bedeckter Fleischberg. Das über sieben Meter durchmessende Wesen war fast kugelrund und hatte einen flachen Kopf, welcher in einen kurzen Rüssel und zwei knöcherne Stoßzähne auslief. Entzündete Augen blickten trüb auf die Besucher. Es stank erbärmlich und sein Ausfluss war eindeutig die Quelle der Vergiftung des Landes.

Kyon wollte einen Befehl ausstoßen, doch da hatte Tal schon das riesige geschwungene Schwert ihres Bruders über den Kopf gehoben und stürmte mit einem Hexenfluch auf den Amytoren zu. Ughtred, der eine Sekunde länger gezögert hatte, erwachte aus seiner Starre und stürmte nun ebenfalls los und Kyon schluckte seine Befehle herunter und hob stattdessen den Kriegsbogen und entließ fast ohne zu zielen einen seiner Pfeile. Das Ding war so gewaltig, er konnte praktisch nicht vorbeischießen.

Der Pfeil grub sich knapp unterhalb eines der Sehorgane in das stinkende Fell des krankhaften Wesens, doch sein zweites Geschoss bohrte sich mitten ins Auge und explodierte dort in einem Feuerregen. Er hatte nicht mehr viele Feuer- oder Explosionsgeschosse aber er wollte diesen Amytoren so schnell wie möglich vernichten und kein Risiko eingehen.

Leider schien der Verlust des Auges der Bestie weniger auszumachen, als er gehofft hatte. Tal schlug wie eine Berserkerin auf das Wesen ein, und es schien, als wolle sie eins der langen Vorderbeine mit grober Gewalt abhacken, aber als auf der anderen Seite Ughtred mit der Axt und der Phani mit seinem Langschwert zuschlugen, machte der Amytor eine ruckhafte Bewegung und traf die Hexe unglücklich mit einem seiner Stoßzähne. Sie wurde vom Boden gehoben und flog in den Matsch. Doch sie war zäher, als sie aussah und rollte sich ab. Über und über mit dem schleimigen Blut des Monsters besudelt, richtete sie sich auf, hob erneut ihre kreuzförmige Waffe und stürmte erneut in den Kampf. 

Pfeil um Pfeil schoss Kyon auf das Gesicht ihres Gegners und Ughtred hackte immer wieder nach der mittlerweile blind umhertappenden Pfote. Neben ihm stach Odugme sein Schwert in die Flanke der Bestie und drehte die Klinge, um eine möglichst große Öffnung zu schaffen. 

Der Kampf dauerte lang und verlangte Kyon, Tal, Ughtred und Odugme alles ab. Zwei Mal wurde der Nygh hart von einer der gigantischen Pfoten des schleimigen Amytoren getroffen und durch die Luft geschleudert und auch der Phani ging nicht ohne Verletzungen aus, aber Kyons Pfeile, die beißenden Smavariklingen und Ughtreds scharfe Axt fraßen, stachen und hackten immer wieder in das wässrige, wunde Fleisch, bis das riesige Ding endlich stöhnend in sich zusammensackte. Stinkende Gase und eine schier unglaubliche Menge verseuchten Blutes entwichen aus dem struppigen Körper, bis das grauenerregende Gesicht schließlich zu Boden sank und im Schleim seiner eigenen Ausflüsse blubbernd den Geist aufgab. 

Ughtred hackte ein letztes Mal erschöpft auf die Flanke des Toten Wesens ein und Tal zog das Kreuzschwert aus dem Kadaver um es hoch über den Kopf zu schwingen, aber Kyon brüllte über ihr Wüten hinweg: »Tot … Es ist tot!«

Da kehrte Ruhe an diesem scheußlichen Ort ein. Eine seltsame, nach Unrat und Tod stinkende Stille senkte sich über die Kuhle mit dem toten Amytoren. Leise entstand ein Sog und plötzlich riss die Realität dicht neben Kyon und entzündete die Luft in magentafarbenem Licht. Teile des toten Wesens wurden von diesem Subraum riss angezogen und etwas traf Kyon und schleuderte ihn gegen einen der Morschen Bäume. Ughtred schrie und Tal rannte los, aber das Subraumchaos um den Amytoren machte ein Vorankommen praktisch unmöglich. Die junge Hexe ließ ihr Schwert fallen und stemmte sich gegen den Strom der elementaren Kräfte, schaffte es aber nicht, Kyon zu erreichen. Ein Ast hatte ihn getroffen und an der Seite durchbohrt. Er wand sich im Schmerz und dann lag er plötzlich still als um ihn herum das Wüten der Anderwelt große Teile ihres Dieners in sich aufsog.

Und dann, ganz plötzlich, war wieder das Wispern des Windes in den Schilfrohren zu hören. Es war vorbei. Der durch den Tod des Amytoren verursachte Riss zur Anderwelt hatte sich wie eine alte Wunde geschossen und nur den Schleim und Gestank des Kadavers zurückgelassen. Das eigentliche Schrecken, sein Geist, war fort.

Tal stürzte zu Kyon und auch Ughtred kämpfte sich durch den Dreck zu dem Barden. Dieser lag auf der Seite und keuchte. Die Wunde an seiner Seite sah böse aus und Tal wagte nicht den schmutzigen Ast herauszuziehen. Sie suchte ihre Tasche und fand sie am Rande des Monsterkraters im Schmutz. Schnell beförderte sie eine Salbe hervor und Ughtred zog das Leder von Kyons Rüstung nach oben. Der Silberwolf stöhnte vor schmerzen und rollte mit den Augen.

»Warum ich? War ich nicht weit genug weg? Warum?« fluchte er und funkelte den Nygh vorwurfsvoll an. 

Als Tal ihre Salbe aufgetragen hatte, breitete sich wohltuende Wärme in seinem Körper aus und als die Schmerzen wichen, entfernte Tal auch den Splitter aus seinem Fleisch.

Ughtred half ihm vorsichtig auf und stützte ihn, aber Kyon war gereizt und wandte sich ab.

»Was bei allen Höllen war das denn jetzt?« fragte er die Luft um sich herum, aber Tal sah zu den Überresten des Monsters hinüber bei denen Odugme stehengeblieben war und ab und an mit der Spitze seines Schwertes testete, ob der Amytor auch wirklich tot war.

Sie sagte: »Es war wie alle Amytoren irgendwie eine Art Mutation, aber ich schätze es handelte sich um etwas, dass wir Hexen Shurid`Aiydach nennen. Es ist selten … zum Glück.«

»Allerdings!« sagte Ughtred und versuchte seine Axt an dem Baum abzuwischen, gegen den der Barde geprallt war. Dann trat er zu Tal und sagte erstaunlich ruhig: »Lasst uns diesen scheußlichen Ort verlassen. Die Natur wird ihn heilen. Hier können eure Kräfte nichts mehr bewirken Frau Hexe.«

Auf ihrem Rückweg zum See sprachen sie kein Wort. Hin und wieder waren die kehligen Schreie von Wasservögeln, die instinktiv zu wissen schienen, dass der Wald nun wieder ihnen gehörte aus der Ferne zu hören. Sie kamen gut voran und Ughtred bot Kyon an ihn zu stützen, aber der sture Silberwolf lehnte natürlich ab. So begnügte der Nygh sich damit, die Tragetaschen des Bogenschützen zu übernehmen, was dieser unkommentiert zuließ.

 

Die Freude der Arunen war kaum zu beschreiben. Sie hörten sich die Geschichte um das Grauen im Wald einmal an, dann sprangen sie wie junge Wölfe am Strand herum, zappelten, glitten ins Wasser und vollführten die verrücktesten Kapriolen. Selbst die gesetzte Anführerin des kleinen Volkes zeigte sich als wilde Wassertänzerin und schrie ihre Freude in animalischer Unkontrolliertheit heraus. Es dauerte eine ganze Weile bis die Arunen sich beruhigten und wieder um ihre Retter kümmern konnten.

Dennoch waren sie wenig besorgt um Kyons Verletzung. Maran, der älteste der drei Männer aus der kleinen Gruppe um Bleik, war Heiler und untersuchte Kyon mit einer Art magischen Kristall, mit dessen Hilfe er offenbar durch Haut und Knochen in den Körper des Verletzten sehen konnte. Er drückte etwas in die Wunde und dann versuchte er eine Rippe anzuheben. Freundlich schüttelte er den Kopf und gab damit zum Ausdruck, dass die Wund heilen würde. Dennoch kümmerte sich Tal um Kyon, wusch die Wunde mehrfach aus und verabreichte ihm Hexenmedizin, um eine Entzündung oder Vergiftung auszuschließen.

Es vergingen nur wenige Stunden, da ging es dem Barden besser und er erhob sich von seinem Lager. Es war dunkel, aber die Seebewohner feierten noch am Strand. Sie hatten große Lagerfeuer errichtet, deren Spiegelungen die schwarze Seeoberfläche erhellten.

Kyon machte einige Schritte von Tals Zelt weg. Er hatte nun seit längerem nicht im Zelt übernachtet, wollte sie aber auch nicht wecken. Er sehnte sich nach Shishney, seinem Bett und den Annehmlichkeiten seiner Heimat.

Ughtred, der noch bei den Lopen gewesen war, sah mit an, wie Kyons Silhouette sich aus den Schatten ihres Lagers löste und langsam den Schilfwald hinter sich ließ. Wenige Stunden später kroch Tal aus dem kleinen Zelt und suchte nach dem Barden. Der Nygh saß am Feuer und beobachtete sie schweigsam. Als sie Kyon nicht fand, kam sie ans Feuer und blieb über Ughtred stehen. Sie hatte sich nur eine der Decken um die Schultern gelegt und er sah ihr an, dass ihr fröstelte. Ihre nackten Beine waren schmutzig und am liebsten hätte er etwas gesagt, aber dann sah er zu ihren Haaren auf und lächelte matt.

»Er ist wieder einmal gegangen«, sagte er ruhig und schob einen Ast ins Feuer. Das feuchte Holz knackte laut und Funken stiegen in den kalten Frühlingshimmel auf. Tal wandte sich in Richtung des Waldes und trat dann ein Stück vom Feuer weg. Sie bückte sich und Ughtred stand auf und kam zu ihr. Er deutete auf einen kleinen Schmutzhügel und ging hin. Als er sich bückte schüttelte er den Kopf und griff in den Sand. Er wandte sich wieder der Hexe zu und zeigte ihr ein paar Knöchelchen. Dann deutete er auf den Boden und sie versuchte zu erkennen was er ihr sagen wollte.

Als sie mit den schmalen Schultern zuckte, sagte er: »Er hat sich wieder verwandelt. Da sind kleine Wolfsspuren, die vom Lager über den Sand zum Waldrand führen. Sie ist aus ihm heraus, eindeutig. Da vorne hören die Spuren auf. Sie schwebt wieder.«

»Was werden die Arunen sagen?«

Der Nygh hob die Schultern und rieb sich über das Zeichen auf seiner Stirn. Dann brummte er leise: »Sie wissen genau, was ihr seid, Frau Hexe. Sie wissen welcher Art ihr angehört und ich denke, wir wollen gar nicht genau wissen, welcher Art sie angehören.«

Tal nickte und sagte: »Brechen wir möglichst bald auf. Ich dachte, wir müssen warten, bis er gesund ist, aber jetzt hat ja sie wieder die Führung übernommen. Sie zu suchen ist utopisch. Wir bleiben auf unserer verabredeten Route. Hoffentlich findet er uns.«

Die Verabschiedung von den Seebewohnern verlief kurz und schmerzlos. Bleik und ihre Mutter Etivel fragten nach dem Barden, beließen es aber dabei, als Tal ihnen erklärte, er wäre nicht der Typ für lange Verabschiedungen und darum schon früher aufgebrochen. Für die Arunen zählte Odugme zu ihren Gästen, also war es nicht verwunderlich, als die Anführerin ihrer Tochter bedeutete, den Helfern je einen rohen Zauberstein zu überreichen. Tal nahm die Steine mit Freuden an. Es handelte sich dabei um verschiedene Elementarsteine, die man in Shimwas oder andere Energieträger umwandeln konnte. Sie waren sehr wertvoll. Entweder würde man sie eintauschen, oder etwas noch Wertvolleres aus ihnen erschaffen. Ohne Absprache mit Ughtred verwahrte sie die Geschenke in einer ihrer Satteltaschen und verabschiedete sich nun ihrerseits von der Anführerin und ihren Leuten. Einige der Krieger hatten an Land die Wolfsspuren entdeckt und begannen, das Ufer abzusuchen. Sie hatte kein Interesse an Befragungen oder gar einem Umschwung der Laune am See.

Die Arunen hatten versprochen, die Reisegruppe mit Flößen über den See zu bringen und ihnen damit wenigstens zwei Reisetage zu ersparen.

Die Überfahrt dauerte lange, aber die Flöße waren riesig und der See hatte nur wenig Seegang. Tal und Ughtred konnten sich ausruhen und Etivel leistete ihnen mit Bleik und einigen ihrer nächsten Stammesmitgliedern Gesellschaft. Sie fragten kein einziges weiteres Mal nach Kyon. Stattdessen versuchten sie so gut es ging, Smalltalk zu betreiben oder sich einfach gegenseitig in Ruhe zu lassen. Das Wetter war schön und nur kurz wurde der Himmel von bleigrauen Wolken verdunkelt, ohne aber Regen hervorzubringen.

Als das Zielufer in Sicht war, sprangen die Arunen ins Wasser und halfen dem Stamm die Flöße zu schieben. Dann landeten sie an und die Lopen sprangen an Land. Jetzt hieß es endgültig, Lebewohl zu sagen. Tal war hin und her gerissen, wie sie nun zu den Seebewohnern stehen sollte. Sie hatten sich an die Abmachungen gehalten, hatten sie sogar belohnt, aber unter anderen Umständen, hätten sie nicht nur die Lopen, sondern auch sie selbst und ihre Gefährten gefressen. Da gab sie sich keinen Illusionen hin. Andererseits war sie eine Smavari und sie war sich sicher, in Shishney würde man für ein Kleid aus Aurunenhaut zweifelsfrei viele Ressourcen aufbieten. So waren die Bewohner dieser Welt. Fressen und gefressen werden – aber war es nicht überall so? Im Kult der Scherbenesser war es nicht unüblich, die eigenen Kinder zu opfern, um Macht und Ansehen zu erlangen. Das Volk der Smavari hatte die Quink erschaffen, um sie als Sklaven ihre Arbeit erledigen zu lassen. Darüber hinaus jedoch wurden an ihnen Experimente durchgeführt und alles von ihnen verwertet, was im täglichen Gebrauch von Nutzen sein konnte. Sie selbst war mehr als einmal dabei gewesen, als ihre Ausbilderinnen ihres Zirkels Quinksklaven zu Forschungszwecken gedemütigt und schwer verletzt hatten. Seltsam, dass sie gerade jetzt darüber nachdachte.

