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Die Schwarze Perle 2

Inhaltsverzeichnis

Ursprung: Tiba Fe

Land: Kisadmur

Autor: Ildarion Corpas

 

Dem Großes droht, Verzicht ist bald sein bester Freund …

LdY`s

 

Der eherne Speer des Raguel

Ein Recke, ein Held, mondhell und mit scharf geschnittenem Profile, kein andrer ist`s als Raguel Siarn dan Orthenaug. Jeder weiß wo er begraben und hierhin soll die Reise gehen. Denn, ja es gibt kein anderes Klingenwerk auf der Tiba Fe, das eher Schuppenkleid durchstoßen kann, denn dieses Hexenkönigs eherner Speer.

In Shishneys Zitadelle, hoch genug unter dem ewigen Eis der Zauberin Schloss, liegt der Mann, der Krieger, in ewiglichem Schlaf. Bei ihm sein eherner Speer, doch niemand wird hier jemals wieder eingelassen.

So steht es im Buche dieser Stadt: Eine unsichtbare Tür vom Aufzug der Zitadelle, linkerhand führt auf geradem Wege zu Räumen jenseits dieser Welt. Auch dort ist vermerkt, ein Wachraum unter diesem Grab, wo nur ein Rätsel die Decke über einer Treppe öffnet. 

 

Auszug aus dem Tagebuch des Sliyn Lonkaiyth dan Y`shandragor

 

Raguels Grab

Man erzählte sich übelriechende Geschichten über die Hobgoblinplage in Quinkstadt, die vielleicht mit einem schrecklichen Nekromanten im Süden des Plagensumpfes in Verbindung stand, aber die Bewohner des Hauses Y`shandragor hatten ganz andere Probleme. Während also die verschiedenen Garden und Wachen Shishneys von Haus zu Haus gingen und versuchten der ›Rotaugenplage‹ Herr zu werden, überlegte Kyon ungehalten, wie er den maroden Zustand seines Hauses in den Griff bekommen könnte. Als Tal ihn einige Tage nach ihrer Ankunft in Shishney nach den Arunensteinen fragte, gab er nur lapidar zurück, die wären längst für Nahrung und andere Annehmlichkeiten ›drauf gegangen‹. Er hatte den alten Flark, seinen letzten Quinkhofmeister der ihm verblieben war, angewiesen, für die Ressourcen neue Bedienstete einzustellen, aber da er neben besagter Nahrung, Gelbwein und Decken auch Farbe und Reinigungsmittel geordert hatte, waren die drei neuen Quink die der Alte vorstellte, alles andere als hochwertig. Es handelte sich bei ihnen um einen kräftigen, aber recht alten Mann, der mit einem Holzbein daherkam, einer alten Vettel mit schiefem Unterkiefer und einem sehr dürren Mädchen namens Kakluk, die so hässlich war, dass sich Kyon immerhin ihren Namen merken konnte. 

Der Zustand seiner Mutter war, wie in den letzten fünfunddreißig Jahreszeiten unverändert. Sie saß in ihrem Schaukelstuhl und starrte aus dem trüben Fenster auf die nebligen Straßen hinaus. Es war, als könne sie allein kraft ihrer aussagelosen Blicke ihren Gefährten aus den Tiefen der Unterwelt zurückholen. Doch Kyon hatte die Wildnis am eigenen Leib zu spüren bekommen. Sein Körper schmerzte und er erinnerte sich gut daran, wie es war, wenn sich die Todesangst in das Herz grub und an der Seele zu zerren begann. Wer von einem Drachen gefressen wurde, kam nicht wieder. Nicht einmal die Essenz seines Vaters würde nach Shishney zurückfinden. Drachen gaben wertvolle Dinge niemals frei, wenn sie erst einmal davon Besitz ergriffen hatten. Er mochte sich nicht vorstellen, wie es war die Unendlichkeit im Gedärm eines gigantischen Ungeheuers zu verbringen. Hatten die Nugai sie dafür geschaffen? Waren die Smavari Drachenfutter mit brennenden und schreienden Seelen zum Vergnügen der Echesnkönige?

Er erhob sich und strich seiner Mutter über das seidenweiche Haar. Ein Speichelfaden rann ihr aus dem Mund, aber die neue Pflegerin, die Fettel, stand bereit und strich der Silberwölfin über das Kinn. Kyon nickte und unterdrückte den Drang, die Quink zu ermahnen. Sie hatte nichts Schlimmes oder Anstößiges getan, aber es traf ihn zu sehen, dass dieses alte, niedere Wesen sich um seine Mutter kümmerte, während diese einst so schöne und mächtige Frau ihren Speichel nicht bei sich behalten konnte. Kein Wunder, dass seine Art immer wieder zu Ausbrüchen neigte, die ganze Landstriche in Wüsten verwandeln konnten. Das Dasein war ungerecht. Macht bedeutete wenig – Schicksal und Karma waren übermächtig. Schulterzuckend beschloss er, eine Rechnung zu begleichen.

Ughtred und Tal saßen in der Küche im Untergeschoss des Haupthauses und unterhielten sich über Lonkaiyths Tagebuch. Seiner Annahme aus, musste sich die Totenkammer des Raguel im zwölften Stock der Bergzitadelle befinden. Von den Lastenaufzügen auf der linken Seite einer Balustrade sollte es eine Geheimtür geben, die wiederum in einen Unraum führte. Ughtred fragte was das sei und die Hexe erklärte es ihm. Die Smavari hatten vor endlosen Millennien die Grenzen der Dimensionen, welche von anderen Wesen als Realität bezeichnet wurden, überschritten und Maschinen konstruiert, mit deren Hilfe sie diese Grenzen jederzeit erweitern konnten. Smavarische Unräume reichten von der physischen Welt, in die Anderwelt hinein. Besagte Gruft würde also wahrscheinlich außerhalb der Grundfesten der Zitadelle in einer anderen Dimension liegen.

Der Nygh sah sie verständnislos an und fragte, welchen Zweck dies habe, aber die Hexe lachte nur. Zwecke? Musste alles einen Zweck haben?

Als Kyon die große Küche betrat, gab er dem einbeinigen Quink ein Zeichen, dass es ihm zu kalt war und dass er gefälligst das Feuer anfachen solle. Der Alte gehorchte und Kyon ging zu der Anrichte, wo die alte Köchin seines Vaters gerade Milch warm machte. Er holte die Phiole aus der Gürteltasche, die Ayn Yrdelaiy yr Northwyll ihm gegeben hatte und gab zwei Tropfen in einen Becher. Dann gab er zum Erstaunen der alten Quink Milch dazu und bereitete zwei weitere Becher, die er allerdings nur mit Milch füllte. Er stellte sie dicht zusammen, ging zum Tisch und stellte zwei der Becher vor den Nygh und die Hexe und setzte sich mit seinem eigenen ihnen gegenüber. Natürlich hatte er den Becher mit den Tropfen vor Tal hingestellt. Er wartete einen Moment, trank einen Schluck, erkundigte sich nach dem Befinden der beiden und erhob sich, da er noch dringende Geschäfte zu erledigen hätte.

Tal und Ughtred sahen ihm etwas verwundert nach, aber er war schließlich ein wunderlicher Mann, also dachten sie nicht weiter über sein Verhalten nach. Es dauerte nur wenige Minuten, da begann die alchemistische Substanz der Ayn von Baiyl zu wirken.

Tal hatte das Gefühl, ihr Mieder würde immer enger und die Raumtemperatur stieg und stieg. Ja, Kyon hatte dafür gesorgt, dass der Kamin weiter angefacht wurde, aber ein solches Ergebnis hätte sie nicht erwartet. Sie öffnete die Knöpfe ihres Oberteils und sah Ughtred an. Vorher war ihr nie aufgefallen, wie schön seine Augen leuchteten und wie glänzend sein Haar war. Der Nygh nahm einen Schluck Milch und sah sie dann an. Dabei blieben seine Augen eine Sekunde auf ihren nun sichtbaren Brüsten hängen. Sie hatten sich zwischenzeitlich beide oft genug nackt gesehen, aber Ughtred begriff sofort, dass hier etwas nicht stimmte.

Tals Brüste schwollen an und sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse der Gier. Dann stand sie auf und wischte wortlos die Becher vom Tisch. Ughtred floh.

 

Das leise Plätschern des Regenwassers, dass über die defekten Fangrohre vom Dach auf die tief darunter liegenden Pflastersteine schlug, drohte Kyon in den Schlaf zu wiegen. Mit geschlossenen Augen lag er auf seinem großen, ein wenig nach Moder riechenden Bett und wartete auf den Einschlag – und er musste nicht lange warten. 

Als sich die Tür öffnete, öffnete auch er träge die Augen. Aus der dunklen Kälte des Flures schälte sich der bleiche Leib der Doppelmondhexe. Ihre Augen glommen in dämonischer Leere als sie sich langsam dem Bett näherte. Im ersten Moment fand Kyon die Situation interessant genug, um sich einfach entspannt zurück zu lehnen, doch als er die lüsterne Mordgier in Ytˋtalans Blick erkannte, wurde ihm mulmig. Doch für Gegenwehr war es längst zu spät. Er hatte der Hexe körperlich nichts entgegen zu setzen und schon war sie über ihm und grub ihre Fangzähne stöhnend in seinen Nacken. Er versuchte zu schreien, aber sie presste einen Unterarm in seinen Rachen und sofort schmeckte er ihr eigenes Blut. Dann erfasste die beiden Silberwölfe ein übernatürlicher Strudel, von dem zwischenzeitlich schlecht gewordenen Hobgoblinsaft, den die Ayn von Baiyl der Hexe auf Umwegen verabreicht hatte, aufgeheizter Paarungstrieb. Im Verlauf dieses wilden Treibens ging ein Stuhl zu Bruch und wenigstens eins seiner Beine machte Bekanntschaft mit verschiedenen smavarischen Körperöffnungen. Sie verwüsteten gemeinsam Kyons Zimmer und die Köpfe der Bediensteten, die sich ängstlich in den Keller zurückzogen. Einzig Ughtred blieb auf der Treppe, doch auch er wusste später nicht zu sagen, wie er den beiden Furien hätte Einhalt gebieten können. 

 

Als Tal erwachte lag sie in einem nach Urin, Kot und anderen Körperflüssigkeiten riechenden Bett. Sie fühlte sich seltsam ausgelaugt, aber auch auf eine übernatürliche Art befriedigt. Ihr Magen drückte, also verkroch sie sich in eine Ecke des dunklen Zimmers und verrichtete ihre Notdurft. Hatte sie etwas schlechtes gegessen? Sie überlegte, wie sie in dieses Zimmer gekommen war, konnte sich aber nur an eine düstere treppe erinnern, die sie emporgeschwebt war. Schweben war gut. Ihr Geschlecht schmerzte sie ein wenig, und ihre Waden bekamen langsam einen Krampf. Als sie aufstand, erblickte sie Füße, die aufrecht am Bettrand standen. Der dazugehörige Silberwolf lag auf der von ihr abgewandten Seite des Zimmers. Sie humpelte zum Bett und zog mit einem Ruck die widerliche Decke herunter und knüllte sie zusammen. Dann kroch sie zu den Füßen und lugte über den Rand des Bettes.

»Herr Sliyn?«, fragte sie leise und tatsächlich, da lag er.

Sie hob die Brauen. Er war in einem erbärmlichen Zustand. Nackt und bleich lag er im tiefen Schlaf der Erschöpfung. Eine seiner Rippen stand in einem unschönen Bogen aus seinem Brustkorb hervor. Oh oh, dachte Tal und berührte die Stelle. 

Kyon stöhnte und kam zu sich. Er blinzelte und hob abwehrend die Hände, als er ihrer gewahr wurde. Sein Gesicht hatte etwas erschreckend Kindliches. Doch dann wurde er wach und wand sich in deinem Schmerz. Die gebrochene Rippe haltend, japste er nach Luft und war froh, als Tal neben ihn glitt und damit begann, eins der Kissen in Streifen zu reisen. Sie presste die Rippe vorsichtig an ihre ursprüngliche Position, ignorierte seine Schreie und begann ihn mit den Stoffstreifen zu fixieren.

Die Prozedur dauerte recht lange und als sie die Verletzung fixiert hatte, stand sie auf und ging, nackt wie sie war, durch das stille Haus. Sie holte eine ihrer Taschen und gab Kyon eine ihrer alchemistischen Tinkturen, um seine Schmerzen zu lindern. 

»Waren das wir?«, fragte sie nach einer Weile und setzte sich auf die Bettkante. Sie schürzte nervös die Lippen und hob das Stuhlbein hoch, um daran zu schnuppern, ließ es dann aber polternd zu Boden fallen.

Ohne auf eine Antwort zu warten, sagte sie: »Ich weiß wirklich nicht, was da in mich gefahren ist. Jemand muss mich vergiftet haben.«

»Ja«, keuchte Kyon und versuchte sich auf dem Boden, wo er immer noch ans Bett gelehnt saß, in eine bessere Position zu manövrieren.

»Wir müssen herausfinden, wer uns das angetan hat«, hauchte die Hexe leiser.

»Müssen wir nicht. Wir sind jetzt quitt.«

Sie beugte sich vom Bett aus über ihn und fragte mit hängenden Haaren: »Wieso quitt?«

Kayon hob eine Hand, um sich zur Not zu verteidigen und sagte: »Ihr habt mich vergiftet, ich habe euch vergiftet, ergo, quit.«

Sie sah ihn an. »Ihr wart das?«

»Ja ich.«

»Wann?«

»In der Küche.«

»Ah ja?«

»Ja.«

Sie musterte ihn einen Moment. Dann rutschte sie neben ihn auf den Boden. Ihre Brüste waren angeschwollen und ihre Rippen zeichneten sich unter ihrer fast transparenten Haut ab. Kyon musterte sie vorsichtig. Sie war unberechenbar. Sicher würde sie ihm jetzt mit ihrer winzigen, s-förmigen Ritualklinge die Kehle durchschneiden und sein verdammtes Blut trinken.

Stattdessen sagte sie ruhig: »Ja, kommt mir auch so vor. Wir sind quitt.«

Dann richtete sie sich auf, kroch über ihm hinweg auf das Bett zurück und streifte dabei mit einem Knie seinen Brustkorb. Seinen erneuten Schmerzensschrei ignorierend verließ sie Kyons Schlafgemach.

 

Es vergingen einige ruhige Tage. Tal versuchte eine Audienz bei ihrer Ordensmutter Akkatha zu bekommen, wurde aber nicht zu ihr vorgelassen. Trotzig begab sie sich zurück ins Haus Yshandragor und vertiefte sich wieder einmal in die Studien der Bücher, welche sich seit ihrem Besuch in der geheimen Bibliothek in Dranought in ihrem Gehirn befanden. Die chaotisch durcheinander gewürfelten Informationen ließen sich schwer von ihren eigenen Erinnerungen und Gedanken trennen und hatten längst begonnen, sich in diesen aufzulösen. Dennoch fand sie was sie suchte und begann damit, die alten Anleitungen zu feinstofflichen Disziplinen auszuprobieren. Sie versetzte sich regelmäßig in Trance und suchte nach ganz bestimmten Formen. Sie hatte gelesen, dass es möglich war, die eigene Physis, derart mit ihren Wegbegleitern zu verschmelzen, dass jeder von ihnen mittels dieser Synergie die jeweils besten Eigenschaften der anderen Nutzern konnte. Immer wieder griff sie in die Membran, zupfte am den Fäden der Zwischenwelt, bis sie eines Tages darin Kyons Essenz entdeckte. Von diesem Moment an, gelang es ihr spielend, sich mit ihm zu verbinden. Als nächstes folgte Ughtred und dann war es auch kein Problem mehr Odugme mit in die Synergie zu ziehen. Bei den ersten Versuchen kam es zu kleineren Unfällen. Ughtred stolperte und Kyon zerriss eine Saite seiner Laute. Aber bald gelang es ihr, so gut wie der zu sehen und ausdauernd wie der Nygh zu laufen.

Ughtred beschäftigte sich viel mit Odugme. Er trainierte den Phani regelmäßig im Umgang mit Waffen und übte sich selbst dabei weit mehr, als er Anfangs dachte. Es dauerte nicht lange, da bemerkte er, dass seine Körperbeherrschung an Eleganz und Schnelligkeit zunahm und bei den wenigen Malen, da er sich mit Tal im Nahkampf übte, musste auch diese seine Fortschritte zugeben. Ansonsten half er, so gut es ihm möglich war, beim Einkauf, den Renovierungsarbeiten und der Einweisung der neuen Bediensteten. Er hasste es, wenn die Silberwölfe diese Leute Sklaven nannten. In Korezuul gab es keine Sklaverei und die Vorstellung ein anderes Lebewesen zu einem Leben zu zwingen, welches es nicht von Natur aus führen wollte, war jedem Nygh zuwider. Dennoch, er lebte jetzt, zumindest für einige Zeit in Kisadmur und da war es ratsam, sich den hiesigen Gepflogenheiten zu unterwerfen; auch wenn er sie noch so schrecklich fand.

 

Erwähnenswert ist an dieser Stelle noch das Treffen zwischen Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor und den beiden Maskenmännlein seines verstorbenen Vaters. Viele höhergestellte smavarische Häuser rühmten sich wenigstens eines dieser Wesen ihr Eigen zu nennen. Wie die Linie derer von Yˋshandragor an sogar zwei von ihnen gelangte, ist in der Dunkelheit der Geschichte verloren gegangen. Maskenmännlein sind krude Geister der dunkelsten Gefilde der Anderwelt. Sie erscheinen als kleine, wie der Name schon sagt, Männlein mit Masken und zeigen niemals ihre wahren Gesichter. Wahrscheinlich ist dies auch besser so und kein Smavari würde versuchen dieses zweifelsfrei mehr als schreckliche Geheimnis zu lüften.

Der Zweck von Maskenmännlein hingegen war mehr als einleuchtend, besaßen diese Wesen doch geradezu legendäre zauberische Fähigkeiten. Silberwölfe waren ja nun ebenfalls in solchen Dingen bewandert, doch wer einen Diener hatte, musste nicht selbst den Küchenboden kehren und die Magie der Maskenmännlein überflügelte nicht selten die Kräfte ihrer Herren. So auch im Hause Yˋshandragor, in dem Splinternackt, das bedeutend freundlichere Maskenmännlein, einst Faktotum seines verstorbenen Herrn Lonkaiyth für die Sicherheit des Hauses sorgte. Doch tief unter dem Gemäuer des Hauses wirkte Zangenbrand, der Schmied und Pfeilbauer des Herrn und er war alles andere als hilfreich und friedlich. Dies ging soweit, dass Lonkaiyth diesen bösen Geist vor langer Zeit mit einer brennenden Eisenkette an seine Esse schmiedete, um seiner Flucht und Rache vorzubeugen.

Als Kyon also mit den Renovierungsarbeiten und seinem eigenen Wohl einigermaßen zufrieden war, zitierte er Splinternackt zu sich. Maskenmännlein müssen erscheinen, wenn ihre Herren sie beim Namen riefen, und Kyon war nun ganz offensichtlich der Herr im Haus. Sein Vater hatte ihn früher immer vor diesen Wesen gewarnt. Sie hatten nie etwas Gutes im Sinn und würden so oft wie möglich versuchen, ihren Herren zu schaden. Strafen sahen sie als Vergnügen an und eines von ihnen ganz und gar auszulöschen war der Sage nach recht schwierig.

Einen Übergaberitus hatte es nicht gegeben, aber Kyon war leichtgläubig in diesen Dingen und ging einfach davon aus, dass beide Geister nun ihm dienten. Also befahl er, und so weit er es einzuschätzen vermochte, taten sie beide, was er erwartete; zumindest hatte es den Anschein.

Tatsächlich verbeugte sich Splinternackt vor dem jungen Silberwolf und als dieser dem Eltwesen auftrug, sich um bestimmte Dinge im Haushalt zu kümmern, bestätigte es seine Befehle. Als er jedoch sagte, es solle hinunter in den Keller gehen und neue Pfeile beim Pfeilmacher in Auftrag geben, verneinte es mit bitterem Hohn in der Stimme. Diesen Weg müsse er selbst gehen, da der grimme Zangenbrand von niemandem als dem Meister selbst Befehle anzunehmen trachtete. Kyon hatte sich schon gedacht, an dieser Stelle zu scheitern. Dennoch war es den Versuch wert gewesen. Zangenbrand war wirklich ein unangenehmes Ding und er hatte immer ein ungutes Gefühl, die schweren Ketten vor der Schmiede zu lösen und die Feuerhölle des Kobolds zu betreten. Aber es musste sein. Die Reise hatte seine Pfeile aufgebraucht und es war an der Zeit, sich neu auszurüsten. Er wollte zwar keineswegs zu neuen Abenteuern aufbrechen, zumindest nicht in der nächsten Zeit, aber er wusste ja, wie schnell sich die Stimmung der Hexe ändern konnte und dann wollte er nicht unbewaffnet in einer Höhle aufwachen.

Die Treppe zu Zangenbrands Schmiede war durch eine Doppelte Schwarzholztür mit schweren Eisenbeschlägen gesichert. Es gab nur einen Schlüssel für die sechs Schlösser und es dauerte jedes Mal gut und gerne eine Ewigkeit sie zu bedienen. Kyon hasste diese Prozedur, aber sein Vater hatte ihm schon als Welpe klar und deutlich eingebläut, wie wichtig sie für das Überleben des Hauses und ganz Shishneys war. Ist der Gnom denn wirklich so gefährlich, hatte er damals mit großen Augen gefragt und der Vater hatte nur stumm genickt. 

Er starrte in die Dunkelheit hinter der zweiten Tür. Die Treppe war steil und hier unten hätte es kalt sein sollen, doch die Luft war von einer unguten, die Nackenhaare aufstellenden Wärme erfüllt. Mit langsamen Bewegungen hob er die alte rostige Eisenlampe und fühlte das Bitzeln, wo ihr Haltebogen seine Finger berührte. Der Gang ging in einem steilen Winkel in die Tiefe hinab und er hatte mühe nicht vornüber zu kippen. Als er vor der Tür der Schmiede angekommen war, hatte ihn sein Mut fast schon wieder verlassen, aber er dachte an die Hexe und ihr verdammtes Gift und riss sich zusammen. 

Vorsichtig hob er eins der Schlösser an den Ketten der Tür, erkannte aber, dass er es nicht mit einer Hand öffnen können würde. Er musste die Lampe abstellen. 

Mühsam schloss er eins der Schlösser nach dem anderen auf und ließ die schweren Ketten durch die Eisenringe rattern. Der Krach war ohrenbetäubend und er hätte sich gewünscht, sein Vater, oder wer auch immer für diese Sicherheitsmaßnahme verantwortlich war, hätte sich einst etwas anderes, unauffälligeres einfallen lassen. 

Er drückte die schwere Tür nach innen und folgte mit den Augen dem Licht, welches sich ängstlich in den Raum wagte. Doch kaum hatte es die Hälfte des Gewölbes erreicht, stürzte sich ein schwarzes Monster darauf und fraß es mit Haut und Haaren auf. Was blieb, war eine absolut undurchdringliche Finsternis, in der nicht einmal die scharfen Augen eines Smavari etwas sehen konnten. Es war eine übernatürliche, vom Bösen durchdrungene Dunkelheit und ein schwächerer Geist als der eines Eltwesens wie Kyons eines war, wäre allein an diesem schwärenden Bösen zugrunde gegangen.

Allen Mut zusammennehmend rief Kyon den Namen des Maskenmännleins. Zangenbrand, Zangenbrand, Zangenbrand, denn wer den Namen eines solchen Wesens kannte und zu nutzen wagte, hatte Macht über sein Handeln.

Und Zangenbrand gehorchte. Als zwei rote Pünktchen in der undurchdringlichen Finsternis erschien der böse Geist und er knurrte und seine Anwesenheit sprach von brechenden Knochen und verglühendem Fleisch. Doch Kyon blieb stark und gab seine Pfeile in Auftrag. Es solle schnell gehen und er erwarte, die Pfeile oben in der alten Rüstkammer vorzufinden. Ein anderes Maskenmännlein würde sie abholen. Wieder fauchte der Schmied und Feuer loderte auf, aber er gehorchte und Kyon, der genug hatte, wandte sich ab und begann mit der Zeremonie der Wiederverschließung dieser Hölle unter seinem Haus.

Es würde einige Tage dauern und der Höllenschmied würde sich sicher nicht beeilen mit diesem Auftrag, aber die Pfeile würden kommen. Kyon berichtete Splinternackt von seinem Erfolg und dieser lächelte hämisch. Es wäre nicht das erste Mal, dass einer der bestellten Pfeile nach hinten losginge. Das Männlein erinnerte sich gut daran, wie er einmal dem alten Yˋshandragor ein Ohr wieder annähen musste, weil ein Explosionspfeil zuerst explodiert und dann erst geflogen war. Aber davon erzählte er Kyon nichts und dieser hätte es zweifellos auch nicht hören wollen.

 

Weitere Tage vergingen. Der Frühling schien eine Pause zu machen, denn es war wieder kälter geworden und hatte sogar einige Male in den Nächten geschneit. Die Stadtwächter suchten immer noch nach wilden Hobgoblins und mehr als einmal wurden unschuldige Haushobgoblins auf öffentlichen Plätzen verbrannt. Man konnte nie wissen. Leider kam es durch diese Vorgehensweise zu einer Vermehrung der Ratten in den Häusern der Bewohner Shishneys und somit wurden die Stimmen lauter, man solle es nun gut sein lassen mit der Rotaugenverfolgung. Auch im Hause Yˋshandragor entdeckte man einen unbekannten Hobgoblin und Tal und Ughtred gaben sich große Mühe ihn einzufangen. Als es ihnen endlich gelungen war, das quirlige Wesen zu packen, brachten sie es pflichtbewusst zur Wache im Osten des Viertels, doch dort wurde es verhört und da es beteuerte, ein Haushobgoblin zu sein, weigerte man sich, es zu massakrieren. Die Rattenplage hatte nun vorrang und die Obrigkeit hatte verboten Hobgoblins zu verbrennen, die nicht eindeutig als wild auszuweisen waren.

Kyon wurde befragt, ob er den Hobgoblin kenne und dieser winkte ab und sagte, er sei ein Sliyn und als solcher konnte es kaum seine Aufgabe sein, jedes Rotauge in seinem Haus beim Namen zu kennen. Man solle den dürren Kerl in Frieden lassen, schließlich hätte er bei seiner Rückankunft Ratten im Hofe seines Hauses gesehen und das könne ja nun wirklich nicht sein. Tal und Ughtred, die sich noch gut an die Gefahren durch wilde Hobgoblins im Plagensumpf erinnerten, waren ein wenig fassungslos, aber es war schließlich sein Haus und andererseits hatte ihnen der Hobgoblin auch nichts getan. Also ließen sie ihn frei.

 

Kurz nach der Sache mit dem Rotauge hatte Tal feststellen müssen, dass sie nun wirklich über kein einziges annehmbares Kleid mehr verfügte. Sie ging zu Kyon und fragte erneut nach den Arunensteinen und bekam dieselbe Antwort wie beim ersten Mal. Diesmal jedoch verlangte sie einen Ersatz für ihren Anteil. Kyon überlegte einen Moment und trug einer der Quinkdienerinnen auf, ein Kleid seiner Mutter herbeizuschaffen. Doch es war Tal anzusehen, dass diese Sache für sie alles andere als erledigt war. Kyon hatte ein ungutes Gefühl. Er traute der Hexe alles zu und wollte nicht eines Morgens mit einer ungeraden Anzahl von Hoden erwachen. Er überlegte einen Moment bei dem Gedanken und schüttelte dann den Kopf. Er korrigierte sich. Zwei war die Zahl. Nicht eins und auch nicht drei und fünf schon gar nicht – zwei!

Ressourcen mussten her, aber wie? Er überlegte und entschied sich noch am selben Abend bei einer Soiree in der Nachbarschaft, einige seiner neuen Lieder und Geschichten zum Besten zu geben. Gesagt, getan und der Abend lohnte sich sogar in jeder Hinsicht. Er trug Lieder vor, erhielt ein wertvolles Armband von einer alten Dame, der er nur einmal in die Brustwarze biss und hatte später ausdauernden Beischlaf mit dem Gastgeber und dessen beiden Frauen. Als er das noble Haus verließ, nahm er noch zwei Kerzenständer und ein Ding mit, dass er zuerst für eine Kruge gehalten hatte, das sich jedoch als extravagantes Feuerzeug herausstellte. Er versetzte die Sachen noch auf dem Nachhauseweg, bog aber dann ins Haus Lysai ab, wo dessen Besitzer Pegual Athmortis darauf bestand, aus Kyons Hand die Schulden des Hauses Yˋshandragor bezahlt zu bekommen. Wie gewonnen, so zerronnen, dachte der Barde und überlegte, wie er schnell an mehr Ressourcen gelangen könnte.

Seine Gedanken wanderten zur Silberwacht. Er hatte die Bleidecke dort erhalten. Sie hatten da derart viele Waffen, die konnten niemals alle zum Einsatz kommen. Schade im Grunde oder? Doch dann stolperte er über eine Treppenstufe und rannte in den harten Bauch einer ihm bekannten Kriegerin. Ayn Urkaiyney y`Yrten sah ihn mit ihren harten, durchdringenden Augen an und in Gedanken sah er zu, wie sie ihm eines seiner Eier entfernte. Nope, das war nicht der Weg. Er wollte gerade seinen Geist an einen anderen Ort gleiten lassen, da hörte er die Herrin der Silberwacht die Luft durch die gebogene Nase ziehen. Er wand sich zu ihr um, und schnell wandte sie sich ab. Sie war ihm verfallen. Er nickte. Konnte es sein? Er überlegte, warum er selbst nichts davon fühlte. Die Frau war ihm durchaus sympathisch und er mochte ihre straffen Rundungen und auch ihre Stärke imponierte ihm, aber das war nicht zu vergleichen mit der Liebe, die er für Northrian empfunden hatte. Konnte er aus dieser Sache Ressourcen schlagen?

Direkt am nächsten Morgen, die Tagesschwestern waren noch lange nicht aufgegangen, ging er vom Haus Lysai in Richtung der Wache. Er nickte Raguels Statue auf dem Platz davor freundlich zu und hatte diesmal ein eher seltsames Gefühl. Es war, als würde der alte Kriegsheld ihn mit seinen steinernen Augen verfolgen, aber Kyon konnte sich jetzt nicht mit solchen Dingen beschäftigen. Er war schließlich auf Freiersfüßen und musste sich darauf konzentrieren, keinen seiner Hoden zu verlieren.

Er setzte sich in eine der Wachstuben, beförderte seine Laute zutage und ließ ein fröhliches Soldatenlied erklingen. Er mochte diese Art der Unterhaltung nicht, aber jedes Publikum hatte seine Vorlieben und er war weit davon entfernt sich das seine exklusiv aussuchen zu können. 

Die Krieger lachten, tranken und bedachten Kyon mit Lob. Sie liebten es, wenn ihre Wache mittels musikalischer oder gar sexueller Unterhaltung erträglicher gemacht wurde. Etwas später fragte Kyon einen der Männer, wo man wohl die Ayn in einem privateren Umfeld als der Silberwacht treffen könne. Sie hatte ja kein Stadthaus, wie er wüsste, aber eventuell verkehrte sie ja in einem. Der Soldat lachte und schüttelte den Kopf. Das Leben der Kriegerin fand hier in der Wache statt. Kein Wunder, dass sie so spröde sei und nie einen der Männer zwischen ihre kräftigen Schenkel ließ.

»Nie?«, fragte Kyon seltsam betroffen und der Krieger schüttelte den Kopf. 

»Es heißt, sie sei unglücklich verliebt.« Der Mann sah Kyon bedeutungsvoll an und nickte dann.

Kyon überlegte. Wenn er unglücklich verliebt war, betäubte er diesen Schmerz mit sexueller Hingabe. Das funktionierte fast immer und wenn es einmal nicht klappte, trank er einen Tropfen moraidischen Rum.

Doch wie auch immer, gut für ihn, oder? Er wollte gerade gehen, da hielt ihn der Soldat zurück und sagte leise: »Kennt ihr Ayn Yz`Arun Djarias?«

Kyon überlegte einen Moment und antwortete: »Die Männerfresserin?«

Der Soldat nickte. »Ihr konnte nie etwas nachgewiesen werden. Ja, die drei Ehemänner sind tot, zweifelsfrei, aber weder konnten ihre Geister gefunden werden, noch war es möglich die Alte als Mörderin zu überführen.«

Er überlegte kurz. Dann fügte er hinzu: »Der wahrscheinlich höchste Richter Shishneys geht bei ihr ein und aus. Wahrscheinlich einer der Gründe, warum sie nicht überführt werden konnte.«

Kyon überlegte und fragte schließlich: »Und was hat das mit der Silberwächterin zu tun?«

»Na ja, die beiden scheinen Freundinnen zu sein und in Kürze wird die Männerfresserin erneut heiraten.«

»Ah ja? Und wer ist der zukünftig Tote?«

»Ein Stutzer namens Adaiyron dan Y`raguas, er ist der Handlanger von Horath bor Borug, dem besagten, wahrscheinlich höchsten Richter der Stadt.«

Kyon lächelte. Frischfleisch für die Kannibalin.

»Wann findet diese Farce statt?«

Der Soldat fragte in die Runde und einer seiner Kameraden wusste das Datum. In sieben Nächten würde Ayn Urkaiyney also im Hause Djarias sein und Häppchen genießen. Da würde man sich sicher über den Weg laufen.

 

Ytˋtalan schlenderte durch die Turmstadt und betrachtete die pittoresken Türen und Fenster der Häuser. Sie hatte Flark gefragt, ob es hier eine Heilerin mit Schwerpunkt Augenheilkunde gäbe und der alte Quink hatte entsprechende Erkundigungen eingeholt und ihr die Adresse einer Dame namens Nyshnifee yr Learnith genannt. Jetzt stand sie vor besagtem Haus und überlegte. Viele Ressourcen waren ihr nicht geblieben. Kyon hatte eine seltsame Fähigkeit alle Ressourcen in seiner Umgebung zu kanalisieren und dorthin fließen zu lassen, wo er sie am besten brauchen konnte.

Sie klopfte und wartete einen Moment, aber dann wurde die Tür von einer älteren Quink in einer grünen Tracht geöffnet. Die Meisterin erwarte die Frau Hexe.

»Ihr seid kurzsichtiger als eine einäugige Quink nach einem Marsch durch ganz Draiyn Andiled«, sagte die Frau. Sie trug eine Art kurzes Teleskop auf einem ihrer glimmenden Augen und stierte damit in Tals Augen. Dann nickte sie und griff nach einer Phiole auf ihrem Tisch. Überall in dem Behandlungszimmer stapelten sich Gläser, Metallgestelle und Phiolen mit obskuren Tinkturen. Tal hatte sich diese Dinge angesehen, bevor sie sich auf den Behandlungsstuhl, ein Ding, dass sie sich auch gut in einer Folterkammer der Zitadelle hätte vorstellen können, Platz genommen hatte.

»Und nun?«

Die Heilerin schob mit spitzen Fingern Tals Kinn soweit zurück, bis ihre Augen etwa waagerecht zur Decke empor blickten und dann tropfte sie eine leicht brennende Flüssigkeit hinein.

»Blinzeln«, befahl sie mit freundlicher Stimme.

Tal blinzelte und bemerkte jetzt erst winzige grünliche Pünktchen an der Decke, die hin und her wuselten.

»Glühwürmchen«, sagte die Frau. »Ihr seht sie jetzt, weil meine Tinktur die Fehlkrümmung eurer Augen korrigiert. Aber das ist keine dauerhafte Lösung, wenn ihr nicht das Augenlicht verlieren wollt.« Sie machte eine Pause, aber ehe Tal etwas sagen konnte, fügte sie hinzu: »Andererseits wäre das bei euch keine allzu große Veränderung, oder?«

Tal schluckte ihren Ärger herunter und sagte: »Und was schlagt ihr vor?«

»Sehgläser. Wollt ihr elegant oder lieber stabil?«

Die Hexe überlegte eine Sekunde und sagte dann: »Beides. Wann kann ich sie abholen lassen?«

»Ich habe hier etwas Schmales, in dunkelgrün-metallic mit an den Ohren entlang gehenden Streben und Klemmen in Fledermausflügelform. Das Passt zu eurer seltsamen Frisur. Und dies hier nenne ich Modell Fliegerbrille.«

Sie hielt ein dickes Lederband hoch, an dem sich ein Gestell aus demselben Material befand. Darin waren zwei kreisrunde Löcher, in die man die Gläser einsetzen konnte. Tal fand, es sah aus wie das Gesicht einer mittelgroßen Höhlenspinne, aber was tat man nicht alles für tote Gegner?

»Also wann kann ich sie abholen lassen?«

Die Heilerin spielte mit der Lederfassung und sagte: »Das würde zwei Ressourcen machen.«

»Abgemacht.«

»Pro Glas.«

»Pro Sehhilfe?«

Ein feines Lächeln verunstaltete die Lippen der Frau als sie zurückgab: »Pro Glas.«

Das spätere Gespräch zwischen Tal und Kyon verlief recht spröde. Sie brauche acht Ressourcen, er hätte keine, er solle welche besorgen, er würde welche besorgen … 

 

Sieben Nächte später stand Kyon in einer Schlange vor dem Anwesen der Djarias. Die Mauern wurden von Lampions in giftig grünes Licht gehüllt. Das Klientel in der Schlange stammte aus allen Schichten und Ethnien Shishneys. Da waren Krieger der verschiedenen Wachen, Günstlinge des Fürstenpaares, niedrige Adlige aus der Turm- und der Oberstadt und sogar Bewohner von Quinkstadt. Kyon konnte zwar keine Doppelmondhexen sehen, aber er würde sich nicht wundern zumindest jemanden aus dem Chentaitempel Shishney hier anzutreffen. Ob so jemand natürlich in der Schlange warten würde, war eher unwahrscheinlich.

Gerade rückten alle einen Schritt weiter, als hinter Kyon ein rhythmisches Stampfen näher kam. Er wandte sich um und sah im diesigen Licht der Teufelslampen eine massige runde Gestalt durch die Dunkelheit stapfen. Im ersten Moment dachte er, der Irre Riese aus der Totenstadt in der Wüste hätte überlebt und wäre ihm hierher nach Shishney gefolgt. Aber dann kam das Ding näher und Kyon erkannte darin einen smavarischen Droiden. Es handelte sich dabei um einen über sechs Meter großen Dayl`Vic`Snir, einer Art gigantischer Kugel mit zwei kurzen Stummelbeinchen und stählernen Flügeln. Sein Kranichkopf saß auf einem dicken, langen, sehr beweglichen Hals, der den Eisenschnabel und die lange, dünne Lanze darunter zu gefährlichen Waffen machte. Am Rücken, direkt hinter dem Halsansatz des Vogeldroiden, befand sich eine Aufnahme für verschiedene Werkzeuge. Man konnte hier eine Plattform, einen Kran oder eine Feuerlanze befestigen oder eben wie im vorliegenden Fall einen weit über den Kopf des Dings ragenden, gigantischen Hammer.

Kyon blinzelte und versuchte, die Gestalt zu erkennen, die ganz oben auf dem Hammerkopf ritt. Es war tatsächlich dieser, wahrscheinlich höchste Richter Shishneys. Horath bor Borug war ein alter, sehr dürrer Mann mit einer schmalen Nickelbrille und schütterem, glatt nach hinten gekämmten Haar. Er trug einen fadenscheinigen, hellgrünen Anzug und wirkte wie eine alte Eidechse. Was der merkwürdige Ritt auf dem Hammer bedeutete, konnte Kyon nicht einmal erahnen.

Als die Türwächter des Anwesens den Richter auf seinem seltsamen Reittier erblickten, öffneten sie die Türen weit und ließen ihn vor. Niemand in der Schlange sagte etwas dazu. Erst im letzten Moment sah Kyon nun auch den jungen Mann, der im Schatten des Droiden einherging und ebenfalls durch die Tore schlüpfte. Der Delinquent, ganz zweifelsfrei.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis der Barde am Tor angekommen war. Das Pärchen vor ihm war ohne Ansprache eingelassen worden und Kyon war sicher, dies würde bei ihm nicht anders sein. Doch der smavarische Krieger an der giftgrünen Holztür hielt ihn an. 

»Wer seid ihr?«, wollte der Mann schroff wissen.

Kyon sah ihn an und setzte eine genervte Miene auf. 

»Ich bin Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor, Barde und Bogenschütze und stadtbekannter Abenteurer.«

Der Wächter sah ihn ungerührt an und deutete dann hinter Kyon auf die Nächsten.

Kyon öffnete den Mund und wollte etwas sagen, aber er sah dem Krieger an, dass dieser auf Befehl handelte und wahrscheinlich noch schlechter gelaunt war als er selbst. Der würde ihn nie und nimmer in das Haus der Kannibalin lassen.

Er nickte und machte eine wegwerfende Handbewegung. Mir doch egal, dachte er und schlenderte an der Hauswand entlang. Er trug einen dicken Pelzmantel seiner Mutter, denn es war immer noch recht kalt. Der Boden war jedoch nass. Der Schnee blieb nicht länger liegen. Bald würde es wärmer werden. Den Nugai sei dank.

Er umrundete langsam das große Anwesen und suchte nach einem Hinterausgang und natürlich gab es diesen. Mehrere Midyar mit gezackten Hellebarden überwachten ankommende Quink, welche vollgeladene Schlitten und Holzwagen in das Anwesen bugsierten. Dutzende von Gelbweinfässern, Säcken mit Nahrungsmitteln und andere Güter, die Kyon auf die Schnelle nicht identifizieren konnte wechselten vom Reich der kalten Straße in das Revier der Kannibalin hinüber. Als Kyon sich einem der Echsenkrieger näherte, neigte dieser aufmerksam den stacheligen Kopf. Er sah auf Kyon herunter seine Augen sagten: dies ist der Hintereingang.

Kyon versuchte an ihm vorbei zu gehen, doch der Midyar versuchte ihm den Weg zu verstellen und ein weiterer der riesigen Wächter näherte sich bedrohlich. Doch der Silberwolf machte eine herrische Handbewegung und knurrte: »Zur Seite Echse!«

Und tatsächlich wichen die Midyar. Sie konnten nicht unterscheiden, welcher der Silberwölfe ihnen Befehle erteilen durfte und welche nicht. Trat einer der Smavari entsprechend herrisch auf, gab es nichts mehr, was sie ihm entgegensetzen konnten. So betrat Kyon das grün beleuchtete Anwesen und suchte nach einem Übergang aus dem Lieferantenbereich hinüber zum Außengarten, in dem sich ein Teil der Gäste befinden musste.

Eine schmale Tür brachte schließlich das erwünschte Ergebnis. Er schielte durch die Eisengitter und sah die Schatten der Gäste, die sich im Hof tummelten. Gläser die auf hohen Tischen befanden wurden von quinkförmigen Droiden aufgefüllt. Es gab Wärmelampen und offene Stehlen mit Feuer und über der ganzen Anlage flimmerte die nach oben steigende warme Luft. Smavari standen in kleinen Grüppchen beisammen und nahmen Häppchen von Silbertabletts, die ihnen Quink in seltsamen Kostümen reichten. 

Der Gartenbereich war relativ trist und die wenigen Pflanzenbereiche waren zwischenzeitlich zertrampelt worden. Kyon suchte nach der Herrin der Silberwacht und schließlich fand er sie. Sie stand wie viele der anderen Gäste an einem der Hochtische und schien sich mit einem wahren Hünen von Mann zu unterhalten. Kyon erkannte in dem Kerl zuerst nicht einmal einen Smavari. Er war sicher zwei Köpfe größer als er selbst und sein Haupt verunstaltete eine abstehende Mähne. Er sah eher wie ein struppiger Bär, als wie ein Silberwolf aus.

Ayn Urkaiyney trug ein zugegebenermaßen bezauberndes Abendkleid, welches trotz der Heizstehlen ihre Brustwarzen abbildete. Sie hatte ihr massiges dunkles Haar zu einer Turmfrisur hochgesteckt in der vierzehn Silbernadeln mit eisblauen Köpfen steckten. Ihre Lippen gaben ihr wie immer ein genervtes Aussahen.

Kyon näherte sich den beiden so, dass die Ayn ihn möglichst spät erkannte. Er stand praktisch direkt neben ihr, als er hörte, wie sie mit einem leisen Ton des Entzückens die Nachtluft einsog. Sie hob die gekrümmte Nase und schnupperte, als wäre sie eine Wölfin auf der Jagd. Dann sah sie sich um und Kyon tat es ihr gleich und dann trafen sich ihre Augen wie durch einen wirklich seltenen Zufall.

Sie sah mit einem Lächeln an, doch dann trafen sich ihre Augen und irgendetwas in ihr gefror. 

»Was für ein Zufall, euch hier zu treffen Wachtherrin«, sagte Kyon galant und sie gab dem Riesen neben sich mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er sich eine andere Begleitung suchen sollte. Kyon war begeistert. Das klappte ja großartig. Es würde nicht lange dauern und er hätte Zugriff auf alle Ressourcen der Silberwacht. Neue Vorhänge, ein neues Bett, Bezüge, guten Gelbwein, ausgebesserte Fenster, all dies rückte in greifbare nähe.

»Es ist geradezu wunderbar«, antwortete die Kriegerin und Kyon fragte sich, warum er solchen Respekt vor dieser kleinen Frau hatte. Sie war deutlich kleiner als er und auch wenn ihre Oberarme sie als Nahkämpferin auswiesen sah sie in ihrem dünnen Kleidchen und den abstehenden Nippeln alles andere als gefährlich aus. Leider änderte sich dies eine Sekunde später als sie freundlich lächelnd sagte: »Also Sliyn Kyon, zufällig glaube ich so überhaupt nicht an Zufälle und darüber hinaus kenne ich die Gästeliste der Besitzerin dieses Anwesens und ich fürchte, euer Name steht nicht darauf. Darüber hinaus, will ich eure Blicke der Zuneigung möglichst unbewertet lassen, aber ich teile euch hiermit in aller Freundlichkeit mit, dass ich euch entmannen werde, wenn ihr euch ein weiteres Mal mit den Absichten an mich heranschleicht, die euch heute hierher geführt haben.«

Kyon schluckte und rollte mit den Augen. War er ein derart schlechter Schauspieler? Oder konnte sie seine Absichten ebenso riechen, wie seine Macht über ihren Unterleib?

Er hob entschuldigend die Schultern und sagte dann voller Reue: »Ich bitte euch inständig um Verzeihung und um die Erlaubnis mich zurückziehen zu dürfen.«

Sie nickte milde und schnupperte schnell an seinen Schläfen. Dann machte sie eine wegwerfende Handbewegung, als wolle sie einen Kleinstamytoren aus Draiyn Andiled vertreiben.

Mit einer letzten Verbeugung wandte er sich dem Hinterhof zu und verließ den Garten über denselben Weg, über den er hier eingedrungen war. Er griff sich unterwegs in den Schritt und prüfte, ob seine Eier noch da waren. Sie hatten sich auf das Kleinstmögliche zusammengezogen und waren weit in seinen Schritt nach oben gewandert. Aber sie waren noch da. Er war froh, mit heiler Haut davongekommen zu sein.

 

»Ist es denn erlaubt, in die Bergzitadelle zu gehen?« Ughtred nahm einen großen Schluck Gerstensaft und sah Tal und Kyon an. Sie saßen in demselben Zimmer, in dem sie das aller erste Mal zusammengekommen waren. Ughtred hatte noch deutlich das Bild vor Augen. Da hinten war Tal wie eine Puppe auf dem Boden gelegen und hatte sich erst geregt, als ihr Geist aus dem toten Leib ihres Bruders zurück in ihren Lebenden geglitten war. Er schüttelte langsam den Kopf und rieb sich mit der Hand über die Stirn.

Kyon zog an seiner Pfeife und sagte dann mit Rauch in der Stimme: »Die Zitadelle steht jedem offen. Wer soll erkennen, ob nicht sogar ein Nygh von seinem Herrn hier draußen in der Stadt als Dienstbote hineingeschickt wurde?«

»Dienstbote«, murmelte Ughtred, sagte aber sonst nichts weiter dazu.

Tal ließ das Datentagebuch an die Stelle mit der Zeichnung des Unraumes springen. Der Kristall stand wieder einmal zwischen ihnen auf dem Tisch und warf seine Bilder in den Raum darüber.

»Zwölf, das bedeutet also wahrscheinlich zwölfter Stock, oder?«, fragte sie.

Die anderen beiden hoben gleichzeitig die Schultern und ließen sie wieder sinken. Doch dann fragte der Nygh: »Wie ist das mit den besagten Aufzügen? Wie steigt man da heraus, wenn sie durch einen Tunnel nach oben fahren?«

Kyon erklärte: »Ab dem sechsten Stockwerk gibt es Balustraden. Man kann jederzeit von den Plattformen der Aufzüge heruntertreten.«

Ughtred nickte beruhigt. Trotzdem konnte er sich das Konstrukt des Aufzugsschachtes und des ganzen Baus nicht recht vorstellen. Sie hatten ihm erklärt, dass man den sternförmigen Querschnitt des Turmes in das Gebirge geschnitten hatte, aber wie sollte er sich dies vorstellen? Hatten sie ein Messer genommen und das Granit damit ausgehöhlt? Von ihr unten musste es dutzende und aberdutzende von Stockwerken bis ganz nach oben zur Zitadelle Shishney geben. Wie konnte man einen fünfzackigen Turm in ein Gebirge schneiden? Die Wunder der smavarischen Welt waren für Nichteltwesen ganz zweifelsfrei unbegreifbar.

Er nahm noch einen Schluck und fragte: »Und dann? Was wenn wir dort sind?«

»Improvisieren wir«, sagte Tal. »Wie immer.«

Kyon nickte nur. 

Ughtred sagte: »Wie aber finden wir einen geheimen Zugang, der über all die Jahreszeiten nicht gefunden wurde?«

Kyon beantwortete die Frage: »Wir wissen von seinem Vorhandensein. Das reicht.«

Sie unterhielten sich noch eine Weile darüber, was sie anziehen würden und ob sie bewaffnet oder unbewaffnet zur Zitadelle gehen würden. Kyon hatte keine echte Meinung zu dem Thema und sah keinen Nutzen in einer Bewaffnung für diese Aufgabe, aber Tal wollte weder auf ihre Rüstung, noch auf ihre Langschwert verzichten.

 

Die lange Straße war prächtig im Licht des mittäglichen Frühlings, und weit im Norden, wo die Häuser sich zu berühren und zu verbinden schienen, endete sie auf einem gewaltigen Platz vor dem Sockel der fünfeckigen Gebirgszitadelle. Hier von außen konnte man das Schema des gewaltigen Gebäudes bestenfalls erahnen. Links und rechts standen die Kanten des Turmes aus dem Stein des Gebirges hervor und bildeten dutzende von Metern hohe Kanten, die in der feuchten Luft glänzten. Sie schienen aus einer Art schwarzen Glases zu bestehen und waren ein Stück weit durchsichtig, ohne dass man allerdings wirklich ins Innere der Anlage hätte blicken können. Von hier unten konnte man die eigentliche Zitadelle des Fürstenpaares weit oben im Gebirge bestenfalls erahnen. Sie lag im ständigen Frühlingsnebel und schien mehr Sage als Realität. 

Der Platz vor dem gigantischen Haupttor des Turmes leerte sich bereits. Smavari waren keine Freunde der Tagesschwestern und wenn die beiden Sonnen aufgingen, zogen sie sich in ihre Häuser zurück. Natürlich galt dies nicht für die unzähligen Quink, die hier mit den verschiedensten Diensten beauftragt waren. Sie brachten Waren in den Gebirgsturm oder transportierten leere Transportbehälter heraus. Flinke Läufer beförderten Nachrichten in beide Richtungen und überall zwischen ihnen standen bewaffnete Krieger, die für Ordnung sorgten. 

Von Kyon, Tal und Ughtred nahmen sie jedoch keinerlei Notiz. Die drei marschierten geradewegs über den Platz und bahnten sich ihren Weg durch die Menge am Tor. 

Endlich im Inneren angekommen, staunte Ughtred nicht schlecht über die unwirkliche Architektur dieses Gebäudes. Kyon hatte als Welpe hier einen Tag der blauen Sonne verbracht. Seine Eltern waren wie die meisten anderen Stadtbewohner in den Berg gezogen, als Itaraun, die blaue Sonne sich ankündigte und ihre Welt mit einem einhundert Jahre andauernden Tag überzog. Für die Smavari war dies nichts besonderes. Viele von ihnen erlebten dutzende dieser Ruhezeiten in ihrem ewig andauernden Leben. Alle eintausend Jahre kam Itaraun und verbannte die Elt in die Dunkelheit des Gebirges. Für Kyon hatte der Zackenturm kaum etwas Geheimnisvolles. 

Tal war ebenfalls schon oft hier gewesen und kannte ähnliche Gebäude aus der kisadmurischen Hauptstadt Angaworth, wo ihre Großmutter lebte. Außerdem machte sie sich nichts aus Architektur und deren Magie. Für sie waren diese Spielereien Firlefanz, verglichen mit der Allmacht der lebendigen Natur.

Doch Ughtred war geblendet von dem, was er sah. Seine Leute hatten den Stein ebenfalls bearbeitet und Dranought, seine Heimatstadt, wies grandiose Ecken und Winkel im Gebirge auf, doch mit der Statik dieses Gebäudes konnten sich die Nyghgebäude nicht messen. Sie waren an die Regeln der Physik gebunden und wehe dem, einer der Baumeister hatte es mit den Verlagerungen übertrieben. Wenn die Tiba Fe bebte, konnten Türme einstürzen. Wie hatten es die Silberwölfe nur geschafft, diesen unglaublichen Hohlraum zu erschaffen und ihn vor allem zu stabilisieren?

Er blickte an den graublauen Wänden der ersten Halle hinauf und konnte in ihrem Zentrum weit über den sechsten Stock hinaufsehen, ohne dass ihm dabei auch nur ein einziger Stützpfeiler die Sicht nahm. Der Innendurchmesser der Aufzugshalle war derart gewaltig, dass man vom Eingang aus nicht die Gesichter der Aufzugspassagiere erkennen konnte. Und hier im Inneren war auch noch besser zu erkennen, wie es gemeint war, diese Sache mit dem Querschnitt in Form eines Pentagramms des ganzen Turmes. Die Vorderseite der Eingangshalle lag in einem der nach innen gewölbten Winkel besagten Pentagramms und links und rechts des Haupttores reichten spitz zulaufende Wände hinaus auf den Platz. Die hinteren Zacken konnte man leider nicht erkennen, lagen sie doch weit in den Fels gebaut und durch Trennmauern abgeschirmt außerhalb seiner Wahrnehmung.

Langsam gingen sie auf die Plattformen der Aufzüge zu. Alle drei waren zufällig gerade hier unten, aber die rechte setzte sich just in diesem Moment in Bewegung. Ughtred erkannte erst jetzt, dass die Trossen in einem leichten Winkel von der Eingangstür weg nach oben führten. Dies bedeutete, dass der ganze Turm in einer Schräge erbaut sein musste. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, wie man dieses Bauwerk errichtet hatte. Es war, als wären Asan, Götter oder zumindest Titanen nach Kisadmur gekommen und hätten hier mit ihren gigantischen Händen und einer unermesslichen Zauberkraft im Gebirge gewirkt. Doch zu welchem Zweck? Ughtred wusste, dass die Zitadelle den Silberwölfen als Bergfried diente. Er kannte die Geschichten über ihre langen Auszeiten, wenn Itaraun über die Welt herrschte und wie es war, wenn sie nach einhundert Jahren erwachten und ihre Herrschaft erneuerten. Quink wurden nicht so alt. Und die Wölfe taten nichts, um sich in Erinnerung zu halten. Für sie schien es selbstverständlich, sich schlafen zu legen und nach einhundert Jahren zurückzukommen und erneut zu herrschen. Für die neu entstandenen Generationen der Quink musste solch ein Erwachen eine Katastrophe bedeuten. Eben noch lebten sie in Freiheit und entschieden selbst über ihr Dasein und schon kamen bleiche Hexenwesen über sie und machten sich aus ihren Häuten Mäntel und Decken.

Der Nygh schüttelte sich bei dem Gedanken und wunderte sich, dass es in der Historie seines Volkes so selten zu echten Auseinandersetzungen mit den Silberwölfen gekommen war. Es gab scheinbar keinen Grund für diesen Frieden. Korezuul lag ungünstig im Norden der Tiba Fee und man hatte ja gerade kürzlich gesehen, wie mühselig sich eine Reise von Kisadmur dorthin gestaltete. Dennoch, wenn die Elt sich etwas in den Kopf setzten, neigten sie auch dazu, es durchzusetzen. Natürlich waren seine Leute deutlich wehrhafter als die zahmen Quink. Auch die Nyghs kannten psionische Kräfte und sie waren bedeutend bessere und zähere Krieger als die Silberwölfe. Außerdem hatten sie die Große Mutter auf ihrer Seite. Eine der mächtigsten Göttinnen des Universums überhaupt, hatte sich dafür entschieden, den Nyghs und allen Skergen beizustehen. Sie waren Kinder des Urtitanen, aber Mutter Natur, hatte sie als ihre Kinder angenommen und wer wollte sich mit ihr messen?