Ihr Blick wanderte zu Ughtred. Der Nygh war anders als die Quink. Nyghs waren stolz und stark. Quink wurden zum Dienen geschaffen. Sie wusste nicht einmal wie die Nyghs entstanden waren. Als Kind dachte sie, alle anderen Wesen wären von ihrem Volk erschaffen worden, bis sie erfuhr, dass die meisten Wesen ganz anders entstanden waren. Den Nyghs sagte man nach, von den Urtitanen abzustammen. Sie sahen gar nicht so aus. Haut und Fleisch anstelle von Stein und Feuer – Nyghs unterschieden sich zwar optisch sehr von den Smavari, aber sie ähnelten ihnen mehr als Gigantischen Wesenheiten aus Vulkanasche und Granitmuskeln.

Andererseits war sich Tal sehr sicher, dass die Nugai, die Schöpfer der Smavari, die Nyghs tatsächlich nicht erschaffen hatten. Dafür waren die kleinen Leute einfach zu bodenständig und altruistisch. Das passte einfach nicht zu ihren eigenen Urmüttern und -vätern.

Sie, Ughtred und Odugme standen am Ufer und winkten den Seebewohnern. Die Flöße entfernten sich langsam. Vom östlichen Horizont her verwandelten die Tagesschwestern die spiegelnde See in glühendes Feuer. Obwohl sie eine ganze Zeit lang auf ihrem Floß geschlafen hatte fühlte sie sich müde und auch wenn sie sich immer wieder einredete, dass Kyon sie schon finden würde, hatte sie Angst sich zu irren. Was wenn er irgendwo da draußen im Wald zu sich kam, verletzt und ohne jegliche Ausrüstung. Ihr Blick wanderte zu der Lope auf die Odugme gerade den Beutel mit Kyons Bogen lud. Er hatte nicht einmal Kleidung. Sie konnte nur hoffen, dass die Wölfin das begriff. Er würde keine drei Tage allein im Wald überleben. Sie selbst würde dies wahrscheinlich nicht. Sie sah zu Ughtred hinüber. Er untersuchte gerade den Huf einer der Lopen und schnitt einen eingeklemmten Stein heraus. Was würden sie ohne ihn machen? Abenteuer bestehen, wie einfach das klang, aber die Wildnis war mehr als ein Abenteuer. Jeder Schritt konnte hier das Ende bedeuten – zumindest für die Smavari. Der Nygh hingegen war derart robust, er wurde von einer Schlange gebissen und die Wunde wurde nicht einmal dick, er aß giftige Beeren und rülpste nicht einmal, er wurde bei absoluter Kälte nass, schlief im Freien und seine Nase färbte sich nicht einmal rot und wenn man ihn dazu brachte eine Wüste zu durchqueren tat er dies mit nacktem Oberkörper und eine Haut verbrannte nicht dabei. Vielleicht war er unter seinem Bart und dem unförmigen Rüstungsmantel, den er mit sich herum schleppte, doch aus Granit und Feuer.

 

Totes Holz von Hyn

Sie lagerten nur wenige Stunden vom Moorath entfernt auf einem kleinen Hügel. Der Boden war sandig, aber trocken und Ughtred briet Wurzeln und Pilze in einer kleinen schwarzen Eisenpfanne. Tal untersuchte Odugmes Implantate und gab ihm weitere Medizin, welche die Heilung zu einem Abschluss bringen sollte. Das Wetter war immer noch gut, aber sie hatten beschlossen, den Lopen und sich selbst noch eine Ruhepause zu gönnen. Insgeheim wussten sie aber beide, dass sie in Wahrheit hier warteten. Sie warteten und gaben Kyon die Möglichkeit aufzuholen, wenn er noch im Süden des Sees war. Im Grunde war diese Hoffnung mehr oder weniger utopisch, denn wenn er tatsächlich dort zu sich gekommen war, würde er es niemals schaffen aufzuholen. Im besten Fall würde er zu den Arunen zurückkehren und sie um Hilfe bitten. Aber morgen wollte sie mit den Lopen aufbrechen und kein Fußgänger konnte es mit ihrem schnellen Lauf aufnehmen.

 

Am Morgen zogen mehrere Gruppen von großen Vögeln über das Land und erfüllten die Luft mit ihren metallenen Schreien. Ughtred schälte sich aus seinen Decken und blickte in den Himmel. Er hob die Hand an seine Stirn, um die Augen zu überschatten, aber dann bemerkte er, dass es noch gar nicht so hell war und so vollendete er die Bewegung zu einem Winken. Die Vögel winkten mit ihren Flügeln zurück und flogen weiter in Richtung Nordost. Grüßt mir Korezuul, sagte er in Gedanken und wandte sich dann Odugme zu. Der Riese hatte es sich angewöhnt, mit Ughtred aufzustehen und zu tun, was es eben zu tun gab. Er sammelte Reisig für ein schnelles Feuer und begann schon damit, die Lopen zusammen zu rufen. Ughtred blickt kurz durch den offenen Zelteingang. Die Hexe lag nackt und verdreht in dem winzigen Raum. Sie hatte ihre Felle und Decken zu einem Knoten verwirrt und den eigenen Körper darum herum gewunden. Wie eine Schlange, dachte der Nygh. Eine Schlange mit Hüften und Brüsten. Er ging zum Feuer zurück und setzte Brühe auf.

Eine Stunde später waren sie unterwegs. Die Lopen hatten eine klare Vorstellung von der Richtung, aber auch Tal kannte sich mit diesen Dingen gut aus. Es hatte zu ihrer Ausbildung gehört, zu erlernen, wie man anhand der Sonnen, der Sterne und Zeichen innerhalb der lebendigen Natur die Himmelsrichtungen so exakt bestimmte, dass man stets sein Ziel fand. Der Nygh schien dies auch zu können, aber nicht ganz so gut wie sie.

Sie sprachen nicht. Ughtred ritt auf einer der großen Gabellopen vor, während Tal auf Wedelohr bei den anderen blieb und sich wenig um die Umgebung kümmerte. Sie war sich ihrer Sache schließlich sicher.

Odugme hatte sich ans Reiten gewöhnt und machte nun eine weit bessere Figur als noch vor Tagen. Aufrecht stand er mehr in den Eisen, als dass er wie sie im Sattel kauerte. Dennoch ging er mit dem Rhythmus des Tieres und schien weder die Lope noch seinen eigenen Rücken mit seiner Art des Reitens zu belasten.

Obwohl das Wetter sich zusehends verschlechterte und ein eisiger Wind vom Norden über die tundrahafte Landschaft fegte, kamen sie gut voran. Die Lopen stemmten sich gegen den Regen und nur Tal fluchte immer wieder, wenn eine kräftige Böe ihr Wasser ins Gesicht klatschte. Da sie ohne Kyon nicht auf die Jagd gingen, mussten sie sich vom mitgebrachten Proviant ernähren, aber da dieser verhältnismäßig hochwertig war, machte es ihnen nichts aus. Außerdem sammelte Ughtred bei jeder Pause frische Kräuter und Pilze und reicherte damit ihr Essen an. Auch für Tal war dies sehr hilfreich, denn sie stockte damit ihr Sammelsurium an alchemistischen Zutaten auf. Schließlich war dies der Hauptzweck des Abstechers in die Wildnis Kisadmurs. 

»Er wird uns finden«, sagte Ughtred über das prasselnde Feuer während einer Rast.

»Vielleicht war es ein Fehler, hier herauszukommen«, antwortete die Hexe und nahm einen Schluck von Ughtreds Brühe. Mit verzogenem Gesicht schluckte sie es herunter. Es schmeckte salzig und obwohl sie wusste, dass der Nygh ihnen zu Gunsten kein Salz im Essen verwendete, ärgerte sie sich über ihn. Bestimmt waren es ihre Tränen, die für den salzigen Geschmack verantwortlich waren. Sie weinte nicht, zumindest nicht äußerlich. Konnten Tränen in ihrem Inneren die Brühe versalzen?

 

Zwei Tage reisten sie nach Westen durch den Wald und über dichtes Heidekraut und nasse Moosflächen. Je weiter sie kamen, umso nasser schien sich der Grund zu gestalten. Schließlich erreichten sie den eigentlichen Waldrand und verließen die schwarzen Gründe der kisadmurischen Wälder. Hier wurde das Land immer flacher, aber selbst auf Hügeln war im Westen noch keine Spur der großen Wüste zu erkennen.

Eines Tages stieg das Land langsam an und sie blickten auf die Kristallkarte. Hier war Hügelland eingezeichnet. Sie waren in jedem Fall auf dem richtigen Weg. Ughtred ritt wie fast immer in letzte Zeit voran und hob, Kyon imitierend die Hand zur Faust, um eine Rast anzuberaunen. Doch dann stieg er von seiner Lope und ging ein paar Schritte weiter. Was war das?

Vor ihm hatte sich etwas bewegt. Er ging in die Richtung und zog mit einer Hand seine beiden Wurfbeile aus dem Gürtel. Hinter sich hörte er das kalte Blöken der Lopen und Tal, die eine Frage stellte, aber ihre Worte wurden vom Wind davongetragen. Er ging auf die Bewegung zu. 

Eine Handvoll Obstbäumchen verdeckte ihm die Sicht. Als er etwa fünfzig Schritte von den anderen entfernt zwischen den kleinen vereinzelten Bäumen ankam, sah er sie. Mit gesträubtem Fell und flammenden grünen Augen stierte sie ihm entgegen. Es war früh am Morgen und die Wölfin schien durchsichtig und zerbrechlich wie dünnes grünes Glas. Als er sich vorsichtig näherte und eine Hand ausstreckte, zeigte sie ihre Zähne, krümmte sich aber sofort knurrend zusammen. Was hatte sie?

Plötzlich machte sie einen Buckel, zog den Magen ein und hustete brennenden Schleim hervor und im selben Moment begann das Chaos seinen Lauf zu nehmen. Ihre Flanke brach auf und aus ihrem unnatürlich weit aufgerissenen und brechenden Rachen streckte sich eine schmale weiße Hand. Der dürre Leib brach auf, kehrte sich von innen nach außen und brachte Stück für Stück den Mann hervor. 

Ughtreds Stirn brannte und er griff sich an das Mahl. Seine Zähne schrammten schmerzhaft übereinander und er musste den Impuls zu Schreien unterdrücken. In seinen Eingeweiden wand sich dasselbe Chaos wie vor ihm im sandigen Grund. Doch die Strahlen der Tagesschwestern strichen vom Westen her über die Szene und machten klar, dass es immer eine noch schrecklichere Macht im Universum gab. Dann war es vorbei.

Weit entfernt schrie ein Tier und holte Ughtred aus seiner Erstarrung. Er machte einen Schritt nach vorn und dann noch einen und schließlich befreite er sich aus dem Grauen und sank neben Kyon zu Boden. Er strich ihm die dunklen, schleimig nassen Haare aus der Stirn und hob eins der Lieder, um ich seine Augen anzusehen. Sie waren gelb und wirkten raubtierhafter denn je.

Dann erhob sich der Nygh und packte den nackten Barden am Arm, um ihn auf seinen Rücken zu ziehen. Tief durchatmend stapfte er mit dem Freund auf dem Rücken in Richtung der anderen. Genau das war es. Die Wölfin hatte sie nicht finden müssen, sie war immer bei ihnen gewesen und ja, dieser sture dürre Monstermann war sein Freund.

 

Tal reinigte Kyon so gut es ging mit Wasser und Ughtred wartete nur darauf, dass sie noch begann, ihn sauber zu lecken. Kopfschüttelnd lud er die Lopen ab und hielt Odugme dazu an, ihm zu helfen. Sie würden hier rasten und Kyon zu Kräften kommen lassen.

Etwas später war er auch schon zu sich gekommen und erinnerte sich, wie bei den anderen Malen, als die grüne Dornenwölfin die Kontrolle über ihr gemeinsames Dasein übernommen hatte, an nichts. Ughtred holte ein Fingerknöchelchen hervor und zeigte es ihm, aber Tal schüttelte den Kopf und so nahm er es einfach wieder weg. 

Kyon stellte keine Fragen. Er wusste wohl, dass etwas nicht stimmte, aber er erinnerte sich wirklich nicht. Um so schlimmer war seine Verwirrung über den Fortgang der Reise. Schließlich hatte er keine Ahnung, wie er hierher gekommen war. Die beiden Anderen versuchten ihn so behutsam wie möglich auf Stand zu setzen, merkten aber, dass ihn das Ganze nur nervte und er war nicht der Mann, sich mit eigenen Problemen auseinanderzusetzen. Also ließen sie ihn in Ruhe und gaben ihm seine Sachen zurück, die sie in den Packsätteln verstaut hatten.

Als am nächsten Morgen ein Vogelschwarm über das Lager rauschte, war er es, der die anderen weckte und zum Aufbruch trieb. Angekleidet und stolz, deutete er nach Westen und rief: »Wir haben nicht den ganzen Frühling Zeit. Brechen wir endlich auf!«

 

Mehrere Tage und Nächte verstrichen und die Hügellandschaft verschaffte ihnen schließlich endlich einen Blick auf die Ebene dahinter und den gelblichen Horizont. Niemand musste sagen, um was es sich bei diesem schmutzigen geraden Strich in der Ferne handelte. Zu gut erinnerten sie sich an Draiyn Andiled und die Strapazen, die dieses tote Land ihnen auferlegt hatte. Das Flachland dazwischen war schwer zu deuten. Es sah grüner als die Hügel aus, die sie gerade durchquerten, hatte aber einen seltsam kränklich rötlichen Schimmer, der sie alle beunruhigte und an den struppigen Amytoren im Arunenwald erinnerte.