Es gab Geschichten über einen Angriff seitens der Wölfe auf Korezuul. Sie waren durch die Dimensionen gekommen und hatten ihre alles vernichtenden Waffen mitgebracht. Es schien, als hätte das letzte Stündlein für die Nyghs geschlagen, doch dann war der Zorn der Mutter über die Angreifer gekommen. Alle Amytoren der Wälder und Gebirge hatten sich auf die Wölfe gestürzt, Stürme und Blitze waren über sie gekommen und am Ende war die Mutter selbst erschienen und hatte die Elt mit Krankheit und Elend geschlagen. So stand es in den Aufzeichnungen, die man versteckte und solchen wie Ughtred vorenthielt. Aber er hatte sie Gelesen. Er hatte die Bilder gesehen, die Zeugen vor all den Millennien von diesen Dingen gezeichnet hatten und seine Nackenhaare hatten sich bei dieser Lektüre aufgestellt. Nun, da er die Macht der Silberwölfe in Form dieses Gebäudes sah, begriff er die Allmacht der Götter in seiner Architektur.

Kyon deutete auf den linken der Aufzüge, der sich langsam mit Passagieren füllte und sicher bald abfahren würde. Der Mittlere wurde noch entladen und wies derzeit gut drei Dutzend Quinkarbeiter auf, die leere Kisten zu einem der Seitenausgänge des Bergturmes trugen.

Ughtred fragte etwas über den Aufbau und das Alter des Gebäudes, aber die beiden Silberwölfe waren schon losgelaufen. Als sie die Plattform erreichten wurde Ughtred mulmig. Sie hatte einen Durchmesser von über fünfzehn Metern und bestand aus einem groben Gitter, durch welches man auf den Boden darunter blicken konnte. Ein Geländer gab es nicht. Er wollte gar nicht wissen, wie oft es passierte, dass eine der Plattformen so voll war, dass Arbeiter sich im Gedränge gegenseitig über den Rand schoben. Unwillkürlich suchte er den Boden nach alten Blutflecken ab, fand aber nichts. Dafür gewahrte er einen großen Droiden, der mit einer Art Besen bewaffnet besagten Boden reinigte. Der Nygh schüttelte den Kopf und rieb sich, wie immer, wenn er nervös war, die Stirn.

Vierzehn mächtige Taue liefen durch ein Gewirr von Zahnrädern und offenen Walzen durch die Maschinerie der Plattform und Ughtred versuchte zu begreifen, wie sie arbeiteten aber einige der Räder schienen sogar gegenläufig zu arbeiten und so schaffte er es einfach nicht mit ihrer Funktion klar zu kommen. Als sich das Gebilde in Bewegung setzte, gab es kein Rattern oder Knacken, wie es bei einer Maschine in Korezuul der Fall gewesen wäre. Dort betrieb man Lastenaufzüge mit dampfbetriebenen Maschinen und diese waren in der Regel sehr laut. Hier war nur das Stöhnen der Arbeiter und die Unterhaltungen der Turmbewohner zu hören. Die Plattformen gaben bestenfalls ein leises Reiben von sich. Außerdem bewegten sie sich unglaublich sanft. Es gab weder ein Ruckeln, noch zitternde Bewegungen, nur die einzig sanfte schräge Fahrt nach oben. Er hatte zwar keine Höhenangst und die Plattform war keineswegs überfüllt, aber dennoch hielt er sich ein Stück von den Rändern entfernt. Er sah Kyon zu, wie dieser mit den Zehenspitzen in der Luft, genau am Rand stand und vor und zurück wippte. Gab es ein Gegenteil von Höhenangst? Wollte der Silberwolf in die Tiefe gestoßen und unten von einem Droiden aufgekehrt werden? Ughtred sagte nichts, aus Angst er könnte den Kameraden erschrecken und so verursachen, was er fürchtete.

So fortschrittlich und geheimnisvoll die Aufzüge arbeiteten, Geschwindigkeit hatte zweifelsfrei nicht auf der Agenda ihres Erfinders gestanden. Es dauerte viele Minuten, um vom Boden das erste Stockwerk zu erreichen und tatsächlich gab es hier keine Ausstiegsmöglichkeit. Güter, die hier heraufgebracht werden sollten, mussten zweifelsfrei über die Treppen in den Wänden der Anlage transportiert werden. Hier unten war der gesamte Raum eine Art gewaltiger Dom von unermesslichen Ausmaßen.

Plötzlich begann es zu schneien und Ughtred hob die Augenbrauen. Hinzu kam ein recht lautes und seltsam deplatziert klingendes Geräusch über ihm und als er den Blick hob, stockte ihm der Atem.

Über ihnen schälte sich ein gewaltiges Monster aus der milchigen Trübnis des Hohlraumes. Es war eine Art gigantischer Wurm oder Hundertfüßer, dessen winzige Beinchen träger in der Luft Ruderten. Anstelle eines Gesichts oder eines Mauls, schoben sich viele Meter lange schienenartige Gestelle aus seinem Kopf; deren Zweck Ughtred nicht erahnen konnte. Das ganze Ding rotierte langsam durch die Luft und steuerte den Zwischenraum der Aufzugsplattformen an. Es war unersichtlich, was genau es in der Luft hielt, denn es war nicht aus Flugholz und verfügte weder über Flügel, noch war es mittels Seilen an den Turmwänden befestigt. Vor allem war es kein Lebewesen. Es war eine Art riesiger Droide und der Schnee, der nun den Turm erfüllte, ging von seiner Unterseite aus.

»Berggräber, für den Bergbau«, murmelte Kyon, ohne seinen Blick nach oben zu bewegen.

»Für den Bergbau?«, fragte Ughtred. »Es fliegt!«

Kyons Antwort war eine Mischung aus Verwunderung und Ärger: »Soll es durch den Fels schwimmen? Welche Wunder erwartest du noch von dieser Welt?«

Der Nygh beließ es dabei und beobachtete den gigantischen Wurm, der sich bis ganz nach unten schlängelte und dann in einer sanften Kurve durch den Eingang glitt. Von außen musste es aussehen, als verließe ein Drache seine Höhle. Er schüttelte den Kopf.

Ab dem sechsten Stockwerk gab es wie versprochen auf der Innenseite des Turmes eine Art Balustrade aus demselben Gitter, aus dem auch die Aufzugsplattformen bestanden. Hier war es ein Leichtes, die Aufzüge zu betreten oder zu verlassen, ohne in die Tiefe zu stürzen. Vorsichtiger musste man natürlich sein, wenn keine der Plattformen vor Ort war, denn auch hier gab es keine Geländer oder andersgeartete Sicherheitsvorkehrungen und Ughtred fragte sich, wie viele Quink in den letzten Millennien in die Tiefe gestürzt waren.

Wie zu erwarten war, dauerte die Fahrt in das zwölfte Stockwerk sehr lange und irgendwann setzte sich der Nygh im Schneidersitz auf das Gitter. Immer noch von der schieren Größe des Bauwerks fasziniert, beobachtete er, wie die Gestalten unter ihm kleiner und kleiner wurden. Im Zwölften angekommen, verließ er mit seinen Begleitern den Aufzug und wandte sich, dem Tagebuch entsprechend nach links. Doch plötzlich hielt Kyon ihn an der Schulter zurück und deutete auf eine der zahllosen Treppenfluchten, die ebenfalls auf die Balustrade mündeten. Zuerst verstand der Nygh nicht, aber dann sah er die beiden smavarischen Wächter, die offenbar auf ihn aufmerksam geworden waren. Er beeilte sich im Treppentunnel zu verschwinden, aber die beiden Männer hatten sich schon in Bewegung gesetzt. Kyon ging einige Stufen nach oben, aber dann blieb er stehen und wartete. Von unten war nichts zu hören. Gerade drückten sich zwei von oben kommende Quink an Tals ausladendem Zweihänder vorbei, als Kyon wieder nach unten gehen wolle und just in diesem Moment kamen die besagten Wachen um die Biegung der Treppe.

»Darf ich fragen, wer ihr seid und was ihr hier macht?«, fragte der schmalere der beiden Krieger und sah Kyon direkt an. 

Der Barde zögerte keinen Wimpernschlag und sagte mit leicht verärgerter Stimme: »Ich bin Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor und ich zeige meinem Freund aus Korezuul die Schönheit der Bergzitadelle. Ist daran etwas auszusetzen?«

Der Krieger senkte den Blick und machte einen Schritt zur Seite. Er war zweifelsfrei kein Sliyn und er hatte auch sicher nicht das Recht, einem solchen sinnlos die Zeit zu stehlen. Kyon ging mit Tal und Ughtred an den beiden vorbei, zurück zum zwölften Stockwerk und deutete auf Deckenstreben und Einlässe für die Zugseile der Aufzüge, als erkläre er einem landesfremden Besucher die Besonderheiten der smavarischen Baukunst.

Die Wächter blieben noch einen Moment stehen und unterhielten sich. Es war nicht unwahrscheinlich, dass sie den Schwindel erkannt hatten, aber was sollten sie tun? Sie waren stärker als Kyon, besser bewaffnet und wahrscheinlich waren sie sogar im Recht, aber sie waren ebenfalls Smavari. Smavarische Wächter machten eine kurze Wachphase durch und gingen dann in Kur. Sie brauchten lange sich zu erholen und je komplizierter ihre mehrstündige Wache verlaufen war, umso mehr hatten die Helfer, speziell für diese Arbeit ausgebildete junge Leute, wurden benötigt, um das Trauma der Überarbeitung und sinnloser Verantwortung in den Griff zu bekommen. In den letzten Millennien gab es dutzende Fälle von unbefugtem Eindringen in die Zitadelle. Diebe hatten ihre Ressourcen aufgebessert, Sklaven waren entführt worden und einmal hatte ein Pirat versucht, bis zur Festung Shishney vorzudringen, um die Fürstin zu entführen und Kisadmur mittels Löseressourcenerpressung zu destabilisieren und in heillose Aufregung zu versetzen. Kyons Wissen nach, stand der Moraidi oben im Eispark der Herrin von Shishney. Er war zu einer Erinnerung geworden. Damit hatte er den meisten anderen Vorkommnissen etwas voraus. Denn der Rest, war Staub auf den Stufen der ungezählten Treppen des Gebirgsturmes.

Sie waren auf der Balustrade zurück und gingen auf der linken Seite entlang. Die Wände waren glatt, hatten aber ab und an Risse und schienen an vielen Stellen durchscheinend zu sein. Ughtred untersuchte unauffällig die Strukturen und fand sich außer Stande, die Materialzusammensetzung zu begreifen. Die Wände hatten etwas Kristallines, fast wie normales Glas, aber in ihrem Inneren befanden sich längliche Strukturen, wie magnetisiertes Metall, welches mittels Polarisierung zu kratzigen Strängen geformt worden war. Wenn er genauer hinsah, hatte er sogar das Gefühl, dass das Zeug im Inneren der Wände in Bewegung wäre. Immer wieder scheinen die winzigen Fasern ihre Richtung zu ändern, als wäre der gläserne Anteil des Materials zähflüssig.

Er überlegte. In einem der alten Kristalle hatte er gelesen, dass normales Glas auch nicht starr war. Besah man es sich bei Tageslicht, oder ging es gar zu Bruch, war es hart, bekam messerscharfe Kanten und konnte sogar als Messer benutzt werden. Doch die Alten wussten, wenn man Glas nur genügend Zeit ließ, floss es stets der Anziehung der Tiba Fee folgend, und wurde an der, dem Weltenkern am nächsten liegenden Teil dicker und dicker, während es weiter oben an Stärke verlor. War dies hier derselbe Vorgang? Spielte die Welt gar keine Rolle beim Fließverhalten von Kristallen?

»Ich sehe hier nichts«, holte Tal ihn aus seinen Gedanken.

»Ihr solltet eure Sehhilfe tragen, Frau Hexe«, konterte Kyon und deutete auf die Wand. »Sie hat schließlich unsere letzten Ressourcen verschlungen.

Tal nestelte in ihrer Tasche herum und fingerte nach dem schmalen Rahmen der Brille. Dann hob sie das Ding vor die Augen und schließlich setzte sie es auf. Sofort verbesserte sich ihre Sicht. Doch sie kam zu spät. Ughtred fuhr mit den Fingern eine unsichtbare Linie an der Wand entlang und nickte.

»Das ist es«, sagte Kyon und sah sich ein letztes Mal nach den Wächtern um.

Leider hatten sich zwischenzeitlich nicht nur besagte Wächter auf dem Rundgang der Gitterplattform eingefunden, sondern auch eine ganze Anzahl von Quink und sogar einige Droiden. Es schien, als ob viele von ihnen durchaus interessiert an den Belangen der Besucher waren. Kyon sah Tal und Ughtred an, richtete sich auf und deutete auf die Aufzugstrossen, als erkläre er dem Nygh ihre Funktionsweiße. Dann schlenderte er zu einer der Aufzugsplattformen und machte einen großen Schritt. Auf dem Aufzug deutete er erneut auf den Tunnel und erzählte Ughtred von der Höhe der Zitadelle und ihrem Ursprung. 

Tal und Ughtred zuckten mit den Schultern und folgten dem Barden. Was sollte man machen? Zuviel Aufmerksamkeit war nun einmal zuviel Aufmerksamkeit. Man würde zu einem anderen Zeitpunkt wieder kommen.

Am nächsten Tag, Kyon und Tal hatten lange geschlafen, standen die beiden Tagesschwestern an ihrer höchsten Position, als Ughtred die Tür zu Kyons Haus öffnete und auf die Straße trat. Tal und Kyon hatten ihre Kapuzen über die Köpfe gezogen und folgten ihm. Gegen Mittag, war es mehr als Ungewöhnlich Silberwölfen im Freien zu begegnen. Das Licht der Sonnen behagte ihnen nicht und schadete ihrer Haut. Mittags hielten sie meist ein Schläfchen, folterten in dunklen Kellern ihre Sklaven oder machten andere erbauliche Dinge in Abwesenheit des Sonnenlichtes. Darum war diese Tageszeit auch zweifellos die Beste, um möglichst wenigen neugierigen Leuten zu begegnen, die am Ende auch noch etwas zu sagen hatten. Natürlich würde innerhalb der Turmzitadelle trotzdem etwas los sein, aber mit smavarischen Wachen war eher nicht zu rechnen. Obwohl in der Anlage Dämmerlicht herrschte, war es üblich, auch hier die Tageszeiten zu berücksichtigen. Es war smavarischen Wachen nicht zumutbar, Wache zu halten, wenn alle anderen schliefen. Außerdem erschien es der Obrigkeit auch überflüssig Wächter an Zeiten zu unterhalten, an denen ja ohnehin alle schliefen. Das die Quink sich nicht an solche Vorgaben hielten war ihnen ganz und gar egal.

Als die Drei also zum zweiten Mal in diesem Frühling das gewaltige Haupttor der Zitadelle durchquerten, gab es in der großen Halle keine smavarischen Krieger. Natürlich war die Halle dennoch bewacht. Ein Kontingent von Quinkwächtern sorgte für eine Atmosphäre absoluter Sicherheit. Von außen betrachtet, wirkte hier alles überwacht und sicher. Tatsächlich stand die Bergzitadelle jedoch jedem offen, denn die Quink hatten nicht die Befugnis, Silberwölfe anzuhalten, und ein Quinkbote, der im Namen seines Herren sprach, durfte ebenfalls nicht an seinem Auftrag gehindert werden. 

Ughtred deutete auf den mittleren Aufzug, der sich gerade dem Erdboden näherte. Er war leer. Sie betraten die Plattform und warteten, bis sie sich erneut in Bewegung setzte. Wie beim ersten Mal dauerte es lange, bis die Vorrichtung den zwölften Stock erreichte, aber auch hier herrschte zu dieser Uhrzeit absolute Ruhe. Niemand war da. Kyon ging festen Schrittes zu der Stelle an der Wand, an der sie die Geheimtür vermuteten. Er untersuchte den feinen Spalt und hob die Schultern, doch Ughtred war schon zur Stelle. Obwohl sie niemand beobachtete, bewegte er sich so leise wie möglich. Vorsichtig nahm er sein Sichtglas aus der Tasche und hielt es an die Wand. Da waren dunkle Arme auf der Innenseite zu sehen. Wahrscheinlich die Gelenke oder Führungen der Tür. Als nächstes beförderte er eine schmale Brechstange zutage und versuchte sie unten zwischen Fußboden und Tür zu schieben. Das Material fühlte sich brüchig und seltsam fein an und als er ein wenig mehr drückte, brach eine dünne Kante ab. Perlmutt, dachte er. Wie konnten sie Wände aus Perlmutt bauen?

Er schob den Geißfuß eine Spur tiefer und stemmte das Konstrukt nach oben. Tatsächlich ließ es sich auf diesem Weg ein wenig aus seiner Führung ziehen.

Kyon erkannte den Rand der Tür und legte seine Fingerspitzen daran und tatsächlich reichte der Widerstand seiner Fingernägel, die unglaublich dicke Tür aus der Führung zu sich heraus zu ziehen.

Wie Ughtred schon vermutet hatte, lief sie auf langen, abgewinkelten metallen Armen, die es erlaubten, sie nach außen zu ziehen und auf die Seite zu schieben.

Sofort trat ein schaler Geruch aus der hinter der über eine Hand breiten Tür befindlichen Kammer. Die Öffnung schien im ersten Moment dunkel, aber die halbtransparenten Wände ließen tatsächlich noch einen minimalen Teil des ohnehin wenigen Lichtes im Turmbau hinein und Wesen wie die Smavari oder Nyghs, reichte dies, um sich zumindest eine Vorstellung von ihrer Umgebung machen zu können. 

Kyon machte einen vorsichtigen Schritt hinein und betrat einen niedrigen Bogengang, der von seiner geometrischen Lage schon aus dem Gebirge herausragen musste.

»Unraum«, murmelte Tal hinter ihm und er nickte.

Kyon machte einen weiteren Schritt und fühlte sich für einen Moment schwerelos. Er konnte die Tiefe unter der Realität dieses quantenverschobenen Raumes spüren. Mit jedem, den er machte, hatte er mehr und mehr das Gefühl, hinunter nach Shishney stürzen zu müssen, doch nichts dergleichen geschah. Der Steinboden war alt und fest und würde hier noch lange bestehen, nachdem die Tiba Fe längst in eine ihrer drei Sonnen gestürzt war.  

Ughtred fragte: »Wie funktioniert das?«, und Tal erklärte ihm, dass dieser Teil des Gebäudes in einer anderen Realität verankert worden sei und dass es solche Unräume häufig in Gebäuden der Smavari gab. Wenn man wusste, wie man es anzustellen hatte, war es gar nicht so schwer hinüber zu bauen. Sie hatte einmal ein Seminar in Angaworth zu diesem Thema besucht und zusammen mit ihrer Großmutter ein Unraummodell zusammengebaut, in dem man Falter von der Tiba Fe in die Anderwelt senden konnte.

Ughtred hörte nicht mehr zu. Ihm schwirrte der Kopf. Hinter Tal hatte er nun auch den Bogengang betreten und das Gefühl des Schwindels war überwältigend. Es war, als stünde er wieder auf einer der Fahrstuhlplattformen, und diese rase mit unbändiger Geschwindigkeit in eine Richtung, die er weder in die Kategorie hoch oder runter einordnen konnte. Er rieb sich mehrfach die Stirn und versuchte seinen Kopf zu klären, aber es dauerte einen Moment, bis er wieder klar denken konnte.

Erst als er die Nebenwirkungen des Unraumes überwunden hatte, gelang es ihm, sich auf den etwa drei Meter breiten und sechs Meter langen Keller zu konzentrieren. Er sah zu, wie Kyon vor ihm an einer geländerlosen Treppe im hinteren Drittel des Raumes stehen blieb. Sie bestand aus groben Steinblöcken und führte zur geschlossenen Decke hinauf, wo sie endete. Der Nygh versuchte ihren Zweck zu erkennen, doch es schien keinen zu geben.

Tal sagte: »Das Gewölbe lässt sich garantiert öffnen, wenn wir Steine aus den Seitenwänden ziehen. Seht mal. Die Quadratischen in jedem Gewölbe stehen etwas hervor. Die kann man sicher bewegen.«

Kyon war um die Treppe herum gegangen und hatte sich ihre Stirnseite angesehen. »Hier ist der Rätselspruch aus dem Tagebuch.«

Tal und Ughtred kamen zu ihm und wirklich, hier im Stein der Treppe waren die Glyphen der Scherbenschrift zu sehen, die Lonkaiyth ihnen in seiner Anleitung hinterlassen hatte.

 

Der Erste links vom Bogengang

Dann drei mal drei sind unberührt

Das Spiegelbild des Letzten auch

Vier zum Eingang hin

Und noch einer gleich daneben

Wieder dessen Spiegel

Und einer weiter in den Raum

Dann der letzte auf der rechten Seite

 

Kyon deutete auf den ersten Stein neben dem Eingang in den Keller und nickte. Tal, die näher daran stand, griff nach der Kante und zog daran und tatsächlich ließ er sich mit einem leisen Knirschen einige Finger breit herausziehen. Sie lachte wie ein Kind und fragte: »Wie geht es weiter?«

Kyon las vor: »Dann drei mal drei sind unberührt, also der elfte als nächstes und dann sein Gegenüber auf der anderen Seite!«

Systematisch gingen sie die Anleitung durch und zogen an den Steinen und kaum waren die richtigen acht aus ihrer endlose Millennien alten Position gebracht, ertönte es über ihnen an der Decke der flachen Kammer ein Knirschen und Stöhnen. Langsam und wie von Geisterhand öffnete sich ein schmaler Durchgang über der Treppe und gab dieser einen Sinn. Raguels Grabkammer hatte sich geöffnet. 

Tal lächelte Kyon an, doch dieser machte ohne zu zögern den ersten Schritt auf die Treppe. Sie streckte ihm die Zunge heraus und folgte. Der Nygh kam ihnen hinterdrein.

Die Treppe mündete in einen zwölf Meter langen Raum, an dessen Ende sich eine Empore mit einem steinernen Sarkophag befand. Hier lag Raguel Siarn dan Orthenaug in seinem letzten Ruhebett. Der schwere Deckel des Sarges wurde dem liegenden Abbild des toten Fürsten nachempfunden und in seinen steinernen Händen lag sein mächtiger Speer. Das Abbild war eine brillante Arbeit aus früheren Zeiten, und die Hände des ehemaligen Helden hielten den Speer quer vor sich, so dass seine Klinge über den Deckel des eigentlichen Sarges hinaus ragte. Es war sofort ersichtlich, dass es sich bei dem Speer um eine wirkliche Waffe, und nicht ebenfalls um eine Nachbildung aus Gestein handelte.

Die drei Abenteurer näherten sich der Empore und Ughtred hob die Hand. Er hatte Angst vor eventuellen Fallen und trat darum zuerst näher, doch so genau er die Steine auch untersuchte, er fand nichts verdächtiges. Schließlich trat Tal an den Sarg heran und berührte den Speer. Wie im Tagebuch beschrieben, schien er keine negativen Kräfte auf sie hernieder regnen zu lassen. Kurzerhand griff sie zu und entzog ihn dem Griff seines ehemaligen Besitzers. 

»Und jetzt?«, murmelte der Nygh.

Tal sah ihn an und zuckte mit den Schultern, aber Kyon sagte: »Niemand in Shishney wird den Speer erkennen. Zumindest keiner der Quink. Raguel lebte viele Generationen vor ihnen. Wir gehen und nehmen den Speer mit uns. Es gibt keinen Grund ihn zu verhüllen.«

Gesagt, getan – ohne weiteres Fehlerlesen gingen sie mit ihrer Beute zu der Treppe zurück. Unten angekommen drückten sie die Steine zurück an ihre Positionen und verließen den unteren Kellerraum durch das Bogentor. Auf der Balustrade angekommen, schoben sie vorsichtig die Geheimtür an ihre ursprüngliche Position zurück. Sie warteten einen Aufzug ab, weil gerade ein Kontingent bewaffneter Midyar an ihnen vorüber fuhr und nahmen dann die nächste Plattform.

Ganz und gar unbehelligt verließen sie die Bergzitadelle und waren nun die stolzen Besitzer einer der mächtigsten Waffen des smavarischen Reiches.

 

Das Zahnrad

Einige Tage vergingen. Ughtred trainierte weiter mit Odugme und Tal übergab eines Tages das Kreuzschwert ihres Bruders an den Phani. Sie wollte sich auf den Speer konzentrieren und übte sich im Umgang damit. Schließlich ließ sie auch den großen schwarzen Mann gegen sich antreten und zeigte ihm den richtigen Umgang mit Langwaffen. 

Kyon unterdessen versuchte immer noch, Ressourcen anzuhäufen. Er besuchte mehrere Soirees, ließ sich fürstlich für Balladen und Geschichten entlohnen und gab sie später wieder für Helfer und Helferinnen, Drogen und extravagantes Essen aus. Er taumelte durch die Straßen der Stadt und verlor sich wie so oft zuvor in ihren Winkeln.

Als sie wieder einmal am Runden Tisch in seinem Haus saßen, sagte Tal: »Wir müssen die Sache mit dem Zahnrad angehen. Wir müssen es finden und dafür sorgen, dass es repariert wird. Was steht noch einmal genau im Tagebuch?«

Ughtred sah Kyon an, als dieser genervt vorlas: »Der Schmied wird es richten. Nur leider ist der nicht mein Freund. Schuld und Sühne über dieses Haupt, doch nahm ich diesem Krüppel seine Gattin und weh ihm, somit seinen Erben. Wie soll ich vor ihn treten? Ist dies mein schwerstes Abenteuer? Härter scheint mir dieser Gang, als Mandibelzangen und des Riesen Klauen, doch es muss sein. Also bittend, flehend muss ich in die Quinkstadt gehen, dort den ehemaligen Rivalen um den Gefallen bitten. Tut ers nicht, ich weiß nicht was. Der nächste der dies Kunststück vollbringen könnte lebt in Rivenest, allein das Reisen dahin ist zu teuer für mein Haus.

Doch ihn zu zwingen, wird kaum möglich sein. An Leib und Seele ist der Mann bezwungen längst, noch wär er zu überzeugen? Sein Hass auf uns wird nicht gewichen sein, womit auch das Betteln ohne Frucht verbleibt. Kein Ding besitz ich, das er sein Eigen nennen will. Nichts, gar nichts bleibt mir zu tun. Außer, außer vielleicht die Frau. Ist dies möglich? Kann und will ich dies versuchen? Was würd sie sagen, wenn ich ihn zu uns ins Hause lade – Frieden schließen einfach so?

So muss es sein. Er wird geladen in unser Haus zu trautem Stelldichein. Nur so kann es gehn, denn jeder andre Weg ist mir verwehrt. Welch ein Abenteurer wäre dies, wenn so schlichte Moral ihn hielt von seinen Zielen? Beschlossen ist es und sogleich schreib ich ihm den Brief.«

Er machte eine Pause und nahm einen Schluck aus seinem Becher mit Faltersud. Dann fügte er hinzu: »Aber wo soll das Ding denn sein? Haben wir es auf einer der Reisen übersehen?«

Ughtred, der sich schwer mit der Scherbenschrift des Tagebuchs tat sagte: »Hattet ihr nicht vorgelesen, dass es im Keller sein soll?«

Kyon sah den Nygh an und erwiderte: »Da hätte ich es gesehen. Wir haben doch alles nach wertvollen Dingen durchsucht; mehr als einmal.«

Tal sagte: »Na ja, hier steht …« Sie fuhr mit den Fingern durch die Luft und ließ das Tagebuch eine bestimmte Stelle seines Inhaltes auf die Tischplatte projizieren. »Erster Keller, rechte Treppe, zweite Truhe in der Nische.«

Kyon schüttelte den Kopf. »Kann nicht sein.«

»Lasst uns nachsehen Herr Barde«, sagte der Nygh, stand auf und zog an Kyons Ärmel. Tal lachte und stand ebenfalls auf, aber sie ging zum Fenster und sah in den Regen hinaus. Von hier aus, konnte sie die Doppeltürme ihres Zirkelhauses sehen. Sie legte die Stirn in Falten und presste sie dann an das kalte Glas. Inständig hoffte sie, dass all die Abenteuer ihr früher oder später die Tore in das Zirkelhaus öffnen würden. Die Schwarze Perle war ein Mythos, aber sie wusste auch, wie Akkatha funktionierte. Anerkennung war wichtig und diese vergab die Hexenkönigin nur an jene, die sie sich verdient hatten. Andere, lebten ein Dasein in den Schatten. Aber sie würde sich diese Anerkennung verdienen.

Plötzlich wurde ihr heiß und kalt und ihr Blick wurde vom Boden unter ihren Füßen angezogen. Ihr war schwindlig und dann kam die Vision über sie:

Keller um Keller glitten an ihr vorüber, bis sie merkte, dass sie es war, die in die Tiefe sank. Irgendwo um sie herum war Kyon, denn auch er wurde in den Strudel der Unterwelt gezogen. 

Nach den Kellergewölben des Hauses, mit seiner Esse und dem bösen Geist darinnen, kam die Kanalisation, und dann noch ein Haus, eine Ruine unter dem Anwesen. Noch tiefer wiederum befanden sich dessen Keller und darunter wieder eine Kanalisation. Shishney war alt, und im Alter bildeten Städte Schichten, die sie früher oder später abwarfen wie Schlangen ihre Haut.

Gerade als Tal dachte, den Grund erreicht zu haben und jetzt Kyon ganz deutlich neben sich im Gestein schweben sah, brachen sie gemeinsam durch eine weitere Schicht und gerieten in freien Fall durch eine unterirdische, domartige Kuppel. Hier unten endlich erstreckte sich die erste Stadt am Fuße der Odoreys und niemand hätte ihr Alter bestimmen können. Tausende von Gebäuden ohne Dächer erstreckten sich über eine Distanz, die das heutige Shishney mehr als vervierfachen würde. Tal und Kyon konnten in die Gebäude hineinsehen und sahen seltsame Gestalten, die jedoch nur Schatten ihres einstigen Daseins darstellten. Sie waren vergangen und hatten nur Visionen hinterlassen. Mit großen Köpfen, schlurften sie vornübergebeugt durch die Strukturen ihrer toten Welt. Groß waren diese Bewohner der Unterwelt gewesen und Tal fragte sich, wer sie gewesen waren.

 

Als sie zu sich kam, lag sie am Fenster und Ughtred hatte ihren Kopf auf sein Knie abgelegt. Besorgt blickte er sie an, aber er selbst sah viel schlimmer aus, als sie sich fühlte. Doch dann überkam sie eine gnädige Bewusstlosigkeit.

Sofort hob der Nygh sie auf und brachte sie in eins der Zimmer. Von irgendwoher hörte er Musik. Das musste der Barde sein. Er legte die leblose Hexe auf ein muffig riechendes Bett und stürmte los, um nach Kyon zu suchen. Unterwegs rief er nach den Bediensteten, aber niemand schien in Hörweite zu sein. Seine Nase blutete und er wischte sich mit dem Handrücken das Blut und Rotz aus dem Gesicht. Was war nur geschehen?

Die Musik wurde lauter. Als er Kyons Zimmer erreichte, stand die Tür offen und der Silberwolf saß auf einem Schemel und hatte seine Laute ans Kinn gepresst. Er bewegte sich langsam vor und zurück und hielt in seiner Hand eine Art Bogen. Mit diesem Gerät fuhr er über die Seiten des Instruments und entlockte ihm für Ughtred übermäßig fremdartige Melodien. Es klang so seltsam alt und treibend und Ughtred rieb sich die glühende Stirn. Er sagte etwas, aber das Gefiedel wurde immer anstrengender und riss ihn in einen Strudel der Unverständnis.

»Kyon, es ist Tal …« versuchte er es erneut, aber dann verließ ihn die Kraft und er sank zu Boden.

 

Das Zimmer war dunkel, aber auf dem Fensterbrett glomm ein Talglicht. Ughtred hatte die Augen geöffnet, war sich aber nicht sicher, ob er wach war oder noch immer in diesem schrecklichen Traum umher taumelte. Seine Lippen waren trocken und sein Kopf tat ihm weh. Er berührte kraftlos seine Stirn und stellte fest, dass sie glühte. Nyghs wurden praktisch niemals krank. Er war eine Ausnahme. Aber war er das nicht schon immer gewesen?

Er sank auf das feuchte Bett zurück, fror und schwitzte und versuchte etwas zu sagen, aber dann glitt er wieder in die Dunkelheit seines Fiebers zurück.

Als er erneut erwachte, saß Tal neben ihm. Sie sah unbekümmert aus, aber das tat sie in den meisten Fällen. Sie hatte unbekümmert ihren Bruder als Ersatzkörper benutzt, um ihn aus dem Kerker der Zitadelle zu retten, erinnerte er sich.

»Kyon …« keuchte er mit trockenen Lippen. Die Hexe wischte ihm mit einem nassen Lappen, den er aus der Küche kannte, über die Stirn und dann über die rissigen Lippen, aber er hatte keine Kraft sich zu beschweren. Hygiene und  Sauberkeit spielten im Dasein der Silberwölfe eine eher untergeordnete Rolle. Er ließ es über sich ergehen. Selbst als Tal ihm eine ihrer Hexentinkturen einträufelte schluckte er sie. Was hätte er tun sollen? Er war schwach und sie eine Wölfin.

Im Hintergrund seines Kopfes – oder war es irgendwo im Haus? – fiedelte Kyon die Schreckensmelodie und versuchte Ughtreds Schädel zum Zerbersten zu bringen. Er schloss die Augen und gab sich Mühe dies zu verhindern.

 

Mehr als drei Tage waren vergangen, so erzählten es ihm die beiden Silberwölfe später, als sie endlich wieder gemeinsam in der Küche saßen und heißen Faltersud tranken. Ughtred verzichtete natürlich auf den schwarzen Mottenbrei und hielt sich an seinen eigenen Tee. Es ging ihm besser.

Eine Massenvision, hatte Tal es genannt. So etwas komme vor. Kyon zuckte mit den Schultern und spuckte einen unzermahlenen Insektenflügel auf den Küchenboden.

»Und um was ging es da?«, fragte der Nygh und versuchte, Kyons Tischmanieren zu ignorieren.

Tal antwortete mit latentem Interesse: »Wir haben eine Architektur, tief unter Shishney gesehen. Es muss eine erste smavarische Siedlung gegeben haben, aber weit unter dieser befinden sich noch heute die verlassenen Überreste einer noch viel viel älteren Stadt.«

Kyon überlegte lauf: »Wer kann die gebaut haben? Wir sind die Ältesten und Tollsten oder?«

Die Hexe schüttelte den Kopf und nickte dann, als sie sagte: »Die Aspekte des Kar haben die Stadt in der Tiefe gebaut. Ich weiß aber nicht, welcher Aspekt. Es waren nicht die Nugai. Sie leben nicht in der Tiefe. Vielleicht irgendwelche Asan, denen ist alles zuzutrauen.«

»Asan sicher nicht, oder?« Kyon schüttelte den Kopf. »Die Nugai hätten sie bestimmt platt gemacht.«

»Nugai gehen wie gesagt nicht unter die Erde. Sie hassen das Reich der Würmer«, gab Tal belehrend zu bedenken.

Alle drei starrten noch eine Weile in ihre Getränke. Dann sprachen sie nicht weiter über die Vision. Ughtred genas, aber die schreckliche Melodie blieb ihm noch eine ganze Weile im Kopf und verfolgte ihn in seinen Träumen. 

 

Einige Tage später begaben sie sich endlich auf die Suche nach dem Zahnrad. Kyon hustete und trat schimpfend eine alte Holztruhe von den Treppenstufen. Normalerweise ging er immer in den zweiten Keller hinunter, weil sich hier die Schmiede des Pfeilmachers befand. Im ersten Keller gab es Spinnweben, Staub und vergammeltes Gemüse. Dies war kein Ort für ihn. Er schalt sich dafür, nicht die Quink geschickt zu haben.

»Seht mal«, hörte er Ughtred sagen und hob die Kerze höher, die er aus dem Salon mitgenommen hatte. Der Nygh bückte sich über einen Stapel von Gerümpel und Kyon schob ihn grob zur Seite. Hustend zerrte er eine alte, zerbrochene Truhe aus einer Nische neben der Treppe.

»Da hol mich der Nugai«, flüsterte er, als die Truhe am Kellerboden zerbrach und ein schwerer Gegenstand, der in ein Tuch gewickelt war, davonrollte.

Ughtred sagte: »Das ist es, Barde, hier seht.«

Der Nygh hob das schmutzige Bündel vor Kyons Augen und rieb sich Staub über die Zeichen auf seiner Stirn.

»Du siehst aus wie eins meiner Maskenmännlein«, sagte der Silberwolf.

»Seid mal froh, dass ich keins bin, Herr Barde. Aber ich will der verdammte Urtitan sein, wenn dies schmucke Stück hier, nicht das gesuchte Zahnrad ist!«

Er wickelte die Lumpen auseinander und brachte ein über einen Handspanne durchmessendes und mehr als halb so breites Gebilde aus einem rosafarbenen Metall zutage. Des Weiteren befanden sich mehrere Bruchstücke in dem Tuch.

Das Zahnrad selbst wies einen tiefen Riss auf, in dem wenigstens ein Viertel seiner ursprünglichen Masse fehlte.

»Sieht nicht gut aus«, sagte der Nygh. »Die Bruchstücke reichen nicht einmal, um den Riss zu füllen und ich habe keine Ahnung, was das für ein Metall sein soll.«

Kyon legte den Kopf schief und knurrte resignierend: »Also kannst du es nicht reparieren, war klar.«

Ughtred zuckte mit den Schultern und murrte zurück: »Wird schon einen Grund haben, warum euer Vater einen Brief an den besagten Schmied schreiben wollte.«

»Papperlapapp«, erwiderte Kyon gereizt. »Mein Vater hat dieses Tagebuch schließlich zu Lebzeiten geschrieben und damit zu einer Zeit, da sowohl der geile Schmied, als auch meine Mutter in einem ganz und gar anderen Zustand als heute waren. Was könnte Amyithas heute und in ihrem jetzigen Zustand von meiner Mutter wollen? Das ist Unsinn. Wir müssen eine andere Lösung für das Zahnrad finden. Es gibt eine Unzahl von Schmieden, wird schon einer dabei sein, der es richten kann.«

Tal, die einzige Treppenstufen weiter oben stand, mischte sich ein: »Euer Vater schreibt im Tagebuch, dass es keinen anderen gibt.«

»Da steht, in Rivenest lebt und wirkt einer«, sagte Kyon stur.

Ughtred warf ein: »Rivenest ist die Hauptstadt von Oriad und liegt auf der anderen Seite der Todesgrube.«

»Die Tinscrad«, sagte Tal. »Es würde sicher über eine Jahreszeit dauern und eine unschätzbare Anzahl von Ressourcen kosten, auf eigene Faust dorthin zu reisen.«

Kyon nickte und sagte gut gelaunt: »Gut, fangen wir an, welche zu sammeln.«

Sie gingen die Treppen hinauf und unterhielten sich weiter über ihre Möglichkeiten. Tal und Ughtred vertraten die Meinung, den hiesigen Schmied überreden zu können. Man müsse nur eine Einladung schreiben und ihn in die Gesellschaft zurückholen. Kyon hingegen blieb starrsinnig. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, nach Oriad zu reisen.

Nach einer Weile unfruchtbarer Argumentationen, stand er auf und nahm seine Jacke von einem der Stühle, wo er sie wie immer unachtsam hingeworfen hatte. Tal wollte noch etwas sagen, aber Ughtred legte ihr die Hand auf den Arm. Er schüttelte den Kopf, als wolle er sagen: lasst ihn, er ist sturer als eine trächtige Lope.

Indessen hatte Kyon schon seinen Salon verlassen und war die gebogene Treppe des Vestibüls hinunter gegangen. Er hatte eine ganz klare Vorstellung, wie das laufen würde. Zuerst würde er sich für die nächsten Nächte in einige der Häuser in der Ober- und Turmstadt einladen. Dort würde er Lieder über ihre bisherigen Abenteuer aufspielen, sich vergnügen und eine nicht mindere Anzahl von Ressourcen abgreifen. Er blieb einen Moment stehen und dachte über besagte Lieder nach und kam zu dem Schluss, dass er bisher keinerlei Zeit dafür aufgebracht hatte, sie überhaupt zu komponieren. Egal – mussten es eben alte Lieder sein. Vielleicht konnte er ja einfach ein wenig an den ursprünglichen Texten schrauben.

So schlenderte er durch die engen Gassen zwischen den uralten Häusern und genoss seine Freiheit. Hier war auch schon das erste Ziel. Das Haus Chron, wusste Feste zu feiern. Er klopfte, ein Quink fragte unterwürfig, was der Sliyn wolle und er beauftragte den Diener, den Herrn des Hauses Yˋshandragor für die nächste Soiree vorzumerken. Der Quink verbeugte sich ehrerbietig und terminierte diese Anfrage auf die übernächste Nacht. Kyon ließ den Hausherrn grüßen und kehrte in eine der Kaschemmen in der Turmstadt ein. Hier ließ er eine Ressource, feierte bis spät in die Nacht und prahlte mit seinen Abenteuern.

So ging das viele Tage lang. Er ließ in einem der Herrenhäuser Kerzenständer von großem Wert mitgehen, erhielt Liebesgeschenke und erfreute sich allgemeiner Wertschätzung. Dann versackte er in verschiedenen Lusthäusern und wachte am nächsten Morgen blank wieder auf. So war er, so war sein Leben. Leider beobachtete er sich nicht dabei und war nach wie vor überzeugt, früher oder später die Reise nach Oriad finanzieren zu können.

An einem sehr frühen Morgen ging er sogar zum Silberhafen und befragte einen der Hafenmeister zu diesem Thema. Es handelte sich tatsächlich um einen Smavari und als dieser vom Plan des Barden hörte, Rivenest zu besuchen, stahl sich ein vergnügtes Lächeln auf seine schmalen Lippen. Er erzählte von dem Vortex in der Festung, oben über der Stadt. Leider ließe die Herrin niemanden hinauf und jeder, der es versuchte, wurde von ihr in eine Eisstatue verwandelt. Sie mochte weder Besuch, noch gab sie Soirees oder andere öffentliche Anlässe, die man sich für einen Sprung durch den Vortex hätte zunutze machen können. Eisstatue – das war ihr Ding. Sie war verrückt, wie so viele sehr alte Smavari, aber wer hätte ihr verdenken können, Leute zu Eis erstarren zu lassen? Leute waren generell lästig. Da kam ihm ihre Art des Umgangs mit ihnen durchaus normal vor.

Eine andere Möglichkeit, so der Hafenmeister, wäre die große und vor allem öffentliche Vortexanlage in Angaworth. Hier würde es keinerlei Probleme geben, nach Rivenest zu reisen. Die Obrigkeit der Hauptstadt Kisadmurs war deutlich freundlicher zu ihren Untertanen als die von Shishney; zumindest auf ihre Art geschäftstüchtiger und realitätsnäher. Eisstatuen konnten unmöglich wirklich produktiv sein.

Leider, leider lag Angaworth auf der anderen Seite des großen Gebirges von Kisadmur und es gab nur zwei Möglichkeiten, die Hauptstadt zu erreichen. Option eins war der Vortex in der Festung – Eisstatue. Option zwei war eine unglaublich weite Schiffsreise um die Odoreys herum. Der Hafenmeister nannte verschiedene Haltepunkte weit im Süden des Landes und Kyon, der sich mit Geographie nicht wirklich auskannte, glaubte, was er hörte. Am Ende wäre der Weg nahezu ebenso lang wie die direkte Route über das Meer, nur eben ohne das Meer. Außerdem sollte man Angaworth gesehen haben. Kyon überlegte, und später am Abend sprach er seine Reisepläne den anderen gegenüber an.

Tals Großmutter lebte in Angaworth. Sie vermisste die alte Dame und wäre zweifelsfrei froh gewesen, sie besuchen zu können, aber sie wusste auch, dass es ein wirklich langer und beschwerlicher Weg zur Hauptstadt war. Über die Hälfte ihres eigenen Lebens war es her, dass sie mit ihren Eltern von dort auf die Westseite des Gebirges gezogen war.

»Es ist ein weiter und gefährlicher Weg von Shishney nach Angaworth. Die Fürstin wird uns kaum ihren Vortex nutzen lassen«, sagte sie halblaut beim Essen und schaufelte sich ein paar Echsenschwänze auf den Teller.

Kyon grunzte und schluckte den rohen Fleischbrocken herunter, den er sich gerade in den Mund gestopft hatte.

Ughtred schüttelte den Kopf und versuchte sich auf die Salatschüssel zu konzentrieren, die man ihm hingestellt hatte. Die Essgewohnheiten der Silberwölfe waren ebenso fremdartig für ihn, wie ihr Sexualleben. Wie konnte man nur einen blutigen Fleischbrocken herunterwürgen, ohne ihn ein einziges Mal vorher zu kauen? Wahrscheinlich musste man Wolfsblut in seinen Adern haben. Er fragte sich, wie viel Wahres an den Sagen über die Entstehung der Elt war. Ihre Erschaffer, sie nannten sie die sagenumwobenen Nugai, hatten sie aus ihrem eigenen Fleisch und Blut gemacht, doch angeblich hätte ein Gott einer anderen Art, ihrem Rezept einen Tropfen Wolfsblut hinzugegeben und damit die Silberwölfe von ihren Eltern entfremdet. Er dachte an die Entstehungsgeschichte seiner eigenen Leute. Alle Skergen stammten von dem Urtitanen Crynos ab, doch auch sie hatten sich von ihrem Vater gelöst und die große Mutter Natur als Schutzherrin angenommen. Die Parallele war durchaus interessant; zumindest, wenn man an Schöpfungsmythen glaubte.

»Ich gehe zu dem Schmied nach Quinkstadt und frage ihn einfach, ob er das Zahnrad für uns reparieren kann«, sagte der Nygh und nahm einen Bissen Brot in den Mund.

Kyon war immer noch mit dem Fleischbrocken in seiner Kehle beschäftigt und keuchte: »Absolut sinnlos. Er wird es nicht machen.«

Tal sagte: »Warum denn eigentlich nicht? Er hat doch kein Problem mit euch. Es war euer Vater, der ihn beleidigt und destabilisiert hat.«

»Spielt keine Rolle. Er wird es trotzdem nicht machen. Er ist sauer und verletzt und mit Sicherheit stur.«

Tal überlegte einen Moment und fragte dann: »Und eure Mutter? Wäre es denkbar die beiden wirklich zusammen zu führen?« Sie rechnete schon damit, dass Kyon einen Wutausbruch bekommen könnte und wandte sich sicherheitshalber ihrem Essen zu, aber dieser schluckte endgültig das tote Tier herunter, nahm einen Schluck Gelbwein und sagte: »Für was denn? Sie ist in ihrer eigenen Welt. Erstens will sie ihn nicht sehen, und zweitens würde es ihm kaum etwas bringen, sie so, wie sie jetzt ist, zu besuchen. Mir wäre es im Grunde egal, aber ich sehe keinen Sinn in dem Versuch.«

Das ärgerte Tal. Sie verstand Kyon nicht. Seine Mutter mochte sich in sich zurückgezogen haben, aber tat gerade so, als wäre dies ihre freie Entscheidung gewesen. Sie trauerte, und zwar heftig. Wie groß musste ihre Fähigkeit zu lieben sein, wenn sie der Verlust ihres Gatten derart marterte? Aber sie war ja nicht tot. Wer hätte sagen können, was ein Besuch seitens eines alten Freundes in ihr auszulösen vermochte?

Sie stand auf, schob ihren Teller über den Rand des Tisches und wandte sich ab. Kyon tat das Ganze als Laune ab und Ughtred, der erschrocken war, stand ebenfalls auf und ging der Silberwölfin hinterher.

»Idioten«, murmelte Kyon und stopfte sich einen noch größeren Brocken Fleisch in den Rachen.

 Auf der Treppe holte Ughtred die Hexe ein und sagte: »Ich gehe jetzt mal in die Quinkstadt.«

»Mir egal«, schnaubte Tal und ging die Treppe nach oben.

 

Quinkstadt lag am westlichen Rande Shishneys und grenzte im Süden an den Plagensumpf. Am westlichsten Rand ging der Stadtteil in eine Ebene mit Heidegraß und verkrüppelten Obstbäumchen über. Die dunklen Nadelgehölze des Gebirges begannen erst weiter nördlich, warfen aber ihre Schatten bis hier herunter. Es war nach wie vor kühl und regnerisch und Ughtred, der sich an die zeitlichen Gewohnheiten der Silberwölfe gewöhnt hatte, schlurfte durch das trübe Dämmerlicht des Nachmittags. 

In den Gassen arbeiteten viele Quink. Wenn Ughtred an ihren Läden, Schmieden und Ständen vorüber kam, sahen sie auf und beobachteten ihn. Er war ihnen weit fremder, als ihre Herren, die Silberwölfe. Obwohl er von seiner Leibesgröße her, unter den Quink nicht im geringsten auffiel, hätte er sich kaum mehr von ihnen unterscheiden können. Quink gingen eher geduckt und neigten zur Buckelbildung. Ihre bleiche Haut hatte eine seltsam wässrige, graue oder bläuliche Färbung und wirkte immer irgendwie feucht. Ihre Augen lagen extrem tief in den schwarz umrandeten Höhlen und glichen winzigen weißen Murmeln. Und so war auch ihr Blick. Sah man einem Quink direkt in die Augen, hatte man das Gefühl man blicke durch Glas in sein Gehirn. Hinzu kamen die Fingerdorne der Fischwesen. Ihre Hände waren lang und wiesen kleine Schwimmhäute auf, aber hier vielen vor allem die bis zu zwanzig Zentimeter langen Dornen an ihren äußeren, kleinen Fingern auf. Diese urtümlichen natürlichen Waffen waren steif und konnten nicht mit Fingernägeln oder Klauen verglichen werden. Es waren eher kleine Hörner an den Händen. 

Am Auffälligsten an einem Quink aber, war ganz zweifelsfrei sein Unterkiefer, denn von Natur aus hatte er praktisch keinen. Jeder in der Zivilisation lebende Quink bekam, sobald er das Erwachsenenstadium erreicht hatte, einen künstlichen Unterkiefer aus Metall eingepflanzt. Dieser medizinische Vorgang war schmerzhaft und konnte nur mit Hilfe von Betäubungsmitteln überstanden werden. Die Unterkiefer wurden von den Quink selbst geschmiedet und wiesen Zacken auf, die allerdings rein optischer Natur waren. Quink schlangen ihre Nahrung herunter und zerkleinerten sie daher vor dem Essen. Die gezackten Prothesen waren einfach Teil ihres Erscheinungsbildes. In der Wildnis lebende Quink verzichteten zum Teil auf diesen schmerzhaften Tant.

Ughtred sah als Nygh natürlich ganz anders aus. Er hatte, wenn auch nicht so lange und spitze, Ohren wie die Silberwölfe, ein ebenmäßiges Gesicht und ausdrucksstarke, grüne Augen. Am meisten schien aber sein Bart auf die neugierigen Quinkkinder zu wirken. Immer wieder kamen einige von ihnen herangelaufen und zupften an seinem Bart. Dann lachten sie. 

Überhaupt schien es einen wesentlichen Unterschied zwischen den Kindern und den Erwachsenen zu geben. Bei den Nyghs waren Kinder und Erwachsene ja auch verschieden, aber es war irgendwie anders. Erwachsenen Nyghs fehlte es nicht an Lebensfreude. Hier in Quinkstadt schien es, als ginge diese jedem Individuum spätestens mit dem Erwachsensein verloren. Ältere Quink schlurften gebeugt dahin und schienen das Interesse an allem verloren zu haben. Sie machten einen mehr oder weniger gefühllosen Eindruck und Ughtred fragte sich, wie sie sich unter diesen Bedingungen überhaupt noch vermehren konnten. Er hatte sogar einmal gehört, dass die Silberwölfen das Trinkwasser der Quinkstadt mit einer Droge versetzten, welche die Libido der Bewohner verstärken sollte. Wenn dies wirklich so war, konnte Ughtred hier in den Straßen eher nichts davon bemerken.

Die Schmiede war nicht schwer zu finden. Zuerst wollte er jemanden fragen, aber dann sah er schon von einem Platz, auf dem Pilze verkauft wurden, eine dicke schwarze Rauchsäule im Westen aufsteigen und da wusste er, wo er hingehen musste.

Tatsächlich lag Amyithas Schmiede im Nordwesten, nahe des Stadtrandes zum Gebirge hin. Es handelt sich bei dem alten Haus um ein baufälliges Gebäude mit einem einem Hochofen in seinem Zentrum. Zur einen Seite war es offen; dies war die eigentliche Schmiede, und die andere Seite schien der überdachte Hauptraum zu sein. Die Steinwände waren windschief und das Fundament hatte längst mehrere Handbreit dem Sog des Sumpfbodens nachgegeben. Zu jeder Tages- und Nachtzeit stieg dicker, unheilvoll öliger Qualm aus dem ebenfalls schiefen Schornstein und überzog die Umgebung mit einer schmierigen Schicht des so entstehenden Fallouts.

Trotz dieser Eigenheit seines Gewerbes war der stille Schmied in Shishney und sogar über die Grenzen der Ansiedlung hinaus anerkannt. Kein anderer Handwerker in der Umgebung leistete auch nur annähernd ähnlich gute Arbeit wie Amyithas Darin und jeder Krieger, der etwas auf sich hielt, ließ seine Klingen ab und an in Quinkstadt richten und auf die korrekte Grundschärfe bringen. 

Einen Moment lang erkannte Ughtred in dem Bild des alten Hauses mit seiner eigenartig böswilligen Ausstrahlung seine wahre Natur. Es war ein Sinnbild des smavarischen Umgangs mit ihrer Umgebung. Sie schufen und zerstörten und zerstörten, um zu schaffen und schufen erneut, um zu zerstören. Der Nygh schüttelte diese Gedanken ab und rieb sich dabei die Stirn. Wenn es die Nugai wirklich gab oder gegeben hatte, war ihr Nachlass für die Tiba Fe in Form ihrer Kinder alles andere als gut. Die Silberwölfe hatten nicht nur über ein Drittel dieser Welt in eine Wüste verwandelt, sie verpesteten darüber hinaus die Luft, versklavten ganze Völker und schufen Waffen und Geräte, über deren Gefährlichkeit der Nygh überhaupt nicht nachdenken wollte.

»Andaloy«, rief Ughtred auf Smavarisch und erhielt sofort eine Antwort aus dem Inneren der Schmiede. Ein älterer, sehr gut gebauter Quink kam aus dem Haus. Er trug eine Schmiedeschürze, einen flachen Helm und ein Kinn aus purem Silber. In einer seiner langen Hände hatte er einen schweren Schmiedehammer.

»In wessen Namen sprichst du Fremder?«, fragte der Schmiedegehilfe und legte den Hammer auf einen der großen Ambosse am Rande der glimmenden Esse.

Ughtred stellte sich vor und vergaß nicht, Kyons Haus zu erwähnen. Er hatte gelernt, dass es immer einen Unterschied machte, ob man alleine etwas wollte, oder im Namen eines Silberwolfes sprach. Außerdem wollte er vermeiden, später nachgesagt zu bekommen, Kyons Abstammung absichtlich verheimlicht zu haben.

Der Quink stellte sich als Seklaid, Meister Amyithas Darins Aushilfe vor. Auf die Frage hin, ob der Meister zu sprechen sei, hob er die Schultern. Es war nicht üblich, dass Amyithas mit Bediensteten sprach, im Grunde sprach er so gut wie mit niemandem, aber mit einem Nygh, würde er vielleicht ja eine Ausnahme machen. Ughtred war zumal der erste Nygh, den Seklaid seit seines Lebens zu Gesicht bekommen hatte, was die Wahrscheinlichkeit aus seiner Sicht verstärkte. Er wandte sich der Tür zu, aus der er gekommen war und verschwand im Haus, nur um eine Sekunde später wieder aufzutauchen und den Besucher hereinzuwinken.

Das Innere des Steinhauses sah noch unordentlicher aus als die Schmiede draußen. Überall standen Tische mit Werkzeugen, Halbzeugen und fertigen Produkten herum, aber am meisten erstaunte Ughtred die Decke des Raumes. Hier hingen hunderte der wundervollsten Schmiedearbeiten, die er in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Schwerter, Äxte, Speere und alle Arten von Kriegszeug, sowie Rüstungen, Helme und Schilde hingen hier an Drahthaken zwischen dem Gebälk und bei ihrer schieren Menge, hätten sie auch an keinem anderen Ort in diesem Haus Platz gefunden. Er staunte nicht schlecht über die offensichtliche Qualität der Erzeugnisse des Schmiedes.

Im hinteren Bereich des Zimmers, gab es einen etwas weniger zugestellten Bereich. Hier befanden sich ein einfaches Bett, eine Küche und ein Esstisch mit einem hochlehnigen Stuhl, von dem gerade Amyithas aufstand. 

Der Mann war für einen Silberwolf recht groß, aber erschreckend schmal. Sein Gesicht hatte eine graue Färbung angenommen und sein dunkles Haar hing ihm fettig und dünn über die Hakennase. Trübe gelbe Augen glommen in der Dunkelheit des Raumes. Dann sah Ughtred den Arm des Schmiedes und auch sein Bein. Beide Gliedmaßen bestanden offensichtlich aus purem Gold und mussten unglaublich schwer sein. Der Mann humpelte, doch dies schien keineswegs am Gewicht des Beines zu liegen. Im Gegenteil, das künstliche Bein schien sich geschmeidiger als das andere zu bewegen. Dasselbe schien für den Arm zu gelten. Das Ding sah eher aus wie ein Teil einer ehrfurchtgebietenden Rüstung und passte nicht zum schmalen Körperbau des Schmiedes, aber in seinen Bewegungsabläufen wirkte er kräftig und elegant. 

Als Amyithas vor seinem Gast stand, sagte er: »Nygh?«

Ughtred bestätigte und stellte sich vor. Dann brachte er seine Anliegen vor und versuchte, dabei so geschäftsmäßig wie eben möglich zu klingen. Er wollte eine bessere Waffe. Auf seinen Abenteuern hatte er schmerzlich feststellen müssen, wie wirkungsvoll Tals Schwert und die Pfeile des Barden im Vergleich zu seiner Axt gewesen waren. Nyghklingen waren offenbar schön geschmiedet, aber mit der Gefährlichkeit der kisadmurischen Waffen konnten sie nicht mithalten. Der Schmied sah sich die Klinge aus Korezuul an und nickte. Dann erklärte er, dass er die vorhandene Waffe mit einer Legierung veredeln könne und nannte seinen Preis, der dem Nygh eher niedrig erschien. Ughtred willigte ohne weiter zu überlegen ein und brachte das Bündel mit dem zerbrochenen Zahnrad zum Vorschein.

Amyithas sog hörbar die Luft zwischen seinen dünnen Lippen hindurch. Er streckte die gesunde Hand nach Ughtred aus. Seine Haut wirkte wie altes Pergament. Vorsichtig, als könne er sich verbrennen, berührte er das Zahnrad und murmelte kaum hörbar: »Wygs Rad.«

Ughtred sah ihn an und der Schmied richtete sich auf.

»Eine alte Geschichte. Vor langer Zeit gab es einen Angriff auf eine Festung hier in Kisadmur. Der damalige Herrscher der Anlage wollte seine Familie retten und schickte sie in den Kellerfried. Danach zerstörte er den Mechanismus, der die Tore verschloss und machte ihn so unbrauchbar. Der Zugang war gegen die Angreifer geschützt. Im Verlaufe der Kämpfe kam aber der Schmied des Herrschers ums Leben und als alles vorüber war, konnte das Tor nicht mehr geöffnet werden. Dies hier ist das Zahnrad, das damals zerbrochen wurde. Nur mit ihm war es möglich in die Keller unter Raugnith, so der Name der Festung, zu gelangen.«

Er machte eine Pause und nahm eines der kleinen Bruchstücke aus dem Tuch und hielt es vor seine kränklichen Augen.

»Elamit«, murmelte er. »Dieses Material hätte ich auch verwendet.«

Er gab es zurück und sah Ughtred erwartungsvoll an.

»Es muss repariert werden. Für den Herrn Kyon Yˋshandragor.«

Der Schmied legte den Kopf schräg, als wäre er ein Geier, der einen leckeren Happen Aas entdeckt hatte.

»Yˋshandragor«, machte er und schüttelte den Kopf. »Kann nicht repariert werden.«

»Herr Schmied, wir kommen als Bittsteller. Kein anderer kann das Zahnrad heilen. Ich würde die Reparatur bezahlen.«

Amyithas schüttelte bestimmt den Kopf und sagte mit hochmütiger Stimme: »Ich habe zu tun. Leider kann ich das Zahnrad nicht in Auftrag nehmen. Geh jetzt Nygh. Man wird dich informieren, wenn deine Waffe fertig ist.«

Da Ughtred den alten Silberwolf nicht noch mehr verärgern wollte, verneigte er sich höflich und ging.

 

Als der Nygh den beiden anderen von seinem Misserfolg erzählt hatte, winkte Kyon ab und machte wüste Bemerkungen über die Erfolgschancen dieser Unternehmung. Er verhielt sich ablehnend und faselte immer wieder von der großen Reise nach Rivenest. Tal ärgerte sich maßlos. Um sich abzulenken und nicht tatenlos herumzusitzen, stand sie ebenfalls auf und sagte in freudloser Gleichmut: »Ich gehe hinauf in das Zimmer eurer Mutter. Ich will versuchen mit ihr reden. Am Ende hat sie eine eigene Meinung zu der ganzen Sache. Soll ja vorkommen.«

Kyon entließ sie mit einer lässigen Handbewegung, als brauche Tal seine Erlaubnis, nach oben zu gehen. Sie streckte ihm die Zunge heraus und verschwand.

Ughtred, der die ganze Zeit keinen Ton mehr gesagt hatte, stand ebenfalls auf und ging in den Hof. Er musste den Kopf frei bekommen und dachte über den Bau einer eigenen kleinen Werkstatt in diesem Bereich nach. Alles war besser als die sinnlosen Streitereien der beiden Kinder.

 

In Nyni`scie dan Y`shandragor Kammer war es kühl wie immer und draußen, vor dem stumpfen Fenster erzeugte der andauernde Regen feine Bindfäden als Kulisse. Die Ayn saß in ihrem Schaukelstuhl und neben ihr, am Boden, hockte die alte Quink, die der Dienerschaft neu beigetreten war. Sie zupfte an einem Stück Stoff oder Leder herum und summte eine alte, smavarische Weise.

Als Tal das Zimmer betrat, machte sie eine Handbewegung, welche die Alte dazu bewegte, schwerfällig aufzustehen und das Zimmer zu verlassen. Dann setzte sich die junge Hexe auf das kalte Fensterbrett und griff liebevoll nach der Hand der älteren Frau. Nyni war zweifellos eine Schöne Frau gewesen. Ihre Züge waren ebenmäßig, die Nase schmal und ein wenig gebogen und ihre Augen hatten diese typische Form, die sie als Kisadmuri auswies. Tal erkannte Kyon in diesem von Gram und Schmerz gealterten Gesicht. Wenige Jahreszeiten hatten gereicht, ihr die Blüte, die Schönheit und die Unsterblichkeit zu nehmen.

»Erzählt mir von einst«, sagte Tal leise und blickte auf das trübe Wetter, jenseits der dicken Glasscheibe.

Sie streichelte Nynis Hand und spürte ihre leise reaktion. Sie war wie eine Motte, der das Licht fehlte, um das sie kreisen konnte. Die Hexe konzentrierte sich und berührte die feinen Fäden der Membran in dem Zimmer, brachte sie zum schwingen und leuchten. Sie knüpfte keine spezielle Form, wie sie es tun würde um eine ihrer mächtigen Disziplinen real werden zu lassen, sondern spielte nur und vertrieb sich damit selbst die Zeit und die Sorgen. Northrian kam ihr in den Sinn. Wie musste es sein, in einem Shimwas? Sie hatte gelernt, der Shimwas speichere Geist und Seele, doch im Gegensatz zu anderen Geistspeichern versetzt er den wachen Anteil des Geistes in eine Art Trance und bedient sich seiner Reflexe. Jede Eigenständigkeit, jede Hoffnung, Erinnerung und jeder Weg nach Draußen geriet in Vergessenheit. Sie blickte auf den kalten Stein an ihrem Handgelenk und fragte sich, ob da noch etwas von ihrem Bruder war. Was würden ihre Eltern sagen?

Plötzlich erstreckte sich um sie herum eine Wiese am Rande eines Waldes. Sie wusste genau, dass es sich um eine Vision handelte, denn die Optik der Landschaft fühlte sich falsch an. Sie wirkte wie mit einem Pinsel gemalt; einem alten, viel zu breiten und harten Pinsel. Sie war in einem Gemälde. 

Sich umblickend versuchte sie zu begreifen was man ihr sagen wollte. Da erschien ein Reh. Es stand einige Schritte von Tal entfernt und sah sie mit traurigen Augen an.

»Nyni?«, sagte die Hexe und hörte ihre Stimme von weiter Ferne zu der Szene herüber wehen.

Das Reh sagte: »Sie sollten es erfahren.«

Tal nickte. Die Ayn hatte recht. Doch ehe sie etwas erwidern konnte, sagte das Reh: »Euer Vater ist ein guter Mann. Er hat verdient, dass ihr über euren Schatten springt. Jeder sollte sich darin üben, wirklich jeder und jede.«

Erneut nickte Tal und spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Dann hauchte sie: »Und ihr?«

Da löste sich das Bild auf und die Ayn starrte wieder aus dem Fenster in ihre Regenwelt. Der Bann war gebrochen, aber Tal fühlte sich seltsam bestärkt. Sie stand auf, küsste die alte Smavari auf die Stirn und ging.

 

Sie versuchte es auf eigene Faust. Es wäre doch gelacht, wenn sie den alten Schmied nicht um den Finger wickeln konnte.

Ihr Weg führte Tal, am Zirkelhaus vorbei, zur Brücke nach Quinkstadt. Der Frühling war trotz der fortgeschrittenen Tage launig. Es regnete feine Tröpfchen und der Nordwind brachte kalte Luft aus dem Gebirge herab.

Kaum hatte sie das Tor an der Grenze der Oberstadt erreicht, schrie über ihr eine zottige Krähe. Das Tier sah ein wenig fremd aus, vielleicht eine hier in Kisadmur eher seltene Art. Es hatte dunkles Gefieder und war für eine Krähe eher klein.

»Krääääähhhhhh, kräääääääh, kiiiik, kräääääääh«, sagte die Krähe und Tal blieb stehen, schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Sprache der Tiere. Leicht wob sie die Fäden der Anderwelt zu dem Muster ihrer Wahl. Dann öffnete sie die Augen wieder und sah in den Himmel hinauf.  

»Sag das noch einmal!«, befahl sie dem Vogel.

›Kräh-gebt iiihr mirrrrr was Futäär, rett ich euch einmarrrl«, schnarrte das struppige Wesen. 

»Klingt nach Erpressung«, erwiderte die Hexe, ging aber auf die Brücke zu, wo viele Quink ihren Nahrungsvorrat durch Angeln ergänzten. Als sie sich mit spitzen Fingern einen kleinen Fisch aus einem der Eimer nahm, sahen die Leute ihr zwar nach, sagten aber nichts. Kein Quink würde sich über solch eine Tat seitens einer Silberwolfhexe beschweren. Man wollte schließlich den nächsten Tag erleben. 

Tal sah zu der Krähe auf, die nun auf einen der Brückenpfosten geflattert war. »Da, du freches Biest«, lachte sie und warf ihr den Fisch hin. 

Das Tier fraß und Tal ging nach Quinkstadt.

Sie besuchte ihre kleine Pension und unterhielt sich einige Zeit mit Huinkis, ihrer alten Wirtin, bei bitterem Faltersud. Dann suchte sie an den Pollern nach dem Eisvogel, fand ihn aber nicht. Also ging sie weiter, passierte den Pilzmarkt und fand, wie Ughtred vor ihr, am westlichen Horizont die Rauchsäule der Schmiede. Der Himmel hatte eine schmutzige Farbe angenommen und je näher sie der Schmiede kam, desto dicker wurde der schmierige Belag auf den Häusern.

Seklaid, der Gehilfe des Schmiedes, empfing sie freundlich. Er konnte ja nicht ahnen, welchen Ärger sie bedeutete. Er führte sie ins Innere des Gebäudes und stellte sie dem Meister vor. 

»Ven Arudsel, ein mir nur zu gut bekannter Name«, sagte Amyithas Darin und deutete auf den Tisch, wo er gerade Faltersud bereitet hatte. 

Tal setzte sich.

»Ihr kennt meine Familie?«

»Das meine ich wohl. Eurem Vater habe ich das hier zu verdanken.«

Er deutete auf seinen goldenen kybernetischen Arm. 

Dann sagte er: »Er warf ab, obwohl wir noch unten waren. Alles für das Reich, auf Befehl des Mirthas, ihn zu stärken durch Ruhm und Dinge. Wir hatten vergessen, dass es nur Dinge waren, nach denen wir strebten.«

»Zürnt ihr ihm?«

»Wem? Eurem Vater? Nein.«

Der Schmied schenkte Sud nach und wischte sich dann mit einem schmutzigen Lappen über den dünnen Mund. Schließlich sagte er: »Euer Vater hat eine Entscheidung getroffen. Einmal hat er Befehle befolgt und dann hat er sich gegen sie gewandt. Beides waren mutige Taten. Ich zürne ihm nicht.«

Tal starrte in ihren Becher. Wenn sie der Meinung war, dass Kyon über seinen Schatten springen musste, würde sie dies früher oder später auch von sich selbst erwarten. 

Freimütig erzählte sie dem Schmied von ihrer Unternehmung, der Schwarzen Perle und dem Zahnrad. 

Er lehnte ab und riet ihr, die Sache zu vergessen. 

Sie verabschiedete sich und erklärte nicht aufzugeben. 

Doch als sie am nächsten Tag wieder nach Quinkstadt kam, war die Schmiede geschlossen. Der Quink arbeitete und behauptete, sein Meister sei nicht zugegen. Tal rief nach ihm, aber der Quink hatte den Auftrag, niemanden einzulassen, und sie wollte ihm nicht schaden. Dennoch kam es beinahe zum Streit und der Quink fürchtete mehr als einmal um sein Leben.

Ebenso verlief es am Tag darauf und auch am nächsten. Der Schmied wollte sie nicht empfangen und sie befürchtete, dies war sein gutes Recht. Es verärgerte sie natürlich, aber was sollte sie machen? Sie konnte schlecht, Raguels Speer voran, in die Schmiede stürmen und den alten Kriegshelden zwingen. Wenn Smavari sich weigerten etwas zu tun, war es immer schwer sie umzustimmen. Gewalt, war zweifelsfrei die letzte Lösung in solchen Fällen.

Als sie schließlich am vierten Tag zurück im Haus war, erzählte sie Ughtred und Kyon von ihren Besuchen bei der Schmiede und erntete Hohn vom Herrn des Hauses. Er hatte es ja gleich gesagt und nein, das würde niemals passieren, dass der alte Krüppel ihnen half.

Tal versuchte, ihn umzustimmen. Sie sagte, er solle es selbst versuchen, schließlich hatte sein Vater dem Schmied schlimmes Unrecht angetan. Kyon räumte sogar ein, dass er ihre Meinung teilte. Er empfand die Taten seines Vaters nicht gerade als ehrenwert oder heldenhaft. Einen Mann zu diskreditieren, der im Krieg einen Arm und ein Bein verloren hatte, war nicht, worauf man hätte stolz sein müssen. Trotzdem empfand er die Sache als nicht lohnenswert.

Doch das Gespräch wurde immer hitziger und irgendwann erlag Kyon dem Stakkato den verbalen Angriffen.

Er sagte: »Also gut, einen Versuch. Ich gehe zu dem Schmied aber dafür müsst ihr mir etwas versprechen!«

Die Hexe sah ihn mit wütenden Blicken an. »Was?«, blaffte sie.

»Ihr versprecht mir, mich nie wieder gegen meinen Willen oder ohne mein Wissen zu vergiften! Dann mache ich es.«

Sie überlegte nicht einmal als sie antwortete: »Ja, fa dri mon!«

Diese Formel war heilig. Eine Abmachung, die so besiegelt worden war, konnte nicht gebrochen werden und Kyon sah der Hexe an, dass sie ihre Entscheidung im selben Moment, da sie die Worte ausgesprochen hatte, auch schon wieder bereute. Besonders seltsam daran war, dass er selbst den Schwur ebenfalls nicht ganz oder gar positiv einstufte. Warum? Schließlich hatte sie versprochen, ihn nicht zu vergiften? Er war verwirrt, nahm die Sache aber als Sieg. Der Schmied würde ihn sowieso wegschicken und er würde zukünftig vor der Hexe sicher sein.

Seltsam unbehaglich erhob er sich.

»Was macht ihr?«, fragte Tal und Kyon antwortete mit einem gezwungenen Lächeln: »Ich gehe nach Quinkstadt. Kann ich auch jetzt gleich machen. Wird eh nichts bringen.«

Die junge Silberwölfin sah ihm hinterher. Sie fühlte sich nicht gut. Das war falsch gelaufen. Schwüre dieser Art waren einfach nicht in Ordnung. Sie musste an ihrer Disziplin arbeiten. Wenn Akkatha von dem Schwur hörte, würde es Schimpfe hageln.

 

Kyon war gut gelaunt. Er stellte sich die Ankunft bei Angaworth vor, sah sich über die große Brücke vor dem höchsten Tor der Welt gehen und die Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt bewundern. Nach wie vor war das Wetter trüb und ein Frösteln vertrieb die aufgesetzten, guten Gedanken. Er wusste wohl, wie schwer es war, eine größere Menge an Ressourcen anzuhäufen. Seit dem Tod seines Vaters hatte er einfach nur vor sich hin gelebt und das Vermögen der Familie war ihm aus den Händen geglitten. Das Haus Yˋshandragor hatte einst über eine große Anzahl von Sklaven verfügt. Es war nie eines der reichsten Häuser der Oberstadt gewesen, denn sein Vater war auch nicht unbedingt eine Krämerseele gewesen, aber dafür hatte seine Mutter mit harter Hand für den Erhalt eines gewissen Standards gesorgt. Nach ihrer Abwendung von der realen Welt jedoch, hatte Kyon sich gehen lassen. Jegliche Warnung seitens der Dienerschaft hatte er ignoriert und allzu eindringliche Einwürfe mit harter Hand zur Seite gewischt. So war das Haus in seinem Wert tiefer und tiefer gesunken, bis er im Grunde nichts mehr gehabt hatte. Seither lebte er von der Hand in den Mund, was ihm allerdings dank seines guten Aussehens und seiner Künste erstaunlich gut gelang. Dennoch war er arm.

Die Kosten für eine Überseereise waren mehr als horrend. Mit den Ressourcen der nun erlebten Abenteuer hatte er die gröbsten Arbeiten am Haus erledigen und neue Quink anwerben lassen. Sollte dies umsonst gewesen sein? Warum hatte sein Vater diesen verdammten Brief nicht zu Lebzeiten verschicken können? Warum hatte er sich unbedingt von einem Drachen fressen lassen müssen? Er fragte sich, ob dies auch sein Weg sein würde. War dies eine Art Karma seines Daseins?

Missmutig schlurfte er durch die schmutzigen Gassen von Quinkstadt. Was für ein Ort. Er verabscheute den Fischgestank, die allgegenwärtigen Stände und die vielen neugierigen Kinderaugen. Diese winzigen Wesen erinnerten ihn an Ratten, die nur auf seinen Tod warteten, um ihm dann das Fleisch von den Knochen zu nagen. War er dem Sumpf von Hyn doch nicht entkommen?

Er musste länger nach der Schmiede als seine beiden Vorgänger suchen. Quinkstadt war ihm fremd und er wäre nie auf die Idee gekommen, einen ihrer schmutzigen Bewohner nach dem Weg zu fragen. Angewidert wich er immer wieder Wasserlöchern auf dem Weg aus. Es gab einen Grund, warum die Oberstadt ihren Namen trug. Sie lag mehrere Meter höher als Quinkstadt und galt daher als trocken. Hier grenzte irgendwie alles an den Plagensumpf, stank und war nass.

Es dauerte fast eine Stunde, bis Kyon endlich die Schmiede gefunden hatte. Der Quink ließ ihn allerdings direkt ein. Er hatte nach Tals Erzählung ihres Misserfolgs fast damit gerechnet, unverrichteter Dinge nach Hause zurückkehren zu müssen. Jetzt war er nicht sicher, ob ihm dies nicht sogar lieber gewesen wäre.

Der alte Schmied stand im Chaos seiner Höhle und starrte seinen jungen Gast aus gelben, toten Augen an. Kyon überlegte einen Moment und stellte sich dann höflich vor.

Wenn man in Kisadmur jemanden besuchte, war es nicht nötig, dass dieser sich ebenfalls vorstellte. Amyithas Darin verzichtete also auf Höflichkeitsfloskeln und fragte direkt, um was es ginge. Kyon beschrieb sein Anliegen, wie es vorher seine Mitstreiter getan hatten, und der Schmied lehnte bestimmt ab.

Kyon musterte den alten Mann. Jetzt kam ihm die Weigerung, ihm zu helfen, noch kleinlicher vor als vorher. Der Schmied schien ihm nicht einmal zu zürnen. Warum also konnte der Bastard nicht einfach das elende Stück Metall flicken und fertig? Er überlegte, was er noch sagen könnte und brachte vor, dass ihm wohl bewusst sei, dass der Schmied durch die Handlungen seines Vaters Schaden genommen hätte und dass er, Kyon, als Sohn dieses Mannes sich im Namen seines Hauses entschuldige. Der Schmied nahm die Entschuldigung an und erklärte, dass er dennoch nichts für Kyon tun könne.

Das war dann genug. Kyon ging.

 

Ein Tag war vergangen. Tal, Kyon und Ughtred saßen an dem runden Tisch im Soiree-Salon des Hauses und wie damals, als ihre Reise begann, lag ein Artefakt in der Mitte der alten Holzplatte. Beim letzten Mal glomm hier der Datenkristall des verstorbenen Lonkaiyth dan Y`shandragor, diesmal waren es die Bruchstücke eines uralten Zahnrades. Ughtred schielte zu Tal hinüber, aber die Hexe starrte auf das Artefakt, als wäre es eine Schlange, kurz vor dem Biss. Vielleicht würde sie es aber auch Kraft ihrer Gedanken reparieren können. Wer konnte schon sagen, zu was die Silberwölfin fähig waren?

Doch natürlich geschah nichts dergleichen.

Ughtred holte Luft und wollte einen erneuten Versuch starten, Kyon dazu zu bewegen, endlich weiter in den Schmied zu dringen. Der Plan des Barden, nach Oriad zu reisen, war absurd. Er hatte überschlagen, dass es mehrere Jahreszeiten dauern würde, genügend Ressourcen zu erwirtschaften, um die Reise zu finanzieren. Über die Gefahren und die Dauer einer solchen Maßnahme jedoch konnte er nicht einmal mutmaßen. Hinzu kam, dass er nicht die geringste Notwendigkeit dazu sah. Er war sich sicher, dass es möglich war, den Schmied zu überreden. Natürlich würde es ihm nicht persönlich gelingen. Aber Kyon hatte alle Mittel dazu in der Hand. Leider war der Narr zu stur, um auf einen dummen kleinen Nygh zu hören. 

Trotzdem, musste etwas passieren, also sagte er: »Herr Kyon, könnten wir denn nicht …«

Doch in diesem Moment öffnete sich die Tür, welche auf die Hauptkellertreppe führte und der Raum wurde von Dunkelheit geflutet. Der Effekt sah aus, als krieche eine schwarze Masse in das Zimmer und deckte jeden Gegenstand und jede Person langsam zu. Das Licht erlosch und was blieb waren Schatten und Umrisse in Grau in Grau.

Alle Personen im Raum konnten gut genug im Dunkeln sehen und sie waren alle drei an Situationen wie diese gewohnt, also wandten sie sich der Tür zu und blickten der Herkunft der Finsternis entgegen, wo sich gerade eine kleine Gestalt manifestierte.

Gebeugt durch ein schweres Gewicht in seinen Händen, trat Splinternackt, das einstige Faktotum des Herrn Lonkaiyth in den Salon. Das gerade einmal siebzig Zentimeter große Maskenmännlein trug einen groben, ausgefransten Hausmantel aus dunkelgrauem Stoff. Seine Hände waren mit fleckigen Bandagen umhüllt. Doch noch auffälliger als dieses Auftreten der Eltkreatur war die seltsame Maske die sie trug. Es handelte sich um ein unförmiges Ding mit drei kreisrunden Öffnungen, welche mit trübem Glas gefüllt waren. Am unteren Ende der Maske hing eine Art Trichter, der nach einer Seite abstand. Das Ding gab regelmäßige, keuchende und rasselnde Laute von sich. Ughtred kannte Atemschutzmasken aus den Minen seiner Heimat, doch er verstand nicht, warum das Wesen hier im Haus eine trug. Außerdem machten ihn die drei asymmetrischen Augen nervös. Er hatte von diesen Wesen gehört. Angeblich wurden sie von den Silberwölfen als Leibdiener erschaffen, doch dieses Exemplar war einst der Diener von Kyons Vater und er konnte nicht zuordnen, wie es nun zum Sohn seines einstigen Herrn stand.

Verstohlen wanderte seine Hand zum Griff seiner Axt, die neben ihm an den Tisch gelehnt stand.

Splinternackt trat schwer atmend näher. Er trug einen ganz offensichtlich schweren Gegenstand aus schwarz lackiertem Metall vor sich her. Das Ding war größer als der Kopf eines Midyar und mehr oder weniger kastenförmig. Auf einer Seite war es abgeflacht und wies Tasten mit smavarischen Symbolen darauf auf. Es mussten wenigstens einhundert oder mehr dieser winzigen Dinger sein, aber das war kein Wunder, denn die smavarische Scherbenschrift setzte sich schließlich aus über einhundertundacht Buchstaben zusammen. 

Über den Tasten befanden sich eine Öffnung und mehrere dünne Metallhebel. Der Zweck des Dings war Ughtred unbekannt. Er konnte es einfach nicht zuordnen. Doch als er Kyon ansah, konnte er sehen, dass dieser durchaus wusste, um was es sich dabei handelte.

Das Eltwesen kam zum Tisch und die Finsternis ließ nach. Es war, als ob es den Zauber nicht länger aufrechterhalten konnte. Dann hob es das Metallding mit aller Kraft auf die Höhe der Tischkante und schob es schwerfällig über das Holz.

Schnell griff Splinternackt in seinen Umhang und beförderte einen matt glänzenden Kristall hervor. Er legte ihn neben das Tastending und verneigte sich vor den Herrschaften. Dann wandte er sich ab und schlurfte zu der Kellertür zurück. 

Fast eine Minute herrschte absolute Ruhe im Salon. Ughtred überlegt, ob er seinen Satz von vorhin beenden sollte, aber dann kam ihm Kyon zuvor. Der Barde rieb sich wie sonst Ughtred über die Stirn, hob den Kristall auf und sagte: »Das ist die Schreibmaschine meines Vaters. Eine alte Unterwald aus einer Manufaktur in Angaworth. Er hat mich früher darauf herumtippen lassen.«

Langsam legte er den Kristall in die Öffnung und ein seichtes Glimmen breitete sich in dem grauen Glas aus. Er schob einen der Hebel zur Seite und der Kristall rutschte etwas nach oben und leuchtete stärker. Dann schlug der Barde auf eine der Tasten und ein hauchdünner Arm schnellte aus der Maschine nach oben, berührte den Kristall, hinterließ ein Leuchten und verschwand wieder im Gehäuse. Kyons Finger donnerten mit einer seltsamen Wut auf weitere der Tasten und mit jedem Anschlag hämmerten die dünnen Ärmchen auf den Kristall ein und hinterließen winzige Wölkchen aus glimmenden Nadelspitzen.

Tal stand auf und stellte sich hinter Kyon. Sie war fasziniert von dem Gerät. Sie kannte Schreibmaschinen, hatte aber noch nie eine gesehen. Meist wurden Kristalle besprochen oder gar bedacht. Nichtneurologische Eingabemethoden waren eher verpönt, da sie alles andere als fälschungssicher waren. Man konnte ja schreiben was man wollte und am Ende eine Unterschrift darunter setzen. Im Falle gesprochener oder gedachter Einträge war dies nicht möglich. 

Sie laß was Kyon tippte:

 

Geehrter Myrlan Amyithas Darin

 

Ich, Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor, Herr des Hauses Y`shandragor, erlaube mir, im Namen meiner mitunterzeichnenden Mutter Ayn Nyni`scie dan Y`shandragor, euch diesen Brief zu schreiben.

In Gedenken eures Standes und eurer unvergleichbaren Fähigkeiten und allem voran eurer einstigen Freundschaft zu meiner Mutter, sehe ich einen baldigen Besuch eurerseits in meinem Hause als unerlässlich. Die bevorstehende Soiree ist für morgen Abend angedacht. Eure Anwesenheit ist obligatorisch und eine Absage unvorstellbar.

Ich blicke diesem Treffen mit großer Freude entgegen und verbleibe großmütig trotz meines Titels als euer Freund.

 

Gezeichnet

K`KdY`s & N`sdY`s

Am frühen Nachmittag, Tag, Datum

Shishney, Kisadmur

 

Sie nickte. Das Schreiben war förmlich und standesgemäß. Jetzt musste nur noch Nynis Unterschrift gefälscht werden, aber dies traute sie sich zu. Sie schob Kyon mit ihrem Hintern von seinem Stuhl und setzte sich. Mit den Löschtasten übertippte sie die Unterschrift der Ayn und tippte sie dann in ihrem eigenen Anschlag neu. Tatsächlich sahen die Glyphen im Kristall danach anders aus und hatten eine feminine Note. Blieb zu hoffen, dass Meister Amyithas sich nach all der Zeit nicht so genau an die Handschrift seiner alten Liebe erinnerte, aber einen Versuch war es allemal wert.

Sie sah Kyon an und sagte: »Warum nicht gleich so?«

»Kam mir sinnlos vor. Er wird ohnehin ablehnen. Und dann? Soll ich ihn zu einem Duell fordern?«

Tal lächelte säuerlich und erwiderte: »Fickt euch oh Sliyn.«

Dann schob sie mit einem der Hebel den Kristall aus der Maschine und hob ihn Ughtred hin.

»Hier oh Bote der Ayn von Yˋshandragor, eile und überbringe dem Meisterschmied diese dringende Depeche!«

Der Nygh rollte mit den Augen, verzog das Gesicht und nahm den Kristall entgegen. Dann hob er seine Axt vom Boden auf und griff nach seiner Jacke.

 

Amyithas Darin überflog das Schreiben auf dem trüben Kristall und schüttelte den Kopf. Ughtred stand vor ihm und wartete geduldig die Antwort des Mannes ab. Eine ganze Weile herrschte Stille. Dann endlich holte Amyithas Luft und sagte leise: »Morgen Abend bin ich verhindert und bekomme Besuch.«

Ughtred sah ihn an, als hätte er sich gerade vor seinen Augen in einen Eulenmann verwandelt. Er rieb sich die Stirn und sagte so gelassen wie möglich: »Aber Herr Schmied, das scheint mir eine schlechte Antwort. Wie könnt ihr gleichzeitig unpässlich sein und Besuch bekommen?«

Der Alte überlegte einen Moment und sagte dann: »Ja, ja, dann eben nur unpässlich. Ich schreibe es ihm.«

»Gebt ihr ein anderes Datum an, Herr Schmied?«, wollte Ughtred wissen.

»Äh, ja, ich weiß nicht, vielleicht in ein paar Tagen, vielleicht.«

Er nahm den Kristall zwischen den Zeigefinger und den sehr spitzen Daumen seiner künstlichen Hand und Ughtred wunderte sich, wie leicht ihm dieses Kunststück gelang. Schließlich war der Kristall glatt und die Finger liefen konisch zu und hatten wahrscheinlich kein Gefühl.

Mit zusammengekniffenen Augen starrte Amyithas in das rauchige Chaos des Datenträgers und konzentrierte sich. Ughtred, der zwar wusste, dass man Kristalle kraft der Gedanken beschreiben konnte, war dennoch fasziniert. Er war kein Wissenswahrer und hatte keine Vorstellung davon, wie diese Kristalle letzten Endes funktionierten. 

Die Antwort musste kurz gewesen sein, denn der Schmied reichte ihm nach wenigen Augenblicken die Depeche zurück und sagte: »So Lakai, nun bring das deinem Herrn zurück.«

Ughtred rieb sich die Stirn und schluckte seinen Ärger hinunter. Doch dann sagte er: »Der Herr Sliyn ist nicht mein Herr und ich bin nicht sein Diener; so wenig wie der eure, Meisterschmied.«

»Du solltest wohl wissen, Nygh, dass die Tiba Fe uns Smavari gehört, so wie jede Welt im Reiche MirthasˋEysmi. Alle Völker unterliegen der Gnade des Goldes. Jedes Wesen dient der Glorie meiner Spezies!«

Ughtred sagte: »Ich gehe nun besser, da unsere Meinungsverschiedenheit sonst unfreundliche Ausmaßen annehmen könnte.« Und ehe der Andere noch etwas hinzufügen konnte, hatte der Nygh die Schmiede auch schon verlassen.

Draußen wartete der Gehilfe. Er hatte zweifelsfrei an der Tür gelauscht und machte ein verkniffenes Gesicht. Ughtred überlegte, ob der Quink jetzt unter seinen Aussagen leiden musste, aber dann wischte er den Gedanken beiseite. War nicht jeder seines Glückes Schmied? Die Quink ließen sich alles gefallen. Sollten sie für sich selbst einstehen.

Er lief zum Hause seiner Herren, damit diese nicht zu lange warten mussten und ärgerte sich über sich und die ganze Welt.

 

»Unpässlich, wie lächerlich«, schnaubte Kyon, aber Tal beruhigte ihn sofort, indem sie sagte: »Das ist doch nur Zierde, Herr Sliyn. Er will ein wenig gebeten werden, das ist alles.«

»Ist er ein Weib?«

»Ein Weib tritt euch gleich, der Herr.«

Kyon sah sie an und betrachtete dann den Kristall, der zwischen ihnen auf dem Tisch lag.

Ughtred sagte: »Hat er denn angemerkt, dass er um einen neuen Termin bittet? Er sagte so etwas.«

»Gut, gut, dann in drei Nächten.« Kyon hob den Kristall auf und legte ihn wie beim ersten Mal in die Schreibmaschine aber Tal sagte: »Nein, lasst mich, ich will es probieren.«

Sie tippte den Text und lächelte dabei wie ein kleines Mädchen. Dann entnahm sie den Edelstein der Fassung und hielt ihn dem Nygh hin. Sie wollte etwas sagen, aber der kleine Mann winkte ab und ging.

 

Als der Schmied den Kristall erneut las, kniff er sich mit den biologischen Fingern in die Nasenwurzel. Dann wollte er wissen: »Wer kommt denn noch?«

Ughtred überlegte. Einen Moment dachte er, der Schmied wolle möglichst viel Besuch bei dem Treffen, um in der Menge unterzugehen oder um gesehen zu werden. Er verstand die Silberwölfe nicht und hatte Schwierigkeiten, ihre Eigenheiten betreffend Entscheidungen zu treffen. Aber dann sagte er wahrheitsgemäß: »Ich denke, die Einladung betrifft nur einen ganz kleinen Kreis. Euch und die Mitglieder des Hauses Yˋshandragor. Sonst sollte niemand eingeladen sein.«

Der Alte blickte auf ihn herab. Er schien zu überlegen und nickte dann müde. Wie beim ersten Mal hob er den Edelstein zwischen seine Finger und konzentrierte sich.

 

»Er kommt«, sagte Ughtred mit einer gewissen Begeisterung in der Stimme. Er war so froh, dass die Unternehmung wieder in Fahrt zu kommen schien. Zwar hatte er die müßigen Tage genutzt, im Innenhof des Hauses eine kleine Werkstatt für sich einzurichten, aber er hatte dennoch genug von Shishney und seinen Bewohnern. Jetzt wo er in seiner eigenen Unterkunft wirkten und schlafen konnte, ging es ihm besser, aber es musste etwas passieren. Er hatte Sehnsucht nach seinen eigenen Leuten.

Kürzlich war er mit Kyon in einem dieser Lebehäuser gewesen, und eine der Damen hatte ihm ihre wirklich beachtliche Oberweite ins Gesicht gedrückt. Er hatte höflich abgelehnt und Kyon hatte ihn gefragt warum. Daraufhin erläuterte Ughtred dem Barden, dass er sich nur für Frauen seines Volkes erwärmen könne. Kyon hatte ihn kurzerhand als Rassisten bezeichnet.

War es das? Er hatte Heimweh, nicht mehr und nicht weniger.

Kyon starrte zur Decke hinauf. Ein Netz von dunklen Fäden zog sich quer über die schmutzig graue Fläche. Ihm war, als betrachte er, das von kranken Adern durchzogene Fleisch eines Untoten. Angewidert wandte er sich dem Fenster zu. Was würde der Krüppel von ihm denken? Er würde in jedem Fall erkennen, wie es um das Haus Yˋshandragor stand. Er musste unbedingt etwas unternehmen. Vielleicht sollte er dem alten Stinkstiefel einfach einen Explosionspfeil in eins seiner Augen schießen. Doch stattdessen streckte er sich, köpfte seinen neuen Hausmantel zu und ging stolz erhobenen Hauptes die Treppe zum Vestibül hinunter. 

Tal und Ughtred warteten schon gespannt auf ihn. Gemeinsam gingen sie in die große Halle. Tal hatte Odugme aufgetragen, die zerbrechliche Ayn Nyni`scie dan Y`shandragor hierher zu tragen. Nun saß sie am Tischende, denn sie war die älteste Herrin des Hauses und so war es Brauch in Kisadmur. Kyon würde links neben ihr sitzen.

Schließlich war es soweit. Der alte Hausmeister Flark öffnete die doppelte Eingangstür, von der ein Flügel arg genug in den Angeln quietschte, und kündigte den Meisterschmied Amyithas Darin an. 

Dieser trug einen fadenscheinigen Mantel, lederne Rüstungsteile, die einst sicher Gold gefärbt waren und hohe, beschlagene Beinlinge. Tal konnte sich durchaus vorstellen, dass der Mann früher recht schneidig daher gekommen war. Leider trübte nun seine kränkliche Haut und das fettige, strähnige Haar dieses Bild.

Kyon hieß den Gast förmlich willkommen und wies ihm einen Platz in einigem Abstand von seiner Mutter auf der rechten Tischseite an. Die Stimmung war angespannt. Anfangs sagte niemand etwas. Die Quink trugen das Essen auf. Es gab Echsenschwänze in heller Soße, ein derzeit günstiges Gericht und später Schlangenzünglein in Aspik geeist.

Die Unterhaltung verlief wie erwartet schleppend und als Kyon die wechselhafte Wetterlage vorbrachte, himmelte Tal genervt. Schließlich sagte die Hexe leise zu Kyon: »Denke, es ist an der Zeit, dass die alten Bekannten sich ein wenig in Ruhe austauschen herr Sliyn.«

Sie zwinkerte Kyon zu und deutete mit dem Kinn nach oben. Kyon zuckte mit den Schultern und erklärte, er müsse sich nun dringenden Geschäften zuwenden, aber die Herrin des Hauses würde für die weitere Versorgung des Gastes zur Verfügung stehen.

Ughtred nickte nur und erhob sich als erster. Dann verließen die Drei das große kühle Speisezimmer und überließen den Schmied und die Trauernde ihrem Schicksal. Beim Hinausgehen wanderten Kyons Blicke noch einmal über die Adern an der Decke. Er konnte kaum noch davon lassen. Was kümmerte ihn da der Krüppel und seine Mutter?

 

Sie hockten am runden Tisch und starrten Löcher in die Holzplatte. Die Stille im Raum war nervtötend. Normalerweise war Kyon nicht der Mann für stundenlanges Schweigen und Tal hielt es nur selten länger als wenige Minuten aus, ohne etwas zu sagen, und Ughtred befürchtete schon, die beiden wären schon wieder in ihre Visionen abgeglitten. Doch plötzlich sah Tal auf. 

»Ich will wissen, was da unten vor sich geht! Wenn wir doch nur eine Sonde hätten, oder einen Scout oder so etwas.«

Kyon und Ughtred sahen sie an. Wer konnte seinen Körper verlassen und ungesehen weite Entfernungen zurücklegen?

Sie legte den Kopf schief und machte eine Lopenschnute. Dann lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück, konzentrierte sich und verließ ihren Körper.

Amyithas hatte sich neben Nyni`scie gesetzt. Gerade flüsterte er ihr etwas zu und schließlich legte er seine goldene Hand auf die Tischplatte vor ihr. Eine Ewigkeit schien zu vergehen. Doch dann, hob mit einem Mal auch Nyni die Hand und legte ihre schmalen Finger auf das glimmende Gold des alten Freundes.

Tal spürte, wie ihr die Tränen kamen und sie fragte sich, wie sich ihr arkaner Zustand auf ihr physisches Selbst auswirkte. Sie hielt noch eine ganze Weile inne, doch dann fühlte sie sich unwohl in ihrer Rolle als Beobachterin und schließlich kehrte sie mit einem warmen Gefühl in ihrem Herzen in die Realität zurück. Als sie erwachte, fühlten sich ihre Wangen und ihr Ausschnitt feucht an. Die beiden Männer sahen sie besorgt an.

»Es ist nichts. Sie sind nur soooooo süß«, sagte sie mit einem glücklichen Lächeln.

 

Kyon verabschiedete den Schmied und gab vor, seine Mutter brauche Ruhe. Amyithas nickte ergeben und dankbar und als Kyon erklärte, dass man ein solches Treffen unbedingt wiederholen müsse, war er Feuer und Flamme. Fragte vorsichtig, ob man auch fürderhin auf weitere Gäste verzichten könne und Kyon nickte höflich. Als der Schmied ging, schien er um Millennien verjüngt zu sein.

 

Einige Tage später brachte der Schmied Ughtreds Axt. Ein Quink meldete ihn nur dem Nygh, weil er dies auch so wollte und als Ughtred zur Außentür kam, hatte der Alte eine schwere Tasche über der Schulter hängen. Er holte die Axt hervor und reichte sie seinem Kunden. 

Der kleine Mann besah sich seine Waffe und staunte nicht schlecht. Das Metall sah nun etwas gelblicher aus, aber es war nicht zu erkennen, wie der Schmied die Legierung in die ursprüngliche Schneide eingebracht hatte. Er konnte sie ja kaum eingeschmolzen und genau gleich nachgeschmiedet haben. Oder doch?

Die auffälligste Neuerung war jedoch der Huhnsei große, unheimlich gelblich glimmende Stein, den Amyithas in den Schneidenkopf eingelassen hatte. Er glomm energetisch und Ughtred wollte gar nicht so genau wissen, welchem Zweck er diente. Als er die Schärfe der Klinge prüfte schnitt er sich. Der Schmied lachte und deutete auf seine goldene Prothese. Ughtred hatte noch nie zuvor eine derart scharfe Klinge in Händen gehalten. Axtklingen waren meist eher stumpfer Natur, weil sie dazu neigten, viel Kraft zu übertragen und eher spalteten als schnitten. Dies wiederum führte dazu, dass sie schnell ausbrachen, wenn man sie in einem sehr scharfen Winkel anschliff. Doch dieses Meisterwerk, machte auf den Nygh den Eindruck, als wäre es absolut unzerbrechlich. Er holte aus und schlug damit auf einen Feuerscheit, der hier, im unordentlichen Vorhof, auf dem Boden lag. Die Klinge drang durch das trockene Holz, als wäre es aus Butter. Ungläubig prüfte Ughtred die Klinge und tatsächlich hatte sie auch nicht den geringsten Schaden genommen.

Er sah den Schmied anerkennend an und bedankte sich, doch dieser war noch nicht fertig. Er drückte dem Nygh den Sack in die Hand und sagte: »Dies ist noch ein kleines Gastgeschenk, für die freundliche Soiree die Tage.«

Ehe der Nygh etwas sagen konnte, hatte Amyithas sich abgewandt und ging in seinem seltsam ungleichmäßigen Gang in Richtung Quinkstadt davon.

Ughtred sah in den Beutel. Es waren vier Gegenstände des smavarischen Alltags. Zwei davon erkannte er als Feuerzeuge, eins war eine Kiste, die er nicht zuordnen konnte und das letzte schien ein Apparat zu sein. Es hatte zwei stumpfe abstehende Kristalle und eine Art Drehregler. Er hob die Schultern und brachte die Geschenke dann ins Haus.

Da er niemanden vorfand – die Hexe schien zu schlafen und Kyon war in der Stadt unterwegs – besah er sich das Gerät mit den Kristallen etwas näher. Er kannte sich mit Lesekristallen aus und spürte sofort die neuronale Verbindung, die er mit dem Ding eingehen konnte. Kurzerhand versuchte er es.

»Narun Darn«, sagte eine unfreundliche Stimme in seinem Kopf. Er erkannte, dass es drei Neuronalschnittstellen gab, die er willentlich anfahren konnte. 

»Hallo? Wer ist da?«, dachte er versuchsweise, doch wer sich auch immer auf der anderen Seite befand, wiederholte nur die ersten beiden Worte und trennte dann die Verbindung.

Die zweite Schnittstelle antwortete auf Smavarisch und Ughtred verstand einen Frauennamen. Die Frau fragte, ob es um eine Bestellung ginge und ob er einen Neuronalcode habe. Man fände diesen in der Geistesübertragung. Er verneinte und die Frau fragte, wohin die Phanibestellung gehen sollte. Jemand lieferte Phani aus.

Ughtred schwirrte der Kopf und die Frau sagte, sie wolle den Fall nun eskalieren und schließlich meldete sich ein Mann an ihrer Stelle in Ughtreds Kopf an. Auch er fragte nach einem Code und erklärte, er habe bei einer Zeitverschiebung von fast acht Jahren nicht ewig Zeit für eine Anfrage.

Ughtred trennte die Verbindung und schüttelte den Kopf. Die Smavari waren verrückt, alle!

 

Später saßen sie wie üblich in der Küche und Ughtred zeigte den beiden anderen die Geschenke des Schmiedes.

»Das ist Deckenfarbe«, sagte Kyon zufrieden und hatte ganz offensichtlich keinerlei Probleme damit, sie anzunehmen. Tal, die schaukelnd auf einem der Küchenstühle hockte, griff nach der Kiste und sagte: »Eine Tiefenraumkiste. Da passt mehr rein, als man von außen erkennen kann. Guck!« Sie öffnete das schwarze Ding und steckte ihren Arm hinein. Dieser verschwand mit einem leisen, magentafarbenen Zischeln bis zum Ellbogen.

»Hi hi hi«, kicherte sie, »Das kitzelt.« 

Sie stellte die Kiste neben sich auf den Stuhl und machte damit klar, dass sie nun ihr gehörte. 

Es war Kyon anzusehen, dass er einen Moment überlegte, gegen dieses Vorgehen zu protestieren, aber dann ließ er es. Sie hatte ihm geschworen, ihn nicht zu vergiften, dies schloss ihn nicht, bis ans Ende seiner Tage zu nerven, keineswegs ein.

Ughtred sagte: »Das da scheint eine Art Apparat zu sein, mit dem man mit entfernten Personen kommunizieren kann!«

»Es ist Deckenfarbe«, sagte Kyon und besah sich nun erstmals die Decke der Küche, was sich als Fehler herausstellte.

Ughtred gab auf.

 

»Wir sperren ihn in den Keller und vergessen ihn dort«, sagte Kyon und die Rede war natürlich von Alag Dar`Ytavoulth, dem Kerkermeister von Shishney. Die Sache mit dem Schmied würde aller Wahrscheinlichkeit nach nun ja ein wenig Zeit in Anspruch nehmen, da hatte man sich gefragt, wie man diese sinnvoll nutzen solle. Seltsamer Weiße fand sogar der ansonsten eher pazifistische Ughtred die Idee, den Blödmann aus dem Kerker zu bestrafen, mehr oder weniger verständlich. Der Kerl war höchstwahrscheinlich schuld am Tod von Northrian. Wer hätte es Kyon, als dessen Geliebten und Tal, seiner Schwester, übel nehmen können, sich an dem Kerl zu rächen? Als die beiden jedoch angefangen hatten über Konzepte wie Tötung, Folter und Vertuschung zu diskutieren, hatte er abgeschaltet.

Tal überlegte. Sie spielte mit ihren deutlich länger gewordenen Haaren. Warum hatte sie sich nicht früher darauf konzentriert, sie wachsen zu lassen?

»Wir gehen rein wie beim ersten Mal«, sagte Kyon düster und nickte ihr zu. Da auch der Nygh nichts sagte, fühlte er sich bestätigt. Mittlerweile gab er recht viel auf die Meinung des kleinen Mannes, aber dies würde er natürlich niemals zugeben.

Sie verzog das Gesicht zu einer hässlichen Todesgrimasse. Er musste ja nicht in die stinkende Haut seines toten Bruders schlüpfen. Aber natürlich hatte er recht. Es war der beste Weg. Niemand würde damit rechnen.

Tal sagte: »Und was genau machen wir jetzt, wenn wir ihn haben?«

Kyon sagte verdrossen: »An die Wand ketten. Nygh, mach Ösen an die Kellerwand und besorge Ketten!«

Ughtred hob die Augenbrauen und rollte dann mit den Augen. Er sagte nichts, rührte sich aber auch nicht.

Mit spitzer Schnute sagte Tal: »Können wir ihn einmauern? Ich habe mal eine Geschichte über einen Mann gelesen, der sein Weib einmauerte. Man konnte noch viele Millennien später ihre Schreie hören. Klingt doch schick oder?«

»Und wenn er uns so verreckt?«, warf Kyon ein.

Die Hexe zählte laut die Mittelchen auf, mit denen man künstlich das Leben verlängern konnte. Seltsam, in ihren Schulstunden, war ihr dies nie so einfach von den Lippen gegangen. Es war halt doch etwas ganz anderes, wenn man Wissen in der Praxis anwandte.

Plötzlich fiel ihr Blick auf Ughtreds Axt, die wie so oft an dessen Stuhl gelehnt auf dem Küchenboden stand. Sie stierte das Ding an und strich dann mit der Hand über den Stein in ihrem Kriegshandschuh, den sie wirklich nur selten abnahm.

»Ist das …« Sie machte eine Pause und schluckte. »Ist das ein Shimwas in der Axt und wenn ja, wo kommt er her bei allen Nugai?«

Ughtred sah nun auch auf die Axt neben sich und nickte.

»Kann sein. Der Schmied hat mir die Axt verbessert. War wirklich günstig.«

Kyon legte den Kopf schief. Bei allen Nugai, genau. Der Schmied hatte sich nicht lumpen lassen. Verdammt nochmal, dass wäre wirklich Farbe für das ganze Haus gewesen.

Die Hexe stand auf und ging neben Ughtred in die Knie. Der Nygh empfand ihre Nähe plötzlich noch unangenehmer als sonst schon. Er konnte in ihren Ausschnitt blicken und sie wusste das. 

»Wir legen ihn um und packen ihn genau da rein!«, sagte sie grimmig.

Ughtred ließ die Schultern sinken.

»Naaaaaa«, sagte er gedehnt. »Dann habe ich ihn auf dem Hals und ich denke, dass kann man kaum wollen.«

Die Hexe strich ihm über den Kopf und schnurrte: »Das wird super! Er ist dann in eurer Hand und ihr werdet durch seine Kräfte gestärkt.«

»Nein danke«, versetzte der Nygh entschlossen, nahm seine Waffe auf und machte sich daran, das Haus zu verlassen. Waren die Silberwölfe denn ganz und gar verrückt? Welche Frage eigentlich. Natürlich waren sie es. Er floh.

Tal sah Ughtred hinterher und fragte dann Kyon: »Was hat er denn?«

Der Barde stand auf und schlenderte durch den Raum und sie tat es ihm gleich. Gemeinsam gingen sie in den ersten Stock und dort in Kyons Zimmer.

Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile, während Tal sich auf Kyons Bett räkelte. Die Sache mit dem Shimwas hatte alles geändert. Für sie stand fest, dass der irre Kerkermeister genau diesen Weg gehen würde. Sein Ziel war der Shimwas und dort würde er ihnen bis zum Ende aller Tage Dienen.

»Lust auf ein bisschen Sex?«, fragte Tal und befreite ihre schon beträchtlich angeschwollenen Brüste aus ihrem Kleid. Er wandte sich ihr zu und nickte. »Klar.«

 

Am nächsten Morgen in der Frühe kniete Kyon neben seiner Mutter und stierte durch das Fenster auf den Regen in Shishneys Gasse. Er fragte sich, ob das mit dem Regen auch funktionieren würde, wenn er es brauchte. Konnte er Regen erzeugen, indem er durch das Fenster seiner Mutter blickte? Konnte sein.

Ohne Vorwarnung sagte Nyni: »Warum tut ihr euch das an, mein Sohn?«

Kyon erschrak derart, dass er sich an seiner eigenen Spucke verschluckte und einen Moment brauchte, um zu antworten.

»Was meint ihr, meine Liebe, die Unternehmung?«

Sie nickte und sagte leise: »Ja.«

»Es war Vaters Unternehmung.«

»Er wurde von einem Drachen gefressen und das Untier hat ihm die Seele und den Geist genommen und quält nun ihn und mich all die Jahreszeiten, bis zu unser aller Ende.«

Kyon horchte auf.

»Er quält euch?«, fragte er vorsichtig.

Sie nickte und war wach. »Ja, der Luge lässt mich an der Qual meines Gatten teilhaben und es zerreißt mir das Herz und die Seele. Tagein und Tagaus höre ich seine Schreie und spüre seinen Schmerz.«

Darum war sie in die Zwischenwelt abgetaucht. Kyon nahm ihre kalte Hand und berührte sie mit seinen Lippen.

»Und ihr? Könnt ihr nicht aus eurer Trance auftauchen und euch aus diesem Joch befreien?«

Und mit einem Mal versank Nyni wieder genau dort, an diesem Ort ohne Freude, ohne Licht und ohne Interessen. Ihre Augen vernebelten sich und erst in diesem Moment bemerkte Kyon, dass es draußen aufgehört hatte zu regnen und dass nun erneut die ersten Tropfen fielen.

Tränen rannen ihm über die Wangen. Drachen waren kein Spaß!

 

Etwas später, man hatte extra den Mittag abgewartet, weil zu dieser Zeit ja die meisten Smavari schliefen, hockten die drei wie gewohnt am runden Tisch und berieten sich erneut. Sie hatten ausbaldowert, dass Tal in ihrer astralen Form den Kerker erkunden sollte. Nur so war es möglich, einen halbwegs vernünftigen Plan auf die Beine zu stellen.

Jetzt konzentrierte sie sich und versuchte, ihren Leib zu verlassen, aber es fiel ihr schwer. Sie hatte ihre Kräfte zum Teil verbraucht, als sie die Ayn und ihren Galan beobachtet hatte, und es dauerte oft viele Tage, bis sie wieder in der Lage war, aus der Realität zu schlüpfen.

Kyon sagte: »Was ist mit dem Ring?«

»Ach ja, der Ring! Er ist aufgeladen und bereit. Ich spüre sein Wüten und ich denke, er hat tatsächlich die Macht, die man ihm nachsagt. Sie Einäugige Hexe muss lustig gewesen sein.«

Kyon ließ die Schultern hängen. Er bereute ein wenig, den Ring ins Spiel gebracht zu haben.

»Ihr wisst schon, dass man den Ring den Zeithammer und nicht die Zeitpinzette nennt, ja?« Er betonte die Silbe Hammer besonders vordringlich.

»Was soll schon passieren?« Sie lächelte breit und schon kramte sie in ihrer Tasche nach dem Ring. Als sie ihn gefunden hatte, hielt sie ihn vor Kyons Nase und machte ein zischendes Geräusch. »Der Zeiiiithammeeeeeeeer«, machte sie ihn nach.

Er erschrak und wedelte ärgerlich mit der Hand, um sie zu verscheuchen, aber sie lachte nur und steckte sich den Ring ohne weitere Warnung an den Zeigefinger. Kyon und Ughtred zogen unmittelbar die Köpfe ein und erwarteten den Untergang der Welt. Und der ließ nicht lange auf sich warten …

Kyon sah noch, wie sich Tals Augen zu einem irren Schielen zusammen drehten und ein hässlicher Blutfaden aus ihrem linken Nasenloch troff, doch dann veränderte sich auch seine Wahrnehmung der Realität, denn der Zeithammer hatte seine Arbeit aufgenommen. Er zerrte am Rahmen des Multiversums und veränderte den Ablauf von allem. Er beobachtete sich dabei, wie er, der Zeit rückwärts folgend, neben einer seltsam anmutenden Frau durch eine urbane Landschaft trottete und nach seinem Fahrzeug Ausschau hielt. Dann öffnete er eine Tür und betrat einen Raum, dem er für sein eigenes Dasein eine fundamentale Rolle zumaß, ihn aber auf einer anderen Ebene seines Daseins als unreal betrachtete. Hinzu kam, dass er Tals und Ughtreds multiversale Verdrehungen so wahrnahm, als wäre er sie, und offenbar ging es ihnen ebenso, denn sie schienen sich in ihm zu treffen und alles zu wissen, was er wusste. Er versuchte zu schreien, aber diese Option schien ihm verwehrt zu sein, denn egal in welcher Dimension er den Mund auftat, nie hatte er die Macht, sein dortiges Selbst weiter zu manipulieren. Er krümmte sich zusammen und wurde zum Opfer der Erkenntnis seiner allumfassenden Unwichtigkeit.

Dann rammte der Zeithammer einige der Realitäten in eine fassbare Form. Tal – und damit er – sah sich selbst als anderes Wesen, dass in vielen Millennien ganz andere Abenteuer erleben würde. Dann wurde aus ihr wieder er, aber in einem anderen Körper und wiederum zu einer anderen Zeit. Er befand sich in einer Art Sternenbarke und betrachtete eine Sonne durch ein gewaltiges Dach aus Glas. Vor ihm stand ein pulsierendes Ei, von dem er wusste, dass es lange nach seinem, Kyons Tod, von außerordentlicher Wichtigkeit für die Zeitlinien sein würde. 

Wieder versuchte er zu schreien, denn der Wahnsinn der Vermischung zwängte sich in seinen Schädel und rüttelte an seiner Existenz. Der Zeithammer, seine Macht, die Wahrheit ohne die Grenzen der Zeit zu gewähren, machte alles Sein auf dieser Seite der Realität schlicht und ergreifend zu einem irrealen Spiel.