»Wann müssen wir das Birkeds Wasser trinken?« wollte Kyon wissen und Tal schüttelte den Kopf und sagte: »Denke, das werden wir merken. Hier in jedem Fall noch nicht. Fraglich ist, ob der Nygh überhaupt etwas davon braucht. Wir werden es sehen.«

Der Nygh räusperte sich und schüttelte den Kopf. Er vertraute auf seine natürliche Widerstandskraft. 

Sie ritten noch über einen Tag aus den Hügeln in das angrenzende Moor hinunter, aber je tiefer sie kamen, umso deutlicher wurde, dass sie Hyn erreicht hatten. Tals und Kyons Kehlen kratzten und schließlich konnten sie nur noch mit einem Tuch vor den Mündern atmen. Ughtred schlug vor, die Tücher mit Urin zu benetzen, um ihre Durchlässigkeit zu vermindern, aber die beiden Silberwölfe lehnten ab. Da sie ihn offensichtlich falsch verstanden hatten, erklärte er, dass sie natürlich ihr eigenes Wasser nutzen sollten und nicht seins, aber sie lehnten dennoch ab.

Es war noch früh genug und so entschieden sie, keine Rast zu  machen und gleich nach dem gesuchten Totholz zu suchen. Kyon fragte, woran man das Zeug erkennen solle und Tal sagte, sie würde es erkennen.

»Hilfreich wie immer«, murmelte der Barde genervt in seinen Mundschutz.

Der Boden wurde immer karger und schließlich war der Unterschied Hyns zum Rest der kisadmurischen Plagensümpfe deutlich zu erkennen. Die Pfützen waren mit gelblichem Schleim gefüllt und die wenigen Flechten und verkümmerten Büsche hatten eine kränklich rote Farbe. Tal fand einen toten Raubvogel mit ausgefallenem Gefieder und verätztem Bauchfleisch. 

Da entschieden sie, die Lopen ein Stück zurück bis an den Rand der Hügel zu schicken und Odugme sollte auf sie aufpassen. Es hatte keinen Sinn die Tiere und den Phani zu gefährden, denn weder die einen, noch der andere würde das gesuchte Holz erkennen.

Zu dritt stapften sie durch den schleimigen Sumpf und versuchten nicht zu atmen. Ughtred verspürte das Kratzen im Hals auch, aber er schluckte es herunter und sein Zustand schien stabil. Ganz anders verhielt es sich mit den Silberwölfen. Zuerst waren es die Ränder ihrer mandelförmigen Augen, die sich rot färbten und entzündet juckten. Dann nahm ihre Haut einen kränklichen Farbton an und bekam rötliche Pusteln. Tal hielt an und winkte Kyon zu sich. Sie beförderte die Kürbisflasche mit dem Wasser des Schrats hervor und sagte: »Trinkt!«

Kyon nahm einen tiefen Schluck und gab Tal die Flasche zurück, worauf auch sie trank. Dann hielt die Hexe das Zeug dem Nygh entgegen, aber dieser füllte sich nur ein wenig davon in seinen eigenen Trinkbeutel. Er wollte sicher gehen und einen Rest davon übrig haben, falls Tal oder Kyon ihn brauchten. Auf die Vernunft der Silberwölfe konnte er sich nicht verlassen, also versuchte er, für sie mitzudenken. 

Das Wundermittel des Schrates wirkte fast unmittelbar. Kaum war es Tal und Kyon, die Kehlen heruntergeronnen, fühlten sie sich etwas besser und konnten wieder atmen. 

Hyn hatte etwas ganz und gar unwirkliches. Längst war die Wüste am Horizont beißenden Nebeln gewichen und es war schwer sich in dem trostlosen Nass ohne jeglichen Lebens zurechtzufinden. Immer wieder prüfte Tal die kränklichen dünnen Bäumchen, doch keiner von ihnen wies die gesuchten alchemistischen Merkmale auf. Der Boden wurde immer nasser, aber es schien sich nicht um normale Tümpel oder die Nässe eines typischen Sumpfes zu handeln. Vielmehr waren die Senken von einem gelben Schleim gefüllt, an dessen Rändern rötliche Bläschen aufstiegen und die Luft mit Gift erfüllten. Diese Luft machte den Silberwölfen die Haare stumpf und jeder von ihnen wusste, ohne das Mittel des Schrates wären sie längst tot. Nur Ughtred schienen die Dämpfe unbelastet zu lassen. Er schmeckte zwar die säuerliche Luft und hustete das eine um das andere Mal, aber weder veränderte sich seine Hautfarbe, noch seine Haltung.

Die Idee war gewesen, schnell die Landesgrenze zu überschreiten, ein wenig Holz aufzunehmen und das Weite zu suchen, doch bei jedem morschen Brocken, den Kyon aufhob und der Hexe zeigte, schüttelte diese den Kopf. Sie kannte das Tote Holz von Hin aus den Hexenbüchern. Es war schwarz und weit weniger vermodert. Es musste von bestimmten Bäumen stammen und diese hatten sie eindeutig noch nicht gefunden. Kyon hatte die Hoffnung geäußert, möglichst viel des Zauberholzes zu bergen, denn er sah immer noch die Notwendigkeit, die Reisekasse zu füllen, aber langsam schwand ihm die Hoffnung. Wie lange stolperten sie nun schon durch diese Gifthölle und viel wichtiger, wie lange würde die Wirkung des Trankes anhalten?

Als mehr als eine Stunde vergangen war, streckte er sich und wollte gerade etwas zu Tal sagen, als er eine Bewegung am Rande seiner Wahrnehmungsgrenze bemerkte. Erstarrt konzentrierte er sich und erkannte, dass sie seit längerem nicht mehr allein waren. Was auch immer hier lauerte, was hier überleben konnte, war ganz sicher nichts Freundliches.

Er deutete in die Richtung und da war es wieder. Eine rasche Bewegung von einem schleimigen Tümpel zum anderen. Es waren viele und sie würden bald kommen.

Schnell ließ er den Bogen in seine Hand gleiten und machte einen Schritt zu Tal hinüber, die gerade zum gefühlt tausendsten Mal ein Stück morschen Holzes untersuchte und es wieder fallen ließ. Ihr langer Rock war über und über mit gelbem Schleim besudelt.

»Irgend etwas belauert uns«, sagte er schroff und deutete mit dem spitzen Kinn in die Richtung, in der er die letzte Bewegung wahrgenommen hatte.

Sie kniff die Augen zusammen, erkannte aber im Nebel nichts. Doch sie hatte gelernt, Kyon zu vertrauen. Wenn seine Augen etwas sahen, dann war es da, auch wenn sie es nicht sehen konnte. Vorsichtig nahm sie das schwere Schwert von ihrem Rücken und löste das Trageband ihrer großen Tasche. Ughtred hatte die beiden beobachtet und auch er legte sofort seine Tasche ab. Er starrte durch die wabernden Dämpfe, konnte aber ebenfalls nichts erkennen.

Plötzlich zog Kyon die silberne Anderweltwaffe, die er in der Gruft unter Ang`Rin gefunden hatte, aus ihrem Holster an seiner Hüfte, spannte einen winzigen Hahn an ihrem Griff und hielt sie hoch über den Kopf. Als er den Abzug drückte, erscholl ein ohrenbetäubender Knall über den Giftsumpf und alle Bewegung erstarb.

»Das wird uns noch ein wenig Zeit verschaffen«, sagte Kyon und schob die Waffe zurück ins Holster.

Die beiden anderen hoben ihre Sachen auf. Doch die Stimmung war denkbar schlechter geworden. Kyon hatte recht. Wie lange würde sich etwas erschrecken lassen, dass in diesem Land des Grauens hauste?

Dennoch verschaffte ihnen der Knall fast eine Stunde Ruhe. Gerade als Kyon hoffte, die Bewohner Hyns doch ganz und gar vertrieben zu haben, sah er erneut etwas aus der Brühe kriechen und diesmal ging alles sehr schnell.

Keine zwanzig Schritte vor ihm erhoben sich zwei buckelige Leiber und stießen ein fürchterliches Quieken aus. Die Wesen sahen wie die Parodien toter Riesenratten aus und genau das waren sie auch.

»Urithi`don, untote Ratten«, rief er und deutete links vor sich, aber schon erschienen etwas weiter und auf ihrer rechten Flanke fünf weitere der schrecklichen Wesen. Mehrere von ihnen waren fast so groß wie der Nygh und schienen trotz ihres unnatürlichen Zustandes kräftig genug zu sein, um einen Arm abzubeißen. Kyon konzentrierte sich und blickte in das feinstoffliche Gewirke vor seinem Geist und griff ohne weiteres Zögern hinein. Er sah rechts vor sich Tal, die offenbar ebenfalls in die Membran griff, aber dann fand er die Fäden, spürte das Fell und die Zähne und rief die Wölfin zu sich. Fast träge schälte sich der Schemen aus der Anderwelt und materialisierte sich als großer grauer Geisterwolf. Das Wesen wurde fester, blieb aber durchsichtig und dann stürmte es auf die ihm am nächsten befindliche Ratte los. 

Zwei der Bestien hatten binnen von Sekunden Ughtred erreicht. Ihr struppiges Fell von ihrem eigenen Blut besudelt und wurde von schwärenden Wunden unterbrochen. Dennoch schienen sie agil zu sein und stürzten sich gierig auf den Nygh. Mit Schrecken musste Kyon mit ansehen, wie Ughtred immer wieder mit dem Kurzschwert aus Undorn auf eins der Monster einhackte während das zweite sich in seine Rüstung verbiss. Der Geisterwolf griff eine weitere Urithiˋdon hinter den Beiden an und Kyon zog einen seiner wertvollsten Pfeile, zielte und schoss auf eins der scheußlichen Wesen. Pfeifend traf der Pfeil sein Ziel, doch anstelle sich in das modrige Fleisch zu bohren, riss er eine feine violette Spur in den Äther und erzeugte einen Vortexriss in der Realität. Das getroffene Monster wurde kurzer Hand auf die andere Seite gerissen und verschwand auf nimmer Wiedersehen. Ohne zu zögern befahl Kyon einen weiteren Pfeil auf die Sehne und schoss. Diesmal erzeugte der Pfeil einen grellen Lichtbogen, der zuerst eine der Ratten traf und dann auf eine zweite übersprang. Beide Wesen brannten und krümmten sich zusammen.

Unterdessen stürmte Tal voran und sprang über einen kleinen Bach aus gelbem Schleim. Sie hob die Hand und streckte ihr Schwert wie eine Antenne weit nach oben und rief eine Beschwörungsformel und erzeugte damit einen breiten, kaum sichtbaren, aber praktisch von Seiten der Ratten vor ihr, undurchdringbaren psionischen Schild. In vollem Lauf prallten zwei der Wesen dagegen.

Die Hexe schrie: »Lauft, ihr Narren« und stürmte weiter voran. Als sie ihren eigenen Schild durchdrang, schlug sie nach einer der am Boden liegenden Wesen, doch dieses rollte sich zur Seite und sprang sie sofort an. 

Ughtred kämpfte verzweifelt gegen die zweite Ratte. Seine Äxte glitten am nassen Fell ab, aber die langen, scharfen Zähne drangen auch nicht durch das feste Leder seines Rüstzeugs; zumindest nicht bis zu seiner Haut. Die Rüstung selbst jedoch, würde nicht ewig halten. Schon baumelte eine der Lederplatten an ihrer Aufhängung und behinderte ihn mehr, als sie ihn schützte. Fluchend drosch er auf die Ratte ein, erwischte sie aber wieder nicht. Er schlug und trat, aber das Ding war einfach viel zu flink und biss ihn immer wieder.

Irgendwo riss Kyons Geisterwolf den Geist einer Ratte aus ihrem fauligen Leib. Ein seltsam hohes Fiepen erfüllte die Luft, als der Körper zum Stehen kam und sich nicht mehr rührte, während deutlich zu sehen war, wie der psionische Wolf den Geist zerfetzte. Kyon griff erneut durch die Membran, konzentrierte sich und rief so laut er konnte den Namen eines weiteren Wolfes. Er hatte noch nie zuvor zwei Wesen beschworen und fürchtete, nicht genügend Kraft aufzubringen, aber er irrte sich. Hohl knurrend antwortete ihm die Geisterkreatur von der anderen Seite und drängte wild und ungestüm herüber.

Kyon deutete wortlos durch Tals Schild auf einen Pulk aus vier weiteren Monstern und der Wolf rannte los.

Immer noch kämpfte Ughtred verzweifelt gegen seinen Gegner und war kurz davor zu unterliegen. Aber auch Tal hatte Probleme die Ratten mit dem Schwert zu treffen. Sie waren einfach zu schnell. Eine falsche Bewegung und sie verlor ihre Klinge. In weitem Bogen flog das Kreuzschwert durch die Luft und hinterließ die Hexe unbewaffnet. Tal zögerte nicht, griff in ihre Tasche und beförderte eines der letzten Stückchen des Totensüß hervor. Ungezielt warf sie es zwischen die Bestien und sah mit an, wie eine der größeren Ratten sich auf eine kleinere stürzte. Kyon war ein ganzes Stück entfernt, sah aber das Ergebnis und griff ebenfalls in seine Tasche. Er warf seinen Brocken im hohen Bogen über den psionischen Schild, der ihn vor Angriffen aus Tals Richtung schützte und ließ dann sofort einen weiteren Pfeil auf seine Sehne gleiten. Mit einer geschickten Drehung zielte er auf die Ratte vor Ughtred, verfehlte sie aber. Das wars, Herr Dieb, dachte er und wandte sich zur Flucht. 

Irgendwo schrie Tal. Um sie herum waren vier der Monster und balgten sich um das Totensüß. Kyon schob seinen Körper nun ebenfalls durch den Schild und versuchte Tal beizustehen. Der große neue Geisterwolf hatte einen Geist aus einer der Ratten gerissen und schleuderte ihn hoch in die Luft, sprang hinterher und packte ihn erneut im Nacken. Der Leib des Monsters brach zusammen. Aber es waren hier auf Tals Seite immer noch drei oder vier der Monster. Kyon verschoss noch einen Pfeil und versuchte sich zu orientieren. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Ughtred zu Boden gerissen wurde, aber dann erschien neben ihm plötzlich die Wölfin und riss ihren Rachen auf. Eine Sekunde schien es, als würde das psionische Wesen nun ebenfalls den gebeutelten Nygh attackieren, aber dann stürzte es sich auf die Ratte, die sich in sein Bein verbissen hatte. Binnen eines Augenblicks riss sie am feststofflichen Hals der untoten Kreatur, aber dann zerrte die Wölfin den Geist des Monsters hervor und zerriss ihn mit einem wilden Schütteln des eigenen Kopfes in zwei schemenhafte Teile. Einen Moment später erstarb der Körper der Ratte und gab Ughtred frei. Doch die Wölfin kannte keine Gnade. Ohne zu zögern stürmte sie auf den Pulk der übrigen Monster los, wo ihr riesiger Gefährte wütete.