Da kam er zu sich und fand sich an dem Tag in der Küche vor, an dem er mit Ughtred in das Haus Lysai gehen wollte. Wie viele Tage waren vergangen? War er mit dem Nygh dort gewesen? Hatte die Helferin dem kleinen Mann ihre Titten ins Gesicht gedrückt. 

Er sah Ughtred an und fragte ihn, aber der Nygh schien ebenso verwirrt zu sein wie er selbst. Tal schüttelte sich und erbat sich mit einem Wedeln ihrer Hand etwas Ruhezeit aus. Sie musste ebenfalls zu sich kommen. Der Ring hatte zwar ihren Geist nicht beugen können – und oh ja, er hatte es versucht – aber die Auswirkungen seines Eingriffs in die Realität, hatten sie, genau wie Kyon und Ughtred voll getroffen.

»Geht es euch gut?«, fragte er so ruhig wie möglich und wischte ihr mit dem Daumen den Blutfaden von der Nase.

Sie nickte und machte noch einmal ein Zeichen, man möge ihr einfach einen Moment lassen.

Kyon ging zum Fenster und sah hinaus. Er hätte sich nicht gewundert, wenn sich Shishney von Grund auf verändert hätte, doch seine Nachbarschaft schien noch genau dieselbe zu sein. Er versuchte zu erfassen, welcher Tag war, doch damit hatte er schon unter normalen Umständen seine Probleme und damit ließ er es dabei. Er überlegte, ob es möglich war, mit dem Ring die Zukunft vorher zu sehen oder sie gar zu verändern? Waren die Auswirkungen statisch genug, um sie sinnvoll zu nutzen?

Ruppig rief er nach der Dienerschaft und fragte, ob er im Lysai gewesen sei. Flark sah ihn missmutig an und zuckte mit den Schultern. Es war Sklaven nicht gestattet die Machenschaften ihrer Herren zu erfassen und er wollte keine Prügel beziehen.

Kyon war versucht, den Alten aus dem Zimmer zu treten, mäßigte sich jedoch. Es gab einfach Dinge, über die durfte man nicht zu sehr nachdenken.

»Und, hat es wenigstens etwas gebracht?«, fragte er an die Hexe gewandt. 

Tal schloss die Augen und er dachte zuerst, dies sei eine Reaktion ihrer Genervtheit, aber als sie ihn wieder ansah, nickte sie nur. Ihre Kräfte waren zurück, der Zeithammer hatte gewirkt – und wie!

 

Tal glitt ohne Mühe aus ihrem Körper und steuerte den Norden der Stadt an. Es bereitete ihr keinerlei Probleme die Zitadelle zu finden und durch die Kanalisation den Kerkertrakt. Sie hätte auch einfach seitlich durch die Wände gleiten können, aber sie wollte versuchen eine ungefähre Vorstellung des Weges zu bekommen, den sie später in Norths Körper zurücklegen musste. Astral konnte sie noch besser Sehen als real und so blieb ihr hier unten im Dunkeln nichts verborgen. Wie erwartet gab es kaum Wachen, aber dafür brauchte sie eine ganze Weile den Kerkermeister ausfindig zu machen. Der Idiot hatte sich tatsächlich in einer Zeller eingesperrt und lag seitlich auf einer Pritsche. Er schien zu schlafen. Gut! Sie merkte sich die Zelle und beendete die Astralwanderung. Binnen einer Sekunde schlug sie die Augen auf und sah Kyon und Ughtred, die sie gebannt anstarrten in die Augen.

 

»Und dann packen wir ihn auf einen Schlitten oder so etwas und schleifen ihn hierher ins Haus.« Tal hatte sich in Rage geredet und war voller Tatendrang. Die Vorstellung, endlich Northrians Tod rächen zu können, und dann auch noch mittels einem Shimwas, erregte sie. 

Kyon nickte. Er war einverstanden mit allem, was die Hexe vorhatte, denn er wusste, was sie auch immer tun würde, es hätte die schlimmsten Auswirkungen auf den verhassten Kerkermeister.

Ughtred war nicht mehr so glücklich mit der ganzen Situation, aber was sollte er machen? Mitgefangen, mitgehangen, lautete die Devise. Außerdem stimmte es ja ganz offensichtlich. Alag Dar`Ytavoulth hatte zum Tod von Tals Bruder beigetragen und dafür sollte man ihn durchaus zur Rechenschaft ziehen.

Dennoch, in der Kultur der Nyghs, gab es keine Morde oder die damit hier zusammenhängenden Strafen. Die Vorstellung einer Todesstrafe war Ughtred zuwider. Sein Volk setzte auf Konzepte wie Resozialisation und Vergebung. 

Er fragte sich, ob er durch sein Zusammensein mit den Silberwölfen verrohte. Die Vorstellung dieser Wesen, was Werte betraf, hätte zu denen seines Volkes nicht unterschiedlicher sein können. Für einen Silberwolf waren Dinge wie Gesundheit, Familie oder auch nur Schmerzfreiheit eher nebensächlich. Sie suchten in allem nur Zerstreuung. Nichts schien mehr an ihnen zu nagen als die Langeweile. Warum nur, hatten ihre Erschaffer sie unsterblich gemacht? Sie konnten einfach nicht mit der ihnen zur verfügung gestellten Zeit umgehen. Es gab sehr alte Silberwölfe, denn sie starben ja von natur aus nicht. Aber dennoch gab es offenbar keinen Silberwolf aus der Zeit ihrer Entstehung. Daran waren sicher nicht in erster Linie natürliche Gefahren schuld. Sie wollten einfach nicht ewig leben. Wie Kyons Mutter, verloren sie früher oder später aus welchen Gründen auch immer das Interesse am Dasein und gaben es auf. Dann zogen sie sich in sich zurück oder verließen gar freiwillig ihre Körper. Ughtred hatte noch nie von einem Nygh gehört, der Selbstmord begangen hätte. Verzweiflung und Leid wurden von der Familie oder der Gemeinde aufgefangen. Langeweile kannten die Nyghs kaum. Sie arbeiteten für ihren Unterhalt, schufen Kunst oder erfreuten sich an der Ruhe an einem klaren Bergsee.

 

Tal konnte kaum etwas erkennen. Sie blinzelte und versuchte, Norths Augen besser unter Kontrolle zu bekommen, aber die Ergebnisse waren dürftig. Mit einem Gefühl der Reue erkannte sie, dass es sinnvoll gewesen wäre, den toten Körper mehr zu warten. Jetzt, da sie nach längerer Zeit wieder einmal in ihm steckte, erkannte sie den Verfall, aber sie bemerkte auch, wie sie gegen dieses Ziehen der Zeit ankämpfen konnte. Ihre astrale Kraft stärkte den Untoten. Als sie vorhin aus dem Sarg gestiegen war – in dem im Übrigen jetzt ihr Körper lag – hatte sie sich kaum bewegen können. Die Sehnen waren steif gewesen und der ganze Bewegungsapparat hatte geknackt und geknirscht. Doch nach einiger Zeit der Konzentration, hatte sich dies bald gebessert. Leider tat sie sich mit den Augen deutlich schwerer. Wahrscheinlich lag es daran, dass ihre eigenen Augen ebenfalls nicht die besten waren und sie sehnte sich nach der Brille, die sie seit einiger Zeit trug und an deren Unterstützung sie sich rasch gewöhnt hatte.

Langsam schlurfte sie durch den finsteren Gang des Kerkers. Wie damals, als sie den kleinen Mann befreit hatte, war sie in den Abfluss der Anlage gestiegen und hatte langsam das Säurebad durchquert. Und auch dieses Mal hatten sie die untoten Wächtertiere dieses Zugangs in Ruhe gelassen. Untote schienen sich nie gegenseitig anzugreifen. Warum eigentlich? Die Lebenden taten es doch ständig, warum sollte dies im Tode anders sein. Sie fragte sich, ob der Tod einfach friedlicher war und fand den Gedanken tröstlich.

Plötzlich drang ein Geräusch durch die verfaulten Gehörgänge des toten Leibes. Es war eine Art Patschen und es schien von hinter ihr zu kommen. Sie drehte sich um und versuchte etwas zu erkennen, aber Norths Augen übermittelten ihr nur graue Flächen. Oder doch, war da nicht eine Bewegung?

Direkt vor ihr stand ein Quink mit einer Hellebarde. Seine Augen waren winzige Lichtpunkte im Grau in Grau.

»Was macht ihr hier?«, hörte sie den Wächter vorsichtig fragen.

Sie versuchte den Kopf zu schütteln, da ihr die Ansprache in doppelter Hinsicht grotesk erschien. Man stelle sich vor, ein Quink fragt einen verwesten Smavarileib im Kerker der Zitadelle, was er hier tat. Lustig, was musste der kleine Kerl denken?

»Wääärshvindeeeeee …«, hörte sie North stöhnen und erinnerte sich, dass es noch schwerer war, ihn zum Sprechen zu bringen, als durch ihn zu sehen.

Der Quink machte trotzdem einen Schritt zurück und duckte sich. Er schien sich unsicher, wie er mit der Situation umgehen sollte und Tal konnte ihn gut verstehen. Zum Glück wurden hier unten keine Maskenmännlein eingesetzt. Ein solches hätte sie nicht so einfach handhaben können wie den Quink. Wenn er nicht spurte, würde sie ihn überwältigen und töten.

»Haaauuuu aaaabhhhh …«, versuchte sie es noch einmal und freute sich über die erstaunliche Klarheit ihrer Aussprache. Sie hatte verstanden, was sie gesagt hatte.

Der Quink auch. Er machte eine unterwürfige Verneigung und zog sich dann zurück. Der Gang war gerade und Tal vermutete, dass er in einiger Entfernung weiter hinter ihr her schnüffeln würde, aber solange er nicht Alarm schlug, war ihr das egal. Er hatte keinerlei handhabe gegen sie. Quink durften ihre Meister nicht angreifen oder auch nur gegen sie agieren. Zumindest bei gut erzogenen Quink, wurde diese Prämisse auch stets eingehalten und innerhalb der Zitadelle würde es ja hoffentlich nur gut erzogene Sklaven geben. Wenn er Alarm schlug, würde sie längst weg sein, bis sich smavarische Wächter bequemten hier herunterzusteigen.

Sie suchte nach der Zelle, die sie im Astralraum gesehen hatte, aber das war bedeutend schwerer als gedacht. Selbst mit ihren eigenen Augen, wäre es ihr schwer gefallen, denn hier unten sah alles irgendwie gleich aus. Im Astralraum hatte sie zum Teil durch die Wände gesehen. Personen wurden stark kontrastiert dargestellt. Sie konnte ihre Seelen als leuchtende weiße Balken wahrnehmen. Jetzt war alles ein Matsch aus Braun und Grau.

Sie schlurfte den Gang entlang und musste ein hohles Stöhnen unterdrücken. Warum stöhnten Untote nur immer? Sie hatte ja keine Schmerzen. Vielleicht waren sie genervt? Sie fühlte sich auch genervt. Was soll`s, dachte sie, und gab ein leises untotes Stöhnen von sich. Und als ob die Aspekte des Kar sie erhört hätten, erkannte sie in der nächsten Zelle den schlafenden Kerkermeister.

Sie drückte Norths Gesicht gegen die Gitterstäbe und versuchte etwas zu erkennen. Da war ein Ring unter dem Arm des dürren Kerls. Das war sicher der Schlüsselring. Sie langte durch die Gitterstäbe, aber die Pritsche war mehr als zwei Schritte von ihr entfernt und allein der Versuch stellte sich als utopisch heraus. Verdammte Lopenscheiße, dachte sie und hörte die leisen gestöhnten Flüche aus Norths Kehle aufsteigen.

»Veehhhrdaaam…eeeee Oooooooeeeensheeeeeeiiiiiiiisseeee …«

Sie hielt sich, bzw. Northrian die Hand vor den Mund, aber es war zu spät. Alag regte sich in der Zelle und drehte sein Gesicht nach oben.

»Was zum …«, grunzte er und richtete sich zu einer sitzenden Position auf. 

»Wer?«, sagte er und kam zur Gittertür.

Tal zögerte nicht. Sie griff zwischen den Gittern hindurch, fasste nach den fettigen Haaren des Kerkermeisters und zog sein Gesicht mit aller Kraft gegen die Stangen. Der Einschlag kam so unerwartet und erfolgte ohne ernstliche Gegenwehr, dass seine Wange brach und ein Knochen in sein linkes Auge rutschte. Er wurde sofort schlaff, aber Tal hielt ihn fest und fingerte nach den Schlüsseln. Es dauerte eine quälende Ewigkeit, bis sie es schaffte, den verdammten richtigen Schlüssel zu finden und noch einmal so lange, ihn zu drehen. Sie schalt sich erneut und ermahnte sich, Norths Körper zu trainieren. Doch dann hatte sie es endlich geschafft und griff nach dem leblosen Alag, um ihn sich über die Schultern zu hieven. Leider, leider, bewegten sich kleine Gestalten auf dem Gang und versperrten ihr den Rückweg in Richtung der kleinen Außenpforte, die sie damals für Kyon und Ughtred geöffnet hatte. Sie musste die Treppe hinauf und riskieren, durch den Haupteingang der Zitadelle zu gehen.

 

Kyon schlenderte auf das riesige Portal der Zitadelle zu. Das Wetter hatte sich ein wenig gebessert und die beiden Sonnen drängten durch die stählerne Wolkendecke. Wie erwartet, befanden sich nur Quink und keine Smavari auf dem Platz. Er sah sich um, betrachtete die geschlossenen Läden der smavarischen Behausungen und lugte dann unauffällig zu Ughtred hinüber, der in einiger Entfernung auf dem Sarg hockte und an seiner Pfeife sog. Er war nicht unbedingt unauffällig, aber das Sitzen auf einem Sarg war ja nicht verboten.

Ab und an blieb ein Kind bei ihm stehen, oder ein Erwachsener stellte eine neugierige Frage, aber alles in allem war dies eher eine gute Ablenkung, als ein Problem. Allerdings wäre es in einem solchen Moment natürlich ungünstig, wenn North, beziehungsweise Tal aus der stinkenden Kanalisation auftauchte und den Kerkermeister dabei hätte. Andererseits hatte es Kyon ohnehin im Blut, dass es nicht so einfach sein würde, die Zitadelle durch die untere Ausfalltür zu verlassen. Und genau da kam er ins Spiel. Wie vor Kurzem wollte er in die Zitadelle gehen und dort abwarten.

Sollte es Probleme geben, würde er versuchen, diese mit seinem smavarischen Charme zu lösen. Er hatte schließlich nichts zu fürchten und keiner der Wächter würde sich wagen, irgendetwas gegen ihn zu unternehmen.

Die Erleichterung, aus dem Sonnenlicht der Turmstadt ins Innere der Zitadelle zu treten, war wie immer immens. Er hatte die Wüste überlebt und wahrscheinlich mehr Sonnenlicht absorbiert als jeder andere Smavari, den er kannte, aber das machte ihn natürlich nicht immun gegen die Wirkung der Strahlen. Er rieb sich die prickelnde Haut und war froh, als die Schatten begannen, ihre heilende Wirkung zu zeigen.

Links von ihm befand sich der eher unauffällige Abgang in den Kerker. In der Nähe dieses Bereiches gab es eine Art Informationsstelle, die ständig mit einem oder mehreren Droiden besetzt war. Vor ihm kam gerade die mittlere der Aufzugsplattformen herunter und eine Gruppe von acht Quink wartete mit Wahren, die es in eins der Stockwerke zu transportieren galt. Zwei Midyar standen bei den Quink, schienen sich aber nur mäßig für die Sklaven. 

Kyon schlenderte auf die rechte Seite der riesigen Halle. Hier befand sich eine Sitzgruppe aus gegossenem Holz, die zu Stoßzeiten smavarischen Besuchern als Ruhestätte diente. Natürlich war um diese Tageszeit hier niemand. Die Quink würden sich nicht wagen, sich hier niederzulassen. Wenn überhaupt, setzten sie sich auf die von ihnen transportierten Kisten oder den kühlen Boden aus Perlmutt. 

Er setzte sich auf eine geschwungene Liege, die der Form einer südländischen Baumfrucht nachempfunden war, und sah an den endlosen Aufzugstrossen in den Turmschacht hinauf. Wie lange konnte es dauern, bis der Leichnam seine Arbeit erfüllt hatte? Die Droiden standen reglos da und wirkten eher wie Statuen als wie denkende Apparaturen. Ab und an bewegte einer von ihnen einen Arm und drehte leicht den Kopf und Kyon kam es so vor, als täten sie dies nur, um sicher zu stellen, nicht für defekt gehalten und entsorgt zu werden.

Was hätte er jetzt für einen heißen Faltersud gegeben? Er fragte sich, ob es weiter oben, nahe der Festung, einen entsprechenden Service gab. Hier unten brauchte er auf nichts zu hoffen. Er hatte schon mit eigenen Augen gesehen, dass hochrangige Besucher des Fürstenpaares hier unten campieren mussten, weil sie zu früh in Shishney angekommen waren. In diesem Falle, mussten sie sich selbst mit entsprechenden Annehmlichkeiten versorgen. Von oben war nichts gekommen. Die Turmstadt bot alles, was das Herz begehrte, aber unter Gastfreundschaft verstand Kyon etwas anderes.

Gerade überlegte er, diesen Gedanken in einem Lied festzuhalten, als auf der anderen Seite der Halle die Kerkertür aufging und eine große Gestalt mit einem Kapuzenmantel und einem schweren Bündel über einer Schulter in Sicht kam. Er lachte tonlos auf und machte sich auf den Weg. Unglaublich, die Hexe. Sie hatte es offenbar wirklich geschafft, und dies, ohne einen Alarm auszulösen.

Der Weg durch die Halle war weit und bis er selbst die Mitte erreicht hatte, war North nicht mehr weit entfernt. Der Tote bewegte sich schleppend langsam, und Kyon konnte erkennen, dass dies nicht an seiner Last, sondern weitgehend an seinem schlechten Zustand lag.

Gerade wandte sich einer der Droiden zu North um und setzte sich in Bewegung, aber Kyon war schon nahe genug und sagte: »Hier gibt es nichts zu sehen!«

Der künstliche Mann wandte ihm den Kopf zu und fragte nach seinem Namen, aber Kyon schüttelte den Kopf und sagte nur: »Mach deine Arbeit Droide!«

»Bitte nennt mir euren Namen, damit ich ein Protokoll erstellen kann.«

»Steck dir dein Protokoll in deinen öligen Arsch und verschwinde, sonst hagelt es Brandpfeile!«

Der Droide blieb stehen, folgte aber North und Kyon mit seinen Sensoren. Es war ihm anzusehen, dass er ein Problem mit seinen Direktiven und Kyons direktem Befehl hatte. Das eine schien gegen das andere zu wirken, aber einem unmittelbaren Befehl eines Smavari musste er offensichtlich Folge leisten.

Kyon war zweifelsohne aufgezeichnet worden. Erst jetzt, im Sonnenlicht, schob er seine Kapuze wieder über sein Haar. North hatte es besser gemacht. Sein Gesicht war die ganze Zeit verborgen gewesen. Andererseits, was sollte sein? Sie wussten sicher nicht, wer er war, denn wäre es anders gewesen, hätte der Droide gar nicht erst nach seinem Namen gefragt. Guten Mutes ging er dem Untoten hinterher, auf dessen Rücken der Kerkermeister baumelte.

Ughtred stand sofort auf, als die beiden aus der Zitadelle kamen. Er verscheuchte zwei Quinkkinder und öffnete den Sarg. Dann hob er Tals schlaffen Leib heraus und legte sie ins feuchte Gras zu seinen Füßen. Kyon stand zuerst nur da, aber als sich seine und Ughtreds Blicke trafen rollte er mit den Augen und half North den Entführten ebenfalls abzulassen. Dann sah er zu, wie der Untote in den Sarg stieg, sich niederlegte und Ughtred den Deckel anbrachte. 

»Odugme?«, fragte Kyon und der Nygh deutete mit dem Daumen auf das nahegelegene Ufer des kleinen Sees neben dem Kerkerausgang. 

Kyon rief nach dem Phani und dieser kam sofort angelaufen. Im selben Moment öffnete Tal ihre Augen und sog Luft in ihre Lungen. Kyon sah sich um. Da waren nur die beiden Kinder. Er berührte mit einer Hand einen Pfeil in seinem Köcher und machte dann ohne Bogen eine schießende Bewegung in ihre Richtung. Sie rannten davon.

Ughtred legte das Bündel mit dem Entführten auf den Schlitten, den sie für diesen Zweck mitgebracht hatten, und nickte Odugme zu. Dieser nahm die Ketten des Sarges auf und zog ihn, wie so oft schon, hinter sich her. Der Nygh nahm sich des Schlittens an und Tal half ihm. Von Kyon war diese Art der Hilfe natürlich nicht zu erwarten. Er ging hinter seinem Tross her und bildete die Nachhut. Da die Kinder noch immer in der Nähe waren, schoss er noch zwei imaginäre Pfeile auf sie ab und beide fielen imaginär tot zu Boden.

 

»So, und was nun?«, fragte Ughtred und war sich nicht sicher, die Antwort hören zu wollen.

»Zuerst schaffen wir ihn in den Keller und ketten ihn an die Wand. Nygh, schaffe Ketten herbei und sorge dafür, dass wir den Kerkermeister einkerkern können«, sagte Kyon in bestimmendem Tonfall und verpasste dem Besinnungslosen einen kleinen Tritt.

Tal besah sich den Zustand des Mannes und schüttelte den Kopf.

»Wir müssen seine Wunde behandeln oder ihn in Stase versetzen. Er könnte kollabieren.«

Kyon überlegte eine Sekunde und antwortete: »Stase hat noch selten geschadet.«

Tal holte ein Fläschchen hervor und gab einen Tropfen der unheilvoll aussehenden Flüssigkeit auf die aufgeplatzte Lippe des Verletzten und alle drei sahen gebannt zu, wie sich diese langsam dunkel färbten. Dann verebbte das Zittern des Mannes. Sein Brustkorb wurde ruhig und seine Haut nahm eine wächserne Oberfläche an. Sechzig Stunden Stase waren eingeleitet worden.

Plötzlich sagte Tal: »Ughtred, was ist das eigentlich für ein Stein in eurer Axt?« Sie fühlte in das Gewebe der Anderwelt und drang in den gelben Kristall. »Shimwas«, flüsterte sie.

Kyon hob die Schultern. »Zeig her!«

Ughtred machte ein genervtes Gesicht, hob die Axt vom Tisch auf, wo er sie abgelegt hatte, um die Hände frei zu haben, und reichte sie dem Silberwolf. Dieser wog sie in der Hand und nickte bevor er sagte; »Ganz klar, wir legen ihn um und packen den schmierigen Rest seines Innern in den Shimwas in der Axt.«

»Das machen wir ganz sicher nicht!«, sagte der Nygh bestimmt. »Wer braucht schon den vergammelten Geist eines Silberwolfes in seiner Waffe? Das ist mit Sicherheit alles andere als gut und extrem gefährlich.« Er rieb sich nervös mit der flachen Hand über das Zeichen in seiner Stirn. 

Tal trat dasselbe bei ihrem Kriegshandschuh, in dem sich immerhin ihr Bruder befand. 

Ughtred sah sie an und ehe Kyon etwas sagen konnte sagte er: »Nein danke!«

»Es ist nicht Gefährliche. Wer in einem Shimwas weilt, hat keine Macht und keine Interessen«, gab die Hexe zu bedenken, aber Ughtred hatte die Nase voll. 

Sollten sie zusehen, wie sie mit ihrem Gefangenen klarkommen. Er musste aus diesem Geisterhaus raus. Er brauchte frische Luft. 

Ohne ein weiteres Wort nahm der Nygh seine Axt und ging. 

»Vergiss die Ketten nicht«, rief im Kyon hinterher und lachte dabei.

 

Ughtred wankte müde durch die Gassen der für ihn immer noch fremden Stadt. Es war noch früh am Tag, aber er fühlte sich unendlich müde. Die beiden Verrückten schafften ihn. Er versuchte, sich auf seine Vorhaben zu konzentrieren. Ja, er würde sich um Ketten für den Kerkermeister kümmern, aber dies war tatsächlich nicht der Grund, warum er so schnell auf Kyon eingegangen war. Er hatte in den letzten Tagen immer wieder an seiner kleinen Werkstatt gearbeitet und nun war er endlich in der Lage, dort etwas Produktives zu vollbringen. Er wollte Schlösser bauen. Korezuul hatte ein uralte Tradition in Sachen Schmiedekunst und so hatte er ein handtellergroßes Vorhängeschloss entworfen und einen Prototyp gebaut. 

Die Straßen füllten sich gerade, denn die beiden Sonnen waren auf dem Weg sich schlafen zu legen und in Shishney bedeutete dies, die abendlichen Aktivitäten konnten beginnen. Verschlafen und blinzelnd traten Silberwölfe aus ihren Häusern und machten sich auf den Weg. Ughtred wollte gar nicht wissen, was sie vorhatten. Seiner Erfahrung nach konnte es bestenfalls etwas unmoralisches, in schlimmen Fällen jedoch etwas mörderisches sein.

Je mehr der schlanken Elt die Gassen bevölkerten, desto unwohler fühlte sich der Nygh. So beeilte er sich, den Platz vor der Wacht zu erreichen und nach Nordwesten in Richtung Quinkstadt abzubiegen. Die Quink verstand er in vielem auch nicht, aber sie waren ihm dennoch deutlich näher als die Herren Shishneys.

Auf dem Pilzmarkt angekommen – er hatte gelernt, immer hier nach Dingen zu fragen, die er suchte – ließ er sich zu einem Lageristen führen. Diesem zeigte er sein Vorhängeschloss. Der ältere Mann begutachtete die Arbeit und fragte nach ihrer Herkunft. Ughtred beteuerte, das Schloss selbst gebaut zu haben. Woher er käme? Aus Korezuul.

Der Quink sah ihn ungläubig an und verzog das Gesicht, als er sagte: »Unmöglich. Niemand reist nach Korezuul.«

Ughtred sagte einfach nur: »Doch, ich. Ich bin ein Nygh aus Korezuul.«

»Dann seid ihr mittels eines Vortex hierher gekommen«, wusste der Lagermeister, aber Ughtred fehlte die Kraft, sich weiter mit diesen Dingen auseinanderzusetzen. Er fragte, ob Interesse an seiner Arbeit bestehe und der Quink sah sich das Schloss genauer an.

»Eine schöne Arbeit. Schlicht, stabil und handwerklich profund. Stammt sicher aus Moraid. Ein moraidisches Piratenschloss.«

Ughtred rieb sich die Stirn und sagte: »Ich sage dir, ich habe es gemacht. Hier.«

»Aber das ist doch ganz und gar uninteressant. Will keiner haben. Es kommt aus Moraid und so bieten wir es an. Ich nehme alle die du mir liefern kannst.«

Ughtred überlegte noch einen Moment, beließ es dann aber dabei. Egal, baute er eben moraidische Piratenschlösser. Erst ein Dieb, nun ein Fälscher, das passte ja wunderbar zusammen.

Er handelte Halbzeuge und andere Dinge aus, die er für die Werkstatt brauchte und hatte das Gefühl, ordentlich entlohnt zu werden. Zum Abschied streckte er dem Mann seine Hand zur Besiegelung des Geschäfts hin, aber der Quink kannte diese Geste nicht.

Der Nygh wollte gerade gehen, da fiel ihm doch noch etwas ein. Er fragte ohne große Hoffnung: »Sagt, kennt ihr einen Silberwolf, der sich mit der Zauberei und solchen Künsten auskennt?«

»In der ersten Straße der Oberstadt, wenn ihr hier vom Markt aus durch das Tor hinüber geht, hat der Elementarist Akanios ven Tashliakoko sein Refugium. Die Silberwölfe nennen diese Dinge ja nicht Zauberei oder Magie. Für sie sind es feinstoffliche Vorgänge des täglichen Lebens.«

»Mag sein. Danke für die Auskunft«, sagte Uchtred und machte sich auf den Weg. Die Devise lautete Zweitmeinung.

Wieder in der Oberstadt angekommen fragte er einen Arbeiter auf der Straße nach Meister Akanios und dieser zeigte ihm, wo er dessen Haus finden könne und erklärte, dass man den Elementaristen bloß nicht Meister nennen sollte, denn dies erinnere ihn nur daran, dass er diesen Titel nicht trug.

Ughtred zuckte mit den Schultern und ging in die angegebene Richtung.

Das Haus war grotesk, wie so vieles in der Welt der Silberwölfe. Links und rechts davon erhoben sich trutzige Mauern von feudalen Anwesen und schienen sich im Laufe der Zeit ausgedehnt zu haben, denn das Haus des Elementaristen maß nur noch zwei oder drei Schritte. Die Tür war so schmal, dass sogar Ughtred sich hindurchzwängen müsste. Das ganze Gebäude sah eingeklemmt und unglücklich zusammengedrückt aus. Er schüttelte den Kopf und klopfte an die unglaublich schmale Tür.

Ein schmaler Spalt in der Höhe von Ughtreds Knien öffnete sich und ein winziges, grünlich glimmendes Männlein lugte heraus.

»Ja?«, machte es und verzog sein Gesicht zu einer Fratze des Hasses.

»Ich würde gerne mit M…, äh nein, ja, mit Herrn Akanios sprechen.«

Das Männlein grinste boshaft und sagte: »Ich melde dich an.«

Damit schob es den Spalt wieder zu und war verschwunden. Ughtred blickte in den Himmel und zählte die Wolken. Dann begann er auf und ab zu gehen. Nach einer Weile setzte er sich auf den Bordstein gegenüber und stopfte sich eine Pfeife. Seine Geduld reichte für fast eine ganze Stunde, und gerade, als er erneut klopfen wollte, ertönte eine Stimme hinter ihm.

»Darf ich fragen, auf was ihr hier auf meinem Gehsteig wartet?«

Die Stimme klang jung und weiblich und gehörte zweifellos einer Silberwölfin. Als Ughtred aufstand und sich umdrehte, weiteten sich seine Augen vor Staunen. Genau der schmalen Tür des Elementaristen gegenüber gab es eine weitere, ebenso schmale Tür. Auch hier schien das Haus von anderen Anwesen eingezwängt worden zu sein. Warum war ihm das nicht eben schon aufgefallen? Er rieb sich die Stirn und besah sich die Bewohnerin des Hauses, die in der Dunkelheit stand und herausblickte.

»Ich bin Ughtred aus Dranought. Das liegt in Korezuul«, stammelte er ein wenig unbeholfen, aber die Kindfrau nickte nur freundlich und winkte ihn durch die Tür. Das Innere des Hauses war tatsächlich so schmal wie erwartet. Der Eingangsbereich hatte eine Breite von weniger als zwei Schritt und war darüber hinaus mit zwei schmalen Tischen und einem Schränkchen verbaut. Ughtred hatte trotz seiner Größe Probleme, der Gastgeberin zu folgen.

Sie führte ihn in ein Zimmer, welches nur unwesentlich breiter als der Flur war und eine Fülle von Möbeln aufwies, die es ganz und gar unübersichtlich machte. Tische, Stühle, Schränke und Regale schienen sich zum Teil bis an die hohe Decke aufzutürmen und nahmen ihm die Luft zum Atmen. Hinzu kam die seltsame Perspektive des Mobiliars. Alles war seltsam schmal und dafür recht hoch. Es gab Tische, die nicht breiter als Ughtreds Hand waren und auch die Stühle schienen gerade einmal zum Anlehnen zu reichen; für ein bequemes Sitzen waren ihre Sitzflächen einfach viel zu klein.

»Ich bin Nuorny Silyvee yr Northra«, sagte die winzige Silberwölfin, und ehe ihr Gast etwas erwidern konnte fügte sie hinzu: »Wie mein Nachbar gegenüber, widme ich mich der Alchemie und den okkulten Künsten. Wenn ihr zu ihm wolltet, seid ihr bei mir an der richtigen Adresse gelandet.«

Ughtred wunderte sich über das Ihr. Welche Silberwölfin hatte ihn je beim ersten Treffen so angesprochen? Er überlegte. War sie am Ende gar keine Kisadmurin? Aber nein, sie war genau so eine Silberwölfin wie Tal, sie war einfach nur kleiner. Jünger schien sie nicht zu sein, denn ihr Blick hatte etwas mehr als Erwachsenes.

Schnell nickte er und sagte: »Tatsächlich brauche ich eine Expertise in diesen Dingen.«

Er erzählte ihr von seiner Axt, beschrieb die Sache mit dem Shimwas und fragte schließlich, wie sie es sähe, den Geist eines Silberwolfes in einem Ding zu bannen und seine Kräfte darauf wirken zu lassen.

Seltsamerweise wollte die Alchemistin nichts über den Ursprung des Geistes im besagten Shimwas wissen. Sie überlegte einen Moment, nahm ein Glas von einem der Tische in die Hand und sagte dann mit einem rätselhaften Lächeln auf den Lippen: »Es gibt tausende und abertausende von Gegenständen, die mit einem Shimwas belegt wurden. Ich für meinen Teil, habe tatsächlich noch nie gehört, dass sich solch ein Artefakt negativ auf seinen Besitzer ausgewirkt hätte.« Sie machte eine Pause und fügte dann mit einem kleinen Lachen hinzu: »Das ist ja gerade das lustige bei einem Shimwas. Im Gegensatz zu anderen Geistspreichern, lässt er der in ihm gefangenen Entität keinerlei Handlungsspielraum. Geist und Seele erfahren eine Trennung und können so nicht mehr eigenständig interagieren. Es ist wie eine Stase. Manche Okkultisten behaupten, Wesen in einem Shimwas würden träumen, andere sagen, sie schliefen raumlos und ohne Empfinden und wieder andere vertreten die Meinung, sie gingen ganz darin auf und nichts von ihnen bliebe übrig. Auf jeden Fall, habe ich noch nie von einer Entität gehört, die aus einem Shimwas entkommen wäre. Einmal Shimwas, immer Shimwas, wie der Okkultist sagt.«

Sie lachte erneut, stellte ihr Glas ab und beugte sich näher zu Ughtred hin, um seine Stirn genauer zu begutachten. Sie murmelte etwas und wollte schon die Hand ausstrecken, um den Nygh zu berühren, aber dann entschied sie sich anders und sagte: »So, war es das oder kann ich euch noch anderweitig behilflich sein?«

Ughtred blinzelte und legte den Kopf schief. Er konnte die Silberwölfe einfach nicht einschätzen. War da etwas Anzügliches im Blick der Kindfrau?

»Was schulde ich euch?«, stotterte er und rieb sich die Stirn.

»Ich habe euch einen Gefallen getan, ihr werdet mir einen tun. So ist das in okkulten Kreisen.«

Okkulte Kreise, dachte Ughtred. Er war hierher gekommen, um sich beruhigen zu lassen, aber jedes Mal, wenn er versuchte, die Welt der Silberwölfe zu begreifen und sich mehr in sie zu integrieren, hatte er das Gefühl, sich mehr und mehr in ihr zu verheddern. Er war wie eine Fliege am Rande eines gewaltigen Spinnennetzes. Früher oder später würde er ganz eingesponnen sein und dann würden sie kommen und ihn aussaugen.

»Gut«, sagte er tonlos und wandte sich der schmalen Tür zu. Er wollte nicht unhöflich sein, wusste aber auch nicht, was er sonst noch hätte sagen sollen. Doch die Alchemistin kam ihm zuvor und drückte sich an ihm vorbei, um ihn herauszulassen. Er bedankte sich höflich und betrat die Straße. Als er sich noch einmal umwandte, war die Tür hinter ihm schon wieder geschlossen und er musste sich darauf konzentrieren, das schmale Haus überhaupt zu erkennen. Wie machten sie das nur?

 

»Das wird ihn sehr verärgern, wenn wir es machen, ohne ihn noch einmal zu fragen«, sagte Tal zu Kyon und hob dabei ihre schmalen Schultern.

Der Barde schüttelte den Kopf und drehte die Axt in seiner Hand. Der Shimwas leuchtete gelb, als wisse er, dass von ihm gesprochen wurde. Kyon hatte die Axt aus Ughtreds Verschlag geholt, als der Nygh sein Anwesen verlassen hatte.

Jetzt stand er vor Tal, die am Küchentisch hockte und trotz der Gegenargumente der Hexe wussten beide, dass die Entscheidung längst getroffen war.

Kyon legte die Axt auf den Tisch und sagte verdrossen, aber ohne es ernst zu meinen: »Dann eben nicht, lassen wir den Scheißkerl einfach wieder frei.«

Tal strich mit einem Finger über die scharfe Klinge der Waffe und schüttelte den Kopf.

»Sicher nicht. Machen wir`s einfach.«

Sie stand auf und rückte ihren Lendenschurz zurecht. Kyon hob die Axt auf und wandte sich der Eingangshalle zu, wo sich die beiden Kellertreppen befanden.

Gemeinsam schritten sie hinunter und keiner von ihnen verschwendete auch nur noch einen einzigen Gedanken an die Moral ihres Vorhabens. Ihre Herzen waren kalt. Sie waren Smavari.

Im Keller beugte sich Tal über den Kerkermeister. Alag stand immer noch unter dem Einfluss ihrer Stasetropfen und seine Lippen hatten sich tief schwarz gefärbt. Kyon machte sich daran, den Mann auszuziehen und Tal entledigte sich ihrer eigenen Kleidung. Sie wollte sich nicht mit dem Blut des Monsters besudeln und viele Rituale der Doppelmondhexen sahen Nacktheit vor.

Als sie sich bückte, um ihre winzige Doppelklinge aus einer Tasche an ihrem Gürtel zu befreien, begann sie ein leises Lied zu summen, dass ihre Mutter ihr und Northrian vor hunderten von Jahreszeiten vorgesungen hatte. Sie streckte sich, strich sich mit einer der Spitzen der Ritualklingen über die Brüste und den Bauch und begann leise Flüche zu murmeln. Der Vorgang, einen übergehenden Geist in einen Shimwas zu bannen, war nicht schwer. Jede Hexe konnte es. Wahrscheinlich hätte sie es binnen weniger Minuten auch Kyon beibringen können, aber natürlich wahrten die Hexen ihre Geheimnisse.

Dann blickte sie in der Dunkelheit des Kellers den still am Boden liegenden Kerkermeister an und fand es irgendwie schade, dass der Mörder ihres Bruders sich in Stase befand und ihre Klinge nicht spüren würde. Doch dann machte sie eine schnelle Handbewegung und schnitt Alag die faltige Kehle durch. Es ging so schnell, dass Kyon es gar nicht richtig mitbekommen hatte und sie war sich selbst nicht sicher, ob sie es wirklich getan hatte. Doch dann bildeten sich zwei breite Rinnsale dunklen Blutes und liefen links und rechts der Wunde zum Kellerboden hinab. Die mittels Stase ohnehin extrem verlangsamte Atmung erlag sofort und keine Sekunde später griff Tal in das feinstoffliche Gewebe, fand die neuronalen Kontakte des Shimwas und betätigte ihn. Sofort entstand ein Sog in der Zwischenwelt und als sich der Geist des Sterbenden aus dessen Hülle löste, wurde er ohne Gnade in den Shimwas gezogen.

Noch ein letztes Mal rührte sich der Kerkermeister trotz Stase, dann verschied er und überließ seinen Geist und seine Seele den Mächten des smavarischen Artefaktes. Kyon griff nach der Axt und bekam einen elektrischen Schlag. Er zuckte heftig zusammen und ließ die Waffe wieder zu Boden gleiten. 

Die nackte Hexe lächelte und sagte liebevoll: »Das ist der Shimwas. Er braucht einen Moment, bis er die Energien korrekt gebündelt hat. Dann ist es nur noch ein leichtes Kribbeln und mit der Zeit bemerkt man es überhaupt nicht mehr.«

Der Barde nickte und berührte den Griff der Axt erneut. Als er diesmal keinen Schlag bekam, hob er sie auf und wog sie in der Hand.

»Kann noch nichts spüren, ihr habt wohl recht«, stellte er fest.

Tal stand auf und rieb sich das Blut vom Handgelenk. Dann streckte sie den Rücken durch und brachte ihre, wenn auch derzeit kleinen, aber dennoch weit nach oben stehenden Brüste zur Geltung. 

»Ich bin müde«, schnurrte sie und ließ dabei ihre Nackenwirbel knacken.

Kyon wandte sich ihr zu und fragte: »Tatsächlich?«

»Kommt drauf an.«

 

Später am Abend, Tal und Kyon waren gerade verschlafen und zerzaust aus dem oberen Stockwerk des Hauses herunter gekommen und Ughtred hatte in der Küche frischen Tee aufgesetzt, setzten sie sich alle drei an den länglichen Küchentisch und warteten, bis die Quink ihnen ein Abendessen servierten. Der Nygh wollte wie immer helfen, aber Kyon hielt ihn zurück und sagte: »Die waren teuer. Sollen was für ihren Unterhalt tun.«

Dennoch ließ es sich Ughtred nicht nehmen, dem alten Hausmeister die schwere Suppenschüssel abzunehmen, als dieser sich keuchend dem Tisch näherte.

Er stellte das Behältnis in die Mitte des Tisches und sagte: »Ich muss mich bei euch bedanken.«

Tal und Kyon sahen ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Belustigung an. 

»Na ja, die Sache mit dem Geisterdings in meiner Axt. Ich habe darüber nachgedacht und denke, dass es wahrscheinlich doch nicht schaden kann. Es ist also eher freundlich von euch, mich mit einer derart mächtigen Sache zu beschenken.«

Kyon lächelte böse und stand auf, um zu der Anrichte zu gehen. Dort hatte er die besagte Axt abgelegt. Jetzt nahm er sie auf und brachte sie zum Tisch.

Ughtred sah ihn an und hob die Augenbrauen.

»Ist erledigt«, sagte der Silberwolf und zeigte seine Zähne.

Ughtred ließ die Schultern sinken. »Echt jetzt?«, sagte er verdrossen.

Tal nickte und fragte in den Raum: »Und, ist schon was zu spüren?«

Kyon sah sie an und sagte triumphierend: »Habt ihr vorhin nicht schon genug gespürt Hexe?«

Tal streckte ihm die Zunge heraus und zeigte ihm den Mittelfinger ihrer linken Hand, eine Geste, die unter den Smavari als anrüchig genug empfunden wurde.

Ughtred berührte vorsichtig den Griff der Axt und sagte: ›Ist er da jetzt drinnen? Also ist er tot und da drin?«

Kyons Antwort kam prompt und ungerührt: »Sie hat ihn tranchiert wie eine Säbelgans und ausbluten lassen. Denke schon, dass er hinüber ist.«

Tal fügte hinzu: »Guckt nicht so betroffen. Er war in Stase und hat leider nicht einmal etwas davon mitbekommen. Wir können nur hoffen, die Okkultisten irren sich alle und er leidet in dem Shimwas.«

Kyons und Tals Blicke trafen sich und es war ihnen beiden anzusehen, dass sie an North dachten. Sofort bereute Tal ihre Worte und wandte sich dem Fenster zu, als sie sagte: »Zumindest werden Teile seiner Kräfte auf die Waffe übergehen. Kann sein, dass der Stein noch eine Weile braucht, um sich ganz und gar aufzuladen, aber ihr solltet jetzt schon eine Wirkung verspüren.«

Ughtred hob seine Waffe an und verspürte tatsächlich ein seltsames Kribbeln in der Handwurzel. Er griff fester zu und ließ die Kraft der Anderwelt auf sich wirken. Tatsächlich, da war ein Ziehen und Wirken in seinem Arm, welches sich Stück für Stück auf seinen ganzen Körper ausbreitete.

Kyon nickte und sagte: »Jetzt ist der blöde Wichser wenigstens mal wirklich für etwas gut.«

Der Nygh schüttelte den Kopf, zuckte mit den Achseln und sagte dann: »Also noch einmal. Ich bedanke mich für eure Umsicht, Frau Hexe, Herr Barde.« Und mit diesen Worten nahm er sich einen Kanten Brot, klemmte die Axt unter seinen Arm und verließ die Küche.

»Seltsamer Kauz«, murmelte Kyon und steckte dabei Tal ein Stück des hellen Quinkbrotes in den Mund. »Ich werde die Stumpen niemals verstehen.«

Tal kaute und sagte mit vollem Mund: »Vom Vögeln versteht ihr etwas. Vielleicht liegt es daran. Sicher habt ihr euer Gehirn weich gevögelt und seid darum so begriffsstutzig.«

Kyon verzog das Gesicht zu einer Grimasse und nahm einen großen Schluck der Suppe. »Zu viel Salz«, sagte er und spuckte den Rest auf den Fußboden. »Ich sollte Flark auspeitschen lassen, aber der Krüppel-Quink wird es kaum bewerkstelligt bekommen, und man kann wohl kaum von mir verlangen, dass ich es selbst erledige.«

Kopfschüttelnd sagte Tal: »Da war überhaupt kein Salz an der Suppe.«

»Aber es steht welches in der Nähe im Regal.«

»Oh ja, dafür sollte man die Quink tatsächlich alle auspeitschen, Herr Barde.«

»Ich peitsche gleich euch aus, Frau Hexe.«

»Oh jaaaaaaa.«

 

Sie hatte Mühe, sich zu orientieren. In den Wäldern waren ihre Sinne scharf und alles stellte sich klar und deutlich dar. Hier, an diesem Ort der eintausend Wohnhöhlen, hatte sie Probleme, zu erkennen, wo ein Revier endete und das nächste begann. 

Langsam glitt sie durch die Gassen. Sie schwebte über Bächen aus Urin und Kot und hatte Mühe, die eindringlichen Gerüche zu sortieren. Überall um sie herum regierte die Niedertracht. Sie hasste ihre alte Tante. Noch schlimmer als Mutter Gier, war die Niedertracht von den schlechtesten Gerüchen aus den tiefsten Höllen der Anderwelt erfüllt. Kaum ein anderer Dämon war in seiner Art grausamer und gnadenloser als sie.

Gerade kam sie an einer Wohnhöhle vorüber, in der ein Mann einem Kind die Haut vom Rücken schälte. Sie knurrte leise und ihre eigene Gier begann sich zu regen. Dort schlug ein anderer Mann mit einer Rute auf eine Anzahl kleinerer Wesen ein und lachte, als das erste Blut zu fließen begann. Noch eine Höhle weiter aß eine Frau etwas, dass einmal gedacht, geliebt und gesprochen hatte. Sie selbst legte wenig Wert auf das Sprechen, aber sie liebte das Leben.

Sie hätte sich beinahe für den Mann mit der Rute entschieden, da bemerkten ihre scharfen Sinne etwas weiter entfernt eine ganz andere Qualität der Niedertracht. Da waren zwei, die gaben sich unterwürfig und zeigten sich ihrem Umfeld leidend, doch insgeheim, war es ihre Art, andere zu quälen. Sie taten es ohne Grund. Sie waren rein. Sicher, hatte man sie zu dem gemacht, was sie heute waren, doch sie hatten sich nicht dagegen gewehrt. Ihre Geister waren wach und ohne Gnade die unumwundenen Anhänger von Tante Niedertracht.

Sie knurrte amüsiert und hob vom Boden ab. Langsam schwebte sie an einer der Hauswände entlang und näherte sich den Dachgiebeln. Dann glitt sie mit den Krallen über den Ton der Ziegel kratzend über das Dach. Auf der anderen Seite machte sie einen Hüpfer auf eine hohe Mauer und von dort glitt sie wie eine dornige, grüne Flüssigkeit in den Hof hinab. 

Die beiden Niederträchtigen hörten sie nicht kommen, aber sie erwachten aus ihren Alpträumen, als sie begann, ihr Fleisch zu fressen. Sie biss dem Männlichen mit einem Happs ein Bein ab und schnappte dann nach dem Brustkorb des Weiblichen. Dabei erfasste sie eine schlaffe Brust und riss sie in der Bewegung ab. Gurgelnde Schreie mischten sich mit ihrem eigenen Wüten und der Mann versuchte gar, mit einem Messer nach ihr zu stechen. Sie verbrannte ihm kurzerhand das Gesicht, aber nicht zu viel, gerade genug, dass seine Augen kochten und er noch schreien konnte. Doch dann geriet sie in Raserei und schnappte wie die Bestie die sie nun einmal war einmal hierhin und einmal dorthin und Finger, Hände, Arme und schließlich sogar ein Kopf, flogen lustig durch die Luft und platschten, der Schwerkraft der Tiba Fe gehorchend auf den blutigen Boden.

Als es vorüber war streckte sie sich und gab ein wohliges Schnurren von sich. Sie spie noch einmal grünes Feuer in den Nachthimmel hinauf, aber im selben Moment musste sie würgen und kotzte einen Arm aus ihrem Inneren hervor. Sie krümmte sich, denn an dem Arm hing eine Schulter und an dieser wiederum ein ganzer Mann und man kann sich sicher vorstellen, wie unangenehm es ist, sein muss, einen ganzen Mann aus sich heraus zu würgen!

 

Als Kyon schwer atmend die Augen öffnete, wunderte er sich als Erstes über den unglaublichen Gestank um sich herum. Er würgte, konnte aber nicht verhindern, dass ihm mit Galle vermengte Suppe aus den Mundwinkeln quoll.

Was war das nun wieder für eine Teufelei? Aber er wusste genau, was hier vorgefallen war. Er konnte sich wie immer an nichts erinnern und er traute weder der Hexe, noch dem Stumpen aus Korezuul, aber in dieser Sache gab es wohl längst keine Zweifel mehr. Er war ein Lykanthrop.

Irgendwo seitlich von ihm waren Stimmen zu hören. Wo war er nur? Mit verklebten Augen versuchte er seine Umgebung zu verstehen. Da war ein schwerer, aber niedriger Tisch. Eine Art Küche, oder ein Arbeitszimmer wie bei einem Lederarbeiter. Quink, dachte er. Es roch nach Scheiße und Blut. Verdammt sei mein Karma, was habe ich nur getan, um derart genervt zu werden? Er dachte an den toten Kerkermeister in seinem eigenen Keller. Das konnte es ja wohl kaum sein, oder? Oder Herr oder Frau Karma? Das hier wegen einem scheiß Monsterkerkermeister?!

Vorsichtig stand er auf und glitschte in etwas Nassem aus. Es war eine abgetrennte Hand, die in Blut und Kot unter ihm gelegen hatte. Er schüttelte das Ding von sich weg und versuchte mehr zu erkennen. Zwei, es waren wenigstens zwei tote Quink. Eine ältere Frau, deren Brustkorb weggerissen war und ein Mann, dem der Kopf fehlte. Wo war der Kopf?

Er schüttelte den eigenen Kopf. Irgendwo über ihm erschollen Stimmen. Links in seinem Blickfeld war plötzlich ein Flackern zu erkennen. Da war ein Fenster. Er musste hier raus.

Dann stellte er fest, dass er nackt war. Na das hatte noch gefehlt. Er war nackt und über und über mit Blut besudelt. Er wischte einen abgetrennten Finger aus seinen langen Haaren und wäre beinahe erneut in den Gedärmen der Toten ausgeglitten. 

Rutschend und stolpernd suchte er nach einer Treppe und fand einen Aufstieg und eine Tür. Raus oder tiefer rein? Er überlegte, wo die Tür hinführen würde. Wenn er hier im Anwesen – wessen Haus es auch immer sein mochte – in den Hof hinauf ginge, würde man ihn zweifellos stellen. Viele Häuser, wie auch das seine, hatten Verbindungstunnel zu anderen Anwesen. Er ging zur Tür und hatte Glück. Sie ließ sich widerstandslos öffnen und offenbarte ihm einen zweiten, noch dunkleren Kellerraum und eine weitere Tür an dessen Ende. Schnell schlüpfte er in die dunkle Kälte und schloss die Tür hinter sich. Er zitterte und ging sehr vorsichtig, da er Bedenken hatte, in einen Nagel oder etwas Schlimmeres zu treten. Nach dem Raum gab es noch einen Keller und dahinter einen sehr langen Gang, der ihn wie erhofft unter den Straßen Shishneys zu einem anderen Anwesen führte. Er versuchte zu erkennen, wessen Haus er hier von unten betrat, aber Keller sahen für ihn alle gleich aus. Als er das Ende des Fluchttunnels erreichte, hatte er erneut Glück, denn auch die hiesige Tür war unverschlossen. Schnell machte er sich eine geistige Notiz, seine eigenen Kellertüren aufschließen zu lassen, falls einer seiner Nachbarn einmal in einer ähnlichen Situation sein sollte. Er hatte sein Karma ja offenbar schon genug belastet und musste unbedingt für ein wenig Ausgleich sorgen.

Vom Keller des zweiten Hauses betrat er einen Innenhof. Den hier ruhende Midyar bemerkte er leider zu spät. Er wollte gerade das Tor zur Straße öffnen, da hörte er hinter sich ein Brummen. Gleichzeitig erscholl einige Straßen weiter lautes Geschrei und das Getrappel vieler Füße. Mistgabeln und Fackeln – sie suchten nach der Bestie. Sie waren aufgebracht. 

Er musste an die Räuber von Diry denken. Was hatte sie so weit gebracht, sich endgültig gegen ihre Herren zu wenden und sogar zu den Waffen zu greifen?

Kyon wandte sich dem Reptilkrieger zu und machte eine beschwichtigende Handbewegung. Der Midyar stand auf, ließ aber seine zackige Keule am Boden liegen. Er nahm auch keine bedrohliche Haltung ein und Kyon war trotz der prekären Situation fasziniert, dass ein derart grobes Wesen offenbar doch in der Lage war, seine Gefühle zum Besten zu geben. Er musste unbedingt ein Lied über die Schuppenköpfe schreiben. Titel wie ›Stachelherzen‹ und ›Gefühlvolle Wilde‹ gingen ihm durch den Kopf. 

»Es ist alles gut, mein Großer«, sagte er in der Dunkelheit des Hofes, in der er nur die bernsteinfarbenen Augen des Midyar erkennen konnte. 

Das Wesen hob nun doch die Keule vom Boden auf und Kyon schwante, dass eventuell nicht alles gut sein könnte. Ohne ein weiteres Wort schob er den schweren Verschlussbalken zur Seite und ließ ihn donnernd auf den Steinboden fallen. 

Seine Flucht brachte ihn vom westlichen Teil der Turmstadt durch die Übergangswege zur Oberstadt. Er hörte zwar immer wieder die Rufe des Mobs, begegnete aber niemandem, der ihn aufzuhalten versuchte. Die Smavari mieden offenbar die Straßen in dieser Nacht. Sie hatten ein Gespür, wie weit sie gehen konnten. Diese Nacht war eine Blutnacht und diese feierte man besser hinter verschlossenen Toren. Selbst die Wachten schienen kein Interesse an der Sache zu haben, aber Kyon war dies ganz recht so. Er hatte kein Interesse daran, erklären zu müssen, warum er splitterfasernackt und mit dem Kot und Blut von Quink besudelt durch die Straßen Shishneys wanderte.

Außer Atem erreichte er schließlich sein Haus. In der Küche brannte Licht, aber auch hier hatte er kein Interesse an einem Gespräch. Also schlüpfte er in den Hof, schlich an Ughtreds neuer Schmiede vorbei und öffnete die Außenluke zum Keller. In der Waschküche säuberte er sich und als er das Gefühl hatte, halbwegs rein zu sein, fing er genervt von vorn an. Erst als er sicher war, nicht mehr nach den Toten zu riechen, warf er sich ein Hemd über, das hier klamm auf einer Leine hing.

Er wollte schon nach oben gehen, aber dann verharrte er in der kalten Luft des Kellers. Langsam wandte er sich einer der Türen zu. Er öffnete sie, lauschte einen Moment und ging in den nächsten Raum. Von hier aus nahm er eine schmale Treppe und kam schließlich in einen der beiden Hauptkeller. Auf dem Boden lag der Tote. Die Stase schien noch zu wirken, denn seine Haut war immer noch wächsern und seine Lippen schwarz. Oder waren dies einfach nur die natürlichen Merkmale des Todes?

Kyon bückte sich, nahm Alags Füße und begann den Leichnam hinter sich her zu ziehen. Von hier aus war es recht weit, aber er musste diese Situation hinter sich bringen. Die Treppen in die Tiefe zur Schmiede hinunter waren am schwierigsten, aber obwohl der Kerkermeister dutzende Male schwer mit dem Kopf auf die Stufen schlug beschwerte er sich nicht. 

Kyon löste die Ketten und gab den Code in das Sicherheitsschloss der Tresortür der Schmiede ein. Als er die Tür langsam auf zog, blieb im Inneren alles still. Ohne weiteres Zögern schob er den Toten hinein und machte sich daran, die Tür sorgfältig zu verschließen. Sollte der grimme Zangenbrand mit Alags Leib tun, was Maskenmännlein eben mit Toten machten. Ihm war es egal. Er lebte.

 

»Nicht die Scherbe«, rief sein Vater und versuchte seiner Frau den geliebten Gegenstand zu entringen. Sie keifte und fauchte wie eine Giebelkatze.

»Was denkt ihr euch überhaupt? Bin ich eine Quink, dass ich in diesem Loch leben muss? Wir haben gerade nicht genug Ressourcen, um uns über Wasser zu halten. Wann haben wir die letzte Soiree ausgerichtet?«

Kyons Darm entleerte sich und er gluckste fröhlich, als sich um ihn herum ein stinkender See auszubreiten begann. Mit seinen Patschehändchen den braunen Brei verteilend versuchte er auf sich aufmerksam zu machen, aber Mutter und Vater waren zu sehr mit diesem Ding beschäftigt. Blödes Ding.

Sie hatte es gepackt, doch er ließ es nicht los. Hin und her tanzten sie durch den Raum und versuchten dabei, den Nachbarn ihre Standpunkte klarzumachen. Die Alte Quink, eine der letzten Sklavinnen, die dem Haus geblieben waren, kam herbeigeschlurft und begann den Boden und dann Kyons Hintern zu säubern.

»Es ist von weltbewegender Wichtigkeit, Weib!«, rief Lonkaiyth.

»Prunk ist von weltbewegender Wichtigkeit!«, konterte seine Frau. Sie zerrte an dem Ding und schubste den Gatten dabei quer durch den Raum, sodass dieser durch die Scheiße seines Sohnes schlitterte und ausglitt. Als Kyon den riesigen Schatten von seines Vaters Hintern auf sich zukommen sah …

… schreckte er aus dem Schlaf. Er schüttelte sich und versuchte in der Realität anzukommen. Was war das für ein Ding gewesen? Welche Rolle spielte es? Er hatte selten Kindheitsträume, daher musste es eine Rolle spielen. Wollten seine Träume und Visionen ihm etwas bestimmtes sagen und er verstand es nur nicht? Was bei allen Nugai hatte der Mann in dem fahrenden Haus von ihm gewollt? ›Nie wieder Prag‹, oder ›niemals Prag‹, hatte er gesagt. 

Müde und von all diesen Dingen überanstrengt, richtete er sich im Bett auf und schob Tals Beinen von sich herunter. Sie hatte aus ihrem Leib einen Knoten gebildet, der sein rechtes Bein zu einem Teil von  ihr gemacht zu haben schien.

Er grunzte und schob sie vom Bett. Danach stand er auf und konzentrierte sich auf sein Gemächt. Er hatte es ordentlich wachsen lassen, aber jetzt nervte es ihn und er musste dringend pinkeln. Also stellte er sich in eine Zimmerecke und zielte in die hier stehende Blumenvase. Zuerst prallte alles an den vor langer Zeit getrockneten Blumen ab, aber als er sie mit seinem Strahl vernichtet hatte, landete der Rest in der Vase. Er war ein Drache, der mit seinem Odem Vernichtung über die Welt brachte.

Was war das für ein Ding? ging es ihm wieder durch den Kopf. Mutter würde es wissen. Sie hasste es, wenn er stank, vor allem wenn er nach Weibern stank, also musste er sich waschen. Immer musste alles so kompliziert sein. Er hatte einmal gehört, dass seine smavarischen Vorfahren so lange Zungen gehabt hatten, dass sie sich ganz und gar damit reinigen konnten. Degenerierte alles mit zunehmender Realität?

»Was war das für ein Ding, um das ihr euch mit Vater gestritten habt?«

Seine Mutter kämmte sich die Haare mit einem feinen silbernen Kamm. Ein dünnes Holzplättchen trennten ihre Finger von dem unguten Metall, aber er wunderte sich trotzdem, warum sie keinen Kamm aus Bernstein oder Holz verwendete. Sie hatte einmal gesagt, die Macht des Silber würde ihr Haar beleben. Er wusste, wie belebend Silberpfeile auf smavarische Haut wirkten und zog Holzkämme vor.

»Wir haben uns um alles gestritten, mein Sohn. So ist das in der Ehe«, sagte sie seltsam klar und beschäftigte sich weiter mit dem Teufelskamm.

»Ich meine die Scherbe, so ein gelbliches Ding. Es sah aus, als sei es aus Glas, aber dann auch wieder nicht, denn es schien hart wie Metall zu sein.«

Da hob sie den Kopf und blickte an ihm vorbei, zu ihrem großen Ehebett hinüber. Einen Augenblick dachte er, sie wäre wieder in ihrer Traumwelt versunken, doch als sein Blick dem ihren folgte, sah er das Holzbrett über dem Kopfteil des Bettes. An dem Brett gab es zwei kurze Arme. Das Holz war alt und ausgeblichen und nur da, wo die beiden Ärmchen hervor standen, gab es eine dunkle, gebogene Stelle. Da musste es gehangen haben.

Er stand auf, kroch über das Bett und berührte das Holz als er flüsterte: »Und was war es?«

»Ressourcen, mein Sohn.«

Er wandte sich zu ihr um.

»Und wo ist es jetzt?«

»Er hat es mit sich genommen und es war nicht bei den Sachen, die sie mir von ihm zurückgegeben haben.«

»Verdammt«, flüsterte Kyon, ging zu seiner Mutter zurück und küsste sie auf die glatte Stirn.

Er musterte ihr Gesicht. Es hatte sich verändert. Sie wirkte etwas jünger.

 

»Wir müssen die Sache endlich vorantreiben«, schimpfte Tal und stopfte sich ein Stück des grünlichen Teebrotes in den Mund. »Dss kon nmuglech ss waida gehn«, sagte sie mit vollem Mund und spuckte Krümelchen über den Tisch.

Ughtred starrte in seinen Krug und schnippte einen Brotkrumen von seiner Hand.

Kyon sagte: »Der Schmied wird`s schon machen.«

Tal würgte den Brei in ihrem Mund herunter und keifte: »Er soll es schneller machen! Geht zu ihm und macht Druck!«

»Der Nygh solls machen. Ughtred, geh zum Schmied und mache Druck.«

Der Angesprochene nahm einen Schluck aus seinem Humpen und strich sich mit der anderen Hand über die Stirn. Es nervte ihn natürlich, wenn sie ihn wie einen Boten behandelten, aber die Hexe hatte natürlich recht. Niemand konnte sagen, wie lange der Schmied brauchen würde dieses elende Zahnrad zu reparieren und er wollte nach Hause. Kein Zahnrad, kein Korezuul. Also stand er auf und ließ die Schultern knacken. Als er bedrohlich seine Axt anhob, die sofort noch bedrohlicher zu vibrieren begann, verstummten die beiden anderen, ließen die Ohren hängen und sahen ihn mit großen Augen an, als hätte ein Erwachsener Kinder bei einer Untat ertappt, die er ihnen schon hundert Mal verboten hatte. 

Ughtred verzog sein Gesicht und sagte: »Buyrns«, das Wort für Kinder in seiner eigenen Sprache.

 

Als er über die Brücke nach Quinkstadt ging, hockten da wie immer Frauen und Männer und angelten. Er grüßte höflich, erhielt aber nur mäßige Reaktionen. Am Ende der Brücke krümmte sich ein Quink zusammen und Ughtred dachte schon, dem Mann ginge es schlecht, doch als er ihn ansprach, ob er Hilfe benötige, erkannte der Nygh, dass er den Mann nur dabei störte seine Notdurft zu verrichten. 

»Klappt noch«, sagte der Quink und hob eine Hand, als wolle er sagen: »Guck, sogar mit nur einer Hand.«

Ughtred ging schnell vorüber. In Dranought schiss verdammt noch eins keiner auf die Straßen. Es gab nicht einmal Bettpfannen. Wozu auch? Jedes Haus hatte einen Abtritt. Er schüttelte den Kopf und ging weiter.

Der ölige Ruß verpestete die Luft um die Schmiede. Myrlan Amyithas Darin stand gebeugt über der Esse und zog gerade ein langes Werkstück aus der Drachenglut. Dann schlug er mit einer Eisenkugel auf das glühende Metall. Sein goldener Arm schien der perfekte Ersatz für einen Schmiedehammer zu sein. Funken flogen und der alte Silberwolf schob die Arbeit zurück in die Glut.

Sein Geselle, der neben ihm stand und einen überdimensionierten Blasebalg bediente wischte sich den Schweiß aus dem rußgeschwärzten Gesicht. Drei Schlagphasen später machte der Schmied ein Zeichen und ließ die Eisenkugel sinken. Er brauchte eine Pause. Ohne den Nygh zu beachten schlurfte er in den überdachten Teil der Schmiede.

Seklaid sah den Besucher an und wartete was dieser zu sagen hatte.

»Zahnrad?«, schnaufte der Nygh und ließ die Schultern hängen. 

Der Quink deutete auf die Esse, in der das Metall wieder eine rote Farbe angenommen hatte. »Das ist ein Auftrag der Scherbenesser«, sagte Seklaid. »Dauert sicher noch bis zum Ende der Jahreszeit oder sogar noch bis weit in den Sommer hinein. Aber dann kommt gleich als nächstes euer Zahnrad. Das dauert ja nur vier, fünf Tage.«

Ughtred starrte den Mann an und musste an sich halten, nicht dieselben Manieren zu verfallen, die hier in Shishney üblich waren. 

»Kann er es nicht vorziehen?«

»Die Chentai sind schwierige Klienten.« Er sprach dieses Wort aus, als wäre es eine Schlange, die ihm in die Zunge gebissen hatte. Dann betätigte er einen Hebel an der Esse und Funken stöbern auf, als er verschwörerisch hinzufügte: »Aber natürlich könnte man das etwas machen. Für nur eine Ressource kann sich das Blatt wenden.«

Ughtred sah den Quink an. Bot er ihm gerade an, das Werkstück zu sabotieren?

»Und die Scherbenesser?«, fragte er mit schief gelegtem Kopf. »Wird dein Meister nichts merken?«

»Ich bin Seklaid der dritte und weiß, wie gefährlich die Silberwölfe sind, aber der Alte hat im Augenblick ohnehin nur noch Augen für die Mutter deines Meisters. Ach entschuldige, er ist ja nicht dein Meister.« Er lachte als er sagte: »Lass das einfach meine Sorge sein.«

Unmutig kramte Ughtred eine Ressource hervor und legte sie auf den steinernen Rand der Esse. Dann wandte er sich ab und ging wortlos. Er war ganz und gar in die Machenschaften dieses Landes eingegangen. Diebstahl, Korruption, Mord … was kommt als nächstes? 

 

In der Küche roch es nach gekochtem Blut und Schokolade. Überall standen Töpfe und Pfannen herum und es herrschte ein heilloses Durcheinander. Unter der Anrichte rumpelte es und Gläser klirrten, als sie über den Steinboden kullerten. 

Plötzlich pfiff ein Topf und Tal stieß sich, als sie sich aufrichtete. 

»Au«, fluchte sie und rieb sich den Schädel. Sie nahm den Topf vom Feuer und goss ein wenig der brodelnden Flüssigkeit in eine flache Holzschale. Das Zeug stank wie die falsche Seite eines Zackenhorns und kühlte schnell ab. Sie stocherte mit einer ihrer Haarnadeln darin herum und hob dann den Deckel eines weiteren Topfes hoch. 

»Was wird das, endlich ein Gift, dass auch bei Nyghs wirkt?«, fragte Kyon, der die Küche betreten hatte. 

»Haltet das Mal«, sagte die Hexe und drückte ihm die Kasserolle, in die sie gerade einige Löffel Marmelade gegeben hatte, in die Hände.

Er steckte einen Finger in die Marmelade und leckte ihn dann genüsslich ab.

Tal rührte das sinkende Zeug mit ihrer Haarnadeln um und gab dabei den Inhalt des anderen Topfes hinzu. Dann sagte sie beschäftigt: »Ich mache Pralinen; genauer gesagt Blutpralinen.«

Kyon verzog das Gesicht. Es war also soweit. Sie hatte endgültig den Verstand verloren und würde sich in Kürze in eine blutdürstige Fledermaus verwandeln. Er hatte ja Erfahrung mit den Bluttrinkerinnen seiner Art. Warum passierte dies eigentlich immer nur Frauen? Gab es überhaupt männliche Vampire?

Er gab ihr den Topf zurück und sah zu, wie sie zuerst das Schokozeug in kleine Förmchen verteilte und dann die Marmelade dazu gab. Als letztes goss sie eine Glasur aus einer Blumenvase darüber. Das Ganze sah äußerst ungleichmäßig aus und die meisten der Förmchen waren übergelaufen. 

»Schon fertig«, sang die Hexe und strich Kyon mit spitzem Finger einen Schokoladenrest auf die Nasenspitze. Sie lachte und leckte ihm dann schnell über die Nase.

Beinahe wäre er nach hinten gestolpert. Als wäre sie tatsächlich eine wirre Fledermaus, wedelte er sie mit den Händen von sich und fragte genervt: »Was soll denn das jetzt? In Shishney gibt es schönere und ganz sicher besser schmeckende Pralinen als das Zeug, dass ihr da zusammengerührt habt.«

Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen und ihre Ohren legten sich gefährlich nach hinten. Dann explodierte sie. 

»Was das soll? Ich handle. Ganz einfach. Das soll das. Ich habe mir überlegt, was euer Vater im Tagebuch meinte, als er von einem Gastgeschenk für diese Spinnenmutter schrieb. Sie ist eine Bluttrinkerin und sie ist eine Frau und darum wird sie ganz sicher Blut und Pralinen mögen. Also habe ich Blutpralinen gemacht. Aus meinem Blut und mir meinen Händen. Was bei allen Nugai habt ihr gemacht? Wenn ihr glaubt, ihr könnt die Schwarze Perle durch das Vögeln von immer mehr und neuen Sexualpartnern erringen, täuscht ihr euch. Das wird nicht klappen. Das Tagebuch ist der Weg. Und es wäre an der Zeit endlich Mal wieder zu handeln.«

Die letzten Worte schrie sie so laut, dass ihr Speichel durch die Luft spritzte und in Kyons Gesicht landete.

 

Der alte Flark klopfte an das Arbeitszimmer des früheren Herrn des Hauses. Er hatte ihn nie kennengelernt. Er war noch gar nicht geboren gewesen, als dieser sich von einem Drachen fressen ließ. Er diente der Ayn und als sich schließlich ihre Sinne verdunkelten, ihrem Welpen. Die Ayn war eine strenge Frau, aber sie hielt sich an die Sitten und konnte mit Ressourcen umgehen. Dieser hier hingegen, ließ das Haus seit langer Zeit verkommen. Er kratzte sich mit einem Fingerdorn an der Schläfe und klopfte mit dem anderen an die Tür. 

»Wer?«, klang es dumpf aus dem Arbeitszimmer.

Flark nannte seinen Namen und trat ein. Er berichtete von dem Besucher, der unten in der Halle auf den Herrn des Hauses wartete. Es sei der Meisterschmied und seine Belange wären dringlich genug.«

Kyon zog sich etwas über und schob den alten Quink zur Seite. 

Zuerst wollte er nach unten gehen, doch dann dachte er daran, der verrückten Hexe begegnen zu können und überlegte es sich anders. Kurzerhand schickte er den Diener nach unten. Er würde den Gast hier im Arbeitszimmer empfangen. Er war ein Sliyn, der Schmied nicht. Sollte der alte zu ihm herauf steigen. 

Kurz darauf klopfte Flark und kündigte Myrlan Amyithas Darin an. Der Schmied trat ein, verbeugte sich militärisch knapp und kam zur Sache. 

»Allem voran möchte ich mich für eure Gastfreundschaft bedanken.« Bei diesen Worten schob er ein Säckchen mit Ressourcen über den Tisch. 

Kyon nickte und bedankte sich ebenfalls.

Dann fuhr der Schmied fort: »Es geht um die Ayn. Eure Mutter.«

Wer sonst? Dachte Kyon und machte mir der Linken eine drehende Handbewegung, die Amyithas zum Fortfahren bewegen sollte. 

»Es ist ihres Zustandes wegen«, begann der alte und erklärte umständlich, dass er nach neuesten medizinischen Erkenntnissen ein Neuronalkorsett geschaffen hätte, weiches seiner Meinung nach, die körperliche Schwäche der Dame des Hauses – er nannte ihren Namen nicht – überwinden könnte.

Kyon hörte sich das in Ruhe an und zuckte dann mit den Schultern. 

»Zur Anprobe und eventuellen Übergabe müsste die Ayn leider nach Quinkstadt gebracht werden. Eine neuronale Verunreinigung auf dem Weg von dort hierher wäre zu riskant. Angebracht besteht natürlich keine Gefahr mehr.«

Kyon verstand kein Wort, aber was spielte das für eine Rolle? Er hatte nicht vor sich gehen den Willen dieses Mannes und schon gar nicht gehen seine Ressourcen zu stellen. Seiner Mutter würde es zweifellos gut tun, das Haus zu verlassen, selbst wenn die Reise nur nach Quinkstadt ginge. Dementsprechend hörte er überhaupt nicht weiter zu und erklärte dem Alten, er könne schon am morgigen Nachmittag, wenn der Tiefstand der Tagesgestirne es zuließe, mit einem Besuch des Hauses Yˋshandragor bei seiner Schmiede rechnen. Amyithas beteuerte seine Freude, erhob sich und ging.

 

Tal erwachte von einem brennenden Schmerz an ihrem Oberschenkel. Sie wühlte die Decken zur Seite und betrachtete im Halbdunkel des Zimmers die Stelle. Was bei den Nugai war das? Vorsichtig befühlte sie ein etwa daumengroßes, schwarzes Konstrukt auf ihrer Haut. Zuerst erkannte sie es nicht, aber dann verstand sie, dass es sich um das Zeichen der Zahl Vier in der Scherbenschrift handelte. Die Haut brannte, weil das Zeichen frisch tätowiert war. Eine Vier oder das Zeichen für Vura, was Fäuste bedeutete. Aber einzelne Zeichen stellten in den meisten Fällen Zahlen dar.

Sie berührte ihre Zunge mit einem Finger und dann mit diesem, von Spucke benetzt, das Tattoo. Sie rubbelte darauf herum, um es wegzuwischen. Ihre Haut färbte sich rötlich und brannte immer mehr. Aber die Glyphe ging nicht weg. Sie war nicht einfach aufgemalt. Sie war in ihrer Haut! Jemand hatte sie im Schlaf tätowiert.

Tal atmete tief ein. Das hatte nicht Kyon gemacht, da war sie sich sicher. Wer im Haus würde so etwas tun? Sie war fassungslos. Erneut begutachtete sie ihren Schenkel und tupfte mehr Spucke auf das Schwarz. Diesmal tat sie es nicht in der Hoffnung, die Glyphe entfernen zu können, sondern um die Schmerzen zu lindern. Dann öffnete sie eine ihrer Taschen, die unordentlich auf dem Boden verstreut lagen und beförderte eine Creme zutage. Sie fluchte leise und dann überlegte sie, warum ausgerechnet die Vier. Diese Zahl stand für die Ordnung und die Achsen der Realität. Realität und Ordnung, wie passend, war sie doch die ordentlichste Smavari, die sie kannte.

Erzürnt schüttelte sie ihr mittlerweile einigermaßen langes Haar und sprang aus dem Bett. Wer hatte das getan? Sie überlegte, kratzte die wunde Stelle und wurde immer wütender. Sie musste an die verrückte Ayn von Baiyl denken, aber selbst Yrdelaiy war nicht zur Ferntätowierung in der Lage. Konnte man mittels Anker aus der Ferne Zeichen in der Haut anderer hinterlassen? Sie schüttelte den Kopf und setzte sich neben das Bett um zu pinkeln. 

Dann stand sie auf, wischte sich mit dem Bettzeug trocken und schnappte sich ihren Lendenschurz und eins der neuen Kleider, die sie von Kyons Ressourcen ertauscht hatte. Gift und Galle, dachte sie, kann doch alles nicht sein.

 

Die Ayn zog es vor, mit einer Kutsche nach Quinkstadt zu fahren, anstelle von einem Phani getragen zu werden; viel zu dekadent, so ein großer schwarzer Mann, der eine Dame auf den Armen trug. So bestellte Kyon einen zweirädrigen Wagen aus schwarzem Porzellan mit einem Droidenantrieb. Der Droide sah aus wie eine dreibeinige Lope ohne Kopf. Sein Körper bestand ebenfalls aus Porzellan und Metall. Die Fahrt ging langsam voran, denn Kyon hatte darum gebeten, allen Schlaglöchern auszuweichen. Er hatte Angst um die fragile Gesundheit seiner Mutter. Doch trotz der langsamen Fahrweise des künstlichen Tieres kamen sie kurze Zeit später in Quinkstadt an und hielten vor der Schmiede. Die Luft roch nach verbrannter Pestgalle und Kyon hoffte inständig, das dieser Ausflug nicht umsonst war. Drückend lagen die Ausdünstungen der Schmiede über dem ganzen Gebiet. Der Schmied selbst und sein Gehilfe standen auf dem Gehweg, der sich rund um das Gebäude zog, und erwarteten die hohen Gäste. Kyon stieg ab und hob seine Mutter aus dem Wagen. Sie trug ein altes schwarzes Spitzenkleid, dessen Ausschnitt eigentlich bis zu ihrem Nabel ging, nun aber mit einem Tuch abgedeckt worden war. Ihr faltiges, von Gram zerrüttetes Gesicht war von einem Schleier bedeckt.

Der Schmied hatte sich ebenfalls in Schale geworfen. Er trug eine grüne Jägerkluft, vielleicht ein Überbleibsel seiner militärischen Ausrüstung, und hohe schwarze Stiefel. Sein Haar glänzte zwar wie immer ungewaschen und fettig, aber er hatte es zu einem straffen Zopf nach hinten gebunden, was ihm immerhin einen verwegenen Auftritt bescherte.

»Willkommen in meinem bescheidenen Haus. Tretet doch bitte ein«, sagte er hohl und öffnete die Tür, indem er den Quink neben sich zur Seite stieß.

Kyon tat wie gebeten und wollte seine Mutter in die Schmiede tragen, aber Nyni`scie wollte auf ihren eigenen Beinen gehen.

Im Haus herrschte zwar immer noch heilloses Durcheinander, aber es war deutlich zu erkennen, dass man zumindest im Eingangsbereich mehrere Tische zur Seite geschoben und andere Dinge übereinander gestapelt hatte, um Platz für die Gäste zu schaffen.

Kyon fühlte sich unwohl. Er hatte nicht verstanden, was diese Vorstellung hier bringen sollte. Dennoch machte er gute Miene zum bösen Spiel und wartete, bis der Alte sich in der Mitte des engen Raumes aufgebaut hatte. Es war dem Mann anzusehen, dass er Lampenfieber hatte. Er schwitzte und zappelte wie ein Welpe, aber schließlich riss er sich zusammen und begann mit seinem Vortrag. Er sprach von Neuronen, neurologischen Erkenntnissen und einem Durchbruch in der medizinischen Altersversorgung. Er beteuerte, genau zu wissen, wie sein Arm funktioniere und sich genauestens in die Prothesenwissenschaften eingelesen zu haben. Dann ließ er einen Kristall ein Schaubild in die Luft werfen, dass niemand verstand.

Kyon nickte die ganze Zeit und wartete mürrisch ab, bis der Alte Luft holte und sagte dann: »Also gut, kommen wir zur Sache!«

Amyithas nickte und sagte: Also gut, hier ist es.«

Der Quink hob eine Art Korsett aus Gold und weißem Alabaster aus einer seltsamen blauen Truhe, die ebenfalls wie Armeebedarf wirkte.

Gold und weiß, nicht gerade sehr sexy, dachte Kyon und zuckte mit den Schultern.

Der Schmied, der seinen Blick gesehen hatte, erklärte, es handle sich um ein medizinisches Hilfsmittel, nicht um ein Kleidungsstück. Es müsse nun angepasst werden, und zu diesem Zwecke müsse er den Raum verlassen.

Kyon verzog das Gesicht und fragte platt: »Warum?«

»Unziemlich, wenn ich dabei wäre und meine Gefühle mich erzittern ließen.«

»Erzittern?« Kyon grinste verschlagen.

Der Schnitt machte eine Bewegung mit seiner gesunden Hand und deutete auf eine Tür, die sich prompt öffnete. Kyon hätte schwören können, dass die Tür eben nicht da gewesen war. Nun trat eine junge und wirklich schöne Smavari in den Raum. Sie trug ein einfaches, hellgraues Kleid, dessen Material so durchsichtig war, dass man die dunklen Vorhöfe ihrer großen Brustwarzen erkennen konnte.

Der Schmied erklärte, sie sei eine Helferin eines der Häuser der Oberstadt und verzichte auf die Nennung ihres Namens. Sie sei bezahlt, bei der Anprobe behilflich zu sein. 

Kyon nickte dem Mädchen zu und wartete ab, was als nächstes geschah. Amyithas drückte sich an seinen Besuchern vorbei und es war ihm anzusehen, dass er es vermied, die Ayn anzusehen. Seinem Gehilfen ein Zeichen gebend, verließ er den Raum und der Quink überreichte das Korsett der jungen Silberwölfin und ging ebenfalls hinaus. 

Sie Helferin betrachtete das Neurokleidungsstück interessiert und sagte freundlich: »Dann helfen wird der Dame sich zu entkleiden. Ich denke es wird genügen ihr Kleid abzustreifen und ihr eigenes Korsett zu lösen.«

Kyon hatte seine Mutter so oft nackt gesehen, dass ihm nichts an dieser Sache hier seltsam oder gar leiblich vorkam. 

»Dann wollen wir mal«, sagte er mit einem Lächeln. 

Würdevoll erwiderte Nyni: »Aber achtet darauf, mir nicht die Frisur zu verderben.«

Gemeinsam zogen sie die Ayn aus und legten ihr das goldene Korsett an den Rücken. Zwei spinnenartige Beine schoben sich oben heraus, legten sich auf die knochigen Schultern und kamen am oberen Brustansatz zur Ruhe. Die Helferin begann das Korsett zu schnüren, was ihr einigermaßen schwer von der Hand ging, denn die Ösen befanden sich auf der Vorderseite, was ihr ungewohnt erschien. Kaum schloss sich das Korsett, ging ein Zittern durch Nyni und ihre Haltung veränderte sich. Binnen weniger Sekunden strafften sich ihre Schultern, sie richtete sich auf und nahm eine durchaus gerade und stolze Haltung ein. Ihre Augen leuchteten als sie laut sagte: »Was starrt ihr mich an, wo bin ich hier und wer ist dieses bezaubernde junge Ding?«

Kyon war erstaunt. Er hatte nie mit einer derart schnellen Veränderung des Zustandes seiner Mutter gerechnet. Er stammelte: »Quinkstadt, Schmiede, ihr wisst schon, Meister Amyithas.«

Doch ehe Nyni reagieren konnte, fing sich Kyon und erläuterte er seiner Mutter, wo sie war und warum sie sich hier befand. 

Sie hörte genau zu und erklärte sich mit der Gesamtsituation zufrieden, allerdings gedenke sie, keine Sekunde länger in Quinkstadt zu verweilen, da die Luft hier unerträglich sei.

Dies wiederum brachte Kyon zum Lachen. Er stimmte zu und wartete, bis die namenlose Helferin der Ayn in ihr Kleid geholfen hatte. Dann öffnete er die Tür und ließ die beiden Frauen zur sinkenden Essen hinaus.

»Die nette junge Dame hat ihr Quartier in der Oberstadt. Ist das nicht ein netter Zufall?«, flötete die erstaunlich muntere Ayn und fügte schnell hinzu: »Natürlich werde ich sie mitnehmen. Unzumutbar für sie diesen stinkenden Ort zu Fuß zu durchqueren.«

Kyon nickte ergeben und hob seine Mutter in den Wagen. Dann setzte sich die Helferin neben die Dame. Als Letztes versuchte sich Kyon auf die Sitzbank zu zwängen, aber seine Mutter machte sich absichtlich breit und sagte: »Dieser Wagen ist ein Zweisitzer. Seid galant und lasst den Damen den Vortritt. Ihr strolcht doch ohnehin ständig in diesen zwielichtigen Gegenden umher.«

»Der Platz wird schon genügen«, sagte Kyon genervt, aber seine Mutter hob den Zeigefinger und deutete damit auf ihn, eine Geste, die sie seit langer Zeit nicht mehr angewandt hatte. Sie bedeutete, dass ihre Ansicht anerkannt werden musste und zwar ohne Widerworte. 

Kyon ließ die Schultern sinken und gab dem Droiden Anweisung zur Oberstadt und dort zum Haus Yˋshandragor zurückzukehren und die Damen dort abzusetzen.

So stand er im Schmutz vor der Schmiede und blickte der Kutsche hinterher. Als er sich umwandte, sah der Schmied seltsam zufrieden aus und der Quink grinste hämisch. Kyon nickte den beiden zu und machte sich auf den Heimweg.

 

»So, jetzt trinken wir Mal gemeinsam einen Becher Gerstensaft, Herr Odugme«, sagte Ughtred zu dem schwarzen Riesen, der auf einem grotesk winzigen Schemel neben der neuen Werkstatt des Nyghs hockte. 

Der Angesprochene schob die von Ughtred modifizierte Maske in der dafür vorgesehenen Schiene nach oben, wo sie an einem Pivotpunkt einrastete. Dann nahm er dem kleinen Mann den dargereichten Becher aus der Hand und nippte vorsichtig. Nur ein Wenig der goldbraunen Flüssigkeit rann an dem Versatzstück in seinem Kinn entlang und benetzte seine breite, glatte Brust. Ughtred nickte freundlich, prostete dem Phani zu und nahm selbst einen tiefen Schluck. Dann versuchte sich der Nygh mit einer Unterhaltung mit dem Freund. Denn genau dies war Odugme für ihn. Sie waren gemeinsam durch die Hölle gegangen und auch wenn die verrückten Silberwölfe den Phani als Sklaven oder gar Gegenstand betrachteten, für ihn war er ein Mann, ein fühlendes Wesen, dass treu an seiner Seite gekämpft und gelitten hatte.

»Gibt es etwas, was du dir wünschst?«, fragte er vorsichtig, denn er wollte den Phani nicht verletzen. Er konnte die Gefühlslage des Mannes nur schwer einschätzen.

Odugme nahm einen vorsichtigen Schluck und sah dann zu Ughtred hinunter. In seinen Augen gab es eine klare Diskrepanz zwischen den Worten Du und Wünschst. Er war ein Sklave, geschaffen den Silberwölfen zu dienen, Wünsche, waren innerhalb dieses Daseins nicht inbegriffen. Beinahe hätte er den Kopf geschüttelt, aber Ughtred schien zu ahnen, was in ihm vor sich ging und der Nygh nickte einfach nur. Dann sagte Ughtred etwas Belangloses über das Wetter und den derzeitigen Frieden, um die Stimmung nicht abfallen zu lassen.

Doch plötzlich hob Odugme ein Stöckchen auf und begann etwas zwischen den Sandalen des Nyghs in den gestampften Boden des Innenhofes zu ritzen. Er begann mit zwei nebeneinander stehenden Kreisen, doch schnell folgten Striche und Punkte und schon war ein Strichmännchen, besser gesagt ein Strichfräulein mit beachtlicher Oberweite, entstanden.

Ughtred sah den großen Mann an und legte den Kopf schief. Immerhin hatte man dem Phani, wie allen Männern seiner Art, bei der Geburt das Geschlecht genommen. Sehnte er sich dennoch nach den Zuwendungen einer Frau? Der Nygh trank sich Mut an und fragte: »Du willst eine Frau?«

Odugme schüttelte nun bestimmt den Kopf, deutete dann zuerst auf seine Zeichnung, und dann auf sich. Als nächstes legte er den Zeige- und Mittelfinger seiner linken Hand nebeneinander und schob beides vor sein Herz.

Ughtred verstand. »Es gibt eine bestimmte Frau! Verdammte Scheiße. Und wo? Daheim?«

Der Riese schüttelte den Kopf. Dann zeichnete er ein Haus neben die Frau und deutete auf die Stadt hinaus.

»Du hast sie auf der Schiffsreise oder sogar schon davor kennengelernt und jetzt lebt sie hier in der Stadt der Silberwölfe? Weißt du wo?«

Odugme nickte. Er zeichnete den Herrn Kyon mit einer Laute und weitere Frauen und ein Hausdach darüber. Dann deutete er in eine bestimmte Richtung die Straße hinunter.

»Ein Haus, in dem der Barde verkehrt. Hier in der Nähe?«

Ein Nicken.

»Das Haus Lysai?« Ughtred schüttelte den Kopf bei diesen Worten, wusste aber im selben Moment, dass er richtig lag. Schon nickte der Phani und machte ein kehliges Geräusch, welches wahrscheinlich ja bedeuten sollte.

»Wie ist ihr Name?« Ughtred vergaß immer wieder, dass Odugme nicht sprechen konnte, aber der Riese öffnete den Mund und sagte etwas, das wie ›Wadaa‹ klang.

»Scheiße nochmal«, sagte Ughtred und trank den Rest seines Gerstensaftes mit einem Schluck. Dann stand er auf und gab vor, nun keine Zeit mehr zu haben. Er müsse Besorgungen machen und seine nächsten Schmiedearbeiten vorbereiten. Der Phani nahm ebenfalls seinen letzten Schluck und schob seine Maske herunter.

Ughtred ging kurzerhand in seinen Verschlag, nahm einen Umhängebeutel mit einigen Ressourcen auf und zog eine Jacke über. Dann ging er in den Hof zurück und verabschiedete sich von dem Freund. Sein Weg stand fest. Das Haus Lysai war sein heutiges Ziel.

Natürlich hatte er wenig Hoffnung, etwas für Odugme tun zu können. Ein Phani galt als Statussymbol und war sicher weit mehr Ressourcen wert, als er in mehreren Jahreszeiten ansparen könnte. Aber sein Vater hatte ihn nicht zu einem Pessimisten erzogen, also hatte er beschlossen, zumindest zu fragen. Das Haus Lysai lag ja nur wenige Minuten vom Hause Yˋshandragor entfernt in einer Seitenstraße. 

Es war früher Nachmittag und Ughtred genoss das Licht der Tagesschwestern. Die Zeitgewohnheiten der Silberwölfe waren für ihn oft schwer zu ertragen. Er mochte den Tag, sie die Dämmerung. Hier, in Shishney, gingen sie jedoch häufig getrennte Wege. Dieser Umstand hatte dazu geführt, dass er begann, sich wieder an seinen eigenen Biorhythmus zu gewöhnen. Er wusste zwar, dass er dies noch bereuen würde, aber er hatte auch keine Lust, sich zu etwas zu zwingen, wenn es aktuell nichts brachte.

Vor dem Haus Lysai stand ein Quink und ein Midyar. Die beiden sahen ihm entgegen und der Quink fragte ihn, in wessen Auftrag er hier sei. Ughtred verneinte und erklärte, er sei in eigener Sache hier und wünsche den Herrn des Hauses zu sprechen. Der Quink versuchte ihn abzuwimmeln, aber der Nygh blieb hartnäckig und sprach von anstehenden Geschäften mit dem Herrn des Hauses. Also klopfte der Wächter an. 

Die Tür öffnete sich und ein weiterer Quink fragte, in wessen Namen Ughtred spräche und wieder erklärte der Nygh, dass er in eigener Sache hier wäre. Dann wurde er zu einem jungen Silberwolf in einem durchsichtigen Gewand vorgelassen und bekam zum dritten Male die gleiche Frage gestellt. 

Leicht verärgert bestand er darauf, den Hausbesitzer zu sprechen und kein weiteres Mal aufgehalten und befragt zu werden. 

Der Helfer nickte. Offenbar hatte er die Axt des Nyghs bemerkt und da er sich nicht mit dem Status dieser Ethnie auskannte, wollte er kein Risiko eingehen, in Stücke gehackt zu werden. Also beschloss er den Herrn des Lysai um Rat zu fragen und verschwand gerade noch früh genug.

Ughtred ging auf und ab. Er hasste diese Art der Unterwürfigkeiten, der seltsamen Etikette und vor allem dieses von oben herab, wenn es um verschiedene Spezies ging. Er selbst machte keinen Unterschied zwischen sich und den Silberwölfen und auch die Quink waren für ihn gleichrangig. Dann kamen ihm die Hobgoblins in den Sinn und er wischte diesen Gedanken ärgerlich aus seinem Gehirn.

Der Helfer erschien und lächelte wie ausgewechselt. »Herr Pegual Athmortis erwartet euch. Ich habe euren Namen nicht verstanden?!«

Ughtred nannte seinen Namen und überlegte einen Moment. Pegual, genau. Er erinnerte sich an den Mann. Groß, extrem helles Haar und seltsam leere Augen. Er hatte einmal gehört jetzige Besitzer des Lysai wäre einst ein Scherbenesser gewesen und hätte die Gilde zu Gunsten einer Frau verlassen. Der Wahrheitsgehalt dieses Gerüchts jedoch war schwer auszuloten, zumal die Scherbenesser keinen Spaß verstanden, wenn einer der Ihren abtrünnig wurde. Wie auch immer, Pegual war wenigstens ein Name, den Ughtred sich merken und den er halbwegs korrekt aussprechen konnte.

Das Arbeitszimmer des Silberwolfes war geschmackvoll eingerichtet. Die Wände waren roh belassen aber zum Teil mit dicken Quinkstoffvorhängen verdeckt und die Möbel bestanden aus Holz und warmen Stoffbezügen. Ughtred hasste nichts mehr als Möbel, welche mit Quinkhaut bezogen waren. Diese Sitte der Silberwölfe stieß ihn mit Abstand am meisten ab.

Pegual lag mehr als er saß auf einem niedrigen Sofa und richtete sich auf, als der Helfer den Nygh in das Zimmer schob und seinen Namen nannte. Der weißhaarige Silberwolf deutete auf eine Kissenstatt vor ihm, wo auf einem sehr niedrigen Beistelltisch frische augapfelgroße Kapern und zwei Schalen mit Gelbwein standen. 

»Ihr seid der Nygh«, stellte Pegual fest und nahm sich eine der Kapern.

Ughtred hob die Schultern und wollte gerade Peguals Aussage bestätigen, als dieser feststellte: »Ihr schuldet mir einen Phani!«

Ughtred hätte sich beinahe an seiner eigenen Spucke verschluckt. Verdammt, das konnte ja heiter werden. Und warum spricht mich der Kerl mit ihr und euch an? fragte er sich und überlegte, was er antworten sollte.

»Sorgt euch nicht, junger Freund, in der Stadt mögt ihr ein gesuchter Verbrecher sein, aber ich bin sicher, selbst der wahrscheinlich höchste Richter Shishney, der euch verurteilt hat, würde euch nicht erkennen. Solche Dinge sind nicht die Stärke von uns Smavari. Und ich für meinen Teil bin nicht nachtragend.«

»Dann würdet ihr mir vielleicht eine weitere Phani überlassen?«, platzte es aus Ughtred heraus.

Pegual sah ihn einen Moment an, weil er dachte, der Nygh hätte einen Scherz gemacht und er verstehe nur den Humor der Korezuulen nicht, aber Ughtreds Blick blieb fest und jetzt, wo er sein Anliegen vorgebracht hatte, war ihm auch tatsächlich wohler.

»Eine Phani, eine bestimmte?«, fragte der Weißhaarige und steckte sich eine weitere Kaper in den Mund. Er hatte seine Fassung wiedererlangt und schien die Unterhaltung nun noch mehr als zuvor zu genießen.

»Tatsächlich eine bestimmte. Ihr Name ist Wada, Oda oder Uda.«

»Oada«, sagte Pegual. »Eine Schönheit. Sie war in der selben Lieferung, die Ihr zusammen mit dem Schurken Chanrir bor Borygis sabotiert habt.

Ughtred zuckte mit den Schultern. Dann fragte er: »Wo ist denn der Schurke Chanrir bor Borygis?«

Pegual lachte und sagte: »Chanrir lebt irgendwo in einem Unterschlupf in den Sümpfen. Er ist ein Räuber und Verbrecher und er kommt mit seiner Band nur dann nach Shishney, wenn er denkt, einen guten Plan ausgeheckt zu haben. Der Letzte war ja offensichtlich nicht so perfekt.«

Endlich griff auch Ughtred nach einer der Kapern. Er schüttelte den Kopf und wischte damit die Sache mit dem Frachtschiff beiseite.

»Wieviel wird wohl so eine Phani wert sein Herr Pegual?«, fragte er stattdessen und der angesprochene konterte höflich: »Nun, so etwa 350 Ressourcen und mit dem anderen Phani, den ihr mir schuldet wären das glatt 700.«

Der Nygh schluckte die Kaper und ließ die Schultern sinken.

Pegual fragte: »Was wollt ihr denn mit Oada? Ist sie nicht ein wenig …« Er machte eine Pause, überlegte und sagte dann doch: »Ist sie nicht sehr groß für euch Herr Nygh?«

»Ich will sie nicht für mich. Sie gehört zu Odugme. Das ist der andere Phani den ich euch schulde. Sie gehören irgendwie zusammen.«

»Wie rührend. Ein Phanipärchen, hat man so etwas schon gehört?«, sagte Pegual und lachte dabei.

Aber dann hob er schnell beschwichtigend die Hand und sagte: »Ihr sollte sie haben!«

Ughtred sah verwirrt auf. Er kannte die Silberwölfe als verrückt, aber sie neigten wirklich nicht dazu, etwas zu verschenken. In dieser Hinsicht waren sie hart und zäh.

Er wollte etwas sagen, aber Pegual kam ihm zuvor: »Ich will eine Beteiligung! Vollumfänglich!«

Der Nygh hob die Augenbrauen und es war ihm anzusehen, dass er nichts verstand.

»Diese Sache mit eurer Unternehmung«, setzte Pegual nach. »Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor sprach schon mehrfach von seiner Queste, der Suche nach der Schwarzen Perle von Granband. Ich gebe euch die Phani und erlasse euch eure Schuld, was einer Generalamnestie gleichkommt und alles, was ich will, ist eine Beteiligung an der Unternehmung. Allumfänglich.« Er betonte das Wort Allumfänglich zum zweiten Mal und nickte dabei.

Ughtred wurde immer unwohler zumute. Was hatte er da nun wieder angerichtet? Er richtete sich auf den Kissen auf und sagte: »Verzeiht mein Herr, aber diese Entscheidung kann ich natürlich nicht treffen. Da müsste ich schon den Herr Sliyn und die Doppelmondhexe fragen.«

»Na dann los. Die Phani läuft uns sicher nicht weg«, lachte der Besitzer des Hauses Lysai und machte dabei eine lässige Handbewegung, die seinen Gast entließ.

 

Ihr Oberschenkel juckte und davon wachte sie auf. Es dauerte einen Moment, bis sie ihre Glieder entwirrt hatte und sie nach dem Grund ihres Unbehagens suchen konnte. Es war die Innenseite ihres linken Oberschenkels. Oder war es doch der Rechte? Links, ganz eindeutig! Vorsichtig duckte sie sich unter ihre Decke und untersuchte die Stelle. Da war etwas, eine Spinne oder etwas noch Schlimmeres. Sie sprang vom Bett, verhedderte sich dabei in der Decke und polterte auf den Boden ihres Zimmers. Der nun folgende Kampf war absurd. Sie konnte nicht gewinnen. Mehrfach biss sie in die Decke hinein, riss an ihr und erwischte schließlich ihre Wade mit ihren eigenen Fangzähnen. Der Schmerz ihres Bisses rief sie jedoch aus ihrer Panik und so schaffte sie es endlich, sich von der elenden Decke zu befreien.

Tief durchatmend und so ruhig wie möglich schlich sie sich an ihren Schenkel heran. Ganz vorsichtig berührte sie ihre weiße Haut, schob ihre Fingerspitzen Zentimeter für Zentimeter näher an die Stelle heran und wagte sich kaum hinzusehen. Hier war es. Allen Mut zusammennehmend öffnete sie die Augen und sah sich an, was da auf ihrer Haut hockte. Es war die Vier. 

Nach Luft schnappend richtete sie sich auf, zog sich am Bettrahmen hoch und langte nach dem Griff des Fensters. Als frische Luft in das muffige Zimmer flutete, wurde sie klarer. Sie stellte sich hin und besah das Zeichen missmutig. Wenn sie stand, war die Glyphe aus der Scherbenschrift ja für sie richtig herum zu lesen. Andere hingegen, die sie zu sehen bekämen – und sie hoffte, dass andere sie sähen – würden sie als auf dem Kopf stehend empfinden.

Sie nahm ihren Lendenschurz von der Bettlehne und zog ihn an. Über einem Stuhl hing eins von Kyons Hemden. Sie packte es und zog es über die Schultern und verließ das Zimmer. Sie musste nicht weit gehen, denn ihr Ziel lag auf demselben Stockwerk und nur einige Türen weiter. Es war das Zimmer der Ayn des Hauses.

Nyni`scie dan Y`shandragor hatte sich in den letzten Tagen sehr verändert. Tal hatte sich die Geschichte von dem Neuronalkorsett erzählen lassen und es sich angesehen. Seit Nyni es trug, war sie wacher und konnte sich recht gut konzentrieren. Vor allem war sie auch in der Lage sich mehr oder weniger allein durch das Haus zu bewegen.

Als Tal an die Zimmertür klopfte, bat die Ayn sie höflich herein. Sie öffnete die Tür und betrat den kleinen, nach abgestandenem Atem riechenden Raum. Außer der Ayn war noch die alte, kränkliche Quink anwesend. Die Vettel kämmte der Dame des Hauses die Haare und versuchte dabei, so unauffällig wie möglich zu sein.

Nyni saß entspannt auf ihrem Schaukelstuhl, der allerdings vom Fenster weggezogen worden war. Anstelle Regen in die Straßen zu starren, hatte sie einen Stickrahmen auf dem Schoß und ließ die Nadel durch das Leinen wandern.

Tal erblasste. Sie konnte es einfach nicht fassen. Die Ayn stickte eine Vier und zwar aus ihrer Sicht, auf dem Kopf stehend.

»Warum stickt ihr das, Frau Nyni`scie?«

Die Ayn blickte auf und sagte: »Weil sticken mir Freude bereitet meine Liebe.«

»Ich meine nicht das Sticken, ich meine die blöde Vier«, spuckte Tal und fuchtelte der Ayn mit dem Finger vor der Nase herum.

»Mäßigt euch, mein Kind. Es ist mir einfach so in den Sinn gekommen. Oder nein, ein Reh hat es mir eingegeben. Es war ein Reh. Ich kann eure Manieren nicht billigen. Hinzu kommt euer schlechter Einfluss auf meinen Sohn Katha`Kyon. Ich verbiete jeglichen weiteren Umgang mit ihm!«

Tal starrte die Frau an. Diese hatte nicht ein einziges Mal von ihrer Arbeit aufgesehen. Was dachte sich die Alte nur? Einen Moment wollte Tal weiter nachhaken, aber dann schüttelte sie mit dem Kopf. Das Tattoo war nicht von der Ayn. Da war sie sich jetzt sicher. 

Sie verabschiedete sich ohne weitere Diskussion von Nyni und suchte nach Kyon. Das Gesinde schickte sie in sein Arbeitszimmer und dort fand sie ihn auf dem Stuhl seines Vaters sitzend vor.

»Hier seht!« Sie stellte ihren Fuß in seinen Schritt und schob ihren langen Lendenschurz zur Seite.

Kyon sah auf und ließ dann seinen Blick an ihrem Knie vorbei an der Innenseite ihres weißen Schenkels entlang wandern. In ihrem Schritt verharrte er und legte den Kopf schief.

»Nein, nicht das. Da, am Schenkel. Da ist eine Tätowierung«, keifte sie und zerrte an ihrer eigenen Haut, um dem Dummbatz die Richtige Stelle darzubieten.

»Ja und? Schön. Sieht nett aus. Warum eine Vier?«

Tal rollte mit den Augen wie ein tollwütiger Arwolf. »Ich hab das nicht machen lassen. Es war einfach so da«, sagte sie so ruhig wie möglich, aber Kyon war sicher, die Wächter der Silberwacht konnten sie problemlos verstehen.

»Eine Vision. Es ist eine Vision«, sagte Tal weiße und schob ihre Hand beiseite, um wieder besser ihr Geschlecht sehen zu können.

Genervt zog sie das Hemd aus und ließ ihre Brüste anschwellen. Dann kniff sie die Lippen zusammen. Wutentbrannt gingen ihr die Worte der Ayn durch den Kopf. Kein Umgang mehr mit ihrem Sohn, das ich nicht lache, dachte sie und sagte ein wenig von sich selbst überrascht: »Wollt ihr eigentlich nicht heiraten, Herr Sliyn?«

Kyon hatte sich gerade nach vorn gebeugt und öffnete seine Hose, doch jetzt hielt er inne und fragte: »Was?«

»Na Heiraten, ein Paar werden, wollt ihr?«

Kyon schob sie ein Stück von sich weg, bis sie auf seinen Knien zu sitzen kam. Er musterte zuerst ihre Oberweite, schaffte es dann aber doch darüber hinaus zu wandern und traf schließlich ihre Augen. Einen Moment wartete er ein Zeichen von Humor in ihren Augen zu erblicken, aber da war kein Schalk zu sehen. Er kniff die Augen zusammen und versuchte zu deuten, was genau er sah. Es war eher Ärger, wenn nicht gar Hass. Aber diese Gefühle schienen keineswegs ihm zu gelten. Es war etwas Allumfängliches, das etwas mit ihr zu tun hatte, etwas, dem er nicht folgen konnte.

»Wie meint ihr das?«, fragte er lahm und sie antwortete jetzt mit einem erstaunlich fröhlichen Lächeln: »Ich habe euch gerade einen Antrag gemacht.«

Kyon schüttelte den Kopf und sagte: »Das meint ihr nicht im Ernst.«

»Doch, schon.«

»Ähm, ja, also nein meine ich, nein, nicht nein, sondern einfach, so etwas kann man nicht übers Knie brechen. Ich brauche Bedenkzeit.«

Sie ließ ihre Brüste noch ein klein wenig mehr anschwellen und drückte ihm eine ihrer Nippel ins Gesicht.

 

Ughtred kam die Straße zurück gelaufen und betrachtete seine derzeitige Wahlheimat. Das Haus Y`shandragor war nicht gerade eine Schönheit. Seine vordere Fassade krönte ein spitzer Giebel mit einem dreieckigen Fenster in der Mitte. Die Mauern hatten im Laufe der Zeit die Farbe abgestorbenen Mooses angenommen. Hinter dem Haupthaus und dem winzigen Innenhof lagen schmale Wirtschaftsgebäude, die vor langer Zeit von Quink bewohnt wurden, heute jedoch leer standen und ein kleiner, von Mauern eingerahmter Garten. Hier wuchsen eine Hand voll winziger, dürrer Tannen, viele Ginsterbüsche und Spinnenfledermäuse von beachtlicher Größe. Die Fenster auf der Vorderseite des Hauses boten einen tristen Ausblick auf die enge Gassen der Stadt und nur vom obersten Stockwerk aus konnte man über die Stadtmauer im Süden auf die Ebene vor Shishney blicken.

Er schob den nie gesperrten Silberriegel der hohen Tür auf und trat in den Hof. Odugme hockte immer noch auf dem Schemel, gerade so, wie er ihn verlassen hatte. Ughtred fragte sich, wie der Riese das machte, denn ihm wurde schon nach kurzer Zeit der Hintern Schmerzen. 

Er hob die Hand zum Gruß und Odugme machte die Bewegung nach, aber Ughtred wusste nicht, ob der Riese die Geste überhaupt zuordnen konnte oder einfach nur ihre Spiegelung als auszuführenden Befehl verstand. Der Nygh zuckte mit den Schultern und ging die schiefen Steinstufen zum Eingang des Herrenhauses hinauf. Er musste diese Sache zu einem guten Ende bringen, das war er dem Phani schuldig. Wenn er damals nicht den blöden Haken des Krans geöffnet hätte, wären Oada und Odugme vielleicht nie getrennt worden.

Er steuerte die Küche an, denn er hörte lautes Gezeter aus der Richtung und wenn Tal zeterte, war Kyon meist nicht weit. Tief durchatmend öffnete er die schief in den Angeln hängende Tür und trat ein.

»Es ist beleidigend, wie sie mich behandelt. Hätten wir doch nur nie den blöden Schmied auf den Plan gerufen«, hörte er gerade die Hexe sagen. Kyon zuckte mit den Schultern und schlurfte heißen Faltersud. »Zahnrad«, gab er lakonisch zu bedenken.

Ughtred sagte: »Ich brauche eure Hilfe.«

Die beiden Silberwölfe, denen ihr Streit ohnehin gerade langweilig geworden war, sahen ihn an. Mit einem schmutzigen Lächeln sagte der Barde: »Warum nicht?«

Ughtred wischte die blöde Antwort mit einer harschen Handbewegung aus dem Raum und setzte sich auf einen der Stühle. Dann erzählte er die Geschichte um Oada und den Herrn des Hauses Lysai. Es dauerte eine Weile, bis er alles richtig zusammen bekommen hatte, denn er tat sich nach wie vor schwer, manche Begriffe im Smavarischen korrekt zuzuordnen.

Plötzlich stellte sich Tal neben ihn, hob ihren Rock hoch und deutete auf die Innenseite ihres Schenkels. »Sagt euch das was?«

Er starrte auf ihre Haut und versuchte zu erkennen, was er sah, aber da das Zeichen auf dem Kopf stand, verstand er seine Bedeutung nicht. Hinzu kam, dass die Aktion der Hexe nichts mit seinem Anliegen zu tun hatte und er jedes Mal aus dem Konzept gerissen wurde, wenn sie ihm, aus welchen Gründen auch immer, ihr Geschlecht präsentierte.

»Äh, nein«, machte er und sah hilfesuchend zu Kyon hinüber. Dieser hatte sich zurückgelehnt und nahm einen großen Schluck aus seiner Tasse. Er blickte zur Decke empor und Ughtred wusste genau, dass seine Gedanken bei den Spinnweben und Adern im Putz des Raumes verweilten.

»Bei den Titten der Großen Mutter, könntet ihr beiden nicht einmal bei der Sache bleiben?«, donnerte er und knallte seine Axt auf den Tisch. »Odugme braucht unsere Hilfe. Er hat den scheiß Sarg durch die Wüste von Draiyn Andiled geschleppt, er hat eine Million Mal euer Zelt aufgebaut und die Lopen versorgt, er macht alles was ihr verlangt und jetzt braucht er einmal euch. Ist mir egal was ihr euch aufs Bein zeichnen lasst und die blöde Decke des Hauses ist mir noch viel egaler.«

Tal und Kyon sahen ihn mit großen Augen an. Ihre Blicke klebten an ihm und ihre Augen waren geweitet. Sie waren Giebelkatzen im Angesicht einer großen Giftschlange.

»Gut, gut«, versuchte Kyon den Nygh zu beschwichtigen. »Pegual will also eine Beteiligung. Allumfänglich.«

Ughtred hatte das Gefühl gleich wahnsinnig werden zu müssen. »Was zur Anderwelt bedeutet dieses Allumfänglich

»Er will halt genannt werden. Wenn wir die Perle finden, will er an unserem Ruhm teilhaben, ganz so, als wäre er dabei gewesen«, sagte Kyon nun wieder einigermaßen gelangweilt.

Tal untersuchte noch das Tattoo, sagte aber: »Dann soll er sich aber auch wirklich beteiligen. Geht hin und sagt ihm, er soll sich beteiligen.«

»Macht er das nicht schon, wenn er uns Oada überlässt?«, fragte Ughtred mit kleinlauter Stimme.

»Quatsch«, sagte die Hexe und sah ihn mit stählernen Augen an. Die Phani werden wir kaum mit uns auf die Reise nehmen. Sie ist bestenfalls eine Entschädigung hier im Anwesen des Sliyn. Was wir brauchen, sind Ressourcen, die wir mit uns nehmen können. Oder denkt ihr das Weib passt in eine eurer Reisetaschen?«

Der Nygh verzog das Gesicht und wollte etwas sagen, aber Kyon machte eine herrische Handbewegung und brachte ihn zum Verstummen. Dann sagte der Barde: »Es ist beschlossen. Wir akzeptieren Pegual als Sponsor, aber eine Phani allein reicht nicht aus, weil sie nicht in eine von den Reisetaschen des Nyghs passt. Er soll weitere Ressourcen zahlen. Geh hin und sag ihm das.«

Ughtred rieb sich über die Stirn und musste den Impuls niederkämpfen, die beiden in kleine Stücke zu hacken. Andererseits hatte er ja sein Ziel erreicht. Er verstand zwar nicht so ganz den Gegenwert, den der Herr Pegual erlangen würde, aber was scherte es ihn? Am Ende würde Odugme mit Oada vereint sein und sie hätten Ressourcen für die nächste Reise. Da konnte er auch noch einmal zum Haus Lysai gehen.

So verzichtete er auf ein Gemetzel in der Küche und stand auf. Wenn es sein musste, und er es machen musste und überhaupt alles musste, konnte es auch jetzt sofort müssen. Er begann in smavarischen Bahnen zu denken und befürchtete, allein die Sprache der Silberwölfe würde ihn früher oder Später zu einem Halbwesen der Anderwelt machen. 

Schnell lief er aus dem Haus und als er in der Gasse angekommen war, rannte er sogar. Er wollte den Handel so schnell wie möglich besiegeln, ehe er überhaupt nicht mehr verstand, was er tat. Diese Angst, ständig vom Einen ins Andere zu geraten, verfolgte ihn wie ein untoter Silberwolf aus den Schatten der Ruinen von Draiyn Andiled. 

Beim Lysai angekommen musste er nicht klopfen und auch keine Erklärungen abgeben. Die Belegschaft war offensichtlich angewiesen worden, ihn auf dem kurzen Dienstweg einzulassen. So kam es, dass er keine Stunde nach dem ersten Gespräch mit Pegual Athmortis erneut vor diesem saß und eine Verhandlung führte, von der er so gut wie nichts verstand.

»Der Herr Yˋshandragor …«

»Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor«, berichtigte ihn Pegual.

Ughtred begann von neuem: »Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor entbietet euch seinen Gruß und ist einverstanden, euch an unserer Unternehmung teilnehmen zu lassen. Allumfänglich!« Das letzte Wort stieß er aus wie eine zuschnappende Schlange.