Ughtred rappelte sich auf und versuchte die anderen zu finden und musste mit ansehen, wie keine zwanzig Schritte vor ihm Kyon von der größten der Ratten angesprungen und wie er selbst zuvor zu Boden gerissen wurde. Das schreckliche Ding hatte ihn unglücklich am Hals erwischt und mit den riesigen Zähnen eine klaffende Wunde zugefügt. Jetzt sprang es seinem Opfer auf die Seite und vergrub erneut die Zähne in seinem Hals. Tal trat neben ihm nach einer weiteren Ratte und dann war der Geisterwolf zur Stelle. Er riss seinen Rachen auf und schien den Geist des Monsters auf Kyon geradezu einzuatmen. In einem Sog aus Wildheit und Gewalt zappelte das Wesen und dann packte der Wolf richtig zu. In einem hohen Bogen sprang er über Kyon und entfernte so den Rattengeist von seinem Herrn. Und nun erreichte auch die Wölfin die kämpfende Gruppe. Sie stürzte sich auf die beiden Gegner bei Tal und riss eine der Ratten zu Boden. Zu zweit wüteten die Wolfsgeister unter den Urithi`don und obsiegten.

Tal stürzte zu Kyon und rutschte mit einem Schenkel unter seinen Oberkörper, um ihn so gut es ging aus dem Schlamm zu heben. Die Wunde an seinem Hals blutete stark und er war nicht mehr bei Bewusstsein und Tal wusste, er würde sterben, wenn sie nicht sofort handelte. Sie riss ihre Tasche aus dem Dreck neben sich und beförderte einen der Tiegel hervor. Schnell drückte sie eine ganze Handvoll einer ihrer Heilpasten auf Kyons Hals und betete, so die Blutung zu stoppen. Hinter ihr wüteten die Wölfe, aber sie hörte das schrille Pfeifen der Monsterratten kaum noch. Sie war nur noch Heilung und Wunde, Schmutz, Blut, Tod und Leben. All ihr Sein wandte sie auf diese Dinge an und dann traf sie eine Entscheidung. Sie würde Kyon hier nicht retten können – unmöglich. Also holte sie ihre Stasetropfen aus der Gürteltasche und verabreichte Kyon einen Tropfen. Sofort erstarb sein Todeskampf, seine Haut wurde wächsern und sein Brustkorb hörte auf, sich gegen den Tod zu wehren. Eine Sekunde dachte Tal, sie hätte ihn verloren, aber dann legte sie ihr Ohr auf seinen Mond und spürte das weit, weit entfernte Leben.

Als Ughtred auf sie zustolperte erstarben hinter ihr die Schreie der Ratten und sie musste sich nicht umdrehen, um die Geisterwölfe zu spüren, die neugierig an sie herangetreten waren, um nach ihrem Herrn zu sehen. Sie würden warten, keine weiteren Urithi`don in seiner Nähe dulden.

»Ist das Totes Holz von Hyn?« Ughtred stolperte auf Tal und Kyon zu und hob einen schwarzen Brocken neben ihr aus dem Schleim. Die Hexe lächelte verzweifelt und nickte dann.

 

Der Weg aus dem Giftsumpf erforderte Opfer. Ughtred hatte zwar einen Beutel mit dem Holz gefüllt, musste aber dafür einen Teil der Ausrüstung zurücklassen. Er entschied sich, den Kriegsbogen des Barden umzuhängen und lud sich dann Kyon auf die Schultern. Trotz seiner Größe wog der Silberwolf kaum etwas und Ughtred konnte ihn leicht tragen. Dennoch machte ihm der Weg zu schaffen. Die schleimigen Pfützen ließen ihn immer wieder einsinken und er verlor zuweilen die Orientierung, denn es war immer noch neblig und das ganze Land schien sich gegen ihn verschworen zu haben. Nach einer Weile ließ er Teile seiner Rüstung fahren, die nur noch an losen Schnüren an ihm hingen.

Kyons Geisterwölfe trotteten noch eine ganze Weile neben ihm her und schnüffelten zuweilen an ihrem Herrn. Doch irgendwann bemerkte Ughtred, dass sich ihre ohnehin durchlässigen Gestalten immer mehr auflösten und schließlich als dünner Nebel in die Anderwelt zurückkehrten. Er meinte noch ein leises Knurren und Heulen gehört zu haben, doch dann waren sie verschwunden.

Tal trug den schweren Sack mit dem Holz und hatte die Führung übernommen. Immer wieder hob sie eine Hand, konzentrierte sich auf ihr Bauchgefühl und versuchte die Richtung zu bestimmen, und trotz ihrer eher schlechten Augen, schien sie sich in dieser Sache nie zu irren. Dennoch dauerte es Stunden, bis sie den Rand der Giftwelt erreichten. Tal rief nach den Lopen als der Nebel sich lichtete, aber sie waren sicher noch ein ganzes Stück von deren Lager entfernt, denn so gut Tal den Rückweg auch gefunden haben mochte, sie traten eindeutig an einem anderen Ort aus Hyn heraus, als an dem sie es betreten hatten.

Ughtred ging einen kleinen Hügel hinauf und als er den ersten einigermaßen trockenen Boden unter den Füßen spürte, ließ er Kyon von seinen Schultern. Er hatte ihn Stunde um Stunde getragen und kein einziges Mal abgelegt. Jetzt schmerzten seine Schultern und sein Rücken war taub. Aber anstelle sich hinzusezten, wandte er sich um und machte Anstalten, nach Hyn zurückzukehren.

Tal sah ihn an und verstand zuerst nicht, was er vorhatte. Als er aber wortlos in den Nebel treten wollte, bekam sie es mit der Angst zu tun. Hatte dieses Land seinen Geist vernebelt und rief ihn nun in den Tod?

»Ughtred, was hast du vor?« rief sie und rechnete gar nicht recht mit einer Antwort. Sie wollte schon aufstehen und ihn niederringen, um seine Seele vor den Geistern des Totenreichs zu retten.

Aber der Nygh wandte sich ihr müde zu und sagte verdrossen: »Ich hole euer Schwert, Frau Hexe. Ihr braucht es doch.«

Tal lächelte matt und hieb sich die Hand vor die Stirn. Dieser gute Nygh. Er war verrückt, aber er war auch gut.

Sie winkte ihn zu sich und er kam zögernd näher.

»Herr Nygh, ihr werdet das Schwer schön bei den Geistern lassen, hört ihr? Es mag wertvoll sein und gut geschmiedet, aber es ist ganz gewiss nicht euer Leben wert. Und hört ihr was ich sage? Euer Leben!« Sie betonte diese beiden Worte und fügte dann hinzu: »Ihr seid ein wahrer Freund und ein Held und von nun an, werde ich euch mit ihr ansprechen, denn man muss sich dies verdienen und wenn ihr es nicht verdient habt, dann wüsste ich nicht wer sonst.«

Ughtred starrte sie mit leerem Blick an. Dann ließ er sich zu Boden sinken und schloss die Augen.

 

Leider war es damit noch nicht zu Ende. Gerade als Tal durchatmen wollte, hustete sie Blut. Ihr Gaumen war offen und die Haut an ihren Händen warf winzige Bläschen. Sie untersuchte sich genauer und musste sich eingestehen, dass die Bisse der Ratten sich schlimmer auszuwirken schienen, als sie zuerst gedacht hatte. Sie diagnostizierte eine hoffentlich milde Form einer Nekrosekrankheit und nahm vorsorglich Medizin zur Immunisierung zu sich. Aber damit war es zweifellos nicht getan, denn sie fühlte sich weiterhin elend. Hinzu kam, dass Kyon ähnliche Symptome zeigte. 

Als die Wirkung der Stase aufhörte und Kyon zu sich zu kommen drohte, versorgte Tal seine Wunden, gab ihm weitere Arzneien und ließ ihn erneut ins Vergessen fallen. Gegen die Nekrose konnte sie im Augenblick wenig unternehmen.

Sie waren weiter gezogen und hatten ihn mit Hilfe seiner eigenen Hängematte auf den Lopen transportiert. Es ging ihm schlecht und Tal hatte immer noch Angst ihn zu verlieren. Sie redeten nicht viel und versuchten einfach Hyn und seine Schrecken hinter sich zu lassen. Erst vier Tagesreisen später wagte es Tal den Verletzten einen längeren Zeitraum ohne Stase zu untersuchen. Sie nähte seine Wunden und säuberte sie erneut und schließlich gelang es ihr, ihn soweit zu stabilisieren, dass sie sich sicher war, dass er sich außer Gefahr befand. Er kam kurz zu sich, erkannte sie auch, hatte aber derart schlimme Schmerzen, dass sie ihn kurzerhand wieder in Stase sinken ließ. Erst weitere drei Tage später sollte er endlich bei Besinnung bleiben.

Das Wetter hatte sich kaum verändert und sie zogen seit Tagen durch einen dichten, sumpfigen Wald. Von ihren Erlebnissen vorsichtig geworden, suchten sie ihre Wege und Lagerplätze mit äußerster Vorsicht aus. Eines Tages, Kyon war bei sich und schaffte es immerhin selbst zu reiten, ließ Ughtred die Lopen anhalten. Ein dünner blauer Rauch stieg vor ihnen in den Himmel auf und er beschloss, sich die Sache zuerst alleine anzusehen. Doch dann schlug Tal vor, sich das Land astral anzusehen. Die Nekrose schwächte sie zwar, aber im Astralraum würden ihre körperlichen Leiden keine Rolle spielen. Gesagt, getan huschte Tals Astralleib durch den Wald, während ihr Körper im Schneidersitz inmitten der Lopen saß. Ughtred sah nervös in Richtung des Rauchs und wartete auf die Rückkehr der Hexe.

Tal schoss durch Bäume und Unterholz und fuhr unbemerkt durch das Lager, in dessen Mitte der Rauch von einem erstaunlich großen Feuer aufstieg. Sie fühlte sich frei. 

Wenigstens dreißig Hobgoblins machten hier ihre Faxen und taten unaussprechliche Dinge. Die astrale Hexe nahm nur wenig Notiz von den Wesen, raste über das Land und suchte nach einer Schutzhütte, die laut Karte zwischen ihnen und Baiyl sein sollte. Sie erinnerte sich an einen weiteren großen See, Waldränder, die Schutzhütte und schließlich Baiyl. Doch dann nahm sie die Eisschlange unter sich war und erkannte, dass sie Baiyl schon erreicht hatte. Sie ließ sich zu ihrem Körper zurückziehen, sah tatsächlich die Strukturen der kleinen Stadt, fand die Schutzhütte aber nicht. Dann zog ihr Körper sie in die Realität zurück und sie erwachte.

»Hobgoblins«, sagte sie und dies, keine Sekunde zu früh. Ughtred deutete in den Wald vor ihnen und tatsächlich hüpften im Unterholz lustig Speere auf und ab. Fast in derselben Sekunde flogen kleine Pfeile durch die Luft, verfehlten aber ihre Ziele. Niemand musste etwas sagen und innerhalb kürzester Zeit war die Flucht angetreten. Eine Auseinandersetzung mit einem hungrigen Stamm wilder Hobgoblins war das Letzte, was sie im Augenblick brauchen konnten.

Zum Glück sahen dies die Lopen ebenso und schafften es, einen perfekt geordneten Rückzug zu organisieren. Binnen einer Minute waren sie sternförmig im Wald verschwunden und trafen sich einige tausend Schritte nordöstlich wieder. Kyon hatte Probleme sich festzuhalten und seine Wunde riss auf und blutete heftig und Tal hatte alle Mühe, nach der Wiedervereinigung die Blutung zu stoppen. Ughtred fluchte leise und winkte zwei Nachzügler unter den Lopen herbei. Er drängte zum Weiterziehen und so versorgte Tal die aufgebrochene Wunde Kyons nur oberflächlich. Sie gab dem Nygh recht. Hobgoblins waren gute Fährtensucher und unglaublich ausdauernd. Es war besser, so viel Distanz wie möglich zu ihnen aufzubauen. Damit hielten sie erst wieder an, als der Morgen graute und sie weit von dem Lager und wahrscheinlich auch von der besagten Schutzhütte entfernt waren. 

Das Land stieg langsam an und Tal war sich sicher, auf dem richtigen Weg zu sein. Wieder kümmerte sie sich um Kyons Wunden und dieser hätte es vorgezogen, wieder in Stase versetzt zu werden, aber sie lehnte ab. Sie musste mit ihren Mitteln haushalten. Wer konnte sagen, was noch alles passieren würde? Wenn sie eins gelernt hatte, dann, dass Abenteuerreisen unberechenbar waren.

Doch sie hatten Glück. Schon zwei Tage später, Kyon ging es deutlich besser, roch Ughtred ein weiteres Lagerfeuer und als er sich vorsichtig anschlich, entdeckte er einen Jäger.

Fayran dan Yariydt, so der Name des Mannes, war mit seiner Hobgobla Zoppet und zwei Lopen hier draußen im Wald auf der Jagd. Etwas später, sie waren schon auf dem Weg nach Baiyl, erzählte der Silberwolf Kyon, neben den er seine Lope gelenkt hatte, dass es immer wieder Probleme mit Fremden in der Stadt gäbe. Kyon hörte gar nicht richtig zu. Erst als der Jäger von der hiesigen Ayn sprach und er deren Galan erwähnte, der es regelmäßig zu mehr als peinlichen Eifersuchtsdramen kommen ließ, horchte er auf. Er war zwar auf dem Weg der Genesung, aber eine Auseinandersetzung mit einem smavarischen Krieger, konnte er sich nicht leisten. Auf diese Art von Ärger konnte er verzichten. Schweigend ritt er neben dem Jäger her und versank in Gedanken.

 

Wenige Stunden später wurde aus dem Wildpfad, dem sie gefolgt waren eine Art schmale Straße durch das Unterholz führte und in der Ferne stieg Rauch als dünnes, helles Blau aus dem Herzen des Waldes auf. Kurz darauf erreichten sie eine Palisadenmauer und das Sträßchen führte zwischen zwei hölzernen Wehrtürmen hindurch. Baiyl sah sowohl von außen als auch von innen trostlos genug aus. Hier im Südwesten gab es nur einfache Lager, mehrere Quinkhäuser und einen Brunnen. Der Schutzwall zum Wald hin konnte nur als erbärmlich bezeichnet werden. Erst als sie ein ganzes Stück in die Stadt eingedrungen waren erschien eine Gruppe von fünf Kriegern. Sie trugen einfache Lederrüstungen mit metallenen Schulterplatten und waren mit Hellebarden, Speeren und gebogenen Kurzschwertern bewaffnet. Da sie keinen smavarischen Anführer zu haben schienen, senkten sie die Köpfe vor den Neuankömmlingen. Der Jäger wischte sie wie lästige Fliegen beiseite und wies den Trupp an sich, in Richtung eines kleinen Platzes zu bewegen. Hier gab es eine verhältnismäßig große, aber dafür wirklich schäbige Kaschemme, deren Namen Totenberg lautete. Anhängig dazu gab es Lopenställe und mehrere Quink, die herbeikamen, um die Tiere zu entladen.

Fayran deutete in Richtung eines höheren Gebäudes. Es handelte sich um eine Art Mühle mit einem anhängigen Stall, einem Wachhaus und einer Art Schmiede. Der höchste Teil des Anwesens war ein Wehrturm, auf dessen Zinnen eine sehr hohe, schlanke und mit Lederplanen verhüllte Konstruktion befestigt war. Kyon tippte auf eine riesige Feuerlanze.

Der Jäger betitelte das Haus als die Edelhand, das einzige bessere Etablissement für smavarische Edelleute vor Ort. Allerdings riet er Kyon, sich als Sliyn in jedem Fall der Ayn von Baiyl vorzustellen. Es war ihr wichtig, Fremden ihre eigene Unterkunft zur Verfügung zu stellen. 

Das Anwesen der Fürstin lag etwas zurückgesetzt auf der gleichen Höhe der Edelhand, aber ein Stück von der Eisschlange entfernt, die hier die Mühle antrieb. Als Kyon begriff, dass es sich bei dem Fluss um die Ejviyslath handelte, machte sein Herz einen kleinen Hüpfer. Er kannte die Eisschlange ein ganzes Leben lang, denn sie versorgte Shishney mit Trinkwasser. Er hatte vorher nie darüber nachgedacht, wohin sie sich nach der Turmstadt schlängelte. Sie jetzt hier draußen in der Wildnis vorzufinden, erfreute ihn in der Tiefe seiner Seele.

Als die Lopen verabschiedet waren und man sich entschieden hatte, der Fürstin aufzuwarten, verließen der Jäger und seine Hobgobla die Gäste. Betreten wandten diese sich in Richtung des Herrenhauses.

Dort angekommen, wunderten sie sich ein wenig über den Zustand des Hauses. Es war wie die Quinkhäuser am Ortsrand gebaut, wies allerdings höhere Decken auf. Die Fassade war schlecht und recht mit Lopendung und Guano weiß getüncht und wies mehrere Risse auf. Es gab schmale Fenster, die immerhin verglast und unversehrt waren. Im oberen der beiden Stockwerke schimmerte grünliches Licht und auf der Rückseite schien es eine Art Terrasse mit einer dunklen Überdachung zu geben. Das eigentliche Dach hing in seinem Zentrum stark durch und bestand aus schweren schwarzen Ziegeln. Zwei windschiefe Schornsteine gaben ihm etwas Hexenhaftes. Hellgrauer Rauch stieg teerig von ihnen auf.

Tal machte einen Schritt zu der kleinen Treppe, die zu einer oben abgerundeten Tür führte. Sie klopfte mit der Faust an der sie den Shimwas trug gegen das dunkle Holz.

Es dauerte fast fünf Minuten, bis sich die Tür einen Spalt öffnete. Ein alter Quink in dicker Leinenkluft und einer Lederschürze rieb sich die Hände an einem schmutzigen Tuch trocken. Als er die Besucher als Silberwölfe erkannte, stellte er sich als Elok, den Hof- und Stallmeister vor. Er fragte, ob Lopen zu versorgen seien, aber es gab nur den Phani, also deutete er auf den kleinen Stall. Tal missfiel wie immer, dass Odugme nicht ins Haus gebeten wurde und kniff die Augen zusammen. Aber sie war zu müde, um etwas zu unternehmen und wollte einfach nur in die Wärme des Hauses. 

Der Quink führte sie in eine kleine Küche, in der eine weitere Quink etwas kochte. Das Innere des Hauses wirkte recht sauber und war zu aller Vergnügen warm. Die beiden Kamine hatten nicht zu viel versprochen.

Der Quink versuchte höflich in Erfahrung zu bringen, in welchem Verhältnis die Gäste zueinander standen und hatte Probleme den Nygh einzustufen. Nachdem er verstanden hatte, dass es sich bei dem Barden immerhin um einen Sliyn handelte und die Silberwölfin an seiner Seite eine hochrangige Hexe zu sein schien – Tal ließ in geflissentlich in diesem Glauben – entschied sich der Hofmeister, alle drei vor seine Herrin zu führen. Sie würde schon wissen, wie sie mit ihnen umzugehen hatte. 

Also führte er die drei eine schmale Holztreppe ins obere Stockwerk, wo sich ein kleiner Salon befand. In dem dunkel eingerichteten Zimmer gab es nur eine hohe Liege, einen sehr niedrigen Tisch und zwei sehr schmale und filigran wirkende Holzstühle mit extrem hohen Lehnen. Auf der Liege räkelte sich die Ayn von Baiyl. Der Hofmeister stellte die Fremden bei ihren Namen vor – er hatte Probleme Ughtred auszusprechen – und verbeugte sich dann. Erst als die Frau auf der Liege ein Handzeichen machte, stellte der Quink auch sie vor.

»Ayn Yrdelaiy yr Northwyll begrüßt euch in ihrem Haus«, sagte er mit näselnder Stimme. Dann ging er zu einem der schmalen hohen Fenster und zog den dunklen Vorhangstoff ein wenig zur Seite, um etwas Licht in den Raum zu lassen, aber die Ayn schüttelte den Kopf und er ließ den Stoff zurückschwingen.

Sie war etwas älter als Tal und Kyon, schlank und mit Sorgfalt schön gestaltet. Ihr Gesicht wies schwarze Tätowierungen auf. Zwei schwarze Zacken verliefen von ihren Augen die Wangen hinab und vier zeigten von den schmalen Brauen nach oben. Ihre Augen waren so hellblau, dass sich ihre Pupillen kaum vom Weiß abhoben. Ihr blau-schwarzes Haar war zu einer voluminösen Frisur aufgetürmt und ihre Haut schimmerte bleich im spärlichen Licht des Raumes. Alles an ihr war entweder sehr hell oder tief schwarz.

Kyon machte eine leichte Verbeugung und Tal einen unvollendeten Knicks. Seltsam, wie familiär diese Situation zu sein schien. Die Fürstin von Baiyl war für sie unberechenbar. In Uraiyd und in anderen Orten, waren die Fürstinnen und Fürsten bekannt für ihre Stärken oder ließen ihre Gäste spüren, warum sie über eine Region herrschten. Diese Frau war nicht so leicht zu durchschauen. Sie wirkte ein wenig gewöhnlich und ihre Tätowierungen ließen sie einerseits geheimnisvoll, aber auch weniger edel wirken. Sie machte eher den Eindruck einer Lebefrau, als den einer gefährlichen Kriegerin oder Zauberin.

Kyon stellte sich und seine Gefährten erneut vor und die Fürstin deutete auf die beiden Stühle. Ughtred blieb stehen.

Sie sprach ihn direkt an und fragte, welcher Spezies er angehörte und fühlte sich bestätigt, als er sich als Nygh und Skergen bezeichnete. Sie fragte wie er in den Dienst der beiden Silberwölfe geraten war und als er ihr erklärte, dass er ihr Gefährte und nicht ihr Sklave war, nahm sie dies ohne weitere Kommentare hin, schickte ihn aber hinunter in die Küche, damit er sich dort stärken konnte. Ihre Vehemenz ließ weder bei ihm, noch bei Tal und Kyon einen Widerspruch zu, also nickte er freundlich und ging.

Zwei Quinkmädchen, die über die Maßen schön daherkamen, betraten nackt den Raum und servierten frischen Faltersud. Als Ayn Yrdelaiy Tals und Kyon Blicke wahrnahm, sagte sie nicht ohne Stolz in der Stimme: »Eigene Zucht, es hat über acht generationen gedauert sie so schlank und grazil hinzubekommen. Viel Ausschuß.«

Kyon nippte an seinem Sud und nickte anerkennend, doch Tal teilte seine Meinung nicht. Ihr missfiel die Haltung ihrer Leute anderen Wesen gegenüber. Doch dann ärgerte sie sich wieder über sich selbst, denn sie erkannte den Einfluss ihrer Eltern auf ihre Moral und dies missfiel ihr fast noch mehr. Sie sah das verkniffene Gesicht ihrer Großmutter vor ihrem inneren Auge, die abfällig den Kopf schüttelte und ihre Pfeife auf dem Rücken ihres Leibquink ausklopfte.

Die Unterhaltung dauerte mehrere Stunden. Yrde, die Ayn gestattete diese Ansprache, wollte alles über die Reise der Abenteurer erfahren und fand die Geschichte überaus interessant. Am meisten aber lag ihre Aufmerksamkeit bei Kyon selbst. Es war klar erkennbar, dass sie sich in der Provinz langweilte und froh über jede Ablenkung war. Großzügig bot sie ihr eigenes Bett an und bestand darauf, ihre beiden Gäste zu tätowieren. Sie wäre in diesem Bereich der Kunst recht bewandert und es hätte noch niemand bereut, der ihre Nadeln zu spüren bekommen hätte. Kyon freute sich offensichtlich über das Angebot und sagte ohne zu zögern zu, aber  Tal, die sich über die Freizügigkeit ihres Gefährten ärgerte, lehnte dankend ab.

Der Ayn war anzusehen, dass sie Tals schroffe Art ein wenig ärgerte, aber sie blieb höflich und machte einen Scherz. Man könne sich ja vielleicht doch noch einigen, es bliebe ja noch Zeit. Doch Tal blieb hartnäckig und so unterhielt sich die Fürstin für den Rest des Gespräches nur noch mit dem Barden.

Erst gegen Ende der Unterhaltung bemerkte Yrde die Nekrose, die Tal und Kyon befallen hatte. Sie fragte danach und an dieser Stelle war es schließlich Tal, die sich wieder zu Wort meldete. Sie erklärte, wie es zu der Infektion gekommen war und fragte, ob die Ayn wohl über entsprechende Heilmittel verfügte. Diese lachte vergnügt und fragte gerissen, ob Tal nicht in diesem Fall eine kleine Ausnahme machen würde und, so ein Heilmittel geboten wäre, nicht doch ein kleines Tattoo zulassen würde. Tal rieb sich die Stirn und musste an Ughtred denken und gab auf. Also bot Yrde an, zusammen mit Tal ihren eigenen alchemistischen Keller aufzusuchen, um ein Heilmittel zu erarbeiten. Gesagt, getan, ließ sie Kyon ein Zimmer im Obergeschoss zuweisen und begab sich mit Tal in den besagten Keller. Zur Sicherheit zitierte Yrde noch ihren besten Arzt herbei. Der Quink sollte zumindest Kyon untersuchen und sicherstellen, dass die Krankheit seine Verletzungen an der Heilung hinderte.

Die junge Hexe staunte nicht schlecht über die Reserven der Fürstin. Der Gewölbekeller war grob aus dem Boden gehoben und wurde von kantigen, unverputzten Ziegelsteinen in Form gehalten. Die Decke bestand aus fünf Bögen, aus denen mehrere Steine gebrochen waren. Auf ebenfalls fünf langen Tischen standen unzählige Phiolen und andere Behältnisse mit alchemistischen Zutaten und Kochutensilien. Hinzu kamen Regale, Schränke und Truhen rings an den Wänden entlang, die mehr Material zu beinhalten schienen, als die kleineren Vorratskammern des Zirkelhauses der Doppelmondhexen von Shishney.

»Was ist das nur mit euch und eurem Gefährten? Findet ihr mich so abstoßend oder habt ihr Angst, ich könnte ihm etwas nehmen, dass er nicht binnen weniger Stunden eigenständig nachzuproduzieren vermag? Er hat doch nicht etwa Probleme untenrum?« fragte Yrde nach einer Weile unverblümt.

Tal nahm eine Phiole von einem der Tische und betitelte ihren Inhalt als Schattenhonig. Sie sah Yrde direkt an, erwiderte aber nichts weiter.

Die Fürstin nickte und deutete auf eine Schatulle auf einem der Tische. Die Zutaten für einen hoch wirksamen Heiltrank gegen nekrotische Krankheiten. Die nächsten Stunden vergingen für Tal wie im Flug und obwohl sie die Ayn nicht wirklich mochte – sie verabscheute ihre Direktheit Kyon und ihr gegenüber – freute sie sich, etwas von ihr zu lernen.