Pegual flüsterte: »Allumfänglich.«

»Ja, aber natürlich erwartet er eine Zuwendung über die Phani hinaus.«

»Eine Zuwendung über die Phani hinaus«, wiederholte der Silberwolf die Worte.

»Macht ein Angebot, Herr Pegual.«

»Fünfzig scheint mir angeraten genug, angesichts der Tatsache, dass ihr mir einen Phani schuldet und ich diese Schuld verdopple.«

Ughtred nickte ohne zu zögern.

Pegual klatschte in die Hände und eine Tür öffnete sich. Ughtred erschrak wie immer, wenn irgendwo im Zimmer Türen entstanden, die er vorher nicht wahrgenommen hatte. 

Eine große und üppige Frau bückte sich unter dem Türrahmen hindurch. Sie war groß und schlank und ihre Haut war schwärzer als der dunkelste Obsidian. Wie Odugme trug sie eine Maske aus purem Gold, die jedoch ihr ebenmäßiges Kinn frei ließ und ihre schönen Augen eher betonte als sie zu verdecken. Im Gegensatz zu Odugme trug sie kein künstliches Geschlecht. Ughtred wusste von den Silberwölfen, dass man den weiblichen Phani ihr Geschlecht ließ. Allerdings hatte man auch ihr zweifelsfrei die Zunge genommen. Oada war ein Abbild der Großen Mutter in schwarz. Einzig das Fehlen jeglichen Haarwuchses zeugte, neben ihrer Hautfarbe, vom Unterschied der Göttin. Selbst ihre Nacktheit hatte etwas göttliches und Ughtred hatte Schwierigkeiten sie ungehemmt anzusehen.

Der Silberwolf machte eine Handbewegung zu der riesigen Frau hin und sagte: »Oada, wie gewünscht. Hinzu kommen fünfzig.«

Ughtred nickte nur.

»Dann ist es eine Sache«, sagte Pegual. »Geht hinaus und lasst euch auszahlen und nehmt die Phani mit euch. Ich erwarte Bericht.« Pegual lächelte freundlich und gab Oada ein Zeichen, dem Nygh zu folgen. Er musste ihr nicht erklären, was sich zugetragen hatte. Sie hatte ganz offensichtlich einen weit regeren Verstand als Odugme und begriff sofort, was sich zugetragen hatte.

Der Weg zum Haus war diesmal seltsam leicht für Ughtred. Es hatte wieder einmal begonnen zu nieseln, aber er genoss die letzten Strahlen der müden Tagesschwesterrn, die sich durch das Grau der Wolken kämpften. Es war wärmer geworden und der fortschreitende Frühling gab ihm die Hoffnung auf einen angenehmen Sommer. Oadas nackte Haut glänzte feucht, doch auch ihr schien dies nichts auszumachen. Sie trug die Kiste mit den Ressourcen auf dem Kopf und ging so gerade und stolz, wie Ughtred es selten zuvor bei einem Lebewesen gesehen hatte.

Beim Haus angekommen, öffnete er erneut die Tür und führte die große Frau zu Odugme, der aufblickte, sich aber weder Überraschung, noch Freude anmerken ließ.

Ughtred sah die beiden an. Einen Moment hatte er Angst einen Fehler gemacht zu haben. Was, wenn Oada den Mann überhaupt nicht mochte und lieber im Lysai geblieben wäre?

Er überlegte zu fragen, schüttelte dann aber den Kopf und holte stattdessen einen weiteren Schemel aus seinem Verschlag. Die Phani legte die Kiste ab und setzte sich neben Odugme. Im selben Moment kam Tal aus dem Haus. Sie hüpfte die Treppe herunter und kam zu Ughtred und dem Phaniärchen. »Das ist sie wohl«, sagte sie, als hätte sie ein großes Geheimnis aufgedeckt.

Ughtred rieb sich über die Stirn, denn er war immer noch in Sorge. Er stellte Oada vor und erklärte dieser, um wen es sich bei der Hexe handelte. Die Phani nickte unterwürfig.

Tal besah sich die glatte Fülle der riesigen Frau und nickte anerkennend. Dann sagte sie unverblümt: »Du gehörst jetzt wohl dem Hause Yˋshandragor. Odugme gehört mir. Ihr werdet zumindest in nächster Zeit eng beieinander leben. Gefällt dir das?«

Phani waren nicht dazu gemacht, dass ihnen etwas gefällt oder nicht. Soviel zumindest hatte Tal zwischenzeitlich begriffen. Also wiederholte sie strang: »Magst du Odugme und gefällt es dir, bei ihm zu sein?«

Oada nickte höflich und legte ihre Hand auf die des Riesen.

Tal spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen zu füllen drohten und wandte sich ab. Sie ging ins Haus zurück, um mit Kyon zu reden.

Dieser erwartete sie schon. Es war ihm anzusehen, dass er, wie jedes Mal, wenn sich eine Änderung anbahnte, mit Problemen rechnete.

»Die beiden Phani bekommen ein Zimmer neben einem meiner Zimmer!«, befahl die Hexe.

»Sicher nicht«, sagte der Barde.

»Aber ich befehle es!«

Kyon blickte zu Boden und rieb sich die Nasenwurzel. »Wenn ich einem Phanipaar eigene Zimmer gäbe, würde ich mein Haus beschämen. Wegen mir können sie in einem Zimmer neben dem euren auf eure Befehle warten, aber ein eigenes Zimmer bekommen sie natürlich nicht.«

Dies leuchtete Tal ein. Natürlich konnten Statussymbole keine Statussymbole erhalten. Sie tat sich manchmal schwer mit dem Reichtum. Einen Augenblick dachte sie an ihre Eltern, die sich aus dieser verdrehten Welt zurückgezogen hatten, aber dann erhob ihrer Großmutter die Stimme und ließ Tal erwachen.

»Ja, gut«, sagte sie. »Sie werden in einem Zimmer neben den meinen auf meine Befehle harren!«

 

Kyon hielt die Hand seiner Mutter und sah ihr beim Sticken zu. Sie plapperte die ganze Zeit von alten Tagen und Soirees und Kyon war sich unsicher, ob er ihre offensichtlich vergangene Stille heute nicht vorgezogen hätte.

»Und dieser Gnom, er hat einen viel zu großen Einfluss auf die Tagesgeschäfte des Hauses. Ich habe die Bücher jetzt erstmals in diesem Millennium zur Gänze geprüft und mehrere große Diskrepanzen entdecken müssen. Allein die reinen Ressourcen sind unstimmig. Ich habe schon mit Splinternackt und Flark darüber gesprochen, aber es ist wie es ist: es fehlen welche.«

Kyon schnaufte und dachte an die Küchendecke.

»… Wer kann schon sagen, was sie im Schilde führt?«, hörte er die Ayn weiter plappern. »Sie verzaubert euch, wo ihr geht und steht, und wenn ich auch nicht glaube, dass sie für die Sache mit den Ressourcen verantwortlich ist, denke ich nach wie vor, dass sie einen schlechten Einfluss auf euch hat. Ihr solltet sie des Hauses verweisen. Im Übrigen habe ich begonnen, ausstehende Zahlungen zu verwalten. Da ist ein Lagerquink, der dem Haus noch mindestens acht Ressourcen schuldete und bei der Wache waren es fast ebenso viele. Eine entsprechende Forderung wurde verfasst und ausgehändigt. Die Antworten waren positiv.«

Er streichelte ihre Hand und nickte ergeben.

»… Und eine erneute Soiree. Intim, mein gesundheitlicher Zustand erlaubt noch keine großen Smavarimengen. Ich denke an den Meisterschmied, dem ich dieses wunderbare Korsett zu verdanken habe.«

»Sehr wohl, Ayn, ich werde es veranlassen«, flüsterte er und legte seinen Kopf auf ihre Knie. 

»Es hat wirklich aufgehört, mein Sohn. Die Schreie, sie scheinen verstummt zu sein. Der Drache hat mich entlassen.«

Kyon flüsterte mit Tränen in den Augen: »Das ist gut zu hören.«

 

Einige Tage später betrat der Schmied erneut das Haus Yˋshandragor. Er brachte wieder Ressourcen als Gastgeschenk und wusste zu berichten, dass ein tragischer Unfall in seinen Arbeitsabläufen die Reparatur des Zahnrades in greifbare Nähe gerückt habe. Er konnte sich nicht erklären, was zu diesem Missgeschick geführt hatte, aber er würde nun vor dem Wiedereinstieg in besagte Arbeit das Zahnrad in Angriff nehmen. Eine Fertigstellung desselben sei in weniger als acht Tagen zu erwarten.

Kyon nickte und versuchte gar nicht erst zu verstehen, was vorgefallen war. Stattdessen entließ er Amyithas zu seiner Mutter und begab sich selbst zu Tal und Ughtred, die beide begierig darauf warteten, wie es um ihre Unternehmung stand. Als Kyon die Worte des Schmiedes wiedergab, sahen sich die anderen beiden mit verschwörerischen Blicken an.

Er schüttelte den Kopf und beließ es dabei.

 

Die Tage vergingen schleppender nachdem der Schmied die baldige Lieferung des Zahnrades versprochen hatte. Es war gerade so, wie in den Geschichten der alten Tage, in denen es den Aspekten des Kar möglich gewesen war, Raum, Zeit und Dimension frei nach ihrem Willen zu gestalten. Hatte der große gO, der Weltenerschaffer, die Sonnen der Tiba Fe verlangsamt? Kyon verbrachte die Zeit wie immer mit Müßiggang, aber Ughtred hatte schwierigkeiten sich angemessen abzulenken. Natürlich arbeitete er an und in seiner kleinen Werkstatt und natürlich ging er auch nach wie vor seinem Training nach, welches auch Odugme miteinbezog. Trotzdem verspürte er eine kribbelnde Rastlosigkeit in seinen Gliedern. Wenn er Morgens allein in der Küche saß und aus dem Fenster blickte, überkam ihn das Heimweh nach Korezuul. Er sah die hellgrünen Auen und die gewaltigen Laubbäume, die er hier so schmerzlich vermisste. Kisadmur am Berge, ein düsteres Land, dachte er dann jedes Mal und träumte sich nach Hause. 

 

Tal träumte von der Vier auf ihrem Schenkel. Zuerst zumindest war es nur eine Vier. Doch bald wurde draus mehr und mehr. Sie hatte Probleme damit, den Traum zu deuten, aber je mehr Zahlen sie erkannte, um so klarer wurde das Gesamtbild. Es war eine Art Formel, aber natürlich verstand sie nicht was sich ihr hier offenbarte. Sie konzentrierte sich auf den Traum und suchte nach Kyon, aber er war nicht hier. Es war ein Solotraum und so musste sie ihn auch alleine verstehen. Sie ärgerte sich. Immer wenn es um etwas Schwieriges ging, ließ er sie damit allein. Hatte er denn kein Ehrgefühl? Sie mussten jetzt zusammenhalten, denn wie sollte sonst ihre Ehe funktionieren?

Als keine neuen Zahlen oder Zeichen hinzu kamen, entschied sie sich dafür aufzuwachen. Sofort nahm sie einen ihrer Hexenkristalle heraus und übertrug das Geträumte über eine Neuroverbindung auf den Speicher. Sie prüfte das Ergebnis und war damit zufrieden. Innerhalb der Formel stand die Vier ganz rechts und wie auf ihrem Bein, auf dem Kopf. Die restlichen Zahlen waren deutlich kleiner und mit seltsamen, wahrscheinlich mathematischen Zeichen untereinander verbunden. Die Formel hatte eine linke und eine rechte Seite, soviel begriff sie schon einmal. Alle kleinen Zahlen und Zeichen standen auf der einen Seite und die umgedrehte Vier auf der anderen. Also musste alles was links stand das selbe bedeuten wie eine Vier. Oder zumindest eine umgedrehte Vier. Sie überlegte noch einmal, ob sie etwas im Zirkel über solche Formeln gelernt hatte, konte sich aber nicht einmal an eine entsprechende Erwähnung erinnern.

 

 

Was hatte das nur zu bedeuten? Ihre Neugierde zerriss sie beinahe. Warum träumte sie von diesen Zahlen und woher kam die Vier auf ihrem Schenkel? Sie rieb über die immer noch gereizte Stelle und überlegte. Wer kannte sich hier in Shishney mit Zahlen aus? Zahlen sind die Sache der Zahlmeister oder? Zahlmeister kannte sie vor allem im Silberhafen. Da gab es einen Droiden, der ausschließlich in Zahlen dachte. Genau den würde sie fragen.

Gesagt, getan, tog sie sich an und wollte schon unbewaffnet aufbrechen, entschied sich aber dagegen. Eine unbewaffnete Hexe war eine gefährdete Hexe und auf Gefahren hatte sie keine Lust. Also schnappte sie sich den Speer.

Es war noch dunkel als sie das Haus verließ. Sie schlich an Ughtreds Bretterchaos vorbei, öffnete das Tor und trat auf die Straße hinaus. Der Weg zum Silberhafen war nicht weit und sie genoss die frische Nachtluft. Inständig hoffte sie, dass der rühling so bliebe und ihre kommende Reise nicht mit Stürmen und Gewittern verderben würde.

Der Hafen lag in morgendlicher Schwärze. Überall erwachten gerade die Arbeiter, Schiffe wurden losgebunden und erhoben sich langsam in die Luft. Sie fragte einen Quink wo sie den Zahlmeister finden könne und dieser deutete auf die Zahlmeisterei, aber Tal blieb stehen und fragte, ob er den Droiden meine. Nein, er meine natürlich den Zahlmeister. Wo der Droide sei? In einem Lager. Sie überlegte, ob sie den frechen Kerl bestrafen sollte, es war ja schließlich seine Schuld, wenn er sie falsch verstand und ihr dann auch noch eine fehlerhafte Information gab. Aber sie war eine großzügige Hexe und beließ es bei einer Verwarnung.

Das Lager befand sich unterhalb der Landeplattformen und Tal musst noch einmal nach dem Weg fragen. Als sie aber endlich besagte Lagerhalle betrat, sah sie den Droiden schon an einem Gestell stehen und offenbar Kisten zählen. Die hohe wand des endlos langen Raumes war von Schienen und beweglichen Regalen bedeckt, welche unzählige Frachtkisten trugen. Alle hatten verschmierte Aufdrucke in roter Farbe. Sie hatte einmal gehört, Quink hätten Probleme mit kühlen Farbtönen, weswegen man Anweisungen für sie am besten in Rot oder in Schwarz anbrachte. 

»Du bist der Droide«, stellte Tal fest, als sie sich neben dem künstlichen Mann aufbaute. Er sah zumindest aus wie ein Mann. Er hatte einen metallisch wirkenden Körper und sein Kopf wirkte ein wenig wie ein smavarischer Totenschädel. Geschmackvoll, dachte die Hexe und wartete auf Antwort.

Der Droide wandte sich ihr zu und sah sie an. Seine Augen waren glimmende Sensoren in der Dunkelheit der Halle, denn weder er, noch die Hexe brauchte zusätzliches Licht, um etwas zu erkennen.

»Das scheint mir eine korrekte Feststellung zu sein.«

»Ich habe eine Formel. Also in meinem Traum. Es ist eine Vier, die auf dem Kopf steht und dann wirre Zahlen und Zeichen und beides scheint Vier zu bedeuten, soviel weiß ich schonmal. Sagt euch das was?«

Der Droide hob in einer sehr smavarischen Geste einen seiner spitzen Spinnenfinger an sein Kinn und schien nachzudenken, aber Tal wusste, dass er dies nur tat, um sie zu beeindrucken. Sie wollte schon etwas abfälliges sagen, aber er kam ihr zuvor: »Ich habe versucht aus eurer Beschreibung etwas zusammenzustelen, doch die reine Datenmasse ist zu gering. Leider kann ich auf dieser Ebene nichts für euch tun Herrin. Ich wünsche noch einen angenehmen Morgen.«

Tal verzog das Gesicht zu einer grimmigen Schnute und deutete mit dem Finger auf den Droiden. 

»Du wirst mir jetzt helfen, diese blöde Formel zu entschlüsseln!«

Dann fiel ihr ein, dass sie die Formel ja aufgezeichnet hatte und beförderte ihren Kristall aus ihrer Tasche hervor. Sie hielt ihn in die Luft und sofort erschien der gewünschte Inhalt.

»Ihr wollt also sagen, dass ihr damit nichts anfangen könnt?«, blaffte sie gereizt und stemmte eine Faust in die Hüfte.

Der Droide hob einen Finger, sah aber in den Augen der Smavari, dass es nun besser war, nichts zu Kluges zu sagen. Stattdessen betrachtete er die Zahlenkolonne und die verkehrten Vier. Etwas an seinem Hinterkopf ratterte leise und dann sagte er: »Diese Formel ist nicht smavarischen Ursprungs. Unsere Mathematik richtet sich in drei Dimensionen aus, die Formel jedoch nur in zwei. Sie ist bei Weitem älter und muss somit den Alten zugeordnet werden.«

»Die Alten?«

»Es ist mir verboten, über diese Dinge zu sprechen.«

»Du meinst die Aspekte des Kar.«

Da der Droide nichts sagte, nickte die Hexe und sagte: »Also stammt sie von einem der Aspekte. Von welchem?«

In einer sehr lebendigen Geste schüttelte der künstliche Mann den Kopf. Er legte einen Finger an die Stirn, als müsse er nachdenken, dann klackt es erneut in seinem Schädel und er sagt: »Dies ist schwer zu sagen. Hinzu kommt, dass es mir verboten ist Begrifflichkeiten aus diesem Bereich zu gebrauchen.«

»Der erste Aspekt ist allwissen, aber nicht mehr da. Welche der Aspekte sind mathematisch begabt?«

»Meine Befehle verbieten es mir …«

»Ja, ja, du darfst nicht darüber sprechen. Ich werde an anderer Stelle mehr erfahren. Sag mir lieber, was die Formel an sich bedeutet.«

»Vier.«

»Auf beiden Seiten steht die Vier. Warum steht die rechte auf dem Kopf?«

»Die Formel ist nicht eindeutig. Seht das negative ›Y‹? Es kann innerhalb dieser Formel zwei Bedeutungen haben, was das ganze Konstrukt auf eine Ebene der Philosophie hebt. Darauf deutet auch das auf dem Kopf stehende Ergebnis hin.«

Tals Stirn zog sich in Falten. »Zwei Bedeutungen? Was jetzt?«

»Es ist leider möglich, diesen Teil der Formel als zwei verschiedene Zahlen zu deuten. Somit kann die Formel links einmal Vier, auf einer anderen Gedankenebene aber auch Fünf gedeutet werden.«

Tal überlegte einen Moment. Die Fünf ist die Zahl des Chaos. Chaos und Ordnung, Ordnung und Chaos, aber warum? Wer auch immer diese Formel, beziehungsweise die Vier in sie gegeben hatte, musste einen Fehler gemacht haben. Was an ihr bitte sollte chaotisch sein?

 

Tage vergingen. Niemand kümmerte sich um die zukünftige Reise. Selbst Ughtred tat sich schwer mit der Vorstellung endlich wieder aufzubrechen. Dies war keineswegs der Faulheit oder dem Willen in Shishney zu bleiben geschuldet. Es lag vielmehr daran, dass er Schwierigkeiten damit hatte, sich vorzustellen, dass es tatsächlich bald weitergehen könnte. Es war eine Frage der Hoffnung, nicht des Willens.

Als er einmal über die unteren Plattformen der Silberwacht schlenderte, erblickte er weit über sich die schlanke Silhouette der Gefährlichen, des eigentümlichen Schiffes der Droidin Rotgold. Er schirmte seine Augen gegen das Licht der Argol Fe und Hiyweens ab und versuchte zu erkennen, ob jemand an Bord war, aber was spielte es für eine Rolle? Natürlich würde er es bevorzugen mit diesem Schiff zu fliegen, aber es war ja nicht absehbar, wann das verdammte Zahnrad endlich fertig würde und ohne dieses Wissen konnte man kaum einen Packt mit der Kapitöse aushandeln. Missmutig schlenderte er zum Haus zurück, aber er behielt sein Wissen um die Gefährliche im Hinterkopf. Vielleicht würde ja doch etwas aus dieser Fahrt werden. Er schickte einen stummen wunsch an die Große Mutter und ging seinen Arbeiten nach.

Tatsächlich schien diese ihn zu erhören, denn schon zwei Tage später, klopfte Seklaid III, der Schmiedegehilfe an das Tor des Hauses und als Ughtred ihm öffnete holte der Quink mit gekräuselter Oberlippe das Zahnrad hervor. Er lachte und erklärte, nach einer kurzen Unterhaltung mit dem Nygh, er müsse sofort nach Quinkstadt zurück. Das Zahnrad sei in einem perfekten Zustand und würde zweifelsfrei seine ihm zugedachte Funktion erfüllen.

Ughtred verabschiedete sich von seinem Besucher und wog das Schwere Zahnrad in beiden Händen. Dort, wo ein Stück ausgebrochen war, befand sich nun ein schwarzer Ersatz. Seklaid hatte erklärt, das Elamit würde sich mit der Zeit heller färben, aber das Zahnrad sei sehr alt und darum würde man wohl immer einen Unterschied erkennen können. Er hatte es auf einen Stein gelegt und einen seiner Fingerdorne als Achse benutzt. Mit der Anderen hand am Rad, hatte er das Artefakt gedreht und dann einen Finger an die rotierenden Zähne gehalten. Die Toleranz war mit bloßem Auge nicht zu erkennen gewesen, aber was bedeutete das schon?

Der Nygh zuckte mit den Schultern und holte eine Ledertasche aus seinem Verschlag. Dann packte er das Zahnrad ein und ging damit ins Haus. In der Küche angekommen blickte er sich um, fand aber außer dem einbeinigen Koch, er konnte sich einfach den Namen des Mannes nicht merken, niemanden vor. Ein wenig genervt ging er die Treppe hinauf und klopfte an Tals Tür. Er wusste nicht warum er sie ausgewählt hatte, aber es dauerte nicht lange, da öffnete sich die Tür. Sie war natürlich nackt.

Wie immer ein wenig verlegen blickte er an ihr vorbei und sagte mit mürrischer Stimme: »Das Zahnrad.«

Die Hexe ging vor ihm in die Hocke, damit sie sich mit ihm auf Augenhöhe befand.

»Das Zahnrad … was?«

»Na es ist fertig. Der Geselle hat es gebracht.«

»Welcher Geselle?«

»Der vom Schmied.«

Tal verzog des Gesicht und stand auf. »Ist der Sliyn wach?«

»Kaum«, kam die knappe Antwort des Nyghs.

»Ich mache das!«

Sie krabbelte über ihr Bett, beförderte einen winzigen Lendenschurz zu tage und ein viel zu weites Hemd, welches Ughtred auch schon an Kyon gesehen hatte. Waren die beiden ein Paar? Also so richtig? Was bedeutete eigendlich ›so richtig‹ bei den Silberwölfen? Die Korezuulen kannten die Ehe, allerdings war dieses Konzept nicht auf zwei Partner beschränkt. Bei den Silberwölfen schien es ähnlich zu sein, aber er war noch keinem Paar von ihnen begegnet, dass wirklich zusammen zu gehören schien. Sie sprachen von Partnerschaft, verhöhnten sich aber ständig gegenseitig und schienen auch offensiv und wo es nur ging gegeneinander zu arbeiten.

Er versuchte nicht zuzusehen, wie Tal den kaum vorhandenen Lendenschurz umgürtete und wartete, bis das nächste innerfamiliäre Fiasko seinen Lauf nahm. Dieses Haus war verflucht, soviel war sicher, aber was sollte man auch von einem Anwesen erwarten, dessen Hausherr von einem Drachen gefressen wurde und der einen Sohn zurückließ, der sich mit einer verrückten Doppelmondhexe herumschlagen musste? Hinzu kam die Ayn. Ughtred hatte beobachtet, wie die Frau sich binnen weniger Tage einer unglaublichen Veränderung unterzogen hatte. Seit sie das seltsame Korsett des Schmiedes trug, war sie nicht nur agiler geworden. Die Haut ihres Gesichtes schien sich Stunde um Stunde zu verjüngen und ihr vor kurzer Zeit noch trocken brüchiges und moosgraues Haar hatte einen glänzenden Silberton angenommen. Außerdem hatte sie begonnen die Geschäfte des Hauses zu übernehmen und dazu schien auch zu gehören, über Tal und ihn selbst herzuziehen. Sie hatte ihn Gnom (was auch immer dies sein sollte) und Dieb genannt und ihm ins gesicht gesagt, dass sie solchen wie ihm wohl kaum ihr Vertrauen entgegen bringen könne. Er wischte diese Gedanken beiseite, sah noch wie Tal ihren Hintern an ihm vorbei auf den Flur schlängelte und blickte ihr hinterher. Doch plötzlich blieb sie stehen. Als hätte sie eine böse Vorahnung blickte sie auf den geschlossenen fensterladen des Flures und kam geduckt zu Ughtred zurück.

»Ist noch sehr früh gell?‹, sagte sie mit spitzen Lippen.

Er zuckte mit den Schultern.

»Macht ihrˋs«, sagte sie und schob ihn an sich vorbei auf die der Tür des Schlafzimmers zugewandten Seite.

Ughtred ließ genervt die Schultern sinken und tat ergeben, worum man ihn gebeten hatte. Was spiele es schon für eine Rolle? So würde es wenigstens schnell gehen. Er klopfte harsch gegen das alte Holz und kaum eine Sekunde später hörte er innen ein vertrautes Klacken und dann bohrte sich vor seinen Augen ein Jagdpfeil durch die Tür und blieb darin stecken. Der Nygh machte einen Schritt zurück und sah zu Tal hinüber. Diese hob nur entschuldigend die Arme und machte dann eine wedelnde Handbewegung, die ihn zum Fortfahren aufmuntern sollte. 

Er verzichtete auf ein weiteres Anklopfen und rief stattdessen: »Das Zahnrad.«

Tal verzog das Gesicht und zischte: »Könnt ihr nicht einmal einen Satz bilden?«

»Das Zahnrad ist fertig.«

Tal schüttelte den Kopf und sagte leise: »Wow!«

Von drinnen war Kyons Stimme zu hören: »Ich komme runter. Verschwindet jetzt alle beide, bevor ich einen panzerbrechenden Pfeil auflege!«

 

Spinnen sind Freunde

Zu dritt um den runden Tisch sitzend betrachteten sie die Zeichnungen und Texte des Tagebuches. Lonkaiyth hatte das Zahnrad im Zusammenhang mit einem Ort namens Raugnith erwähnt. Kyon erzählte von alten Schlachten zwischen den sogenannten Pferdemännern, den Gorden und den Bewohnern Kisadmurs. Raugnith war eine alte Festungsanlage im äußersten Nordosten des Landes. Sie lag in der Ebene zwischen den Ardeyrt und dem Tiradnischen Rücken, einem der größten Gebirgszüge der Tiba Fe. Heute lebten dort nur noch eigenbrötlerische Eremiten, vielleicht die tatsächlichen Nachfahren des einstigen Herrschers. Wie auch immer, unter der besagten Festung sollte es laut Tagebuch, eine Vortexschleuder geben und um diese zu erreichen, war wohl das Zahnrad nötig. Der Barde überlegte laut, wie man sich dies vorzustellen hatte und als Ughtred über die eventuellen Richtungen der Schleuder spekulierte, sagte Kyon, dass hier wohl eine Art Werkzeug vonnöten sein würde. Sein Vater sprach von einer Art Zange, die sich im Gebirge, einem der voreingestellten Ziele befinden solle.

Sie rätselten noch eine ganze Weile, aber es würde ihnen nichts übrig bleiben, als nach Raugnith zu reisen. Da erzählte der Nygh von der Gefährlichen, die er einige Tage zuvor über dem Silberhafen gesehen hatte. Tals Augen begannen zu glänzen. Sie mochte die Droidenkapitöse Rotgold. Außedem war die Gefährliche ein wirklich schnelles Flugschiff. Sofort erklärte sie sich bereit, zum Hafen zu gehen.

Kyon sagte: »Wir müssen nach Nordwesten. Der Weg wird uns über Uraiyd nach Elaiyney und von da nach GoradˋSin führen. Wir werden kaum ein Schiff finden, dass direkt zwischen den Gebirgen hindurch nach Ongaiyd geht. Spätestens in GoradˋSin müssen wir ein anderes Schiff nehmen.«

Tal erwiederte: »Wir wollen doch sowieso zuerst zum Naivt der Spinnenfrau. Um eine Passage nach Raugnith kümmern wir uns, wenn wir nicht gefressen wurden.«

Ughtred verzog das Gesicht. Er wollte gar nicht gefressen werden und dies war ihm anzusehen. Einen Augenblick sahen ihn die beiden Silberwölfe an, aber da er dann doch nichts zu sagen hatte sagte Kyon: »Na gut, lassen wir uns von den Spinnen fressen und fliegen dann zur ältesten Festung der Tiba Fe, um uns von dort mittels Vortex in die Unendlichkeit schleudern zu lassen. Ich fange schon einmal an ein episches Lied über uns zu schreiben.«

Die Hexe lachte und streckte ihm die Zunge heraus und er machte ein abfälliges Zeichen mit seiner Hand.

Etwas später ging Tal die Treppen zum Silberhafen hinauf. Sie freute sich, denn die Gefährliche lag immer noch über Shishney vertäut. Behend hüpfte sie über einen Anker und schlenderte mit hüftschwung auf eine der Zugangsplattformen zu. Da es keine Planke zur Gefährlichen hinauf gab rief sie: »Heyo? Ist da oben jemand?«

Ein Quinkkopf erschien am Rand der Schiffswand und blickte herunter. Sie erklärte ihr Anliegen und wartete, bis der lange Treppenbalken zu ihr heruntergelassen wurde.

Der Droidin war nicht anzusehen, ob sie sich freute Tal wiederzusehen. Ihre nur wenig bewegliche Miene hatte etwas unendlich Gleichmütiges und wahrscheinlich, war es genau dass, was Tal so an der Frau gefiel. Für sie war sie eine Frau. Es spielte keine Rolle, ob ihr Leib aus Fleisch und Blut oder aus Metall und Keramik bestand. Im Inneren war sie eine Frau.

Sie beschrieb ihr Anliegen und Rotgold sagte, dass die Gefährliche in zwei Tagen nach Elaiyney auslaufen würde. Von dort aus, müsse man eine andere Passage finden. Und wie bei ihrer ersten gemeinsamen Reise, wollte die Droidin für die Passage keine Ressourcen. Tal war hoch erfreut, auch wenn ihr lieber gewesen wäre, noch am selben Tag abzulegen.

Sie verabschiedete sich und schlenderte aufgeregt zu den anderen zurück. Es war endlich so weit. Ja, es würde noch zwei Tage dauern, aber es war so weit. Das Abenteuer würde seinen Lauf nehmen. Hätte sie gewusst, was als nächstes geschehen würde, wäre ihre Freude in nacktes Grauen umgeschlagen.

 

Man beriet sich, schmiedete Pläne für die Reise nach Elaiyney und Ughtred versuchte auf die Schnelle Reiseproviant zu organisieren. Natürlich war dies nun innerhalb der Gesellschaft der Silberwölfe eine sehr kurzfristige Angelegenheit und tatsächlich gelang es ihm nur für wenige Tage haltbare Nahrung zu besorgen. Doch man würde ja an mehreren Orten Halt machen und dort könnte man sicher die Wegzehrung aufstocken. Alle überlegten genau was sie mitnehmen sollten. Man wollte sich einschränken, denn die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass überschüssiges Gewicht bremste, aber dann durfte auch wieder nichts fehlen. Jeder brauchte ein Feuerzeug, Tals jetzt langes Haar konnte unmöglich ohne Lockenstab gebändigt werden, Kyon sortierte seine Pfeile, doch konnte man zu viele Pfeile haben? Am schwersten fiel Tal die Sache mit dem schrecklichen Chaosschild. Das Ding wog nach wie vor eine Tonne, und sie hatte allein schon Mühe, es aus dem Keller die Treppen empor zu schleppen. Mit der schweren Bleidecke, die ihn abschirmte, konnte sie ihn kaum noch heben. Sie fragte sich, wie sie nur lernen sollte mit dem Ding zu kämpfen. Speer und Schild, Schild und Speer, aber sie war nicht stark genug für das Zeug. Sie musste an ihrer Stärke arbeiten. Schnell machte sie zwei Liegestütze und fühlte sich schon besser. Sie würde das schaffen. Sie war eine Doppelmondhexe!

Alles in allem verliefen die letzten Vorbereitungen recht chaotisch und die beiden Tage vergingen sprichwörtlich wie im Fluge. Am Tag der Abreise endlich geriet das ganze Haus erneut in helle Aufregung. Alle waren spät dran und mussten sich sputen, denn Kapitöse Rotgold hatte Tal mitgeteilt, die Gefährliche würde sehr früh aufbrechen. So ranten sie hin und her, bissen von einem Brot ab, verbrannten sich an einem viel zu heißen Becher Faltersud und warfen alles durcheinander.

Doch dann war es endlich so weit. Sie standen an der Rehling und blickten auf das noch dunkle Shishney hinunter. Bald würden die Quink erwachen und die Smavari sich zur Ruhe begeben. Bald würden die Tageschwestern über das Gebirge gekrochen kommen und alles mit ihren gleißenden Strahlen überziehen. Die Gefährliche stieg auf und machte eine Drehung. Schließlich waren die Motoren zu hören und eine starke Vibration ging durch den Leib des Schiffes. Die Kapitöse stand auf dem Oberdeck mit dem Außensteuer und deutete in eine Richtung und ihr Mat brüllte Befehle. In einem Weiten Bogen glitt das Flugschiff über die Stadt hinweg, hielt sich nahe der Odoreys und nahm dabei stetig Fahrt in Richtung Nordwest auf.

Es vergingen mehrere Stunden und Tal hatte sich mit Kyon unter Deck zurückgezogen. Da sie sich ohnehin wenig aus Luftreisen zu machen schienen, wollten sie sich lieber ausruhen. Odugme hatten sie dazu angehalten sich ebenfalls noch ein paar Stunden hinzulegen, denn er sollte möglichst frisch sein, wenn es zum Umladen der Ausrüstung käme.

Ughtred indess, stand an Deck und genoss die Morgenprieße. Er hielt sein Gesicht in den Fahrtwind und ließ zu, dass die Elemente ihm die Sorgen aus dem Geist wuschen. So vergingen stunden und irgendwann erkannte der Nygh Uraiyd in der Ferne. Er winkte zum Spaß und sah zu, wie das Flugschiff über die Ansiedlung hinwegstrich. Er schlenderte von einer Seite des Decks zur anderen und blickte nach hinten, um Uraiyd so lange wie möglich betrachten zu können. Dann kehrte er an seinen ursprünglichen Standort zurück und hielt sich an der Vertäung der Rehling fest, als das Schiff in ein Luftloch geriet und einen Hüpfer machte.

»Jetzt müssten wir uns bald über Diry befinden«, murmelte er zu sich selbst und versuchte etwas unter sich zu erkennen, doch die kisadmurischen Wälder waren düster und ganz und gar Blickdicht. Er sehnte sich nach den lichtumfluteten Auen seiner Heimat. Dann zog eine Bewegung auf der anderen Seite des Schiffes seine Aufmerksamkeit auf sich. Im Osten war eine Art Schneiße in den Odoreys zu erkennen, aber es war schwer zu bestimmen, um was es sich hier handelte, denn das Gebirge lag nebelverhangen als undeutliche graue Masse neben der Flugroute der Gefährlichen. Der Nygh kniff die Augen zusammen, als sich das Schiff auf die gleiche Höhe des Gebirgseinschnittes bewegte und dann ging alles rasend schnell. Instinktiv griff er nach einem der Taue und sah mit Entsetzen in den Augen, wie sich etwas Gewaltiges aus dem Gebirge, direkt in die Flugbahn des Schiffes wälzte. Einen Augenblick dachte Ughtred, es sei eine Lawine, aber als der Nebel aufgewühlt wurde, war das Schwirren von gewaltigen Flügeln zu erkennen. Größer als die Gefährliche, schob sich der Amytor in die Flugbahn des Schiffes und rammte sie, wahrscheinlich ohne sie wahrzunehmen. Die Luft um Ughtred wurde binnen eines Herzschlages zu einem Chaos aus Holzsplittern, Tannennadeln und Angstschreien. Ein Matrose wurde vor seinen Augen von Deck geschleudert und dann riss es auch ihn von den Beinen. Das Seil hatte sich aus seiner Verankerung gelöst und er flog wie eins der Schnurspielzeuge, die er für die Quinkkinder Shishneys angefertigt hatte, um den Rumpf des Schiffes. Mit eisernem Griff hielt er sich an dem Tau fest und spürte den furchtbaren Ruck in seiner Schulter, als die Gefährliche Mittschiffs entzwei brach. Das gigantische Ungetüm, rauschte indessen durch die Luft und seine im Vergleich zu seiner Körpermasse irrwitzig kleinen Flügel wirbelten Bäume auf und versorgten das Chaos immer weiter mit Tannennadeln.

Dann konnte Ughtred sich nicht länger halten. Das Tau hatte den endgültigen Winkel erreicht, doch der Schwung war unaufhaltsam und als es vom Rumpf des Schiffes gestoppt wurde, rutschte es schmerzhaft durch seine Hand und verbrannte ihm die Haut. Er stürzte dem Waldboden entgegen und sah sein Leben an sich vorüberziehen. Mutter, oh Große Mutter, nimm mich auf.

Der erste Einschlag war der schlimmste. Er hörte über sich eine Explosion, wahrscheinlich einer der Motoren des sterbenden Schiffes, dann brach etwas unter ihm, sein Bein. Er überschlug sich, denn er war auf dem nach Westen abfallenden Hand des Gebirgswaldes aufgekommen. Um ihn herum schwirrten Holzsplitter, bohrten sich in sein Fleisch und verhinderten, dass er etwas sehen konnte, doch sein Sturz machte es ihm ohnehin unmöglich sich zu koordinieren. Immer wieder prallte er an Baumstämme, rollte weiter, überschlug sich erneut und fiel immer tiefer und tiefer, in den Kessel der großen Muttergöttin.

 

Tal und Kyon erlebten den Untergang der Gefährlichen auf eine ganz andere Weiße. Sie schliefen. Als der Amytor das Flugschiff rammte, wurden sie wie Spielbälle in der ihnen zugewiesenen Kabine hin und her geschleudert. Ausrüstungsgegenstände flogen durch die Luft, eine von Tals Haarnadeln bohrte sich in Kyons Oberschenkel und die Hexe blieb mit einem Fuß an einem Bettpfosten hängen und brach sich einen Zeh. Immer wieder drehte sich die Kabine und machte jeglichen Halt unmöglich. Als das Schiff schließlich den Waldboden berührte, verhinderten unbekannte kosmische Kräfte, dass es sich weiter überschlug. Stattdessen bohrte es sich, für die gewaltigen kinetischen Kräfte erstaunlich sanft, in die Erde, verfehlte wie durch ein Wunder die stärkeren Bäume und walzte die dünnen beiseite. Schließlich drang der Rumpf ins Erdreich und kam mit einem furchtbaren Ruck zum Stehen.

Kyon hatte es vorgezogen im letzten Moment die Besinnung zu verlieren, aber Tal entknotete ihre Glieder und zog sich über den nun, in einem unnatürlich schrägen Winkel unter ihr liegenden Kabinenboden. Sie untersuchte Kyon oberflächlich und nickte, als dieser sich regte und zu sich kam.

»Was?«, fragte er, als sei alles Übel der Welt ihre Schuld.

Sie zog ihm dafür mit spitzen Fingern die Haarnadel aus dem Bein und er schrie laut auf.

Der Raum war auf einer Seite mit Erde, Schmutz und Trümmerteilen gefüllt. Die Türöffnung, der Raum lag schräg und der Boden war kaum noch zu erklimmen, befand sich unterhalb der Trümmerschicht. Wie lange würde es dauern, bis sie keine Luft mehr hatten? Tal krabbelte auf allen Vieren zu der Stelle, wo sie am ehesten die Tür vermutete und begann zu graben. Wie ein Wolf vor einem Kaninchenbau schaufelte sie Dreck und Erde durch die Luft und zischte schließlich Kyon an, damit er ihr half. Es dauerte einen Moment, bis dieser den Schmerz seiner Verletzungen überwinden konnte, aber dann sagte Tal: »Verdammt nochmal, wir müssen Ughtred und Odugme finden!«

Kyon konzentrierte sich und rief die psionischen Wölfe aus seinem Geist. Er wusste nicht, ob sie helfen konnten, aber er musste es versuchen und wusste, dass allein ihre Anwesenheit ihn stärken würde. Doch kaum war der riesige Rüde erschienen, stürzte er sich auf das Erdreich und begann zu graben, dass der Dreck nur so durch die Luft spritzte. Die Wölfin brauchte etwas länger, um zu erscheinen, doch auch sie grub.

Kyon kam zu Tal und begann nun ebenfalls zu graben, aber die Hexe lehnte sich an die Wand und sagte: »Ich suche sie. Das geht schnell. Dann wissen wir wenigstens wie es ihnen geht. Wehe ihr macht irgend etwas mit mir wenn ich draußen bin.« Und ehe Kyon etwas erwidern konnte entwand sich ihr Geist und ihre Seele aus der Realität ihres Körpers und glitt in die Anderwelt hinüber. Sofort nahm sie Fahrt aus und versuchte zuerst das Heck des Schiffes zu finden. Als sie sich umblickte, nahm sie den Geist der Wölfin neben sich war. Sie hatte keine Ahnung, ob Kyon das Geistwesen an ihrer Seite hielt, aber es wirkte eher, als hätte es selbst diese Entscheidung getroffen. Es lief ihr schwebend voraus und half ihr die Richtung zu finden, in die sie wollte.

Tal hatte keine Ahnung, was geschehen war und im grauen Äther war schwer zu erkennen, wieso die Gefährliche sich in diesem Zustand befand. Sie war mittschiffs zerborsten. Etwas unglaublich riesiges musste sie gerammt haben. Bei diesen Gedanken nahm Tal wie immer die gewaltigen Schemen auf der anderen Seite der Membran war. Die Grauen Wächter hatten sie noch nicht entdeckt, aber sie musste sich beeilen, denn wenn diese Dinger hier waren, würden sie früher oder später auch ihre Tentakel nach ihr ausstrecken.

Ihr geographisches Grundverständnis und der Richtungssinn der Wölfin halfen ihr, das Heck der Gefährlichen zu entdecken. Es war nach Süden abgedriftet, lag aber immer noch ungefähr auf einer Linie mit der ursprünglichen Reiseroute. Tal schwirrte zuerst am Steuer vorbei und musste mit Schrecken erkennen, dass Rotgold, sich immer noch mit einer Hand an dem Steuerrad haltend, in der Mitte durchgerissen war. Sie bewegte sich träge und schien trotz des schweren Schadens noch bei Bewusstsein zu sein.

 

Irgendwo in der Dunkelheit weckte ein Pochen Ughtred aus einer leichten Besinnungslosigkeit. Er versuchte sich zu orientieren und fand sich am Fuße eines Baumriesen wieder. Er wusste, was er sehen würde, wenn er an seinem linken Bein hinunterblickte und erschrak dennoch. Sein Fuß stand in einem unschönen Winkel nach Innen. Er hatte Schmerzen, fühlte sich aber auch taub. Er dankte im Stillen der Großen Mutter, noch am Leben zu sein und griff nach dem erstbesten Stock am Boden, um ihn von der Rinde zu befreien. Dann nahm er ihn in den Mund und begann sein Bein zu versorgen. Er hatte sofort begriffen, dass er es strecken musste, um den Knochen auch nur halbwegs in die richtige Position zu bringen. Mit schnellen Handgriffen befreite er weitere Äste von der Rinde, kürzte sie zurecht und machte sich ein Werkzeug zum Strecken des Beines. Als er so weit war, riss er Stoffstreifen aus seinem Hemd und nahm den ersten Stock zwischen die Zähne.

Wird weh tun, dachte er und streckte sein Bein. Zitternd und stöhnend versuchte er die Schienen anzubringen, aber ihm fehlte die Kraft sie wirklich fest zu bekommen. Dann ließ er sich erschöpft und zitternd auf den Waldboden zurückfallen. 

Als er diesmal aufsah, traf ihn ein heller Tropfen, der an einer Art Faden auf ihn heruntergefallen war. Er rieb sich das Zeug von der Backe und es klebte an seiner Hand. Als er aufblickte sah er noch mehr Fäden in der Baumkrone und etwas Großes, dass gerade im Begriff war zum Nachbarbaum hinüber zu gleiten. Sofort griff er nach seinem Messer und versuchte mit dem Rücken den Baumstamm zu erreichen. Er schaffte es gerade so, sich aufzurichten, da krabbelte ein hundsgroßes Ding mit Spinnenbeinen und schwarzen Fledermausflügeln auf ihn zu. Alles ging furchtbar schnell und das Monster hatte schon seine Zähne in seinen Arm gegraben, bevor er reagieren konnte. Es machte einen Satz von ihm weg und lauerte. Da musste er trotz der schrecklichen Situation lachen.

»Du blödes Vieh, dein Gift wird dir bei mir nichts helfen, komm nur noch einmal her, dann bringe ich dir einen neuen Trick bei!«, brüllte er heißer. 

Die Spinnenfledermaus, denn als solche hatte er das Wesen erkannt, tat wie ihr geheißen und griff an und wie versprochen rammte Ughtred ihr sein Messer in den Kopf. Das Tier zappelte und ehe es reagieren konnte, stach Ughtred wieder und wieder zu, biss es kraftlos zu Boden sank. Es schlug noch mit den Flügeln, doch dann lag es still und Ughtred griff danach. Er wusste nicht, wann er etwas anderes zu Essen bekäme und wie getestet, machte ihm das Gift des Dings ja nichts aus.

 

Tal wusste, dass Odugme in einer der Ladekabinen unter diesem Bereich untergebracht worden war und glitt auf der Suche nach ihm durch die Decks. Sie spürte das Ziehen des nahen Chaoschildes und schließlich entdeckte sie den Phani. Er hockte mit dem Rücken an einer der Wände und hatte das Bewusstsein verloren. Eine Platzwunde an der Stirn blutete heftig, aber er würde es überleben. Hinzu kam ein langer Riss oder Schnitt an einem seiner muskulösen Oberarme, aber Tal entschied, dass er auch damit durchkommen würde.

Schon glitt sie erneut durch die Trümmer und suchte nach Ughtred. Er war nicht da. Plötzlich hob die Wölfin den durchscheinenden Kopf und schnupperte in die astrale Welt hinaus. Dann schnappte sie in die Luft und rannte los. Tal streckte ihre Hand aus und wurde von ihr mitgezogen. In windeseile rasten sie durch den kisadmurischen Wald und Tal hatte schwierigkeiten irgendetwas in ihrer Umgebung zu erkennen. Alles war karge Bäume, spitze Äste, aus dem moosigen Boden hervorstehende Gesteinsbrocken aus der Luft zu Boden rieselnde Nadeln. Der Zusammenstoß mit was auch immer, hatte sich eindeutig auf ide ganze Umgebung ausgewirkt. Überall lagen Trümmer von Bäumen am Boden und es war klar zu erkennen, dass viele der Bäume hier erst nach dem Unfall entwurzelt worden waren.

Dann machte die Wölfin einen Bogen und hielt auf einen riesigen, sehr energetisch wirkenden Baum im Grau der Zwischenwelt zu. Etwas hell leuchtendes lag am Stamm dieses Baumes, und Tal war glücklich, als sie Ughtreds geschundenen Körper entdeckte.

Kurz umgarnte ihr Geist den Nygh und sie überlegte, was sie für ihn tun konnte, aber dann wandte sie sich von ihm ab. Sie musste zurück zu Kyon, denn nur in der realen Ebene würde sie etwas für ihre Freunde tun können. Sie konzentrierte sich auf die Gravitation der Zwischenwelt und schwirrte davon. Doch dann blickte sie zurück. Die Geisterwölfin sah ihr mit leeren Augen nach. Ihr durchscheinender Leib indess, hatte sich neben Ughtred niedergelassen. Mit aufgerichteten Ohren hielt sie Wache, breit, den Verletzten gegen alle Angriffe aus der Dunkelheit zwischen den Nadelbäumen mit Zähnen und Klauen zu verteidigen.

Tal nickte ihr zu und ließ sich in die Richtung fallen, in der sie den Bug des Schiffes vermutete. Eine Sekunde später drang sie durch das Metall und kam bei ihrem Körper an. Sie wollte tief einatmen, aber die Luft in der Kabine war fast verbraucht. Sie hustete und versuchte den schalen Geschmack in ihrem Mund zu ignorieren, musste aber würgen. Neben ihr gruben Tal und der Wolf im Dreck. Sie richtete sich auf, ordnete ihre Glieder und half so gut es ging. Sie hatten nicht mehr viel Zeit. Bald würden sie ersticken und der Wolf würde bis zum Ende aller Tage ihr stumme Totenwächter sein.

So gruben sie wortlos, um möglichst wenig Atemluft zu vergeuden, und schließlich kratzte Kyon mit den Fingernägeln über eine Metallkante. Er ließ sich zur Seite fallen und machte Tal platz und sie grub an dieser Stelle weiter. Es war die Schwelle der Luke. 

 

»Heda, ist da jemand?« Die sonore Stimme eines Quink drang aus der Welt der frischen Luft zu Kyon herunter. Er hatte Tal geholfen die Luke aufzuschieben und nun versuchten sie gemeinsam in das Zwischendeck zu gelangen. 

»Hier unten, wir sind hier«, rief er hinauf. »Wir brauchen ein Seil, das Deck liegt zu schräg.«

Eine Weile geschah nichts, doch dann war das Poltern eines schweren Seiles auf dem Metall des Decks zu hören. Kyon versuchte etwas zu erkennen, doch dann entschied er sich dafür Tal zu helfen aus der Kabine zu kommen. Er verschränkte die Finger seiner Hände ineinander und hob sie hoch. Die Ausdauer des Wolfes gab ihm die Kraft dazu, aber seine Beine zitterten und er stand kurz vor dem Zusammenbruch.

Mit Tränen in den Augen sah er, wie Tal nach etwas griff und dann ihre Hand darum schlang. Doch dann kam eine Gestalt das Seil herunter. Es war ein Matrose. Er hatte den Unfall überlebt und schien unverletzt.

Er drückte sich an den beiden Silberwölfen vorbei und half Kyon, der ihn des Geisterwolfes wegen beruhigte. Gemeinsam entschieden sie, nun, da genug Sauerstoff zur Verfügung stand, nach Tals und Kyons Ausrüstung zu graben. Sie brauchten das medizinische Material aus der Silberwacht von Shishney. Sie waren alle verletzt und vor allem Ughtred musste versorgt werden. So grub der Quink mit dem Wolf und schließlich fanden sie alles, was sie brauchten. 

Der Weg durch den feuchten Wald war hart für Kyon. Er hatte mehrere durchaus schwere Verletzungen davongetragen, aber Tal hatte ihn so gut es ging stabilisiert und behandelt. Eine Goldschiene stützte seinen ledierten Brustkorb und mehrere Verbände ließen sie wie eine Mumie aussehen. Aber er beklagte sich nicht. Es war keine Zeit sich zu beklagen. Der Nygh konnte jeder Zeit sterben und er brauchte seinen Nygh.

Sie brauchten fast die ganze restliche Nacht um Ughtred zu finden. Als die Geisterwölfe sich sahen, liefen sie aufeinander zu und wedelten mit den Schwänzen. Dann entglitten sie der Realität und kehrten in die Anderwelt zurück. Tal stürzte zu Ughtred und begann mit ihrer Arbeit. Sie gab zwei automatische Schienen in die Wunde an Ughtreds Bein und wartete einen Moment, bis die darin enthaltenen Stoffe ausgehärtet waren. Dann verabreichte sie Schmerz- und Heilmittel und nähte schließlich das Bein. Ughtred stöhnte entkräftet und schloss die Augen. Er sagte nichts, aber es war ihm anzusehen, dass er froh war, die Silberwölfe um sich zu haben. Später, als sie sich auf den Weg gemacht hatte, erzählte er, was er gesehen hatte. Er beschrieb den gigantischen Amytoren und von der Chancenlosigkeit der Gefährlichen. Doch die Große Mutter hatte ihn gerettet und offenbar hatte sie auch die Silberwölfe nicht im Stich gelassen. Tal und Kyon schwiegen. Es waren ihre Vorfahren, die überhaupt erst Amytoren geschaffen hatten. Schwer zu sagen, ob besagte Muttergöttin sich um ihrer beider Leben gekümmert hatte, oder ob es nicht viel mehr ihr eigenes Karma war, welches sie hatte überleben lassen.

Auf dem Weg zum Heck kamen sie durch ein gebiet, in dem eindeutig ein Hobgoblinstamm lebte. Die Rotaugen hatten Fallen ausgehoben und Tal wäre beinahe in eine hineingefallen, wenn Kyon sie nicht zurückgehalten hätte. Der Matrose, der Gefährlichen hatte weniger Glück. Er machte den Fehler ein ganzes Stück abseits zu gehen und übersah die tödliche Gefahr. Als die anderen das Krachen der Fallenabdeckung hörten, war es zu spät. Der Mann stürzte in die Dunkelheit und wurde unten von langen, spitz zugeschnitteten Pfählen empfangen. Als Tal den Rand er Falle erreichte, war er schon tot. Diese Wälder waren gefährlich. Amytoren waren Naturgewalten, doch Hobgoblins, Arwölfe, Schlangen und andere unliebsame Begegnungen waren nicht minder gefährlich. Ughtred fluchte, doch sie mussten diese Gegend verlassen. Er dachte an die Spinnenfledermaus und rieb sich dabei über die Stirn. »Der arme Mann«, murmelte er, doch Tal und Kyon waren schon weiter gegangen.

Längst waren die Tagesschwestern erwacht, als sie über sich lichter und lautes Rufen vernahmen. Die Sonnenstrahlen erreichten zum Glück für Tal und Kyon nur selten den Boden des schwarzen Waldes, doch Ughtred verdammte diese Tatsache. Er sehnte sich nach der Wärme der Tagesgestirne.

Die Lichter über ihnen gehörten offensichtlich zu Rettungsschiffen. Tatsächlich lagen zwei Flugschiffe über dem Hex vor Anker. Unten hatte man begonnen ein Lager zu errichten. Quink und Midyar durchstreiften den Wald und suchten nach Überlebenden. Als sie die drei Abenteurer entdeckten, führten sie sie zu einem großen Zelt, gaben ihnen Wasser und Decken und berichteten von dem Hilferuf seitens der Droidenkapitöse und dem schnellen Aufbruch der beiden Schiffe von Elaiyney aus. Die Weiterreise nach GoradˋˋSin erlebten die drei Abenteurer wie in Trance. Sie begaben sich unter Deck und versuchten nicht mehr an das Chaos dieser Reise zu denken. Ja, man sprach von diesen Dingen, von Amytoren und Drachen und Weltenzusammenstößen, aber so etwas passierte anderen, nicht einem selbst. Ughtred, der den Amytor als einziger der drei mit eigenen Augen gesehen hatte schwieg, aber einige der überlebenden Quink müssen ebenfalls Zeugen des Unglücks gewesen sein und versuchten sich durch den regen Austausch ihrer Erlebnisse zu trösten. So erhielten Tal und Kyon ebenfalls einen, wenn auch durch die unterschiedliche Wahrnehmung der Matrosen, so dennoch recht klaren Eindruck von der Urgewalt, die der Gefährlichen widerfahren war. Kyon überlegte, wie er dieses Erlebnis in ein Lied fassen konnte, aber dann wieder beobachtete er sich selbst dabei, wie wie sich seine Einstellung zu Schiffsreisen verändert hatte und ließ es lieber. Er wollte vergessen und Tal schien es nicht anders zu ergehen.

In GoradˋSin gingen sie von Bord, suchten sich eine Kaschemme und genossen die Sicherheit der Ansiedlung. Allen dreien war anzusehen, dass sie der Weiterreise nach Ongaiyd mehr oder weniger lustlos entgegenblickten. Ihr nächstes Flugschiff würde tiefer fliegen, denn die Route verlief zwischen den Odoreys und dem Ardeyrt. Da Amytoren sich am liebsten in den Höhenlagen von Gebirgen aufhielten – wer sagte das eigentlich? Draiyn Andiled war flach wie ein Quinkpfannkuchen und dort wimmelte es von den Dingern – hatte man die Hoffnung unbehelligt zwischen den Gebirgen hindurchfliegen zu können. Dennoch dauerte es einige Zeit, bis Kyon am hiesigen Hafen eine Weiterfahrt nach Nordosten aushandelte, widerwillig Ressourcen übergab und die anderen informierte, dass es weitergehen konnte.

Mutlos und mit hängenden Ohren betraten die beiden Smavari das nächste Schiff und nur Ughtred schien seine gute Laune wiedergefunden zu haben. Auch ihm war anzumerken, dass er Flugschifffahrten von nun an aus anderen Augen sehen würde, aber sein Herz war voller Zuversicht und dies galt für alle Lebenslagen. Er sah es aus einem mathematischerem Blickwinkel als die Silberwölfe: Wer einmal einen solchen Zusammenstoß erlebte, wird kaum durch puren Zufall ein zweites Mal betroffen sein. So viele Riesenamytoren gab es nun auch wieder nicht. Beim nächsten Mal würde es vielleicht ein Drache sein, aber den Amytor hatte er nun hinter sich.