 

Ughtred kümmerte sich um Odugme und dann entschied er, auf eigene Faust Baiyl zu erkunden. Immerhin war ihre Ausrüstung durch den Besuch des Giftsumpfes stark in Mittleidenschaft gezogen worden und es war Zeit, sich um dieses Problem zu kümmern. Also wartete er, bis die Unterredung seiner Silberwölfe mit der Fürstin beendet war und ließ sich dann von den Quink des Hauses zu Kyon führen. Tals defekte Rüstungsteile befanden sich in den Satteltaschen und Kyon händigte ihm seine aus. Danach verließ er das Aynhaus und ging mit einem Großteil der Lederteile über den Schultern auf den Platz hinaus. Es war später Nachmittag, aber er brauchte etwas zu tun, also fragte er nach einem Lederarbeiter oder einem Schmied. Man wies ihm den Weg zum Arbeiterviertel der Stadt. Hier gab es mehrere offene Werkstätten, die sich um einen kleinen Innenhof gruppierten. Ein gutes Dutzend Quink arbeitete an verschiedenen Projekten. Unter anderem gab es hier eine Alchemistenküche, einen Lederarbeiter, eine kleine Schmiede und eine Tischlerwerkstatt. Der Lederarbeiter besah sich die Rüstungsteile und hörte sich an, was der Fremde sich vorstellte. Danach fragte er höflich nach Ughtreds Art und seiner Herkunft und wer für die Reparaturen und die neuen Stiefel für Tal aufkommen würde. Ughtred beteuerte, dass er die benötigten Ressourcen hätte, aber der Quink verstand nicht, was er damit sagen wollte. In den Augen der Sklaven, gab es keine Vasallen, die über eigene Ressourcen verfügten. Ughtred versuchte es erneut, gab dann aber auf und sagte, der fremde Sliyn gäbe die Reparaturen in Auftrag. Damit gab sich der Mann zufrieden und zog Ughtreds Lederschurz auf einen Amboss um die Schäden zu begutachten. 

Nach einer Weile kam der Heiler, den Ughtred kurz im Aynhaus gesehen hatte und stellte sich dem Nygh als Noluc und seine junge Gehilfin Kiluk vor. Das Quinkmädchen errötete und ging schnell Essen und Trinken herbeischaffen, um ihre Unsicherheit zu überspielen. Der Nygh schien ihr zu gefallen und Ughtred viel zum ersten Mal auf, dass er offenbar eine Wirkung auf weibliche Quink zu haben schien. Er lächelte verlegen,, unterhielt sich mit dem alten Arzt und nahm eine der Hefekugeln, die das Mädchen ihm anbot.

Der Alte lachte, aber dann verzog er seinen Messingunterkiefer zur Seite und machte ein betretenes Gesicht. Die Situation hatte ihn offensichtlich zuerst erheitert, dann aber an etwas weniger Erfreuliches erinnert.

 

Es vergingen Tage der Ruhe und sowohl Tal als auch Kyon ging es zusehends besser. Sie verbrachten die Zeit mit Müßiggang, aber allen tat diese Pause gut. Schließlich besiegte auch Yrdes Medizin die Nekrosekrankheit der beiden Silberwölfe und von da an verbrachte Kyon noch mehr Zeit mit der Fürstin. Tal ließ tatsächlich zu, dass die Herrin von Baiyl ihr einen winzigen Mond unter die Haut stach und Kyon entschied sich für einen Drachen, der sich quer über seinen Rücken ziehen sollte. Sein Vater war ein Opfer dieser Bestien geworden und dieses Sinnbild sollte ihn selbst vor diesem Schicksal bewahren. Alles schien gut zu sein und die vergangenen Abenteuer begannen langsam zu Liedern zu werden, da geschah eines Nachts etwas seltsames.

Kyon hatte das Schlafzimmer der Ayin verlassen, um sich zu erleichtern und da er müde war, wollte er in dieser Nacht alleine in seiner ihm zugewiesenen Kammer schlafen. Es konnten noch nicht viele Stunden vergangen sein, denn als er von einem seltsamen Druck in der Magengegend erwachte, war er nicht schlaftrunken, sondern sofort hellwach.

Im bleichen Licht des Totenmondes erkannte er den Grund seines Erwachens. Ein fahles, schmales Gesicht stand über ihm und glotzte ihn mit bösen Augen an. Er musste sofort an die Blutdrinkerin von Elaiyney denken, aber dies hier war ein Mann. Der Kerl kauerte über ihm und hatte ihm ein Knie in die Seite gebohrt.

Kyon lächelte genervt, hatte aber seinen Humor nicht verloren und versuchte daher einfach zur Seite zu rücken, um dem Fremden Platz in seinem Bett zu machen. Dies war zweifelsfrei der eifersüchtige Galan der Fürstin und es hätte schlimmer kommen können. Er hätte schließlich hässlich sein können.

Doch anstelle die Einladung anzunehmen, drückte der Mann fester mit dem Knie zu und zischte: »Ihr also. Ihr werdet eure Unverschämtheiten bereuen, Stutzer.« Und mit diesen Worten begann er seinen linken, weißen Handschuh auszuziehen.

Kyon sagte, dass es üblich wäre, sich vorzustellen und so spuckte ihm der andere seinen Namen ins Gesicht.

»Ich bin Sliyn Yousyras dan Veorgeneth und ich werde euch lehren mich zu foppen.«

Nun stellte auch Kyon sich vor, aber gerade als er geendet hatte, landete der Handschuh klatschend in seinem Gesicht. Daraufhin erhob sich der andere und Kyon atmete tief durch. 

»Wir werden uns duellieren, heute Nacht!«

Kyon sagte träge: »Heute Nacht kann ich nicht, keine Zeit.«

Sliyn Yousyras verzog angewidert das schmale Gesicht. Es war eindeutig, dass der Mann nicht ganz bei Trost war, aber Kyon hatte kein Interesse daran, herauszufinden, wie er den Titel erlangt hatte. Die meisten smavarischen Fürstinnen und Fürsten erwarben sich ihre Titel durch Taten oder ganz einfach, weil sie mächtig genug waren, dass es niemanden gab, der ihnen diese Idee abspenstig machen könnte. Er selbst hatte seinen Titel von seinen Eltern geerbt. Sie waren Ayn und Sliyn und damit war es üblich, dass ihr einziger Sohn automatisch ebenfalls den Titel Sliyn trug. In Shishney hatte ihm das Tür und Tor geöffnet. Ein Großteil der Gesellschaft wusste zwar, dass ihm nichts innewohnte, dass den Titel auf einer Machtebene gerechtfertigt hätte, aber eben nur ein Teil und für die anderen spielte es eine große Rolle, wenn sie einen Fürste zu besuch hatten und dieser ihnen sogar noch Lieder aufspielte.

Hier draußen in der Provinz kannte Kyon niemanden und konnte daher nur schwerlich einschätzen, wer mächtig war und wer nicht. Die Ayn zum Beispiel hatte bisher ebenfalls nicht damit geprahlt, über welche Kräfte sie verfügte, aber das Gebaren anderer Smavari ihr gegenüber zeigte ganz klar, dass jedermann hier in Baiyl sie fürchtete. Darüber hinaus schien sie beliebt zu sein. Alles, was er jedoch über ihren Galan gehört hatte, war, dass er sich immer wieder einmal lächerlich zu machen pflegte. Ein Duell wegen der Gunst einer Frau, wo gab es denn so etwas? Man schlug sich nicht wegen der Gunst eines anderen. Gunst war etwas wunderbar Teilbares. Kyon war gut darin, Gunst zu teilen. Das ganze Konzept der Eifersucht erschien ihm mehr als lächerlich und die meisten anderen Smavari sahen diese ebenso. Es gab praktisch überhaupt keine festen Bindungen, die andere Neigungen verboten hätten. Was wollte der Irre von ihm und vor allem, wie irre genau war er? Kyon verspürte nicht die geringste Lust, sich von einem eifersüchtigen und darum wahnsinnigen Irren massakrieren zu lassen.

»Also gut, ein Duell, aber dann habe ich die  Wahl der Waffen mein Herr«, sagte er in der Hoffnung, die Sache auf einen Bogenwettstreit hinauslaufen lassen zu können. Doch der Sliyn meckerte nur: »Natürlich nicht! Wir werden uns mit Fäusten schlagen, so ist es hier Brauch.«

Mit Fäusten schlagen, wiederholte Kyon das Gehörte und versuchte die Worte zu verstehen. Niemand im Reiche des Mirthas schlug sich mit Fäusten; also zumindest niemand, der über eine adäquate Ohrlänge verfügte. Sklaven konnte man boxen lassen. Das konnte ganz erbaulich sein. Blutspritzer, die ins Publikum sprühten und so … Aber Smavari schlugen sich doch nicht mit Fäusten.

Er sah dem Mann in die Augen. Zwei schmale, dunkle, zweifelsfrei tätowierte Streifen teilten sein Gesicht in drei Bereiche. Die Augen schienen zu lodern und bezeugten die Ernsthaftigkeit im Verlangen des Mannes. Kyon seufzte tief und schließlich sah er ein, an diesem Punkt nichts ändern zu können. Also gab er sich geschlagen und nickte ergeben. »Wir schlagen uns mit Fäusten. Natürlich, denn so ist es hier Brauch«, murrte er müde.

Sliyn Yousyras dan Veorgeneth erhob sich endgültig von dem Lager und verzog das Gesicht zu einer Fratze der Geringschätzigkeit. »Schlagt einen Termin vor!«

Kyon antwortete: »Weiß noch nicht, ich bin mit einer schrecklichen Krankheit geschlagen und benötige dringend Bettruhe.« Die letzten beiden Worte presste er genervt zwischen den Lippen hervor.

Sofort trat Yousyras einen Schritt zurück. Fast sah er ein wenig bekümmert aus. Doch dann sagte er: »Wie zu erwarten war, seid ihr ein Schwächling. Ich erwarte euch in spätestens drei Nächten auf meinem Kampfplatz an der Eisschlange. Lasst mich nicht warten. Ihr wollte nicht meinen wahren Zorn erwecken.«

Kyon schüttelte den Kopf und winkte den nächtlichen Besuch hinaus. Er war fast verwundert, als die Geste zu wirken schien, denn der Galan der Fürstin wandte sich ab und ging.

Gleich am nächsten Morgen passte Kyon den alten Quink ab und befragte ihn zu der Sache, doch dieser konnte oder wollte nicht viel dazu sagen. Ja, der Herr Sliyn habe sich schon oft mit Fremden Herren geschlagen und ja, mit den Fäusten. Der Herr Sliyn solle sich nicht sorgen, da der andere Herr Sliyn noch nie einen Faustkampf gewonnen hätte.

Kyon fragte erstaunt: »Noch nie gewonnen?«

Der Quink schüttelte den Kopf.

»Warum macht ers dann?«

Schulterzucken.

Kyon war erstaunt und fragte nach dem Aufenthaltsort des Sliyn. Haus Edelhand, kam die knappe Antwort. Aber der Herr empfänge nur des Nachts Besuch. Überhaupt bekäme man ihn nur und ausschließlich in Abwesenheit der Tagesgeschwister zu Gesicht.

Kurz vor der Mittagsruhe klopfte Kyon an die weiße Tür des Hauses Edelhand und musste geschlagene zehn Minuten warten, bis ihm geöffnet wurde. 

Der Besitzer, ein älterer Smavari namens Aanuel dan Nestraiyth, bat Kyon in sein Etablissement und führte ihn in eine niedrige Küche. Er lächelte und schenkte verbrannt riechenden Faltersud ein. Kyon sah sich um. Die Küche machte einen sauberen Eindruck, aber vom Personal fehlte jede Spur. Der Hausherr hatte die Falter eigenhändig gemahlen. Auf dem Tisch stand ein großer Steinmörser und überall lagen die Flügel von Motten verstreut. So war dies eben in der Provinz. Kyon sehnte sich nach Shishney. Doch dann erinnerte er sich an den maroden Zustand seines Hauses. Marode, alles dort war marode, der Geist seiner Mutter, die Abwesenheit seines Vaters, die Dienerschaft, einfach alles – wie er selbst. Würde er dort seine Falter auch selbst mörsern müssen?

»Er hat euch also zum Duell gefordert. Das war zu erwarten«, sagte Aanuel und nahm einen großen Schluck des schwarzen Getränks.

Kyon nickte und schließlich fragte er vorsichtig: »Stimmt es, dass er noch nie einen Kampf gewonnen hat?«

Der Hausherr nickte und erklärte, der Herr Yousyras dan Veorgeneth sei alles andere als kräftig, bestehe aber stets auf ein Duell der Fäuste. Er habe feste Regeln und dazu gehörte wohl auch, dass er niemals seine psionischen Kräfte zum Einsatz bringe. Diese Regel galt allerdings auch für seine Kontrahenten. Nur, wer kam denn hier in Baiyl vorbei? Abenteurer, Leute, die es geschafft hatten, die Wildnis zu besiegen. War es da ein Wunder, dass diese stark und kampferprobt waren?

»Warum dann das Ganze?« fragte Kyon mit ungespieltem Interesse.

Der andere sah ihn mit skeptischem Blick an, als wolle er sagen, dass er die Sache auch nicht wirklich verstand, aber dann sagte er leise: »Er lässt sich schlagen, geht zu Boden und die Ayn päppelt ihn wieder auf. Er bleibt dann viele Nächte lang bei ihr und man sieht und hört von den Beiden nichts. Denke, wird ihnen schon irgend etwas geben, das Ganze.« Er zuckte mit den Schultern.

Kyon rieb sich das Kinn. Dann sah er auf und fragte: »Muss ich selbst antreten oder kann ich einen Stellvertreter ernennen?«

»Kommt oft vor, das mit dem Stellvertreter. Gerade auch wenn es sich bei den Herausgeforderten um Frauen handelt. Er schlägt sich sehr ungern mit Frauen und wenn, lässt er sich absichtlich besiegen. Er ist ein Edelmann.«

Kyon nickte und rollte dann mit den Augen. Dann sagte er: »Na dann werde ich mal mein Glück versuchen.«

Aanuel nickte ebenfalls und sagte: »Denkt daran, oberste Regel ist: keine übernatürlichen Kräfte. Setzt ihr welche ein, tut er dies auch und ich kann euch nur sagen, Kollateralschaden. Es gibt einen Grund, warum keine Smavari die Kämpfe besuchen. Er wohnt hier unter meinem Dach und ich kann jede Nacht ihre Schreie hören. Ihr wollt nicht, dass er euch die Seele aus dem Leib saugt und was auch immer mit ihr anstellt.«

Der Barde verzog sein Gesicht. War klar, dass der Kerl irgendeine Art von Monster unter der Haut tragen musste. Es war immer so; selbst bei ihm selbst.

Er stand auf,klopfte mit der Faust auf die Tischplatte und verließ den Raum. Die schmale Treppe, die in einem engen Bogen nach oben führte, nahm er mit zwei Schritten und oben angekommen, beugte er sich unter einem Türbogen hindurch in einen winzigen Vorraum. Dann klopfte er gegen die einzige, tief schwarze Tür.

»Herein«, kam es sofort von innen und er öffnete die Tür.

Der Raum war dunkel, dicke Vorhänge sperrten jegliches Licht aus und nur ein seltsames gelblich glimmendes Ei auf einem ansonsten leeren Regal ließ Kyon die Umrisse der Möbel erkennen. Es gab allerdings auch nur einen sehr schmalen Sekretär, ein Bett und einen schwarzen Stuhl, auf dem kerzengerade der Sliyn hockte. Er trug ein Gewand aus schwarzer Fischhaut. Mit einem Nicken bedeutete er seinem Gast, sich auf der Bettkante niederzulassen.

»Da seid ihr also. Hat euch euer Mut doch nicht zur Gänze verlassen, Stutzer«, eröffnete der Herausforderer und lächelte abschätzig.

Kyon räusperte sich und sagte: »Ich bin hier, um euch den Termin zu bestätigen. In von nun an zwei Nächten an besagtem Platz an der Eisschlange. Ich selbst werde im Übrigen nicht anwesend sein, da ich mich entschieden habe euch einen Champion zu schicken.«

Yousyras dan Veorgeneth warf sich in die Brust und sagte voller Empörung: »Natürlich werdet ihr anwesend sein! Es stand zu befürchten, dass ihr es nicht wagen würdet euch selbst mit mir zu messen, doch auf eure zugegebenermaßen schöne Erscheinung will ich auf keinen Fall verzichten. Ihr seid rüde und unverschämt genug. Ich werde euch zermalmen. Geht nun.«

Mit verzogenen Lippen stand Kyon auf und rieb sich genervt die Haare aus dem Gesicht. Er nickte seinem Herausforderer kurz zu, wandte sich ab und wäre beinahe mit der Stirn am Türsturz des niedrigen Zimmers kollidiert. 

 

»Ihr habt was getan?« Tal sah Kyon mit großen Augen an. Er hatte ihr erklärt, dass sie in Norths Leib weit bessere Chancen gegen den Verrückten Sliyn von Baiyl hätte als er. Wie oft hatte er nun sie, den Nygh und den sinnlosen Phani mit seinem Bogen gerettet, da war es doch nur fair, wenn sie sich nun um diesen Faustkampf kümmerte. Ein Faustkampf war aber auch wirklich unter seiner Würde.

Die Hexe kniff die Augen zusammen. Unter seiner Würde und vor allem weit von seinen Fähigkeiten entfernt. Er mochte einen ganz netten Hintern haben, aber er war so schmal wie sie und es war verwunderlich, dass er den Kriegsbogen, mit dem er gerade geprahlt hatte, überhaupt spannen konnte.

Sie dachte einen Moment nach. Der tote Leib ihres Bruders war stark und mehr oder weniger unverwundbar, denn er war schließlich tot. Es war nur ein Körper. Sie würde dem Kerl die Zähne blutig schlagen und gut. Warum nicht? Am Ende wäre dieses Duell erfreulicher als der ganze restliche Aufenthalt in diesem beschissenen Loch.

Schulterzuckend sagte sie: »Wann und wo?«

Kyon erklärte ihr die Bedingungen und beschrieb den Ort. Sie fragten den Hofmeister der Ayn, ob er ihnen den Platz zeigen konnte und dieser gab ihnen eins der schönen Quinkmädchen zur Seite. Sie würde sie hinführen, aber man hätte den Kampfplatz ohnehin nicht verfehlen können; gut und gern einhundert Quink machten sich in der Nacht dorthin auf.

Als es schließlich soweit war, schleppte Odugme den Sarg zum Ufer der Eisschlange. Der Weg war matschig und von hunderten von Quinkfüßen ausgetreten. Es war kalt und alle hatten sich heiße Brühe und Hocker mitgebracht. Lange Fackeln waren aufgestellt worden und zauberten flackernde Feuer auf den träge dahindümpelnden Fluss. Es war gerade hell genug, um die aufgeregten Gesichter der Quink am Rand des Platzes erkennen zu kennen.

Kyon sah sich um. Kein anderer Smavari hatte sein Haus verlassen. Nicht einmal die Ayn war hier. Er erinnerte sich an die Worte des Wirtes. Kollateralschaden, ging es ihm durch den Kopf, er könne die Stimmen der Betroffenen in den Mauern seines Hauses hören. Er zuckte mit den Schultern. Sie würden sich an die Regeln halten. Dann wartete er, bis Odugme den Sarg geöffnet hatte und Norths kalten Leib heraushob. Ein wenig schauderte ihn bei dem Anblick des Geliebten, doch dann wanderte sein Blick zu den Monden, die Böse am Horizont standen und tat diese sentimentalen Gedanken ab. Er setzte sich auf den Sarg. Es musste ja nicht sein, dass er sich die Kleidung hier im Matsch der Böschung verschmutzte.

Ughtred, der neben ihm stand, deutete mit der Hand auf die andere Seite des Platzes. Tal besprach sich gerade mit Yousyras, der erneut die Regeln mit ihr durchging. Keine feinstofflichen Kräfte. Sie nickte und deutete auf den Untoten, den Odugme wie eine Puppe unter den Schultern gepackt hatte und nun vor sich hob. Der Sliyn nickte und sagte etwas, aber Kyon und Ughtred konnten ihn nicht verstehen. Die Quink hatten es sich so gut es ging bequem gemacht und schlossen nun ihre Wetten ab. Vergessen war die späte Stunde und die Kälte des Frühlings. Sie schwatzten und deuteten mit ihren Fingerdornen auf den einen oder anderen Gegner und lachten und schmatzten laut.

Die Hexe stakste durch den Schlamm und blieb vor Ughtred stehen. Sie sah kurz zu Kyon herunter, sagte aber nichts. Dann holte sie die kleine schwarze Flasche aus ihrem Umhängebeutel. Ughtred nickte. Es waren die Stasetropfen, die sie einnahm, wenn sie ihren Körper verließ, um in den Toten zu fahren. Es war das gleiche Zeug, dass auch Kyon das Leben gerettet hatte.

»Ihr passt auf mich auf oder?«

Ughtred nickte erneut. »Natürlich, Frau Hexe. Immer«, sagte er in beruhigendem Ton. 

Dann setzte sie sich neben Kyon auf die Holzkiste und nahm einen Tropfen der Flüssigkeit. Die Zeit reichte gerade, um das Fläschchen wegzupacken und schon färbten sich ihre Augen violett und ihre Haut wurde wächsern. Als ihre Lippen schwarz wurden, sackte sie zusammen, aber Ughtred fing ihren schmalen Körpern auf und hielt sie fest. Es war ihm anzusehen, dass er sich niemals an solche Dinge gewöhnen würde, aber es war auch eindeutig, dass er sich um die junge Hexe sorgte.

Tal indes streifte ihren Körper ab, tastete sich durch den Äther und fand das weiße Brennen von Northrians totem Leib. Sie schlüpfte hinein und rüttelte sich darin zurecht. Es war, als zöge sie ein viel zu großes Kleid an und müsse nun ihren körperlichen Attributen den bestmöglichen Platz darin suchen. Doch schließlich fand sie die Augen und des Bruders und von diesem Moment an nahm sie dessen Platz in dem untoten Körper ganz und gar ein.

Sie streckte sich und die lange nicht genutzten Gelenke krachten und sie versuchte instinktiv zu atmen, aber die toten Lungen waren zerstört und hatten ihre natürliche Funktion längst verloren. Vorsichtig versuchte sie ein paar Schritte und dies gelang erstaunlich gut. Es dauerte nur wenige Minuten und der Körper fühlte sich mehr oder weniger natürlich für sie an. Eigentlich erschrecken, dachte sie und stakste quer über den matschigen Platz zum Herausforderer hinüber.

Dieser starrte den wandelnden Toten mit einer Mischung aus Interesse und Abscheu an. Allerdings schien er sich keineswegs zu fürchten. Er trug ein schwarzes Hausgewandt und der Tote auf ihn zukam öffnete er dieses und ließ es zu Boden gleiten. Darunter hatte er nur eine Art gewickelten Lendenschurz an, der seine helle Haut betonte. Er sah auch wie ein riesiger, dürrer Welpe in Windeln. Tal ließ North ein Lächeln versuchen, aber wenn es ihr gelungen sein sollte, zeigte Yousyras keine Reaktion. Stattdessen hob er die knochigen Fäuste in eine Position, die ihm kämpferisch vorzukommen schien und fletschte seine Zähne.

»Los, drauf los, wehrt euch!« zischte er und kassierte Tals ersten Schlag. Sie traf ihn mit gestreckter Faust knapp oberhalb der Lippen, brach ihm die Nase und den Wangenknochen und holte zum nächsten Schlag aus. Als Yousyras nach hinten taumelte und in den Matsch fiel, bremste sie sich und trat einen Schritt näher, um zu sehen, was passiert war. Leider waren ihre Augen in Norths Leib auch nicht besser als sonst und so konnte sie nur ahnen, dass der Kampf vorüber war.

Anders die Zuschauer, die jubelten und umhersprangen, dass der Schmutz nur so über das Schlachtfeld spritzte. Der Kampf war vorüber.

Tal drehte North zu Kyon und Ughtred um und die beiden hoben gleichzeitig ihre Schultern und ließen sie wieder sinken. Da sich mehrere Quink um den im Schlamm liegenden Silberwolf kümmerten, ging Tal zum Sarg zurück und versuchte mit ihren Gefährten zu sprechen, doch Norths Kehle gab nur Krächtslaute hervor. Schließlich stand Kyon vom Sarg auf und Ughtred hob Tals Körper herunter. Sie ließen den Untoten in die Kiste steigen, sich ablegen und verschlossen sie dann sorgfältig. Tal verließ den Leib und kehrte in die Schwärze ihres eigenen, in Stase befindlichen Körper zurück.

»Verrückt«, murmelte Ughtred, aber Kyon war schon in Richtung des Herrenhauses davongeschlurft.

 

»Wie bekommen wir Kyon nur dazu nach Shishney zurückzukehren?« Tal saß mit Ughtred und Odugme am Frühstückstisch im Hause der Ayn. Zwei Tage waren nach dem Duell vergangen. Man hatte sich um den Sliyn gekümmert und so wie es aussah, würde er es überleben. Es gab auch keinerlei Grund, sich vor seiner Rache zu fürchten, denn offenbar hatte er seine Niederlage hingenommen. Die Fürstin hatte sich um ihn gekümmert und ihm Bettruhe verordnet. Leider bedeutete dies offenbar auch, dass sie viel Zeit hatte, sich mit Kyon zu vergnügen. Tal wollte gar nicht so genau wissen, zu welchen Ausschweifungen es in diesem Zusammenhang kam.

Ughtred nahm einen Schluck Gerstensaft und sagte: »Er scheint ja wirklich keinen Grund zu haben Baiyl zu verlassen.«

»Keinen Grund? Und was bitte ist mit uns beiden? Ich will in meinen Zirkel heimkehren und ich will dieses Provinzloch vergessen und überhaupt habe ich die Nase vom Plagensumpf voll. Ihr werdet ja wohl auch irgendwann nach Hause zurückkehren wollen – oder zumindest in die Zivilisation.«

Ughtred sprach die smavarischen Worte mit einem starken Akzent aus, hatte aber deutlich an den Vokabeln gearbeitet. Tal fiel auf, dass er sich zwischenzeitlich deutlich gewählter auszudrücken vermochte.

»Shishney gefällt mir auch besser als Baiyl, auch wenn ich nur wenig von der Turmstadt zu sehen bekommen habe, bevor man mich in den Kerker steckte«, sagte er und rollte mit den Augen.

»Ich will mich auch endlich an dem elenden Kerkermeister rächen«, fügte Tal hinzu.

Ughtred nickte, obwohl er selbst dem Mann im Grunde nichts vorwarf. Er hätte ja nicht den blöden Kran manipulieren müssen.

 

Kyons Drache auf seinem Rücken spie Feuer und wuchs zu einer ehrfurchtgebietenden Bestie an. Ansonsten geschah nichts in den nächsten Tagen und Nächten. Doch dann, es muss drei oder vier Nächte nach dem legendären Duell gewesen sein, Unterhielt sich Ughtred mit einigen Quink in der Arbeiterstraße und diese erzählten ihm von einem Hobgoblinangriff auf mehrere Jäger in den nordwestlichen Hügeln. Er wunderte sich und fragte nach, ob so etwas häufiger vorkam. Die Rotaugen waren natürlich nie zu unterschätzen, aber dass sie smavarische Jäger angriffen, war durchaus beachtenswert. Alle Antworten, die er erhielt, wurden hinter vorgehaltener Hand getuschelt. Ein düsterer Nekromant würde die Rotaugen anstacheln. Wenigstens drei Häuptlinge ständen unter dieser dunklen Kontrolle und das Ende der Welt stünde kurz bevor.

Ughtred erzählte Tal von der Sache und hob hervor, dass es ihm seltsamerweise fast so vorkam, als wäre den hiesigen Quink solch eine Situation alles andere als fremd. Tal wiederum fragte die Ayn bei einem eher selten gewordenen Treffen und versuchte es auch Kyon zu erzählen, aber er wollte davon nichts wissen. Umso mehr ärgerte sich die junge Hexe. Die Fürstin nickte nur und sagte, sie hätte die Wachen schon verstärkt und ihre Krieger hätten auch schon zwei Hobgoblinspione gefangen genommen und ordnungsgemäß gefoltert und dann an die Palisaden gehängt. Man solle sich nicht über den Gestank wundern.

Tatsächlich schien im Wald etwas vorzugehen, denn tags darauf Ritten vier smavarische Ritter auf Zackenhörnern in den Wald und kamen erstaunlich schnell mit Pfeilen gespickt zurück. Zum Glück war niemand ernstlich verletzt worden.

Als Tal dies hörte, erkannte sie den einzigen gangbaren Weg für sich und ihre Gefährten. Sie musste handeln.

Am Abend setzte sie sich zu Ughtred in die Küche und nahm sich ein Stück seines Blaubeerkuchens. Der Nygh verzog das Gesicht, nickte dann aber höflich. Sie trug ein dünnes Kleid, dass die Ayn ihr gegeben hatte und sah mit ihrer neuen Frisur irgendwie süß aus. 