 

Ongaiyd war ein winziges, verschlafenes Nest mit einer kreuzförmigen Hauptstraße die sich im Osten noch einmal gabelte. Auffälligerweiße gab es tatsächlich keine einzige Straße, die aus dem Ort in die Wildnis hinaus führte.

Es ergab sich, dass man im Bodenlosen Loch, einer Kaschemme unterhalb der Holzhafen genannten Landplattformen unterkam. Trotz der etwas gedrückten Laune, handelte Kyon mit dem Wirt die Unterkunft gegen sein Spiel aus und beobachtete dabei, wie die Hexe den Chaosschild über die Holzdielen zerrte und schließlich unter ihr Bett schob. Das passte ja. Hätte es einen angebrachteren Platz für das Ding geben können als unter dem Hintern der Doppelmondhexe?

Ughtred setzte sich und fühlte sich beobachtet. Eine der Silberwölfinnen an einem Nachbartisch schien ihn zu fixieren. Er wollte schon etwas sagen, aber dann kam Tal ihm zuvor. Sie fragte die Frau, ob sie wisse, wie man von Ongaiyd nach Raugnith gelangen könne. Sie sagte, es gingen nur selten Schiffe in diese Richtung. Dann unterhielten sich die beiden Frauen eine Weile über ihre jeweiligen Berufungen. Es stellte sich nämlich heraus, dass Vaadris Borthulk, so der Name von Tals Gesprächspartnerin, eine Zauberin war. Zauberinnen unterschieden sich von Hexen in ihrer ganzen Einstellung zum Multiversum. Während Letztere alles Sein von einem okkulten Blickwinkel sahen, betrachteten sie alles aus nüchternen Augen. Die Wissenschaft war ihr Weg. Tal hatte im Grund nichts dagegen, aber ohne die konzeptionelle Unwissenheit des Okkulten, hätte sie ihr Dasein wahrscheinlich nicht ertragen können. Wissenschaften waren alles andere als verkehrt, aber alles zu wissen, nichts zu fühlen oder zu glauben, dass missfiel ihr sehr. Dennoch war das Gespräch durchaus angenehm, denn es lenke Tal von Kyon ab, der schon wieder mit den Gästen der Kaschemme zu flirten begann und sicher gleich zu spielen anfangen würde. Sie aber war genervt. Sie wollte weder mit ihm tanzen noch ihn bei sich haben. Im Augenblick wollte sie überhaupt nichts mehr. 

Plötzlich krachte und rumpelte es über der Kaschemme und einige der Gäste standen auf und gingen zur Treppe, um sich anzusehen was passiert war. Doch andere blieben auch sitzen und bewegten sich nicht. Es schien als wüssten sie genau, was da oben los war.

Kyon fragte den Wirt und dieser berichtete, dass der einzige hier ansässige Kapitän probleme mit der Navigation hätte und ab und an sein Schiff den Holzhafen streife.

Der Barde konnte es nicht glauben und drängte sich an den anderen Gästen vorbei. Er ging die kurze Treppe hinauf und spähte über den Platz zu der Hafenplattform empor und tatsächlich, da oben lagen überall Holzsplitter herum und etwas weiter rechts, fast außerhalb seines Blickfeldes wippte der Rumpf eines Flugschiffes. Es hatte einen der Flaggenmasten abgeknickt und war dann in eine der Palisaden abgerutscht.

»Das ist die Jagende«, sagte einer der Männer vor Kyon. »Der Kapitän ist ein wenig wirr im Kopf, aber besser als gar keiner oder?«

Kyon sah den Mann an und nickte, ohne es so zu meinen. Er dachte an die verunglückte Gefährliche und zuckte dann mit den Schultern. Vor seinem inneren Auge sah er sich dieses Schiff besteigen. Es war ganz klar. Er würde früher mit diesem Schiff nach Raugnith fliegen. Das Schlimme daren, er hatte keine Vision oder so etwas. Er wusste es einfach. Niedergeschlagen ging er zurück in die Kaschemme.

Später spielte Kyon wie verabredet tatsächlich auf und es dauerte nicht lange, da füllte sich die Kaschemme. Immer mehr und mehr Smavari drängten sich in den veräucherten Raum und schließlich wurde aus dem Spiel eine ausgewachsene Orgie. Ughtred floh früh in seine Kammer und auch Tal zog sich zurück. Kyon indess blühte auf. Als das Bodenlose Loch seinen Boden doch noch fand und sich die Feierlichkeit, die er ausgelöst hatte auf den Platz und schließlich bis zum Holzhafen hinauf ausweitete wurde er immer ungestümer, lauter und hemmungsloser. Im Verlaufe dieser Nacht machte er viele Bekanntschaften, an deren Namen er sich jedoch am nächsten Morgen nicht mehr erinnern konnte. Er sang, als ginge es um sein Leben und ebenso verfuhr er mit der körperlichen Liebe. Männer und Frauen drängten sich an ihn, luden ihn auf und entleerten ihn, bis auch er nahezu leblos zu Boden ging.

Wie gewohnt war es noch dunkel, als Tal erwachte. Sie blickte sich um und fand Kyon mit dem Hintern auf ihrem Bett und mit dem Oberkörper am Boden liegend vor. Er war nackt und sein Körper wies die Spuren der nächtlichen Schlacht auf. Kopfschütteln öffnete sie ihre Medizientasche und trug Salbe auf die am stärksten betroffenen Stellen auf. Sie redete auf ihn ein und schimpfte ein wenig, aber wenn er wirklich zu sich gekommen war, ließ er sich nichts anmerken.

Dann verließ Tal ihre Kammer. Das Bodenlose Loch glich einem Schlachtfeld. Auf einem der Tische lagen ein Mann und eine Frau in nackter Umarmung. Ihre Haare waren miteinander verknotet und jemand hatte ihre Genitalien mit blauer Farbe bemalt. Auch auf dem Boden lagen Gäste und Tal entdeckte Vaadris in einer der Nischen am Boden liegen. Immerhin waren bei ihr nur die kleinen straffen Brüste entblößt.

Sie ging zu der derangierten Zauberin und schnippte ihr mit dem Zeigefinger gegen die kleine Nase. Kopfschütteln und blinzelnd erwachte die junge Frau und begann zu lallen, doch Tal stopfte ihr eine Pastille in den Mund und zwang sie zu schlucken. »Das sollte euch ernüchtern«, sagte sie ohne Mitleid.

Sie richtete sich auf und betrachtete die Unordnung. Es stank nach Erbrochenem und billigem Gelbwein und auch Rum schien geflossen zu sein. Das Bodenlose Loch hatte, wie viele kisadmurischen Kaschemmen keine Fenster und lag zum Teil unter der Erde, also ging Tal zu den Treppen der Eingangstür und öffnete Letztere. Am oberen Absatz der Treppe lagen zwei Männer in eindeutiger Pose und Tal verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Was hatte der Herr Sliyn hier nur veranstaltet?

Sie ging zu der Zauberin zurück. Diese war zwischenzeitlich ein wenig zu sich gekommen und rieb sich den Hinterkopf. »Wie schlömm isses?«, fragte sie mit belegter Stimme.

»Was wisst ihr über das Naivt?«, fragte Tal gerade heraus.

»Hä?«

»Das Naivt, Nest, Heim von Frau Spinne.«

Vaadris rieb sich das Gesicht und sagte: »Ich habe von diesem Ort gehört, aber natürlich war ich nie da. Er liegt irgendwo im Gebirge.«

»Wie finden wir ein Schiff dorthin?«, versuchte Tal es noch einmal ohne allzu große Hoffnung.

»Kein Schiff fliegt ins Gebirge. Ihr habtˋs doch selbst erlebt. D-aber da ist eine Taverne. Keine Kaschemme, den Unterschied kennt ihr doch oder?«, lallte die immer noch angeschlagene Zauberin.

Tal schüttelte genervt den Kopf und sagte so ruhig wie möglich: »Ja, den Unterschied kenne ich. Was ist mit der Taverne?«

»Im Wald iss sie. Das iss. Im Wald hinter dem Pallisonzenzaun, wo der … das Schlugschiff drangerummst ist, da ist ein altes Tor. Sˋgibt ja keine Straßen. Also keine draußen, nur drinnen. D-aber Wildpfade gibtˋs schon. Der im Norden führt zu der Taverne und da wohnen Waldläufer und die kennen Frau Spinne und den Weg auch.«

»Waldläufer im Norden?«

Vaadris nickte eifrig und deutete sinnlos in eine Himmelsrichtung, die Tal definitiv als nicht nördlich erkannte. Aber sie nickte trotzdem und beließ es dabei. Vielleicht stimmte es ja, was die junge Frau erzählte und es war gut einen Ansatz zu haben. Wenn es einen Pfad dort hinaus gab, würden sie ihn finden und wenn es da draußen Waldläufer gab die den Weg kannten, würden sie auch diese Finden.

 

Am Abend saßen Tal und Ughtred an einem Tisch im Bodenlosen Loch.

»Wo ist er?«, fragte Tal und meinte Kyon.

»In seiner Kammer. Ich habe den sie von außen abgeschlossen. War gar nicht so einfach bei den Schlössern hier.«

Tal nickte und nahm einen Schluck Faltersud. Sie hatten beschlossen den Feierlichkeiten ein Ende zu bereiten. Genug war genug. Nachdem Tal dem Nygh von ihrer Erkenntnis seitens der Zauberin erzählt hatte, waren sie überein gekommen, das Kyon keinen weiteren Abend aufspielen würde. 

Schon jetzt hatten sich viele Besucher im Bodenlosen Loch eingefunden. Sie befragten den Wirt nach dem Barden aus Shishney und ab und zu kam einer zu ihnen an den Tisch und wollte wissen, wann der Sänger bereit für die zweite Runde wäre. Ughtred musste wirklich an sich halten aber erstaunlicher Weiße blieb Tal ruhig. Sie erklärte, dass es keine weitere Soiree geben würde, da der Barde krank geworden sei. Daraufhin zogen sich viele der Besucher eiligst zurück. Sie hatten unter Umständen sehr engen Kontakt mit Kyon gepflegt und überdachten nun, ob dies so klug gewesen war. Krankheiten waren übertragbar und manche von ihnen konnten als überaus unschön bezeichnet werden. 

Ughtred sagte finster: »Wir können den Schild nicht mitnehmen. Auf Lopen ist es einfach viel zu anstrengend.«

Tal nickte. »Ich habe gestern bei der Party eine der Stadtwächterinnen gesehen. Ich werde sie fragen, ob er den Schild für uns aufbewahrt.«

»Und Lopen?«

»Auch darum kümmere ich mich. Ich gehe nachher zur hiesigen Leihe. Das wird schon. Passt ihr auf unseren Star auf.«

Tatsächlich hatten die beiden Glück, denn sie waren noch dabei sich zu unterhalten, als bei einem erneuten Schwung von Besuchern auch besagte Stadtwächterin die Kaschemme betrat.

Tal hatte sie gestern mit Kyon gesehen. Es war eine dralle, junge Kriegerin und Kyon – wer hätte es gedacht? – hatte ihr den Hof gemacht. Tal rieb sich, in einer Geste, die sie selbst an Ughtred erinnerte – über die Stirn und sagte: »Also los. Gehen wirs an.«

Die Stadtwächterin stellte sich als Ayn heraus, aber sie machte eigentlich einen freundlichen und keineswegs überheblichen Eindruck. Ihr Name war Ayn Ubarith Nodhsly und Tal erinnerte sich, dass sie sich gestern schon vorgestellt hatte.

Die beiden Frauen unterhielten sich nur kurz, denn die Ayn hatte von Kyon von dem Unterfangen um die Perle erfahren und war bereit, für einen Mikroanteil, den Schild im tiefsten Keller unter dem hiesigen Herrenhaus zu verstecken. Das würde für sie kein Problem darstellen. Tal war froh, zumindest dieses Problem schnell in den Griff bekommen zu haben und sagte zu. Ohne weiteres Zögern holten sie den Schild aus Tals Zimmer.

Dann nannte Ubarith der Hexe noch den Namen einer der beiden Lopenleihen von Ongaiyd und zog dann, etwas traurig, wegen der offenbaren Tatsache, dass es keine zweite Festlichkeit geben würde, ab.

»Lopenleihe der Udaiy«, wiederholte Tal den Namen, den die Stadtwächterin genannt hatte gegenüber Ughtred. Es war dem Nygh anzusehen, dass er lieber mit ihr gegangen wäre, aber andererseits war er nicht bereit, zu riskieren, dass der Barde ausbrach und das ganze Städtchen erneut in Aufruhr versetzte.

Tal gab ihm recht und sate: »Ich gehe kurz hoch und sehe nach dem Sliyn und dann sorge ich für Lopen. Das wird schon.«

 

Kyon erwachte und wünschte sich, ein Wesen ohne Kopf und ohne Hintern zu sein. Er fand sich in einer Position vor, die ihm zwar nicht fremd, aber alles andere als angenehm war. Er lag mit dem Hintern auf dem Bett und sein Oberkörper ruhte in einer durchgebogenen Position am Zimmerboden. Hatte die irre Hexe ihn nicht irgendwann mit Salbe verarztet? Warum bei den Alten hatte sie ihn dann nicht wenigstens auf das Bett zurück gezogen? Doch dann erkannte er die schreckliche Wahrheit: Für ihre Gummiknochen war seine jetzige Position wahrscheinlich normal und angenehm und damit dachte sie zwangsweise, auch er zöge es vor, so zu schlafen. Er hasste die Welt.

Als er versuchte sich aufzurichten, begann besagte Welt sich immer schneller zu drehen und als er endlich den Kopf oberhalb des Bettes hatte, überkamen ihn Tiba Fes Meere. Er richtete sich auf, hörte sein Rückgrat knacken und öffnete den Mund zu einem weiten O. Dann spie er, wie er noch nie zuvor in seinem Leben gespien hatte. Er merkte nicht, wie sich die Tür öffnete und Tal an seine Seite sprang, merkte nicht, wie immer mehr aus ihm heraus schoss – seine Welt war Meerwasser und Chaos.

In einem unmöglichen Schwall schoss das salzige Nass und alles andere, was er in sich hatte in das Zimmer. Er konnte den Mund nicht schließen, denn der Druck war viel zu groß für seinen Wolfskiefer. Bald drohte er zu ersticken und er hörte Tal neben sich fluchen und spürte dann ihre Krallen in seinen Haaren. Kurz bevor er die Besinnung verlieren und gnädig ersticken konnte, hörte die Welt auf sich durch ihn zu ergießen. Er kippte zur Seite, landete auf dem nassen Bett und krümmte sich zusammen. Salzwasser war sehr schädlich für Smavari, auch wenn es aus ihnen heraus schoss.

Tal versuchte ihm etwas einzuflößen, aber es ging nicht. Er hustete und versuchte am Leben zu bleiben.

Plötzlich krabbelte vor seinen Augen etwas Lebendiges aus dem Erbrochenen. Es war nicht groß, etwa wie ein Huhnsei, aber es war eindeutig zu groß, um es angenehm erbrechen zu können und es war lebendig. Er kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen was es war. Ganz sicher waren es die Amytoren. Er war nun ebenfalls schwanger von ihnen, wie der arme Mann in der Taverne damals, vor der Wüste. Er würde aufplatzen und sterben und sein Geist würde unendliche Zeiten in diesem nach brackigem Meerwasser stinkenden Loch umherirren.

Neben ihm bückte sich Tal und betrachtete das krabbelnde Ding auf dem Bettrand. »Winkerkrabbe«, murmelte sie. »Sicher kein Amytor.«

Hatte er laut gesprochen oder nur gedacht? Oder schlimmer noch, konnte sie jetzt jeden seiner Gedanken lesen? Er versuchte etwas zu sagen, brachte aber nur »was?«, heraus,

»Es ist eine Krabbe. Ich habe keine ahnung wo sie herkommt, aber es ist eine einfache Krabbe. Kein Amytor oder so etwas.«

»Ausgekotzt?!«

Sie nickte. »Offenbar eine sehr reale Vision. Nur warum?«

»Weiß nicht.«

Sie half ihm sich so gut es ging zu reinigen und öffnete ein Fenster. Hier, im oberen Stockwerk der Kaschemme, war dies den Nugai sei dank, immerhin möglich. Dann fing sie die kleine Krabbe und ging in die Küche hinunter, wo sie das zappelnde Tier in ein Glas packte und mit etwas Pergament und einem Gummiring verschloss. Dem Wirt trug sie auf, das Zimmer des Sliyn reinigen zu lassen und Ughtred sagte sie, dass er gut aufpassen solle; obwohl sie im Moment nicht an Kyons Feierlaune glaubte.

Ughtred schüttelte genervt den Kopf. Jedes Mal wenn er Kyon darauf ansprach, wann es weiter gehen könne, bekam er generell das Wort ›Morgen‹ zu hören. Immer Morgen, nie jetzt. Er hatte keinerlei Lust sich mit dem Barden auseinander zu setzen.

 

Tal suchte in der Kaschemme nach Vaadris Borthulk und hatte Glück. Sie war noch da. Kurzerhand sprach sie die Zauberin an und erzählte ihr, was vorgefallen war.

»Eine Vision, eindeutig und so wie es aussieht ja eine aus der Zukunft. So etwas ist ja nicht unbedingt selten. Ich habe alle drei, vier Nächste eine«, sagte Vaadris mit immer noch schwerer Zunge.

»Ihr kotzt Krabben und Meerwasser?«

»Nein, aber einmal habe ich tatsächlich eine dreibeinige Spinne hervorgewürgt.«

»Einer Sage nach, schlucken wir ständig Spinnen im Schlaf. Was sagt euch, dass es sich da um eine Vision wie die des Sliyn gehandelt haben soll?«

»Na ja, das Tier war nicht von der Tiba Fe.«

Tal nickte. Das leuchtete ein. Vaadris schien etwas von diesen Dingen zu verstehen. Sie unterhielten sich über die Sache mit der Vier und der Ordnung und dem Chaos und schließlich schlug die Zauberin vor, zu ihr nach Hause zu gehen, um ein Experiment mit der Krabbe durchzuführen. Tal willigte ein und sie verließen das Bodenlose Loch.

Gemeinsam schlenderten sie die Straße entlang in der Vaadris ihr kleines Haus hatte. Es befand sich in der Mitte einer Kreuzung und stand auf einem etwa drei Meter hohen Sockel, war sehr klein und konnte maximal einen Raum beherbergen. Die junge Frau ging eine gewundene Trepper voran und öffnete die schmale Eingangstür. Der Innenraum war geschmackvoll eingerichtet und hatte vier Türen. Tal nickte. Hinter den Türen mussten sich Unräume befinden, denn von außen waren hier keine Wohnstrukturen zu sehen gewesen.

Vaadris bat ihren Gast sich in einen Quinkledersessel zu setzen und mit ihr einen Faltersud zu trinken. Sie unterhielten sich noch eine Weile und irgendwann kam die Zauberin erneut auf die Vier und die Formel. Sie mutmaßte, dass diese alte Art der Mathematik, auf die Herrin der Zahlen hinweisen könnte. Dabei ging es um eine Sagengestalt der Nugai. Die Herrin der Zahlen war eben die Nugai, die den Smavari vor der Sprache schon das Rechnen und damit die Logik beibrachte. Sie war sozusagen die Mutter aller Logik für die Smavari. Tal hatte noch nie von dieser Figur aus der smavarischen Entstehungsgeschichte gehört, aber das hatte nichts zu bedeuten. Es gab unzählige Individuen der Aspekte des Kar, die sich auf die Entwicklung der Smavari ausgewirkt hatten und die Doppelmondhexen konzentrierten sich eher auf die aktuelle Umsetzung von okkulten Kräften und nicht um alte Götterfiguren. Ihre Hexenmutter Akkatha konnte angeblich mit Asen und Nugai kommunizieren, oder sie sogar beschwören, aber es gab niemanden, der einen solchen Vorgang bezeugen konnte. 

Nachdem sie ausgetrunken hatten, stand Vaadris auf und deutete auf eine der Türen. »Kommt, ich will etwas probieren!«

Tal stand auf und sah zu, wie sich die Tür öffnete und vor ihren Augen tatsächlich ein Unraum entstand. Sie wollte Vaadris fragen, wie sie zu so etwas gekommen war, konnte aber ihr eigenes Staunen nicht überwinden. Die Öffnung führte nämlich in eine Art längliches Laboratorium, dass bei Weitem größer war, als die Wohnküche der Zauberin. 

In der Mitte standen drei Tische mit Versuchsanordnungen. Die Wände waren mit Regalen mit Kolben und Kisten und Werkzeugen vollgestellt. Auf einem der Tische lag eine Leiche, wahrscheinlich ein Quink, die erstaunlicher Weiße nicht stank. Der Brustkorb stand weit offen, aber es gab weder Gerüche, noch Fliegen.

Als die Zauberin Tals Erstaunen bemerkte, sagte sie, nicht ohne Stolz in der Stimme: »Ein eigens von mir erfundener Duftstoff. Er verhindert die negativen Eigenschaften der Fäulnis.«

»Fäulnis hat gute Eigenschaften?«, fragte Tal mit interessiertem Blick, aber Vaadris hatte schon angefangen ihren Versuch aufzubauen. Sie stellte lange Kolben auf den Mittleren Tisch, befestigte Drähte aus einem der Schränke und öffnete eine Art Wandschrank, in der große Kupferspulen standen. Dann streckte sie die Hand nach Tal aus und sagte: »Krabbe!«

Tal kramte das Gals mit dem Krabbeltier hervor und gab es der Zauberin. Diese setzte eine Brille auf und sah Tal an, die selbst eine trug. Dann zuckte sie mit den Schultern und sagte: »Wollen mal sehen, was du für einer bist mein kleiner Freund.«

Damit legte sie einen Hebel um und begann eine Kurbel an einer der Spulen zu drehen. Energieblitze liefen an den Kupferleitungen entlang und zischten über die frei durch den Raum führenden Kabel, um in dem Gals zu verglühen. Die Krabbe zischte und dampfte, Beinchen zogen sich zusammen und schließlich stieg dicker, öliger Qualm vom Tisch auf. 

»Merkt ihr das? Kein Geruch. Gut was?«

Tal beugte sich über das Glas. Es war nur noch ein Rest Wasser darin. Sie wedelte ungeduldig mit der Hand den Qualm beiseite und erschrak, als sie sah, was von dem tier übrig geblieben war.

»Was bei den Nugai ist denn das jetzt?«

Sich langsam hin und her windend lag an der Oberfläche des bisschen Wassers in dem Glas eine Art Larve mit Fischschwanz. Das Wesen war nur noch halb so groß wie die ursprüngliche Krabbe und machte den Eindruck, als würde es nicht mehr lange durchhalten.

»Ist das etwa eine Larve?«, fragte Tal verwirrt.

»Allerdings. Das ist der empirische Beweis für meine Theorie. Ich habe das Kontinuum für die Grabbe für einen kurzen Moment relativiert. Als nächstes würde sie zum Ei werden; aber ich glaube so lange macht sie es nicht mehr.«

»Ihr meint, weil sie aus der Zukunft stammt und ihr die Zeitlinie relativiert habt, wurde sie verjüngt?«

»Das generelle Kontinuum, nicht nur die Zeit, aber ja, sie wurde verjüngt; was nur möglich war, weil sie halt noch gar nicht existieren dürfte. Also aus unserer Sicht. Aus der Sicht anderer Zeitdimensionen sieht das ganz anders aus.«

»Fuck!«

 

Später versuchte Tal dem immer noch lädierten Kyon die Sache mit der Krabbe zu erklären, aber er wollte es gar nicht so genau wissen. Sie stritten sich ein wenig, hatten schlechten Sex und gingen ihrer Wege. An diesem Tag würde es auf jeden Fall noch nicht weiter gehen. Ughtred hatte die Kaschemme nicht verlassen, und war auch nicht dazu bereit, außer es würde endlich weiter gehen. Er nörgelte und Tal erklärte sich bereit, nach einem kleinen Nickerchen, die Lopenleihe aufzusuchen.

Ayn Udaiy Virith yr Sheamiths Leihe war ein schöner, flacher Bau mit mehreren Stallungen und einem großen Grundstück darum herum. Tal war zuerst ein wenig beunruhigt, weil die Hüterin der Tiere eine Ayn war, aber als Lady Udaiy aus dem Haus kam, war sie seltsam schnell von der sher jung wirkenden Frau eingenommen. Sie war schmutzig, wahrscheinlich von handwerklicher Arbeit, hatte ein hübsches Gesicht und unglaublich grell scheinende grüne Augen. Sie stellte sich für eine Ayn recht herzlich vor und hieß die Doppelmondhexe willkommen. Verhandlungen zum Thema Lopen gab es praktisch überhaupt nicht. Udaiy überließ es allein den Alphas zu entscheiden, welche Aufträge sie annahmen und welche nicht. Also begleitete sie die Hexe zu einer der beiden derzeit hier ruhenden Herden.

Der Anführer war eine tief schwarze Orey`Orevi namens Teerfell, und neben ihm stand Jagdschatten, sein Sohn. Tal griff in die Zwischenwelt und wob schnell die feinstofflichen Formen, die es ihr erlaubten, die Sprache der Lopen zu verstehen und zu sprechen und stellte sich vor. Sie beschrieb ihr Anliegen und sah in den Augen des älteren Zackenhorns, dass es nur zu froh war, zu einem Abenteuer eingeladen zu werden. Sie unterhielten sich nur kurz, denn Teerfell war nicht unbedingt ein Zackenhorn der vielen Worte. Etwas anders sah es mit seinem Sohn aus. Er hatte ganz eindeutig einen Narren an der Silberwölfin gefressen und bestand drauf sie nach den Verhandlungen mit seinem Vater noch zu begleiten. Er schlug vor sie zu begatten und ihr viele kleine Zackenhörner in den Bauch zu pflanzen. Tal lehnte freundlich ab und erklärte, dass sie nun zu ihrem eigenen Alpha zurück müssen. Sie verabschiedeten sich mit dem alten Schwur: »Leben für Leben!«

 

Fast auf die Stunde genau einen Tag später stand Kyon vor Teerfell und dessen Herde und wiederholte die Worte des Bundes. Das große Zackenhorn verbeugte sich und schnaubte zustimmend. Dann begannen Ughtred und Odugme die Packsättel aufzulegen und die Ausrüstung zu verstauen. Es war ein trüber Spätfrühlingstag und es nieselte, wie so oft in den kisadmurischen Niederungen. Alle hatten ihre Mäntel mit Kapuzen übergestreift und warteten nun auf den Aufbruch. Als der Barde sich auf den Rücken des großen Zackenhorns zog richtete er sich auf und wollte schon die Hand für ein Zeichen heben, aber in diesem Moment schob sich die Hexe auf ihrem eigenen Tier an ihm vorbei und deutete mit ihrem Speer auf einen bewaldeten Hang, der zwei oder drei Kilometer entfernt lag. Dann beschrieb der Speer einen Bogen, denn zwischen ihnen und besagter Landschaft lag die, durch den Schiffsunfall verursachte, defekte Palisade. Der Speer beschrieb einen Halbkreis und deutete schließlich auf die Straße nach Westen. Obwohl es außerhalb des ortes keine Straßen gab, befand sich hier eine Art Stadttor. Sie bedeutete ihrer Lope mit den Versen, dass sie bereit war und das Zackenhorn ging in die angezeigte Richtung. Teerfell schnaubte ein wenig entrüstet und wollte die weibliche Lope überholen aber Kyon sagte: »Daran gewöhnt man sich nie oder? Aber es bringt nichts. Lassen wir sie im Glauben das Sagen zu haben und genießen die hierdurch entstehende Leichtigkeit des Seins.«

Er wusste nicht, ob das Tier seine Worte verstanden hatte, aber es verzichtete tatsächlich auf ein Gerangel um die Anführerschaft, schnaubte den kalten Nachtatem aus und blieb hinter seiner Alphakuh.

Das Tor war – wer hätte es gedacht? – verschlossen und mit schweren Riegeln belegt. Es dauerte eine ganze Weile es zu öffnen, aber da sie niemand daran zu hindern versuchte und die drei Quinkwächter nur tröge dabei standen, kamen sie gut voran. Die Auflage das Tor selbst zu öffnen, quittierten die Quink mit der Aussage, dass die Ayn es verboten hätte. Egal, dachte Kyon und war froh, als die kleinen Idioten das Tor hinter ihnen schlossen, als die letzte Lope im Wald verschwunden war.

Unterdessen führte Tal die Herde um Ongaiyd herum, bis sie wieder an der Stelle waren, an der das Flugschiff die Holzmauer gestreift hatte. Wie die Zauberen Vaadris gesagt hatte, ging von hier ein alter Wildpfad von der Ansiedlung nach Norden ab. Sie hob in Kyons Art die Hand und ballte sie zur Faust. Ughtred lachte und rieb sich über die Stirn, aber Kyon schien die Neckerei überhaupt nicht zu bemerken. Dann ging es nach Norden weiter.

Der Weg war schmal und steinig und das Wetter derart trüb, dass es schwierig war, etwas im dunkeln zu erkennen. Als die Tagesschwestern sich ankündigten wurde der Nebel immer dichter und machte das Vorankommen schwerer. Immer wieder strauchelte eine der großen Dromirthare. Mehr als einmal wäre Odugme beinahe von seiner riesigen Lope gerutscht und nur die Erfahrung hielt ihn im Sattel. Die etwas leichteren Zackenhörner hatten weniger Probleme mit dem Weg. Zum Glück ging es schnurgerade nach Nordwesten und keine Abzweigung machte den Eindruck richtiger als der Hauptweg zu sein. Zweimal fanden sie smavarische Jagdpfeile in den Bäumen stecken und über eine Stunde von Ongaiyd entfernt lag der von Pilzen überwucherte Kadaver eines Hobgoblins auf einem kleinen Hügel nahe des Weges. Ughtred befürchtete, nicht genügend Proviant dabei zu haben und wäre am liebsten abgestiegen um die Pilze einzusammeln. Doch er verzichtete darauf. Selbst ein Hobgoblin hatte die Totenruhe verdient. Stattdessen sammelte er Pilze bei ihrer ersten Rast. Es stellte sich heraus, dass der Weg zu eng war, um das Zelt vernünftig aufbauen zu können und Tal und Kyon mussten sich unter der flatternden Fahne ausruhen, die Ughtred ihnen behelfsmäßig an den Bäumen befestigt hatte. Doch dafür reichten die für die Silberwölfe so unangenehmen Sonnenstrahlen ohnehin nur selten bis zum feuchten Boden der kisadmurischen Wälder. 

Zwei Nächte und Tage folgten sie dem Pfad durch den schwarzen Wald. Nichts störte sie in der Monotonie ihres Vorankommens und nichts erfreute sie dabei. Nur ab und an, wenn sie sich ausruhten, sammelte Ughtred Pilze und frühe Beeren und genoss die Wildnis. Wie immer fehlte ihm sein Korezuul, doch er hatte gelernt, dass auch Kisadmur seine schönen Seiten hatte. Es war am frühen Abend des zweiten Reisetages, als Tal, Kyon imitierend, den Arm hob und der Tross zum Stehen kam. Vor ihnen stiegt das Land ein wenig an und die Bäume wurden dichter. Dickes Nadelgehölz mit abgebrochenen, kantigen Ästen versperrte ihnen den Weg. Der Wildpfad endete hier. Sie stiegen ab und gingen ein Stück zu Fuß den Hügel hinauf und kämpften sich durchs Unterholz. Oben angekommen standen sie an einem Bruch und blickten über die Wipfel, der tiefer gelegenen Bäume.

Mitten im Wald war eine große Lichtung zu sehen, in der ein riesiges Haus lag. Es gab keinen richtigen weg dort hinunter, aber die Lopen würden sicher keine Schwierigkeiten mit dem Abhang haben. Zu Fuß konnten auch die Zweibeiner hinunter gelangen und so machten sie sich auf den Weg. Kyon rutsche mehrfach aus, doch dann straffte sich sein Körper. Mit purer Willenskraft überwand er die Fährnisse der Wildnis. Er hasste es, immer wie ein Anker auf die anderen zu wirken. Er hasste die Wildnis. Aber dann wieder, in manchen Momenten, wenn er mit der Pfeife in der Hand auf einem Stein saß und über die dunklen Wälder blickte, schien er seinen Vater zu verstehen.

Für das Haus konnte es keine andere Beschreibung als gigantisch geben. Sie standen vor der groben Konstruktion aus unbehandelten Baumstämmen und wunderten sich über die Maße. Es hatte eine Länge von weit mehr als zwanzig Schritte und eine Breite von wenigstens zehn. Das Dach ruhte auf den Stämmen in über fünf Metern Höhe und der Giebel war sicher noch einmal zwei Meter höher. Türen und Fenster waren ebenfalls gewaltig in ihren Ausmaßen und gerade die vermeintliche Haupttür maß zwei- auf drei-meter-fünfzig. Sie blickten sich fragend an. Kyon machte ein Zeichen, dass die Lopen zum Verstummen brachte und schlich sich zu besagtem Tor. Er lauschte einen Moment, aber da bellte schon wieder eins der aufgeregten Zackenhörner, also klopfte er einfach an.

Im Inneren war ein lautes Stampfen zu hören und schließlich wurde ein winziger riegel zur Seite geschoben. Als sich die Riesentür öffnete, erschien das zottelige Haupt eines riesigen Trolls. Wie hätte es anders sein können?

Kyon stolperte zurück und Tal griff nach dem Speer, der vor ihr im Waldboden steckte, aber der Troll sagte langsam und mit gedehnter, tiefer Stimme: »Aaaaaaah, Gäste. Silberwölfe, Lopen und ein Eichhörnchen. Koooomt hereiiiin, kommt kommt.«

Sie sahen sich an und Ughtred fragte: »Eichhörnchen?«

Tal kicherte. Sie stand hinter dem Nygh und nur Kyon konnte siehen, wie sie ihm mit den Händen Eichhörnchenohren machte. Kyon schüttelte genervt den Kopf und machte ein Zeichen zur Hütte hin. Durch ihre Ausmaße stellte sich nicht die Frage, was aus den Lopen würden. Bei der Größe der Tür konnte man sie einfach mit hinein nehmen.

Das Erste, was auffiel, wenn man die Taverne betrat, war der angenehme Geruch nach Kräutern und frischen Wildblumen, die büschelweiße getrocknet an der Decke hingen. Der Innenraum war, wie zu erwarten, für normale Wesen gewaltig. Es gab eine Hauptkammer mit einem riesigen Kamin und einer Schlafstätte, die leicht zwei Trollen Platz geboten hätte. Um diese Kammer herum schlossen sich kleinere Zimmer an, deren Türen dem Troll auch Schwierigkeiten machen würden. Im hinteren Gebäudeteil schloss sich ein großer Raum an, auf dessen Boden frisches Heu und zwei sehr alte Zackenhörner lagen. Die Tiere beschnüffelten die Neuankömmlinge, waren aber viel zu alte für einen Revierkampf.

Kaum waren alle in dem Haus untergekommen, entzündete der Riesenhafte Gastgeber Kraft seiner Stimme zuerst das Kaminfeuer und dann an Balken aufgehängte Deckenlichter. Er tat dies nicht etwa mit hilfe psionischer Disziplinen. Es geschah vielmehr durch die Zauberkraft technischer Hilfsmittel. Später klärte er auf, dass er die Autofeuer und Lichtgeber aus seiner Zeit beim smavarischen Militär hatte und stolz darauf wahr, unter den Silberwölfen gedient zu haben. Sein Name war Mardor und er war auch nicht einfach ein Troll. Sein Volk nanne man Burvirole, eine von den Silberwölfen eigenst für ihre Kriegszüge erschaffene Kriegerspezies. Tal fragte ihn, ob er das Naivt kenne und er kannte es. Darüber hinaus erklärte er sich sofort bereit die Silberwölfe zumindest dorthin zu geleiten. Der Weg sei nicht ungefährlich und er wäre ein starker Krieger.

Dann erzählte er seine Geschichte: »Mardor sieht brennenden Sternenstaub, Sonnen, Planeten – Seite an Seite mit gold geflügelten Silberwölfen. Gleißend helle Sternenbarken ziehen an Heliumfeuer vorbei. Welt der Pferdemänner. Riesige Pyramiden und Stätten aus Stein von Göttern gemacht. Mardor springt in den Kampf, zerreißend, zerquetschend, zermalmend, zertretend – epische Schlacht. Pferdemänner kämpfen voll Grimm mit Schwert und Axt, Feuersalven und zischendes Eis. Episch.« Nach einem großen Schluck Faltersud aus einem Becher, in dem ein Nygh baden könnte, murmelt er weiter: »Dann trifft Fuß von Eisenwyrm Mardors Schulter und aus ist der Kampf. Pferdemänner bringen in Tiefe und er arbeitet. Viele Zeiten mit anderen Gefangenen. Dort Mugina. Mugina gut. Gemeinsam fliehen mit Hilfe von Muginas Horn. Wieder lange Reise, doch jetzt durch Grau in Grau – die Welt der Wächter. Hier leben, vorbei der Kampf, genesen, alt werden. Mugina verloren. Horn verloren. Taverne Muginas Horn.« 

Als er endet glänzen seine tief im Schädel verborgenen Augen voller Tatemdrang. Doch dann werden sie trüb und er berichtet von seinem Weib. Ihr Name war Mugina und einst erlangten sie gemeinsam die Freiheit. Sie flüchteten hierher, zur Tiba Fe und in den schwarzen Wald. Doch hier ging sie ihm verloren und nun war er untröstlich. Er war immer noch ein Krieger, aber sein Herz war alt und krank.

Tal mochte Mardor. Sie erkannte sofort, dass er Kriegsverletzungen davongetragen hatte und bot sich an, diese zu behandeln. Zutraulich entblöste der große Mann mit dem struppigen Haar seine Jacke und Tal erschauderte. Aus seiner Brust ragte ein Stück Eisen und das Fleisch um das Schrapnell war krustig aufgeworfen und seit langer Zeit entzündet. Jedes andere Wesen wäre sicher an dieser Verletzung zu Grunde gegangen, doch nicht der Troll. Seine natürlichen Heilungskräfte regenerierten ihn schneller, als die Wunde ihn töten konnte. Die Hexe untersuchte das Ding in Mardor und kam zu dem Schluss, dass es wenigstens in seine Lunge hinunter ragte, doch es saß so fest, dass sie es nicht mit den ihr hier im Wald zur Verfügung stehenden Mitteln erausschneiden konnte, ohne ihn zu töten.

Der große Mann tat ihr leid, und sie versorgte die Wundränder so gut es ging und benutzte all ihre Heilmittel, die ihr passend erschienen. Dieses Wesen war extra für sie erschaffen worden und beschwerte sich nicht einmal über seinen Zustand, der zweifelsfrei nur eingetreten war, weil er sich einem, für ihn ganz sicher unwichtigen Kriegszug angeschlossen hatte. Wahrscheinlich hatte man ihn nicht einmal gefragt. Man hatte ihn so gemacht, dass er ohne zu zögern für die Smavari in den Tod gegangen wäre.

Den restlichen Abend und den kommenden Mittag verbrachten sie in Muginas Horn. Mardor bewirtete sie an einem von ihm geschnitzten Tisch und ebenfalls selbstgemachten Stühlen mit erstaunlich wohlschmeckenden Speisen. Ab und an versuchte er Ughtred Nüsse zuzuschieben und nannte ihn Eichhörnchen. Es ging ihm einfach nicht in den gewaltigen Schädel, dass es Wesen geben konnte die so groß wie Hobgoblins waren, aber keine grüne Haut hattem.

Die Übernachtung in Mardors Haus kam den Abenteurern wie ein Urlaub vor. Als Kyon sich in eins der Zimmer zurückzog, schlüpfte Tal hinter ihm durch die Tür und machte es sich in seinem Bett gemütlich. Die Atmosphäre hier im Wald war einfach zum Ankuscheln.

Für Mardor war es ganz normal, dass die Gäste am nächsten Morgen ausschliefen und erst spät zum Frühstück erschienen. Nur das Eichhörnchen leistete ihm gesellschaft und  half dann das Frühstück für die Silberwölfe zu richten. Nach dem Essen, machten sich alle zum Aufbruch bereit. Odugme sattelte die Lopen und befestigte den Sarg auf einer von ihnen. Ughtred, der dies beobachtete tippte Tal an den Oberschenkel und fragte in möglichst freundlichem Ton: »Denkt ihr das wird wieder?« Er deutete dabei mit dem Kinn auf den Sarg und rieb sich dann verlegen über das Hexenzeichen auf seiner Stirn. Er dachte schon die junge Frau verärgert zu haben, doch sie sah einen Moment zu dem Phani und den Lopen hinüber und wandte sich dann ihm zu. Nach einem weiteren Moment des Schweigens sagte sie lakonisch: »Ehrlich gesagt zweifle ich. Ich werd mich mit dem Loslassen befassen müssen.« Sie machte eine Pause und sah in Ughtreds Seegrüne Augen. Dann stahl sich ein trauriges Lächeln auf ihr schönes Gesicht und sie sagte: »Aber noch nicht heute. Nicht heute.«

Ughtred hatte eine Außentür in seiner Kammer und öffnete sie, um das Wetter zu prüfen. Das Wetter jedoch bescherte ihm einen Pfeil, der knapp neben seinem Kopf im Holz des Türrahmens einschlug. Sofort schlug der Nygh Alarm und schloß die Ausfalltür. 

»Ich dachte du lebst hier, warum greifen die dich an?«, rief er Mardor zu, als er die Küche erreicht hatte.

Alle sahen ihn erstaunt an. Dann sagte Marnor dumpf: »Böse Rotaugen.«

»Dann kämpfen wir«, rief Tal grimmig und packte Raguels Speer. »Los Krieger, Zerfetzen und Zerreißen!.«

Mardor nahm seine riesige Axt von den Haken und wandt sich der Tür zu, aber Tal war ihm schon voraus und stürzte sich wütend in den Wald. Odugme zog sein Schwert und Tal schüttelte den Kopf, aber der Phani schnaubte. Er würde gehorswchen, aber es war ihm trotz seiner goldenen Maske anzusehen, dass er seiner Herrin in den Kampf folgen wollte. Die Hexe verzog das Gesicht zu einer Schnute und zuckte dann mit den Schultern. »Dann aber los«, knurrte sie wütend.

Ughtred hatte seine Position an der Tür wieder eingenommen und wartete, bis die Schützen von der Hexe und dem Burviol abgelenkt waren, und er den Ausbruch wagen konnte. Unterdessen postierte Kyon sich an der großen Tür auf der seite der Lopenunterkunft. Er öffnete sie, blickte hinaus und entdeckte in unmittelbarer Nähe zwischen den kantigen Stämmen der schwarzen Bäume Bewegung. Schnell zog er einen Nebelpfeil aus dem Köcher und schoss. Der Pfeil traf einen der Stämme und binnen weniger Sekunden breitete sich undurchdringbarer Nebel um die Angreifer aus. Sie husteten und dann flog auch schon der zweite Pfeil. Der Schrei des Terrorpfeils wurde zwar vom Nebel ein wenig gedämpft, genügte aber um die verwirrten Waldbewohner vollends ihre Lage überdenken zu lassen. Sie versuchten einen Weg aus dem Nebel zu finden und einer von ihnen erschien kurz am Ereignishorizont und erhielt als Belohnung einen ganz normalen Pfeil mitten in die Stirn. Es war ein Jukrey, der noch einige Schritte nach forn stolperte und dann zussammenbrach.

Unterdessen war Tal schon mitten um Wald. Der Speer war lang und unschierig in dieser Umgebung aber ihre kampferprobten Arme führten ihn meisterhaft zwischen den Stämmen der Bäume und wo sie diesen nicht auszuweichen vermochte, fällte sie die dünneren Bäume. Vor ihr befand sich ein Hobgoblin und einige Schritte weiter zwei Jukrey. Hinter sich hörte sie Mardor, aber sie wollte nicht warten. Wutentbrannt griff sie in die feinstoffliche Welt und wob eine Disziplien, die zuerst ihre eigenen Kräfte verstärkte und dann erschuf sie ein Gewebe der Snergie, die sie mit ihren Freunden und dem Burivol verband und das Beste aus jedem von ihnen herausholte.

Blitzschnell rammte sie dem Hobgoblin den Speer in den Bauch und schleuderte den Winzling in einem Bogen über sich hinweg. Sofort rannte sie zu den beiden stämmigen Jukrey und holte mit dem Speer aus. Hier standen die Bäume weit genug auseinander, dass sie den Speer mit seiner unterarmlangen Klinge in einem Bogen schwingen konnte. Einer der Gegner, er war mit einem alten smavarischen Kurzsäbel bewaffnet, versuchte seine Klinge hochzureißen, aber die Hexe ar einfach zu schnell. Der Speer traf ihn wie eine Schwertschneide am Bauch und durchtrennte die Gurte seiner Lederrüstung und seine Bauchdecke, nur um es beim zweiten gleich zu tun. Beide Rotaugen gingen schreiend und gurgelnd in die Knie und Tal rammte einem von ihnen den Speer in den offenen Mund. Sie schrie wild und ihre langen Haare knisterten vor psionischer Energie. Sie war eine Klingentänzerin, sie war Tal, North, Chentai, Scherbenesserin, der tanzende Tod!

Der ganze Kampf dauerte nur wenige Sekunden. Noch drei oder vier weitere Hobgoblins und Jukrey starben unter der Wut des Speeres, Kyons Pfeilen und Ughtreds Wurfäxten. Mardor, der einfach langsamer als die anderen war. Kam zu spät, bückte sich aber nach einem der Gefallen, hob ihn auf und riss ihm einen Fuß ab, um ihn an Ort und Stelle zu verspeisen.

Odugme indessen, kam ebenfalls zu spät. Die übrigen ANgreifer, es war unklar, wie viele es waren, flohen in die Dunkelheit des Waldes. Wieder einmal hatte sich gezeigt, wie sehr die Silberwölfe das Grauen und den Grimm in sich trugen und wie schwer es war, sich vor diesen Mächten zu verschließen. Odugme ließ das lange Chentauschwert sinken und sah seine Herrin an. Tal drehte sich zu ihm um und sagte: »Du gehorchst, aber beim nächsten Mal werde ich dich nicht übergehen.« Der große schwarze Mann nickte zufrieden. 

 

»Morgen«, sagte Kyon und Ughtred rollte mit den Augen wie ein wütendes Zackenhorn. Er konnte dieses ›Morgen‹ nicht mehr hören. Aber Tal nickte. Sie sah ein, dass es besser war, den Rotaugen Zeit zu geben ihre Ängste wachsen zu lassen. Mardor hatte zwei von ihnen eingesammelt und war gerade dabei Suppe aus ihnen zu kochen. Sie zog die Stirn in Falten, als er ihr ein Stück Fleisch reichen wollte und kämpfte mit der Reaktion ihres Magens. Burviole waren eindeutig keine Kostverächter. Ein Wunder, dass sich der Stamm draußen überhaupt getraut hatte anzugreifen. Wahrscheinlich waren sie nach dem langen Winter hungrig und hatten es auf die Lopen abgesehen. Wie auch immer, Morgen erschien ihr gut.

Also verbrachten sie die restliche Nacht und den folgenden Mittag in Muginas Horn, auch wenn sie Mardors Küche diesmal ablehnten. Erst als die beiden Tagesschwestern den Zenit über Kisadmur überschritten hatten, öffnete Ughtred erneut die Tür seiner Kammer und lugte in die Schatten des Waldes hinaus. Er wartete einen Moment, aber die Luft blieb frei von Pfeilen. Es gab auch keinen Nebel und so war er sich sicher, die Taverne diesmal unbehelligt verlassen zu können. Er trat ins Freie und lauschte, aber auch jetzt gab es kein Schwirren von Pfeilen. Schließlich rief er zum Aufbruch und Kyon ließ Odugme das Außengatter der Lopenunterkunft öffnen. Die Tiere waren froh in die Wildnis entlassen zu werden. Sie rangelten untereinande rund jede von ihnen versuchte als erste hinaus zu kommen. 

Mardor kam um das Haus herum und deutete auf einen Wildpfad, der zwischen den Tannen nach nördlicher Richtung führte. Die Wärme der Luft kündigte den kommenden Sommer an und überall schwirrten Insekten über den Bluten von Waldblumen. Es roch nach Sommerfrische und sich langsam erwärmendem Unterholz. So konnte es kaum verwundern, dass der ganze Zug gut gelant aufbrach und Muginas Horn hinter sich ließ. Hätten sie gewusst, dass der Weg sie durch eine wirklich üble Sumpflandschaft führen Würde, wären sie sicher anderer Stimmung gewesen.

Zwei Tage und Nächte war der Weg durch den Wald erträglich, doch dann wurde das Land immer feuchter und erinnerte an die Niederungen von Hyn. Gegen Morgen des dritten Tages gab es nur noch wenige Bäume und schließlich mussten die Reiter absteigen und die Lopen frei laufen lassen. Der Boden war nass, führte an Seen entlang und wies immer wieder Teerlöscher auf. Einmal stolperte Ughtred in eins dieser Löscher und konnte sich gerade so an den Hörnern der hinter ihm gehenden Lope festhalten. Doch auch das Tier rutsche in die schwarze Brühe und nur Odugme rettete die beiden davor unterzugehen. Er packte das Zackenhorn am Schwanz und hielt es fest, bis es aufhörte zu stampfen und Mardor helfen konnte es aus dem Dreck zu ziehen. Ughtred war über und über von Teer bedeckt und hatte seine liebe Mühe seinen Bart zu reinigen. Immer wieder strich er durch sein Gesichtshaar und machte einen mehr als betretenen Eindruck. 

Eine weitere Gefahr stellten die Parasiten dieses Landstriches dar. Es gab neben den allgegenwärtigen Mückenschwärmen seltsame flache Wasserzecken, die sich an der Haut festsaugten und ihren Wirt vergifteten. Tal untersuchte Kyon und gab ihm ein selbstgemachtes Gegengift und hätte beinahe den Befall der Lopen übersehen. Doch Odugme untersuchte die Tiere und so verlor die Hexe ihre Antidote, rettete aber wahrscheinlich mehreren Zackenhörnern das Leben.

Nach am selben Tag, an dem Tal alle nach Parasiten untersucht hatte, kamen sie durch einen lichten Wald mit seltsam dünnen Bäumen. Nasse Grashügel wechselten sich mit kleinen Tümpeln ab und die Luft stank nach Brackwasser und Moder. Kyon, der wie so oft die Führung des Zuges übernommen hatte hob seinen Blick und erschrak. In einer Höhe von über fünf Metern über seinem Kopf befand sich der gigantisch Schädel eines Schreitvogels. Er hatte die Beine des Tieres als Teil der Flora wahrgenommen, doch der gut und gerne zwei Meter lange Schnabel und die drei rötlichen Augen gemahnten ihn eines Besseren. Er hob die Hand, machte aber kein Geräusch. Der riesige Reiher stand keine drei Meter von ihm und der Lope auf der er saß entfernt und es wäre dem Vogel ein Leichtes gewesen, ihn mit seinem überdimensionalen, sehr spitzen Schnabel zu erstechen und mit Haut und Haaren zu verschlingen. 

Ughtred erschrak jedoch, als er ebenfalls einen der Riesenreier sah und schrie Alarm. Da bewegte sich der Wald um die Reisenden herum und nicht weniger als fünf der gigantischen, dunkelrot gefiederten Vögel setzten sich in Bewegung. Im ersten Moment dachten alle, es käme zum Kampf, aber die Vögel waren ganz offensichtlich ebenfalls erschrocken und traten die Flucht an. Sie hätten ohne Weiteres eine Lope verschlucken können, aber sie zogen es vor zu fliehen. Mit mehr als zehn Meter weiten Schritten eilten sie über die Hügel, trampelten durch Tümpel und verschwanden im Nebel des westlichen Horizonts.

Mador sagte ruhig: »Schmeckt wie Huhns …«

 

Mehrere Tage und Nächte ging die Reise weiter nach Norden. Tal fragte sich, warum das Gebirge links von ihnen verlief und warum der Weg nicht stärker anstieg, aber ihr Führer würde schon wissen was er tat. Und tatsächlich, drei Tagesreisen, nachdem sie die Tümpel der Riesenreiher hinter sich gelassen hatten begann das Land anzusteigen. Die Silhouette des Ardeyrt war nicht mehr als Gebirgskamm zu erkennen und stattdessen war der Horizont zu einem hellgrauen Band aus Nebel und düsteren Baumspitzen geworden. Die schwarzen Wälder von Kisadmur machten ihrem Beinamen alle Ehre. 

Auch wurde der Weg langsam immer beschwerlicher. Je dichter der Wald mit seinen nadelreichen Bäumen wurde, um so mehr Findlinge lagen im moosigen Unterholz und versperrten das eine ums andere Mal den Weg. Oft mussten sie stundenlange Umwege machen, weil riesige umgefallene Bäume oder gar unüberwindliche Schluchten den Weg versperrten. Auch die Pausen gestalteten sich nun immer schwieriger. Lopen konnten überall rasten und auch Mardor und Ughtred schienen damit kaum Probleme zu haben, aber es gab nur selten genügend Platz auf dem Waldboden, um das Zelt für die Silberwölfe aufzubauen und auch Odugme konnte sich nirgendwo ausstrecken. 

Dann, es war kurz vor einer der üblichen Mittagspausen, ahmte Mardor die Handbewegung von Kyon nach und brachte damit die Lopen zum Stehen. Er fuhr mit seiner riesigen Pranke durch die Baumwipfel mehrer Tannen und zeigte den Reisegefährten, was er entdeckt hatte.

Kyon nickte. Er hatte es auch gesehen. Über einen Meter zierten die Faust des Trolls. Er wedelte damit herum und schüttelte den Kopf. Dann sagte er: »Naivt. Nicht mehr weit.«

SIe rasteten unter diesen ersten Vorboten der Weißen Spinnen und als sie nachmittags aufbrachen, hatte jeder von ihnen ein ungutes Gefühl. Es war eine Sache sich das Nest der Riesenspinnen vorzustellen; jetzt jedoch ihre seildicken Weben vor Augen zu haben, zeichnete noch einmal ein ganz anderes Bild.

In der folgenden Nacht hatte Tal mehrmals das Gefühl, von vieläugigen, bleichen Gesichtern beobachtet zu werden und Kyon sprach sogar davon, auf eine Vision zu warten. Er bereitete sich darauf vor, aber seine Vorahnung erfüllte sich nicht. Am nächsten Morgen, die Tagesschwestern besprengten gerade die Baumwipfel mit ihrem roten Feuerhauch, hielt Mardor erneut an. Das Gelände war noch deutlich steiler geworden und nun waren überall zwischen den Zacken der Baumstämme die weißen Schleier des Spinnenvolkes zu sehen.

»Nicht weiter hier«, sagte der riesige Mann ohne weitere Vorwarnung und deutete auf den Boden unter sich. »Hier warten. Einige Tage, Nächte, hier warten. Mardor auf Zackentiere und Horntiere aufpassen. Wolf und Dämonen verteiben. Warten.«

Tal trat zu ihm hin und legte ihre schmale Hand auf eins seiner Knie. Sie nickte und sagte freundlich: »Wir verdanken dir viel Mardor. Es ist sher freundlich von dir, dass du hier auf uns warten wirst.«

Der Troll zog die Nase hoch und wischte sich mit dem Arm seiner Jacke den Rotz aus dem Gesicht. Weinte er etwa? Schließlich sagte er zwischen zwei tiefen Seufzern: »Ihr nicht wiederkommen. Tot. Spinnen fressen.«

Tal blickte zu Boden. Dann erwiderte sie mit einem gefährlichen Unterton der nicht Mardor, sondern allen Gefahren ihrer Unternehmung galt: »Wir sind Smavari. Ich bin eine Hee des Doppelmondes. Wir führen den Chaosschild und Raguels Speer mit uns. Wir haben den besten Bogenschützen dieser Welt in unseren Reihen, den besten Dieb und den treuesten Träger. Wir sind auf dem Weg einem Feuerberg die Stirn zu bieten. Ich fürchte keine Spinnen!«

Mardor schnaubte etwas beruhigt und wandte sich Ughtred zu, der begonnen hatte die Lopen zu entladen.

Gemeinsam nahmen sie ein letztes Mahl zu sich und lehnten, wie alle Male zuvor Mordors Trockenhobgoblinfleisch dankend ab. Es waren noch einige Stunden bis zum Mittag und so entschieden sich die Abenteurer aufzubrechen. Außerdem schien der Wald ohnehin immer undurchdringlicher zu werden. Zwar gaben ihm die weißen Schleier zwischen den Bäumen einen seltsam phalen Anstrich, doch offenbar hielten die Gespinste dennoch die Kräfte der Tagesgestirne davon ab, ins Reich der Weißen Mütter einzudringen.

Die vier Gefährten wanderten durch ein unreales Reich aus Fäden und Zeitlosigkeit. Bald war überhaupt nicht mehr zu erkennen, ob Tag oder Nacht war. Die hellen Gespinste schienen tatsächlich zu leuchten und über ihnen zusammen mit den Bäumen ein undurchdringliches Dach zu bilden. Der Weg war uneben, aber es gab nach wie vor eine Art sichtbaren Pfad und Tals untrügliches geographisches Empfinden zusammen mit dem Wegekristall der Nygh aus Undorn, konnten sie sicher sein, sich nicht verlaufen zu haben. Anders war es ganz eindeutig anderen gegangen, die versucht hatten das Naivt zu finden. Immer wieder zeigten reglose, zwischen den Baumstämmen baumelnde Gestalten von solchen Versuchen. Schwarze, leblose Dinge hingen kopfüber zwischen den dornenreichen Stämmen und bezeugten die hungrige Gesinnung der Bewohnerinnen dieses Reiches. Tal umklammerte den Griff des Speeres und überdachte ihre Aussage. Es schienen durchaus viele Spinnen hier zu hausen. Und groß waren sie offenbar auch. Doch als sie schließlich der ersten der Weißen Mütter von Angesicht zu Angesicht begegneten schalt sich die Hexe stumm ihres Hochmutes wegen. 