»Wir schläfern ihn ein und entführen ihn nach Shishney!«

Ughtred sah sie an und war nicht einmal verwundert, dass er sofort wusste, was sie mit ihren Worten sagen wollte. Vor seiner Reise mit den Silberwölfen hätte er solch eine Idee noch absolut absurd gefunden. Jetzt, da ihm diese hübsche Hexe voller Überzeugung in die Augen blickte und keine Widerrede erwartete, erschien ihm die Idee als etwas absolut Normales im Laufe einer Silberwolfunternehmung.

»Ja«, sagte er ruhig, rieb sich mit der einen Hand über die Stirn und schnappte ihr mit der anderen den Rest des Kuchens weg.

Sie machte einen Schmollmund, sah sich um, denn die Wände hatten Ohren und sagte dann leiser: »Ich kümmere mich um den Barden, ihr um die Passage. Passt das?«

Der Nygh nickte verschwörerisch. Er war ja ein Dieb, da war eine Verschwörung das Geringste, was er noch auf die Beine stellen konnte.

Gesagt getan, schlenderte Ughtred am nächsten Morgen zu den Anlegestellen in der Nähe des Lusthauses Edelhand. Hier lagen drei Flussschiffe vertäut und er wunderte sich fast, die Dinger im Wasser liegen und nicht darüber schweben zu sehen. In Elaiyney hatte er erfahren, warum dies so war. Amytoren fürchteten fließendes Wasser und Flugholz war teuer. Zwei gute Gründe sich für normale Schiffe zu begeistern.

Er fragte einen der Arbeiter, welches der Schiffe wohl am ehesten nach Norden fahren würde. Die Seekröte, ein breiter Kahn mit einem Mast und einer Ruderreihe schien das Schiff der Wahl. Er wunderte sich über den Namen, aber dann verstand er: die Seekröte war ein Quinkschiff unter einem Quinkkapitän und da war es kein Wunder, dass sie auch einen Quinknamen trug. Kapitän Jukuc war ein vierschrötiger Mann, der mit den Sklaven in der Stadt wenig gemein hatte. Seine Schultern waren breit, seine Haut für einen Quink erstaunlich dunkel und seine Fäuste sahen aus, als könne er mit ihren problemlos Schädel zerquetschen. Er war nicht viel größer als andere Quink, aber seine Erscheinung war dennoch beeindruckend. Außerdem trug er einen breiten, gebogenen Säbel an seinem Gürtel. Die Quink in Baiyl trugen nur Waffen, wenn sie der Garde angehörten oder Soldaten waren. Sklaven war es zwar nicht verboten, aber sie brauchten auch keine und beließen es daher meist dabei.

Ja, die Seekröte würde in Kürze in Richtung Shishney auslaufen und bei der momentanen Lage lieber früher als später. Ughtred war zufrieden, verabschiedete sich und berichtete Tal. Jetzt mussten sie nur noch ihren Barden vergiften.

Am selben Abend unterhielt sich Kyon mit Yrde über die Unruhen in Baiyl. Zwischenzeitlich hatte eine Gruppe von Hobgoblins die Nordstadt angegriffen und man hatte die schwere Feuerlanze auf dem Wehrturm der Mühle von ihrer Verschalung befreit. Leider war es bei einem Testschuss zu einer Verpuffung und schweren Verletzungen bei den Kanonieren gekommen. Die Fürstin hatte Befehl gegeben, weitere Soldaten auszuheben und zu bewaffnen. Man ging von einem Großangriff in den nächsten Tagen aus. Zweifelsfrei wäre da draußen ein Schurke unterwegs, der die Stämme der Rotaugen zu vereinen drohte, um möglichst viel Schaden an den smavarischen Strukturen zu verursachen. Gerüchten zufolge, könne es sich gar um einen düsteren Nekromanten handeln …

Die Fürstin reichte ihm ein kleines Fläschchen, dass mit einer weißen Flüssigkeit gefüllt war und forderte ihn auf, zwei Tröpfchen davon zu trinken, aber er war hungrig und bat um eine kurze Pause. Er entschied sich für einen Mitternachtssnack. Später würde er diese Idee zweifelsfrei bereuen, denn er kam just am selben Abend in die Küche hinunter, an dem Tal und Ughtred sich entschieden hatten, keine Sekunde länger zu warten. Da er sich setzte, war sein Schicksal besiegelt. Freundlich lächelnd schenkte Tal ihm einen Becher mit Stasetropfen versetzten Gelbweines ein. Er trank und erstarrte.

 

Draußen war das Donnern der Feuerlanze zu hören und irgendwo in der Ferne wurde gekämpft. Ughtred deutete in Richtung der Anlegestelle. Es war dunkel und im Osten kam langsam Nebel auf, in dem sich die flackernden Fackeln der Quink gespenstig spiegelten. Odugme trug den größten Teil der Ausrüstung auf dem Rücken und zog den Sarg an den Ketten hinter sich her. Ughtred trug Kyon über den Schultern, wobei wie gewohnt die langen Beine über den Boden schliffen. Die restliche Ausrüstung, unter anderem den Kriegsbogen des Barden, musste Tal tragen und dies war alles andere als einfach für sie. Plötzlich blieb sie stehen.

»Herr Nygh«, sagte sie.

Ughtred hielt ebenfalls an und sah sie an.

Dann sagte sie mit schief gelegtem Kopf: »Chaosschild?«

Der Nygh ließ Kyon ab und rieb sich über die Stirn.

Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis sie ihr Hab und Gut zum Ufer gebracht hatten, wieder zurückgegangen waren, um den Schild zu holen und endlich beginnen konnten, die Seekröte zu beladen. Die Quink an Bord des Schiffes waren schwer bewaffnet und suchten ständig mit nervösen Blicken den Fluss ab. Der Nebel machte es unmöglich, etwas zu erkennen. Wovor hatten sie nur solche Angst?

Irgendwo im Norden Baiyl war ein Feuer ausgebrochen und vom Schutzturm tischten Plasmabolzen durch die Schwärze der Nacht und erfüllten den Wald mit feurigem Chaos. 

Tal zurrte gerade die Bleidecke am Schild fest. Er passte nicht unter Deck und musste daher am Bug liegen. Als sie aufsah, war Ughtred neben sie getreten und deutete auf das bleigraue Wasser hinaus.

»Dort«, murmelte er.

Sie kniff die Augen zusammen und versuchte etwas zu erkennen, aber außer dem Nebel und den Reflexionen der Flammen an Land sah sie nichts. Doch dann brannte es mit einem Mal tatsächlich auf dem Fluss und Tal wurde klar, dass der Nygh recht hatte.

»Flöße«, rief sie laut und da waren auch schon zwei Matrosen mit Armbrüsten neben ihr. Einer hob seine Waffe, aber da erscholl die Stimm des Kapitäns: »Abfallen lassen! Ruder ab, Landabwärts, abwäääääärts!« brüllte er und erschien mit wedelnden Armen auf dem Steuerdeck. Die Mannschaft ließ ihre Waffen sinken und beeilten sich die Befehle ihres Anführers umzusetzen. Sie ruderten wie verrückt zum Land hin und ließen dann den Fluss den Rest machen. Anstelle wie geplant nach Norden zu reisen, driftete die Seekröte nach Süden ab und gab die Anlegestelle für die sich nähernden Flöße frei. Es waren wenigstens drei grob zusammengeschnürte Dinger aus morschem Holz. Darauf befanden sich eine Unzahl von Hobgoblins, die johlten und fluchten und mit Brandpfeilen auf die Dächer der Siedlung schossen. Eines der Flöße zerbrach, als es mit einem Steg kollidierte und die Rotaugen gingen über Bord. Die meisten ersoffen, wo sie ins eiskalte Wasser gefallen waren und nährten die Schlange. Die anderen beiden landeten an. Dutzende grün-grauer Leiber krochen an Land, schossen Pfeile ab und wurden von bis an die Zähne bewaffneten Quink und Silberwölfen empfangen. Irgendwo erhob sich einer der smavarischen Krieger und schleuderte etwas Brennendes in die angreifende Horde und als es explodierte, gingen die Hobgoblins schreiend in Flammen auf.

Doch im selben Moment erreichte die Seekröte eine Biegung und ein kleiner Schilfwald nahm der Besatzung und den Passagieren die Sicht auf das Chaos des Kampfes. 

Ughtred schüttelte den Kopf. Tal sagte leise: »Das ist normal hier draußen.«

 

Am Rande des Waldes waren schon die Ränder der Tagesschwestern zu sehen und der Nebel hatte sich verzogen. Leichter Regen machte die Wasseroberfläche uneben und klärte die Luft vom Brandgeruch. Der Kapitän der Seekröte hatte Befehl gegeben, das Schiff auf die Ostseite der Ejviyslath zu bewegen. Danach ging es im Schritttempo in Richtung Norden zurück. Erst mehrere Stunden später kamen sie wieder an Baiyl vorbei. Im Regen war praktisch nichts von den Kämpfen der Nacht zu erkennen. Doch als das Schiff nahe genug an die Stadt herangekommen war, sah Ughtred die toten Leiber am Ufer liegen. Er rieb sich die Stirn und rückte von dem Chaosschild ab.

Als Tal neben ihn trat sagte er leise: »Warum haben sie das gemacht?«

Tal betrachtete die toten Rotaugen und sagte: »Jemand hat sie angestachelt.«

»Jemand?«

»Vielleicht jemand, der wollte, dass wir ungesehen Baiyl verlassen können. Vor allem ungesehen von der Obrigkeit.«

Ughtred sog die Luft ein. »Ihr meint der Kerl mit dem ihr euch geschlagen hat könnte hierfür verantwortlich sein?«

»Wie gesagt, so etwas ist hier draußen ganz normal.«

Tal wandte sich ab und sah nach Norden. Shishney, Zivilisation, sie hatte die Wildnis so satt.

 

Die Sonnen waren gerade untergegangen, als die Seekröte von Westen auf der Höhe der Plagenkuppe bei Shishney angekommen war. Weiter wollte der Kapitän nicht fahren, aber hier draußen gab es einen Dammweg an der Eisschlange entlang und ein Dutzend Quink wartete, um das Schiff zu entladen. Tal musste den Schild tragen, also gab sie den Sklaven Befehl, neben den Waren für die Stadt auch ihre Ausrüstung zu transportieren. Es gab einen Vorarbeiter, aber auch dieser traute sich natürlich nicht, ihr zu widersprechen. So zogen sie gemeinsam mit den Trägern am Flussufer entlang und selbst Odugme hatte es leichter als sonst, denn die Sklaven hatten die Waren auf Schlitten geladen und Tal hatte dafür gesorgt, dass der Sarg auf dieselbe Weiße transportiert wurde.

Zweimal wurde sie von Stadtwachen angehalten. Da es sich um Silberwölfe handelte, mussten sie die Durchsuchungen über sich ergehen lassen. Es stellte sich heraus, dass man nach wilden Hobgoblins suchte. Offenbar fürchtete man einen Aufstand oder gar einen Angriff seitens der Rotaugen. Tal rollte mit den Augen, sagte aber überhaupt nichts.

Die Sklaven wollten in Quinkstadt bleiben, aber Tal kommandierte einen der Schlitten in die Oberstadt ab. Man würde die Sklaven gehen lassen, sobald die Ausrüstung der Doppelmondhexe beim Haus  Y`shandragor abgegeben wurde.

Besagtes Haus lag im Dunkeln und die Haupttür stand einen Spalt offen. Giftige Rankenpflanzen hatten den Hof überwuchert und es stank nach toten Ratten. Ughtred klopfte im Hof an die Haustür und wartete geschlagene fünf Minuten, bis der uralte Quink öffnete und in die Dunkelheit herausstarrte. Genervt fragte er: »Wer da?«

Ughtred wollte freundlich antworten, aber Tal brüllte gereizt vom Hof herüber: »Rattenscheiße, Tür auf und helft uns die Ausrüstung hinein zu bringen. Feuer machen und besorgt etwas Essbares!«

Sie hatten es geschafft. Shishney hatte sie wieder und der Chaosschild war geborgen worden. Der Nygh rieb sich über die Stirn und sah zu wie die Silberwölfin den Schild quer durch den Innenhof zerrte. Odugme trug Kyon die Stufen zur Tür hinauf. Wie würde es weitergehen? Das Tagebuch berichtete von wirren Vorgängen in der Stadt. Ein Zahnrad musste repariert werden und zwar von einem bestimmten Schmied. Warum konnte kein anderer Schmied diese Arbeit verrichten? Und dann mussten sie in die Zitadelle einbrechen. Ja, man hatte ihn Dieb getauft, aber er hatte den Kerker von Shishney schon von innen gesehen und hatte nicht die geringste Lust, dort zu versauern. Undorn war das Grab seiner Vorväter und er hatte es geplündert. Seine Hand fuhr zum Knauf des Messingschwertes. Was hatte es ihm gebracht? Jetzt sollte er mit den beiden Verrückten in das Grab eines alten Silberwolfes eindringen und die mächtigste Waffe des Landes stehlen. Ein Schild, ein Speer, Drachenfeuer und am Ende ein Schatz über den sie so gut wie nichts wussten. Das Ganze war Irrsinn, aber er musste zugeben, er hatte sich an seine beiden Reisebegleiter gewöhnt. Trotz ihrer Schrullen hatten sie etwas Beständiges, dass sein Herz erwärmte.

Er zuckte mit den Schultern und half die Ausrüstung ins Haus zu schaffen. Wenn Kyon erwachte, würde er sicher alles andere als fröhlich sein. Er, Ughtred aus Korezuul, würde versuchen, in besagtem Moment möglichst nicht in der Nähe zu sein. Ressourcen mussten getauscht werden, Odugme brauchte unbedingt eine richtige Rüstung und er musste lernen, mit Waffen umzugehen. All dies waren Dinge, die erledigt werden mussten. Sollte die Hexe sich um den Barden kümmern.

Und so kehrten sie in das Haus Yˋshandragor zurück. Sie hatten sich besser kennengelernt, den Chaosschild und Weisheit errungen. Doch das Tagebuch des Lonkaiyth dan Y`shandragor hielt noch viele weitere Geheimnisse bereit und es würde zweifelsfrei nicht lange dauern, bis es es wieder hieß: auf ins Abenteuer!