Gerade hatte Ughtred allen geraten, das extra zu diesem Zweck mitgebrachte Spinnenseil sichtbar um die Schultern zu legen, als Tal aufsah und in einer der Baumkronen direkt über ihrem Kopf eine gewaltige unförmige gewahr wurde. Neben ihr wollte Kyon die Hand nach seinem Bogen ausstrecken, aber Tal machte einen Schritt von ihm weg und hob beschwichtigend die Hand. Schnell griff sie in die Sphäre der Anderwelt und erkannte das riesige Wesen über ihr. Sie versuchte seine Sprache aus den feinen Fäden des Äthers zu ziehen und es gelang. In der Sprache der Spinnen sagte sie holprig: »Wir sind Freunde.«

Das Wesen hatte einen Leibesumfang von gut und gerne zwei Metern und seine Beine mussten wenigstens doppelt so lang sein. Ughtred fragte sich, warum alles außerhalb von Korezuuls Grenzen riesig sein musste. Hatte sich das Land an die Silberwölfe angepasst? Nyghs waren klein, also waren auch die Tiere ihres Landes klein!? War es das? 

Er schluckte, als er mitansah, wie sich der gewaltige scheußliche Leib des Wesens seinen Weg zwischen den Baumstämmen herunter bahnte und endlich aus seinen eigenen Spinnfäden hindurch sichtbar wurde. Und was war dies für ein schrecklichen Anblick? Die Spinne hatte ein flaches Gesicht mit einer Unzahl schwarzer, lebloser Augen, die scheinbar ohne Ordnung hier platziert worden waren. Am unteren Teil des hässlichen Kopfes hingen zwei armlange Glieder, die in dicke, fast ebensolange tief schwarze Fangzähnen ausliefen. Direkt hinter dem Kopf begann der unglaublich feiste Leib. Die Haut darüber schien zum Platzen angespannt zu sein und wies eine ungesunde, von hellblauen Fasern durchwachsene Färbung auf. Am schlimmsten aber waren die dicken Beine, von denen jedes zwei riesige, gekrümmte klauen aufwies. Dicke und grotesk lange Haare standen kerzengerade von diesen Gliedern ab und wirkten dabei wie Kyons Pfeile. Hätte er auf dieses Wesen geschossen, seine Pfeile wären zwischen diesen Tasthaaren untergegangen.

»Essen, süßes Essen«, sagte die Spinne zu Tal und hob ihre Fangzähne. Doch als Tal erneut beteuerte, eine Freundin zu sein, hielt sie inne.

Die Hexe überlegte einen Herzschlag lang, griff nach dem soll um ihre Schulter und sagte dann frei heraus: »Ich bin eine der kisadmurischen Doppelmondhexen und dies ist ein smavarischer Edelmann auf einer Queste. Wir vier erbitten freies Geleit zum Naivt, dem Heim von Frau Spinne.«

Sofort spürte sie an der Reaktion der Spinne, dass sie den falschen Ton angeschlagen hatte. Hinzu kam, dass über ihren Köpfen weitere Riesenleiber die fremden Besucher zu beobachten schienen.

Die Spinne vor Tal hob aggressiv die Vorderbeine und zischte: »Keine Schwestern, Essen, Essen!«

Sie versuchte sich auf Tal zu stützen, doch die Hexe reparierte blitzschnell. Sie riss den langen Speer hoch, durchtrennte ein Bein der Angreiferin und rammte ihr dann die Klinge mitten in das flache Gesicht. Zischend und spuckend wand sich die Spinne, drehte sich schmerzerfüllt auf den Rücken und als Tal ohne Gnade ein weiteres Mal mit dem Speer nach ihr stach, verebbte die Gegenwehr gegen das unvermeidbare Ende. 

Zwei weitere Weiße Mütter hatten sich von den Bäumen herab gelassen und zum Angriff bereit gemacht und hinter ihnen lauerten unzählige weitere ihrer Schwestern.

Ughtred, Odugme und Kyon zogen schnell ihre Waffen, aber diesen Kampf konnten sie nicht gewinnen. Zwischen den Stämmen der schwarzen Bäume wimmelte es plötzlich von Beinen und einem seltsam toten und dennoch hungrig dreinblickenden Meer von schwarzen Augen.

Da erhob Tal abgelaufen die Stimme und sagte in der zischenden Sprache der Weißen Mütter: »Schwestern, hier ist nichts zu essen. Sucht anderenorts. Wir sind auf dem Weg zur großen Mutter.« Sie hatte erkannt, dass es hier keinen Austausch in diesem Sinne geben würde. Die Spinnen waren einfach geistig nicht rege genug dazu. Sie mussten nur überzeugt werden, es mit ihresgleichen zu tun zu haben.

Trotz dieser erneuten Ansprache kamen die riesigen weißen Arachnieden näher gekrochen. Sie hoben die Vorderbeine und zischten immer wieder: »Essen, süßes Essen, Nahrung …«, doch Tal blieb ruhig und ignorierte auch die tote Spinne zu ihren Füßen. Dann schien der Zauber zu wirken. Zuerst beruhigte sich eine der Weißen Mütter, dann die nächste und schließlich zogen sie ohne Anzeichen weiterer Emotionen ab. Der Weg zum Naivt war frei. Und was für ein Weg des Schreckens war dies? Je weiter die Abenteurer in den gruseligen Wald vordrangen, umso mehr leblose Hüllen hingen in den Bäumen. Es roch nach etwas säuerlichem und überall waren zwischen den endlosen Spinnweben die Leiber der Riesenspinnen zu sehen. Stunde um Stunde ging es durch diesen Wald der Schrecken, bis Kyon auf etwas auf dem Weg deutete. Tal trat neben ihn und strich Spinnweben von der Speerspitze und dann langte sie nach einem besonders dicken Faden, der sich in Ughtreds Bart verfangen hatte.

Vor den vier Abenteurern erstreckte sich, der unendlichen Spinnweben geschuldet kaum zu erkennen, eine Erdspalte, die ihnen den Weg versperrt hätte, wäre da nicht die seltsamste Brücke gewesen, die sie je gesehen hatten. Über eine Entfernung von gut und gerne dreißig Metern wurde der Abgrund von einem Konstrukt aus versteinerten Spinnweben überspannt. Das Material glitzerte in der ewigen Feuchtigkeit dieser Umgebung und hatte im Laufe der Zeit eine seltsam kristalin anmutende, schimmernde Farbe angenommen, die weder als Grau, noch als Blau bezeichnet werden konnte, aber dennoch in der Reichweite beider Begriffe lag.

Rechts und links dieses unwirklichen Bauwerkes befanden sich Statuen Weißer Mütter von geradezu unglaublicher Größe. Sie sahen täuschend echt aus, hatten aber einen Leibesumfang von fast vier Metern. Ihre Beine, die sie unter sich zusammengefaltet hatten, mussten länger als ein moraidischer Wellenbrecher sein. Doch halt, was war dies für ein kranker Zauber? Gerade als Tal auf die Brücke treten wollte, ging ein abstoßendes Krachen und Knacken durch die linke der beiden Statuen und da bewegte sich auch schon ein erstes Bein.

Von unsäglichem Grauen erfüllt, mussten die vier Gäste des Spinnenwaldes mitansehen, wie die größte Spinne aller Zeiten zum Leben erwachte, sie einen Herzschlag lang stumpf und ausdruckslos anstierte und sich dann der Brücke zuwandte. Sie hatte von den Fremden Notiz genommen und nun konnte ihr Verhalten nur als Einladung ihr zu folgen verstanden werden. 

Ughtred rieb sich über die Stirn und fühlte, wie ihn die Kraft der Großen Mutter durchströmte. Auch Tal schien Trost in ihrem Glauben zu suchen, denn ihre Lippen murmelten tonlose Zauberformeln und ihre Hände beschrieben uralte und fremdartige Zeichen. Kyon war fahl wie eine gekalkte Wand und rührte sich nicht und nur Odugme schien mehr oder weniger unbeeindruckt von der Ungeheuerlichkeit des nun über die Brücke kriechenden Wesens zu sein. Er stand aufrecht und schien seit längerem derart mit seinem Leben abgeschlossen zu haben, dass ihn selbst die gigantischste aller Spinnen nicht mehr schrecken konnte.

Ughtred berührte Tals Schenkel und machte ein schnalzendes Geräusch mit der Zunge. Die Hexe sah zu ihm herunter und nickte grimmig. Die Einladung einer unsterblichen Smavarizauberin sollte man niemals ablehnen. Sie machte den ersten Schritt auf die Brücke und die anderen folgten ihr.

Auf der anderen Seite des versteinerten Gebildes befand sich ein Weg, der von Spinnweben verhüllt wurde. So betraten die Abenteurer einen Tunnel aus klebrigem Tod und auch hier waren in der Tiefe der Spinnenweben Leiber und Knochen früherer Gäste zu erkennen. Der Tunnel hatte einen Durchmesser von bestimmt sechs Metern und ließ der Riesenspinne genügend Raum, sich problemlos fortbewegen zu können. Er führte auf einen ebenfalls von Spinnweben überdachten Platz, der sich vor einer Wand aus wiederum versteinerten Netzen befand. Zwar war, der unzähligen Weben geschuldet, die Architektur des Naivt kaum zu erkennen, aber es war klar, dass es der urtümlichen smavarischen Natur folgte. Es gab keine erkennbare Geometrie oder Logig und dennoch war klar zu erkennen, dass hier ein genialer Geist seiner Kreativität freien Lauf gelassen hatte. Durch ein ungleichmäßiges Bogentor führte die Riesenspinne ihre Gäste in einen Dom aus glitzernder Glorie. Die Luft war noch feuchter als im Wald und fast unangenehm warm und stickig. Hinter dem ersten Dom schloss sich ein zweiter an und danach ein Dritter und dieses Bauwerk musste eine Deckenhöhe von über dreißig Metern haben. Hier blieb die Spinne stehen, zog ihre riesigen Beine unter den Körper und wartete reglos der Dinge, die da geschehen mochten.

Die Vier sahen sich in der Endlosigkeit des Naivt um und versuchten den Zweck der gigantischen Ausmaße zu verstehen, aber es gab weder Unterkünfte, noch sichtbare Aus- oder Eingänge. Gerade wollte Tal in die Höhe rufen, da entstand an der höchsten Stelle des Domes eine Art weißer Tropfen. Das Ding schien sich langsam zu drehen und wuchs, je länger es wurde und sich dem Boden näherte immer mehr an. Als es nur noch wenige Meter über dem Erdboden war, hielt es an. Es bestand ganz und gar aus Spinnweben, aber oben war keine Spinne zu erkennen. Dann drehte es sich eine halbe Umdrehung weiter und ließ erkennen, dass es auf der Rückseite hohl war und eine Art, an der Decke hängender Thron war. In diesem unirdischen Ding, saß, mit geradem Rücken und in übernatürliche Schönheit gehüllt Danaiy Kaar, Frau Sinne, die Mutter der Arachnieden.

Ihre Haut war weiß wie die Gespinste ihrer grausigen Kinder und ihre Augen waren wie graue Halbedelsteine, die die Endlosigkeit der Galaxie widerspiegelten. Sie war weder Leben noch Tod, nicht Materie noch Geist, alt wie die Idee von Schönheit, Last und unendlicher Hingabe zu traurigen Gedanken. Sie war der Inbegriff der Blutdrinkerinnen und jeder, der sie besuchte, musste wissen: egal wie dieser Besuch ausginge, er würde hier Federn lassen.

Tal verbeugte sich vorsichtig und sagte mit unsicherer Stimme: »Frau Spinne, ich bin Elisha Yt`Talan ven Arudsel, Schülerin des Zirkels der Doppelmodhexen von Shishney.« Sie stockte und die fremdartige Frau sah sie emotionslos an. Dann wandte sich die junge Hexe Kyon zu, überlegte viel zu lange und sagte dann stotternd: »Dies ist Kyon …«, eine Pause und dann: »Und Ughtred und Odugme.«

Die Mutter der Spinnen öffnete ihre Lippen und es war zu erkennen, dass sie dies vor langer Zeit das letzte Mal getan hatte. Welcher Hunger musste in diesem alten Geschöpf wüten?

»Kyon, nur Kyon, welch unförmlicher Name. Kann er sprechen?«

Kyon räusperte sich, aber Tal kam ihm zuvor und sagte hastig: »Sliyn, er ist ein Sliyn.«

Frau Spinne blickte auf, wusste aber, dass Kyon nun selbst für sich sprechen musste.

Er räusperte sich erneut und sagte mit gewohnt ruhiger Stimme: »Ich bin Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor und lebe ebenfalls in Shishney. Weder Gilde noch Zirkel haben Einfluss auf mein Sein, doch ich begehe eine Queste, die mein Vater, der Abenteurer Sliyn Lonkaiyth dan Y`shandragor mir nach seinem Tode auferlegte. So sind wir hier, die wir vor euch stehen, auf der Suche nach der Schwarzen Perle von Grandband.«

»Schwarze … Perle …«, wiederholte sie und dann mit einem seltsam fremdländischen Dialekt: »Granbaux.«

In diesem Moment erhielten die Zeit und das ganze Multiversum einen Riss. Der Spinnendom erzitterte und die Eruption erstreckte sich über Kisadmur, erreichte binnen einer Sekunde den Rest der Tiba Fe und erzeugte eine Schockwelle, die den Lauf aller Dinge für alle Zeiten beeinflussen würde. Eine schier endlose Zal von Abenteurern jeder schon existierender oder noch kommender Spezies hielten, bei was auch immer sie gerade taten inne und blickten auf. Die vier im Dom der Spinnenherrin senkten die Köpfe und warteten auf einen kuriosen, unbeschreiblichen Tod. Doch dann ging dieser Moment, der keiner war, der nie geschehen würde, aber alles Sein veränderte zuende, wie es jeder Moment tat der jemals stattfand. Die bleiche Frau blickte auf und sagte mit einem seltsam schrecklichen Verstehen in der kühlen Stimme: »Ich habe euer Schicksal gesehen. Es ist interessant, sich damit zu beschäftigen.« Als wäre damit alles zu diesem Thema gesagt, wandte sie sich Tal zu und fragte: »Uman? Ist dies ein Uman?«. Sie deutete mit einem ihrer spitzen Finger auf Odugme.

Tal, die aus ihren Gedanken und Schrecken gezogen wurde sagte: »Nein, er ist ein Phani.« Sie wusste nicht, was ein Uman war und versuchte einfach nur zu retten was zu retten war.

»Er ist wunderbar – animalisch und dennoch von einer unschuldigen Sündhaftigkeit erfüllt. Ich möchte ihn kosten.«

Um ihre Fassung ringend kann Tal den anderen zuvor: »Er«, sie schluckte und sagte dann sicherer: »Er ist unser Freund und er bedeutet uns viel. Bitte verschont ihn.«

»Danny hört nicht gerne was sie tun soll.« Die Mutter der Spinnen sprach ihren eigenen Namen verzerrt und fremdartig aus. Es klang nicht smavarisch oder in sonst einer Weiße passend zu Raum und Zeit in der sie sich befand. Sie verzog dabei ihre Lippen und Tal fühlte sich ein wenig an sich selbst erinnert, wenn sie etwas nicht bekommen sollte, auf das sie einfach nur Lust hatte – und dieser Gedanke machte ihr große Angst.

Doch Danny schien den Phani schon vergessen zu haben und wandte sich stattdessen wieder Kyon zu. Würde sie ihn auch kosten wollen?

Einen kurzen Moment trafen sich die Augen der beiden Wesen. Unendlichkeit, unendliche Macht, unendliche Trauer, unendlicher Verlust trafen auf die selben gefühlen in ihrer puren jugendlichen Form. Da traten Tränen in die sonst so leidenschaftslosen Augen dieses alten Wesens. Doch auch dieser Moment verging, denn er war der Wimpernschlag eines Schmetterlings im Leben von Frau Mutter.

Kyon öffnete die Lippen und wollte etwas sagen, aber dann erinnerte er sich an die Worte seines Vaters im Tagebuch:

›Oft dachte ich an die schöne Spinnenfrau. Kaum eine andre Tochter der Silberwölfe reicht an ihre Grazie, doch auch hier ist Vorsicht angeraten. Eben noch wähnt man sich in lieblicher Umarmung und schon trinkt die Zauberin den Lebenssaft des unglücklichen Wanderers. Der Trick ist Wahrheit und Geduld, denn fragt man sie um Hilfe, wird sie Niederes von jenem Bittsteller halten. Doch verbringt man Zeit mit ihr und spricht von ehernen Gefahren, wird sie ganz von selbst zu Hilfe eilen.‹

So sagte er: »Wisst ihr von meinem Vater?« War es dies? War dies der Antrieb, der ihn all diese Abenteuer bestehen ließ? Sein Vater war ein Geist. Seine Mutter hatte ihm gesagt, er wäre endgültig von ihr gegangen und würde sie nun in Frieden lassen, doch was war mit ihm, dem trauernden Sohn?

Danaiy Kaar hob das schöne Kinn und nickte dann freundlich. Sie zögerte einen Moment, sagte dann aber: »Nichts ist festgeschriebene Wahrheit. Alles ist in Bewegung. Ihr seid ein wahrer Abenteurer und werdet eure Bestimmung erfüllen. Ich sehe alles, all eure Wege in allen möglichen Formen. Doch ihr werdet Hilfe brauchen.«

Später erinnerten die Besucher des Naivt sich kaum noch an das weitere Gespräch mit Danny. Doch in ihren Herzen verschmolz ihr Bild, welches diese Frau in ihnen hinterlassen hatte zu einer Mischung aus unbeirrbarer, chaotischer Naturmacht wie die einer Sonne und einer, auf eine sonderbare Weise fürsorglichen, einsamen Frau. Sie gab ihnen sanfte Ratschläge, lächelte über vergangene Kapriolen und nannte Ughtred Eichhörnchen. Zum Abschied versprach sie als Geschenk das Gift ihrer Kinder und tatsächlich, fanden die Vier am Ende der versteinerten Brücke vier große, in Spinnennetzes eingehüllte Amphoren, in denen sich das gefährliche Nass befand. Tal würde daraus einen Sud brauen, die jede beliebige Waffe in ihrer Tödlichkeit verstärkte. So hatte es der Abenteurer Lonkaiyth aufgetragen, und so war es gekommen.

 

Der Weg aus dem Naivt gestaltete sich ganz anders als der hinein. Wo es auf dem Hinweg zu einem Gefühl der Verwirrung und der Orientierungslosigkeit und gar zum Verlust der Realität gekommen war, empfanden die Abenteurer den Rückweg als absolut unproblematisch. Geradezu beschwingt schritten sie durch den von Spinnweben durchzogenen Wald und selbst wenn sie rasteten, kamen keine unangenehmen Gefühle auf. Die allgegenwärtigen Toten in den Gespinsten waren Teil einer Realität, die man Akzeptieren konnte, wenn man klar vor augen hatte, dass man ihr selbst fern bleiben würde. Zwar war auch auf diesem Weg nicht erkennbar, wann sich Tag und Nacht abwechselten und auch jetzt schien es, als ob keiner der Vier zu jeder Zeit wirklich wach wäre, doch als sie schließlich die letzte Barriere aus Weben und verlorener Zeit überschritten und das Reich der Weißen Mütter hinter sich ließen, kam es ihnen vor, als wenn sie nicht einmal die Hälfte der Zeit des Hinweges hinaus gebraucht hätten.

Hinzu kam, dass sie die Realität Kisadmurs an der selben Stelle erreichten, an der sie in den Wald von Frau Spinne eingedrungen waren. Es war Ughtred, der zwischen den zackigen Bäumen hindurch auf einen Punkt im Wald deutete und rief: »Da, da ist Mardors Feuer!«

Und wirklich, in der Feuchtigkeit eines frühen Waldmorgens prasselte ein großes Feuer. Sie traten näher heran und sahen den Burivol auf der Seite liegend. Eine der Lopen hatte sich an seinen Rücken geschmiegt und genoss den Schutz durch den riesigen Troll. Als die Tiere, die herannahenden Freunde witterten, sprangen sie auf und freuten sich. Auch Mardor richtete sich auf. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er niemals mit der Rückkehr der vier Abenteurer gerechnet hatte und auch jetzt, da er sie vor sich sah, war er sich ihrer Realität alles andere als sicher.

 

Auf der Rückreise nach Ongaiyd kam es zum Glück zu keinen nennenswerten Katastrophen. Dennoch war sie alles andere als leicht. Es hatte angefangen zu regnen und die Hänge wurden schnell schlammig, was brachten die Gefahr mit sich brachte, abzurutschen und über irgend einen Abgrund in die Tiefe zu stürzen. Bei Starkregen, waren die Gebirgsausläufer mit ihren riesigen glatten Findlingen und den nicht wirklich vorhandenen Pfaden eine sehr gefährliche Wegstrecke. Mardor tat was er konnte, den Weg so einfach wie möglich zu halten, doch gegen die Elemente und das Wetter konnte auch er nichts tun. Es dauerte einige Tage und Nächte, bis die Muginas Horn erreichten und sich müde in den Schutz der riesigen Hütte schleppten. Mardor musste mehrere Hobgoblins ausfegen, die sich zwischenzeitlich wie die Mäuse Einlass verschafft hatten aber nach kurzer Zeit – sein Autofeuer und die Lichter funktionierten trotz der ungebetenen Gäste – konnte man es sich in der Taverne gemütlich machen und ausruhen. 

Der Abschied von dem großen, ehemaligen Soldaten der smavarischen Armee viel ihnen schwer. Mardor verzog zwar keine Miene, aber es war ihm dennoch anzusehen, dass er das kleine Abenteuer mit seinen einstigen Dienstherren genossen hatte. Er war alt und auf seine Weiße verbraucht, aber ein wenig seines alten Kriegsgeistes war ihm geblieben und es war durchaus ersichtlich, dass man seine Art eigens zu diesem Verhalten geschaffen hatte. Sie verabschiedeten sich und selbst die Lopen, schienen sich schwer von dem Troll zu trennen. Tal sprach mit ihnen darüber und sie beteuerten, den großen Zweibeiner im Sommer erneut zu besuchen. Warum auch nicht? Sie waren frei.

 

Ongaiyd lag unter einem dichten Regenschauer verborgen. Die Lopen blökten froh, als sie die Ansiedlung witterten und beschleunigten ihre Schritte. Auch sie hatten die Nasen voll vom schlechten Wetter und wollten unter die Abdeckungen ihrer Leihe. Lady Udaiy Virith yr Sheamith begrüßte die Tiere überschwänglich und nickte den Abenteurern zufrieden zu. Es war ihr anzusehen, dass sie nicht damit gerechnet hatte, alle Tiere oder gar die Reiter wiederzusehen. Tal fragte sich warum die Frau schon wieder ein derart schmutziges Gesicht hatte, unterließ es aber zu fragen. Sie war genauso müde wie die anderen drei und wollte nur noch schlafen. So begaben sie sich zum Holzhafen und dort ins Bodenlose Loch, wo sie nach wie vor Kredit hatten und zuerst eine warme Suppe zu sich nahmen und dann ihre Kammern aufsuchten, um sich gründlich zu erholen.

Erst am nächsten Abend erwachten die beiden Smavari und trafen sich in der Stube mit Ughtred, der wie immer zu dieser Zeit einen Tag hinter sich hatte. Sie berieten wie es weiter gehen sollte und kamen noch einmal überein, dass man natürlich von hier aus direkt versuchen würde Raugnith zu erreichen. Ein Hafenarbeiter bestätigte, dass es hier nur ein einziges Schiff gäbe, dass in die nordöstliche Wildnis führe und dies sein die Jagende. Kyon seufzte laut und ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken. Ughtred hätte ihm beinahe die Hand auf den Kopf gelegt, konnte den Impuls aber gerade so unterdrücken.

Tal sagte: »Was solls? Wir haben schlimmeres erlebt.«

Das mochte zwar stimmen, aber der Flug von Shishney hierher konnte man kaum als Ansporn für eine weitere Flugschiffreise betrachten und Kyon hatte die Jagende gesehen. Das Ding war ein Wrack. Hinzu kam, der ganz eindeutig ähnlich marode Verstand ihres Eigners. Doch Kyon erhob sich vor den erstaunten Augen der anderen beiden und blickte zur Decke der Kaschemme empor, als könne er durch sie hindurch zur Plattform des Holzhafens hinüber sehen. Er hob die Schultern, sog die Luft ein und sagte: »Ich mache das!«

 

Die Luft war immer noch regenverhangen als Kyon allein die Stufen zum Holzhafen von Ongaiyd hinauf stieg. Er war müde, aber er konnte sich gar nicht so recht erinnern, wann er das letzte Mal nicht müde gewesen war. Als er die Plattform erreichte, schüttelte er nur den Kopf. Das einzige Schiff hier schwebte, mit dem vorderen Bereich des Kiels die hölzernen Planken der Plattform berührend und wies mit dem Hinterteit in einer Schräge gen Himmel. Gerade waren einige Quink dabei die Leinen die den Bug hielten zu lockern, um der Jagenden die Möglichkeit zu geben, sich aufzurichten.

Er rief einen der Matrosen zu sich und fragte nach dem Kapitän des Schiffes. Der Quink schnifte und deutete auf das Wrack. Kyon wollte wissen, wie lange es dauern würde, bis man das Schiff als normaler Smavari betreten könne und der Matrose beteuerte, dass dieser Zustand bald erreicht sein würde. So setzte sich Kyon auf einen der Poller und zündete sich eine Pfeife an. Er inhalierte den Rauch und blickte über Ongaiyd. Warum das alles? Er zuckte mit den Schultern und beförderte den Kristall seines Vaters zutage. Er dachte an Northrian und den Beginn der Reise. Drachenodem und Spinnengift – dieses Schiff würde ihn nicht umbringen. Von seinen eigenen Gedanken überzeugt erhob er sich nach einer halben Stunde und befahl den Quink eine Planke zu etablieren. Dann stieg er die Stufen der Planke hinauf und betrat das wackelige und von Löchern verunstaltete Deck der Jagenden.

Kapitän Yrnesdt bor Nyrath Thirath empfing ihn und Kyon verwarf allen Mut. Dieses Schiff bedeutete sein Ende.

Yrnesdt war ein dürrer, uralter und äußerst neurotischer Geselle. Er hatte ein eingefallenes, von tiefen Falten durchzogenes Gesicht und einen aufgeregten, wässrigen Blick. Seine Ohren standen in unterschiedlichen Winkeln von seinem Schädel ab, den ein Kranz schütteren, grauen Haares umrahmte. Ständig fummelte er mit seinen spindeldünnen Fingern in seinem Gesicht herum und machte damit einen irgendwie erschrockenen Eindruck auf Kyon.

»Jaaaaaaa, neeeeiiiin, dieses Schiff fährt, nein es fliegt sogar!«, sagte der Verrückte Kapitän, ohne das Kyon ihn gefragt hätte.

Der Barde nickte und sagte: »Raugnith?«

»Die Festung, die Trauuuuuer, dahin gehtˋs … Ja.«

DerKapitän machte eine kurze Pause, sagte aber dann: ›Jaaaaaaa, neeeiiiiin, dahin geht kaum ein Weg.«

Kyon unterbrach ihn und sagte: »… und darum werdet ihr mich und meine Gefährten dorthin bringen. So wird es kommen. Und ihr braucht auch keine Bezahlung dafür!«, versuchte der Barde sein Glück.

»Vorsehung es ist und ich brauche keine Bezahlung!«, wiederholte Yrnesdt und nickt als er hinzufügte: »Ihhhhr habt keine Wahl! Ihr müsst, wir müssssseeeeen!«

Kyon und Yrnesdt rollten beide mit den Augen, wenn auch aus verschiedenen Günden. Dann ging Kyon ohne ein weiteres Wort zu verschwenden. Der Kapitän war verrückt, aber wer war wohl irrer, dieser arme verlorene Geist oder jene, die sich in seine Hände begaben?

Einige Minuten später berichtete er vom Glück, welches über die Unternehmung gekommen war. Nicht nur, dass es ein Flugschiff nach Raugnith gab, nein, man wurde eingeladen ohne Kosten die Passage zu genießen. Tal und Ughtred sahen ihn mit genervten Blicken an, standen auf und begannen zu packen.

 

Tief unter Raugnith

Am nächten Morgen, aus Ughtreds Sicht war es natürlich noch Nacht, ging es los. Der Kapitän erklärte zur Sicherheit erneut, wie wichtig die Reise nach Raugnith war, und dass auf keinen Fall Ressourcen dafür verlangt werden dürfen. Er würde unter keinen Umständen etwas dafür bezahlen, die Passagiere an Bord zu nehmen. Zähneknirschend und dann lächeln, nahm Kyon dieses Los an und wunderte sich danach über sich selbst. Er würde auf diesem Geisterschiff sterben. Vielleicht wäre es tatsächlich angebracht gewesen, wenigstens etwas von dem Todeskapitän für seinen Spaß zu verlangen.

Die Jagende erhob sich mit einem Seufzer, der wie die letzten Laute eines weidwunden Tieres klangen und krachte dann derart laut, dass Ughtred am liebsten direkt über Bord gesprungen wäre.

Langsam und mit zerfledderten Segeln drehte sich das Schiff in den Wind und nahm Fahrt auf. Im Süden waren die Gebirgsausläufer zu sehen, aber Ongaiyd lag zu tief, um viel erkennen zu können. Der Bug drehte sich nach Nordosten und hier kam ein endloses Nebelfeld in Sicht. Zuerst zogen die Niederungen der kisadmurischen Wälder unter der Jagenden vorüber, aber dann wurde der Boden immer nebelverhangener und bald war es, als durchpflügten sie ein Meer aus weißer Gicht. Selbst als die Stunden dahinschmolzen und die Tagesgestirne versuchten die Silberwölfe an Bord des Schiffes zu verbrennen, ließ der Nebel und der bewölkte Himmel nichts Dergleichen zu. Die Welt bestand aus flüssigem, graublauem Stahl und keine Macht des Universums schien daran etwas ändern zu können.

Stunde um Stunde glitt die Jagende durch diese Welt aus Zwielicht und verlor sich immer mehr in der Unendlichkeit der kisadmurischen Wildnis. Schon lange waren keine Städte oder Tavernen zu sehen gewesen und wenn sie dort unten, zwischen den Gipfeln der dunklen, aus dem Nebel ragenden Bäume sein sollten, waren sie hier oben in Vergessenheit geraten.

Erst in tiefster Nacht änderte sich das Landschaftsbild. Kyon stand mit einem der Matrosen am Bug des Flugschiffes und wunderte sich gerade über die so ganz und gar gelungene Fahrt. Da veränderte sich langsam, aber für seine scharfen Augen unverkennbar der Horizont. Wo eben noch eine Wüste aus Sümpfen, Auenlandschaften und nebelverhangenen Wäldern zu sehen gewesen war, blockierte nun ein dunkles Band, das nach oben hin immer heller wurde die Sicht. Am oberen Rand dieses endlosen Hindernisses wurde es immer heller und ging schließlich in eine graublaue, von Lichtblitzen durchzuckte Masse über, die noch weiter oben zu einem tief schwarzen Sternenhimmel wurde. Der Tiradnische Rücken trennte die nordöstliche Wildnis vom Rest der Tiba Fe. Dieses Gebirge war so gewaltig, dass niemand es zu überwinden vemochte. Weder Lopen, noch Waldläufer und auch keine Flugschiffe konnten es bezwingen. Kyon wusste nicht genau, was sich auf der anderen Seite dieser gewaltigen Barriere befand, vermutete aber hier die Länder Tiradnai und Arigin. Sein Vater hatte ihn diese Namen gelehrt, doch er konnte sich kaum noch an die Geschichten darüber erinnern. Es war, als hätte der Drache nicht nur den Leib, sondern auch die Vergangenheit des Abenteurers gefressen. Seinem Sohn zumindest, hatte er ein düsteres, schwer begreifbares Erbe hinterlassen. Arigin zumindest wurde nicht von Smavari bewohnt. Dunkle Wälder in denen geflügelte Blutsauger hausten. Und Tiradnai war angeblich ein Land mit vielen Flüssen und hier lebten der Sage nach Nyghs, oder zumindest Wesen, die diesen glichen. Sie waren Fischer oder Fischjäger, aber er hatte noch nie jemanden kennengelernt, der einen Tiradnai oder wie auch immer man diese Leute kannte. Er nahm sich vor, den Stumpen danach zu fragen. Die Korezuulen waren wahrscheinlich Nachbarn dieser Lande und der Dieb gab ja gerne einmal mit seinem Wissen an. Kyon durfte es nur nicht so offensichtlich machen. Er würde vorgeben schon alles zu wissen und nur darüber plaudern zu wollen. Ughtred war zwar nicht gerade redseelig, aber wenn es um den Austausch von Geschichten ging, taute er oft auf und redete wie ein Gebirgswasserfall.

Unten in der Ebene schien sich die Landschaft nun ebenfalls zu verändern. Die weiten Nebelfelder lichteten sich in der Dunkelheit der Nacht und gaben den Blick auf eine weite Seelandschaft im Norden und eine Tundra weiter südlich zu. Kyon wusste nicht genau wie hoch die Jagende derzeit flog, und er vermied es nach unten zu sehen, aber er konnte vor allem im Süden extrem weit sehen. Mit einem entsprechend guten Fernrohr hätte er vielleicht sogar Angaworth auf der Ostseite des Odoreys sehen entdecken können. Er wusste nicht, dass er in Wahrheit immer noch auf die Gebirgsflanke der Ardeyrt sah und sich sein Heimatgebirge viel weiter südlich befand. Vielleicht hätte er bei den Lehrstunden seines Vaters doch besser aufpassen sollen.

Er wollte schon gehen, da kam Tal aus dem geschundenen Unterdeck des Schiffes, entdeckte ihn und kam zu ihm an die Reling. Sie sagte nichts und blickte nach Nordosten, ihrem Ziel entgegen. An ihn gelehnt strich sie sich die flatternden Haare aus dem Gesicht und ließ die kalte Luft auf sich wirken. Kyon versuchte sie zu verstehen, im Äther zu finden, aber so oft er dies auch anstreben mochte, er würde sie niemals finden. Er dachte an das Verhältnis zwischen seiner Mutter und seinem Vater. Er hatte sie oft heimlich beim Sex beobachtet und konnte sich durchaus an ihre Leidenschaft erinnern, aber Lonkaiyth war auch in diesen Dingen nie ganz bei der Sache gewesen und er meinte, seine Mutter hätte sich oft darüber beklagt und zu entsprechenden Hilfsmitteln gegriffen. Gab es glückliche und erfüllte Beziehungen unter den Smavari? Waren sie nicht alle zu wirr kalt und auf allen Gefühlsebenen kurzangebunden?

Er unterdrückte den Impuls YˋTalan in den Arm zu nehmen und deutete stattdessen Fahrtvoraus. 

»Da, seht ihr die Lichter am Boden? Nein, näher, nicht im Gebirge, da hinten in den Hügeln und Wäldern.«, sagte er und versuchte ihren Kopf in die entsprechende Richtung zu drehen.

»Sind wir da? Ist das Raugnith?«

Er zuckte mit den Schultern und sagte: »Meines Wissens gibt es hier draußen nichts anderes. Es muss die Festung sein. Ich frage mich wirklich, für was man sie einst errichtet hat.«

Doch dann dachte er an ihre gemeinsame Vision. Die unterirdischen Stätten, deren Zweck sich dem Gedankenreich eines jeden Smavari entziehen musste. Unterirdische Welten, Reiche der Alten – lebten die Smavari überall über deren Ruinen und waren sie es gewesen, die entschieden hatten, wo genau eine smavarische Siedlung errichtet werden musste? Die Alten – er schüttelte den Kopf. Es war eine Sache düstere Lieder über Drachen und Bewohner der Unterwelt zu verfassen und bei schummrigen Licht Damen vorzutragen, die sich vom Schauer erfasst an ihn schmiegen würden, doch hier draußen zu sein, Riesen zu begegnen, von unterirdischen Verliesen und deren Bewohnern zu träumen und sich selbst dort unten einhergehen zu sehen, dass ging weit über sein eigenes vergnügliches Maß an Horror hinaus.

Plötzlich wurde hinter ihnen die Stimme des verrückten Kapitäns laut. Er rief seiner abgehalfterten Truppe von Quink wirre Befehle zu und diese taten, was sie ohnehin getan hätten.

»Land in sicht, volle Enterbereitschaft, richtet die Lanzen aus!«, kreischte das dürre Gespenst vom Steuerruder des Oberdecks aus und wedelte dabei mit einem krummen Fernrohr hin und her. 

Kyon lief es Kalt den Rücken herunter, denn er konnte sich an die Landung der Jagenden bei Ongaiyd erinnern. Sie würden in voller Fahrt in die Landefläche der Bergfestung einschlagen und zu tausenden winziger Fetzen zersprengt werden. Wenigstens hatte das Schiff nicht wirklich Feuerlanzen an Bord, denn ansonsten wären sie zweifelsfrei auch noch in Flammen aufgegangen. Doch zu seiner Überraschung wurde die Fahrt eher ruhiger. Die Matrosen, so abgehalftert sie auch aussahen, schienen ihr Handwerk durchaus zu verstehen und da sie sich nicht an die Befehle des Kapitäns hielten, bestand die Hoffnung für ein Ende der Fahrt ohne entgültige Katastrophen.

Tal rief neben ihm gegen den Fahrtwind an: »Seht, die Lichter, das muss es wirklich sein. Wie schön es von ihr oben wirkt. Warum wird Shishney nicht so wunderbar angestrahlt?«

Kyon wandte sich ihrem Ziel zu und tatsächlich, er konnte jetzt auch die Beleuchtung in der Ferne erkennen. War war das nur? Er kniff die Augen zusammen und versuchte zu verstehen was er sah. Weit vor ihm gab es viele Hügel, aus deren sanften Kuppen hie und da zackige Findlinge herausragten. Diese Brocken waren Teile der Ausläufer des Gebirges und von anderer Substanz als der restliche Grund. Wie fast überall in Kisadmur wuchsen auch hier überall die riesigen schwarzen Bäume und machten es schwer etwas zu erkennen. Doch in der unmittelbaren Fahrtrichtung des Schiffes ragten mehrere besagter Gesteinsbrocken viele dutzend Meter in die Luft und bildeten eine groteske Landschaft von aus Granit bestehenden Zelten für Titanen. War dies auf natürlichem Wege entstanden? Wieder gingen ihm die Geschichten und Träume über die Alten durch den Sinn. Das Licht auf das Tal gedeutet hatte beleuchtete eines dieser Zelte und bildete ein grünlich glimmendes Dreieck. Und hier war sie, die Bergfestung Raugnith, letzte kisadmurische Bastion vor der endlosen Wildnis des Tiradnischen Rückens.

Von hier oben machte die Burg einen geradezu winzigen Eindruck, aber dies kam in erster Linie daher, dass es einfach schwer einzuschätzen war, wie weit sich die riesigen Findlinge über ihr in den Nachthimmel erhoben. Tatsächlich war Raugnith nur unwesentlich oder sogar überhaupt nicht kleiner als die Festung Shishney über dem Odoreys. Entgegen der Vorstellung der Abenteurer lag sie allerdings nicht unmittelbar im Gebirge, sondern in besagtem, vorgelagerten Hügelfeld unter den riesigen Brocken begraben, die Titanen vor der Zeit vom Gebirge hier herunter geschleudert haben mussten.

Ughtred kam ein wenig verschlafen zu Tal und Kyon und sah aus, als hätte er Drogen aus dem Fundus der Hexe gestohlen. Doch Kyon wusste genau, wie es um den kleinen Mann stand. Er zeigte seine Ängste nicht, wie es die Smavari taten, aber sie waren da. Der Flug mit der Jagenden war so seltsam ruhig verlaufen, da war es kein Wunder, sich sorgen zu machen. Nach allem was sie bisher erlebt hatten und vor allem, nach dem letzten Zusammenstoß mit dem Schicksal, konnte man durchaus ein wenig pesimistisch sein.

»Ist es das?« wiederholte Ughtred Tals Worte und Kyon musste unwillkürlich lächeln. Was hatte er nur getan, um mit diesen beiden Kindern geschlagen zu werden? ›Ist es noch weit; sind wir bald da?‹, murmelte er tonlos und nickte dabei einfach. Dann sagte er: »Sieht so aus, Herr Dieb. Wollen hoffen, ihr habt euch in eurer Berufung geübt.«

Ughtred verzog das Gesicht zu einer genervten Grimasse und wollte schon antworten, aber dann besann er sich eines Besseren und winkte ab. Stattdessen hielt er sich an der Rehling fest und starrte auf die faszinierende Landschaft vor ihm. Er nickte nun auch. Wahrscheinlich hatte der blöde Silberwolf ja recht. Hier ging es bald ums Ganze, was wollte er sich vormachen? Das Tagebuch des irren Abenteurers ließ nur wenig Spielraum für Spekulation. Er, der Kleine, der Dieb, er würde sich dem Ungeheuer stellen müssen. Bisher waren all diese Dinge nichts als Lieder und Sagen für ihn gewesen. Er hatte es geliebt von ihnen zu lesen, sich in den Staub und die Dunkelheit der Bibliothek der Wissenwahrer zu verkriechen und in diese Anderwelt abzutauchen und ja, schon damals hatte es ihn die Faszination dabei entdeckt werden zu können erregt. Doch man hatte ihn erwischt und was war geschehen? Sein Ruf hatte gelitten und er hatte selbst entschieden, Abstand zu seinen Leuten zu suchen. Weder hatte man ihn hingerichtet, noch gefressen. Das hier, das war eine ganze andere Sache. Es ging, wie er längst begriffen hatte, nun einmal ums Ganze!

Als die Jagende ihre Fahrt verlangsamte und den Sinkflug einleitete wurden die der Anlage vorgelagerten Plantagen Sichtbar. Die Festung selbst war ein Gebäude von dreieckiger Form und schmiegte sich in das Zelt aus Granit. Die Lichter kamen aus einem Graben, der sich zwischen den eigentlichen Gebäuden und den Feldern und deren Bebauungen befand. Tal, die ihre Großmutter mehr als einmal in Angaworth besucht hatte, kannte diese Art der Bauweise, denn auch hier umgab die Stadt ein breiter Graben. Das mit den Lichtern jedoch war ihr neu. Es schien keinen wirklichen Zweck zu haben und sie überlegte, ob es eine mehr oder weniger natürliche, chemische Ursache dafür geben konnte. 

Das Schiff schlingerte auf eine Plattform zwischen dem Graben und der Festung zu und wurde von einem tief grünen Leitstrahl empfangen. Der Kapitän versuchte diesem Licht auszuweichen, aber sein erster Mat griff ihm ins Steuer und lenkte gegen. Offenbar war Yrnesdt diese Form der Meuterei gewohnt und ließ sie brav über sich ergehen. Auf dem Leitstrahl reitend glitt das Flugschiff auf eine Anordnung von niedrigen Lagern zu, schrammte über das höchste von ihnen und hinterließ zersplitterte Ziegeln und schreiende Wachen. Dann, immer noch viel zu schnell schlitterte es mit einem furchtbaren Krachen die Plattform berührend auf dieser entlang und nur der hastig ausgeworfene Anker konnte das Schlimmste verhindern. Das Zweitschlimmste war der Ruck, der einen Teil des Hecks abriss und alle Mannschaftsmitglieder und die Passagiere durch die Luft beförderte. Manche schlugen härter auf, andere hatten mit dieser Art der Landung gerechnet und sich entsprechend vorbereitet.

Als alle ihre Knochen entwirrt hatten machten sie eine Bestandsaufnahme und kamen zum Schluss, dass es keine größeren Verluste gab. Es dauerte eine Weile, da kamen Arbeiter aus der Plattformanlage an Bord und begannen, den Schiffstischlern bei den ersten Reparaturen zu helfen. Ein riesiger, ein wenig wie eine dreibeinige Schildkröte aussehender Ladedroide schob die Jagende in eine aufrechte Position. Das Ding hatte eine Art Kran auf dem flachen Rücken und hob damit nicht nur eine Treppenplanke an das Schiff, sondern half auch den Passagieren den Chaosschild und den Sarg herunter zu bringen. 

Ughtred half Odugme mit der Ausrüstung. Unterdessen suchten Tal und Kyon nach Anzeichen für eine Stadtwache und den eventuellen, damit einher gehenden Problemen. Zwischen den vielen Arbeitern, die es offenbar gewohnt waren, dass Schiffe in ihre Plattform einschlugen und schon mit dem Wiederaufbau begonnen hatten, befand sich kein einziger Smavari. Es war dunkel, noch sehr früh am Morgen und damit die richtige Zeit für die Eltwesen. Wo waren sie nur? War es ihnen denn egal, dass jemand Schäden an der Festung verursachte?

Kyon deutete auf einen der Quink und rief ihn zu sich. Der Kerl wirkte ein wenig kränklich, gehorchte aber aufs Wort. Barsch fragte ihn Kyon nach der hiesigen Herrschaft und der Quink erklärte, dass die Stadtwächter in erster Linie in der Festung zu finden seien. Draußen auf den Plantagen sahen sie natürlich auch nach dem Rechten und beschützten die Arbeiter aber hier auf der Landeplattform bekam man sie selten zu sehen. Er versuchte einen Witz und meinte, wer wolle schon ein Flugschiff auf den Kopf bekommen, wenn man nicht musste?

Kyon sog genervt die Luft ein und sagte: »Bring er uns zu den Stadtwächtern.«

Unglücklich nickte der Arbeiter und tat wie ihm geheißen. Er führte die kleine Gruppe von Fremden von der, für eine reine Festung, ohne diese umgebende Stadt, recht große Schiffsplattform an einem breiten Burggraben entlang. Der Graben hatte eine Tiefe von etwa zehn Metern und war an seinem Grund mit einer grün leuchtenden Melange gefüllt. Tal fragte, was das sei und der Quink zuckte mit den Schultern. Es sei natürlich und schon immer da gewesen. Die Silberwölfe müssten sich darum keine Sorgen machen, es hätte keine Auswirkung auf sie. Bei den Quink sähe dies anders aus. Sie bekämen schnell Geschwüre, wenn sie mit dem Zeug in Berührung kamen.

Tal überlegte. In ihrer alchemistischen Ausbildung war sie mit vielen, im Dunkeln leuchtenden Stoffen in berührung gekommen. Doch die meisten von ihnen kamen nicht in ihrer leuchtenden Form in der Natur vor. Man musste sie mit komplizierten Vorgängen verändern und in den meisten Fällen waren dies gefährliche Prozeduren. Eine solche Menge strahlenden Materials wie hier, hatte sie noch nie gesehen. Sie schulterte den Chaosschild und spürte sein Ziehen. So war alles Dasein, alles Sein, Belebtes und Unbelebtes. Die Dinge standen in Relation zueinander. Dieser Schild drückte sie in die Knie und vergiftete ihren Geist, aber er würde sie auch beschützen. Schützte der strahlende Burggraben die Bewohner von Raugnith auch oder verdarb er nur ihre Kinder?

Am Graben entlang ging es zu einer breiten Treppe, auf deren Stufen viele Quink saßen und sich ausruhten. Als die Fremden kamen, standen sie auf, um nicht tatenlos auszusehen. Sie beugten die Köpfe und klackten dann mit ihren künstlichen Kiefern. Wie üblich ignorierte Kyon die Quink, aber Tal hatte sich auf dieser Reise verändert. Immer mehr verstand sie die Haltung ihrer Eltern. Es gab überhaupt kein Besser, Schlechter, Edler oder Wertloser – es gab nur Leben und Macht. Nur die Macht unterschied die Smavari von Wesen wie den Quink oder den Nyghs. Gäbe man den Quink Feuerlanzen und entzöge diese Mittel den Smavari, würde es nicht lange dauern, und die kleinen Amphibien würden die Macht an sich reißen. Was würde den Elt dann ihr reines Blut nutzen und vor allem, welches reine Blut? Immer mehr erkannte Tal, dass die alte Geschichte von dem Asen, der den Nugai bei der Erschaffung ihrer Kinder, den Smavari, ins Handwerk pfuschte. Es gab keinen Zweifel: auch die Smavari waren Tiere, oder trugen zumindest deren Erbe in ihren elitären Leibern.

Am Ende der Treppe gab es eine sehr hohe und für einen, für einen Festungseingang verhältnismäßig schmalen Durchgang. Ein Riese hatte die Torflügel ausgehängt und davon getragen und so gab es kein Hindernis Raugnith zu betreten. Im Inneren der Burg unter dem Stein traten die Gäste in einen kleinen Dom, dessen Rückseite direkt in einen bedeutend größeren mündete. Die Decke des ersten Gewölbes war schon über zwanzig Meter Hoch und es gab keine weiteren Stockwerke. Der zweite Dom jedoch maß gut und gern dreißig Meter in der Höhe und wies fünf, über eine vielzahl von Treppen erreichbare Balustraden auf, in denen sich die nach vorne offenen Räumlichkeiten befanden. Es gab eine Schmiede, Kaschemmen, ein Alchemistenlabor, ein Lusthaus – welches jedoch leer zu stehen schien – eine Wachstube, ebenfalls leer und eine Unzahl von Unterkünften. Alle Räume hatten zum Hauptdoom hin keine Wände und wurden bestenfalls mit Vorhängen blickdicht gehalten. So war es den Abenteurern ein Leichtes, die Kaschemme herauszudeuten, in der sich neben einer Anzahl von Smavari aufhielt. 

Kurzerhand entließ Kyon ihren Führer – der froh war überlebt zu haben – und deutete auf die Kaschemme als er sagte: »Dahin gehts.«

Die anderen hatten nichts einzuwenden und so ging es mehrere Treppen zur ersten und schließlich zweiten Balustrade hinauf. Oben angekommen war es gar nicht so einfach die Kaschemme wiederzufinden und sie wären beinahe im Getümmel der Arbeiter daran vorbei gegangen. Doch Kyon hatte aufgepasst und bog im letzten Moment ab. Er trat ein und fragte einen der Quink wie man die Kaschemme nannte und dieser sagte, es handle sich um Lady Tayth Nyarns Trinkhalle. Eine Trinkhalle also, ein gehobener Ort für ritterliche Krieger. Kyon lachte.

Dennoch sah er sich nach der Besitzerin um und als er eine in rot gekleidete Smavari im hinteren Bereich des Hauses sah, nickte er ihr zu. Dann wandte er sich dem Ende der Halle zu, wo die Smavari an einem einzelnen Tisch beisammen saßen. 

Als sich die Fremden dem Tisch näherten blickten die Smavari erstaunt auf. Man hatte es offenbar unterlassen sie über die Ankunft eines Schiffes zu informieren und entsprechend überrascht sahen sie nun aus.

Eine schöne Frau in einem weißen Gewand und ebenso weißer Rüstung nickte den Neuankömmlingen freundlich entgegen und stellte sich und die anderen Kriegerinnen und Krieger vor. Sie erklärte, dass es keine Herrin der Wacht hier gäbe und dass man sich dieses Amt daher teile. Kyon war verwirrt, aber Veey Aknaa yr Noraiydt, so der Name der Sprecherin, erläuterte freundlich, der hiesige Chayil`im, Faanthir dan Irdoraiys, über alle Meisterämter aus und brauche keine Offiziere.

Kyon stellte sich als Slyn und danach seine Mitstreiter vor und fragte dann, warum es hier einen Chayil`im, also einen König gab. Veey zuckte mit den Schultern und sagte: »Raugnith hatte schon immer einen Chayil`im und so wird es bis in alle Ewigkeiten bleiben.

Kyon wollte wissen, ob der Machthaber von Neuankömmlingen besucht werden wollte, aber die Kriegsmaid winkte ab. Faanthir sei zwar ein freundlicher Herrscher, aber ging schon freiwillig zu einem Chayil`im, wenn es dazu keine Veranlassung gab? Da gab ihr der Barde recht und fragte ob er und seine Leute am Tisch noch Platz fänden. Ein junger Krieger, mit unglaublich breitem Kreuz und einem starken Backenbart rümpfte die Nase und sah zu Ughtred und Odugme hinüber. Veey fragte, was für wesen die Beiden seien und Kyon beantwortete ihr die Frage.

»Das ist also ein Phani«, fragte sie Odugme und Ughtred antwortete für den großen Mann: »Sein name ist Odugme.«

Die Silberwölfin ging in die Hocke, womit sie sowohl mit Ughtred, als auch mit Odugmes goldenem Penis auf Augenhöhe war.

»Warum ist sein Glied aus Gold?«

»Schnipp, schnapp«, machte der Nygh, aber Kyon übertönte ihn und sagte: »Weilˋs optisch etwas her macht.«

Veey erhob sich und berührte zuerst mit spitzen Fingern den künstlichen Penis und dann Odugmes tief schwarze Haut.

»Jede sollte einen haben«, sagte sie und deutete dabei auf das untere Ende des Tisches.

Einer der Männer fragte Kyon: »Ist das eine Laute?«

Tal himmelte und atmete tief durch, aber hier war es höchstwahrscheinlich der beste Weg sich mit den Einheimischen anzufreunden, um in Erfahrung zu bringen, wo sich der Zugang zum Tiefenfried der Festung befand. Das Tagebuch beschrieb zwar den Nutzen des Zahnrades, aber es gab keine konkreten Angaben, wie man zum eigentlichen Tor fand. Es konnte sich überall hier in der Festung befinden.

Kyon öffnete die Lederhülle der Laute und beförderte das hochwertige Instrument zu Tage. Er strich über zwei der Seiten und ließ die ersten, seltsam melancholischen Töne erklimmen. Alle sahen ihn gebannt an. Dann begann er zu spielen und es war jedem der Anwesenden anzusehen, wie ausgehungert diese Gemeinde nach neuem Blut, Tanz und Geschichten war.

Es dauerte nicht lange, da füllte sich die Trinkhalle und die Stimmung wurde immer ausgelassener. Selbst Ughtred und Odugme wurden in den Reigen aus Musik, Tanz, Sex und Völlerei mit einbezogen und nur Tal hielt sich zurück. Als dies jedoch die Schöne Veey bemerkte, trat sie zu der Doppelmondhexe heran, riss ihren Rock von ihrem Leib und rief: »Tanzt Frau, wer kennt das Morgen?«

Tal musterte sie eine Sekunde und wusste, dass es hier um mehr als nur das Morgen ging. Hier mussten Dinge in Erfahrung gebracht werden. So stand sie auf, lächelte grimmig und stieg auf einen der Tisch, wo sie beherzt den eigenen Rock fallen ließ. »Gelbwein, bringt mir Gelbwein!«, rief sie und tat es Weey gleich, die zu ihr gestiegen war und sich im Tanze wiegend weiter auszog.

 

Viel später – wahrscheinlich am nächsten Tage, oder in der Nacht, wer konnte dies nach einer smavarischen Zeche sagen? – hockten die Vier in einer Kammer und berieten sich. Es galt herauszufinden, wo der Tiefenfried seinen Zugang hatte und wie man diesen erreichte. Ughtred hatte einen der Quinkarbeiter danach gefragt und nur erfahren, dass es streng verboten war, ihn zu betreten. Es gab keine Ausnahmen.

»Müssen wir es eben heimlich machen«, sagte Kyon.

Tal erwiderte, dass dies nicht ginge, aber Kyon deutete nur mit einem Zeigefinger auf Raguels Speer, der an einer der Zimmerwände lehnte.

»Ich frage zuerst einmal, wo es ist«, sagte er.

Er wollte schon aufstehen, aber Ughtred kam ihm zuvor: »Es ist auf der dritten Balustrade in der Mitte. Da gibt es einen Durchgang in Richtung der Gemächer des Königs und eben auch den Eingang zum Tiefenfried. Hat mir der Arbeiter gesagt.«

Kyon nickte und erwiderte: »Dann ist es also kein Geheimnis.«

»Nein, es ist nur verboten, wie gesagt«, knurrte der Nygh.

Tal sagte: »Was noch?« Sie meinte Ughtred, denn sie kannte ihn mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass er noch mehr herausgefunden hatte. Warum zierte sich der kleine Mann nur immer? Er war klug und machte oft gute Vorschläge.

Der Angesprochene zögerte, doch als Kyon mit den Augen rollte sagte er: »Es gibt natürlich eine Wachkammer. Die Silberwölfe, die wir gestern kennengelernt haben wachen dort. Sie wechseln sich sicher ab und wenn ich es richtig verstanden habe sind sie immer wenigsten zu viert in der Wacht.«

Tal lachte. »Gift!«, sagte sie gedehnt und machte eine Grimasse, als würde sie einen grausamen Tod sterben. Dann fiel ihr Kopf auf die Tischplatte. Dabei war ihre Performance nicht einmal schlecht, aber die anderen fanden es nicht so witzig wie sie.

»Klar«, sagte Kyon. »Wir feiern erneut und warten bis zum Wachwechsel. Dann tun wir so, als wollten wir uns zurückziehen und fangen die Wachen auf dem Weg zum Wachwechsel ab. Wir geben ihnen einen Schlaftrunk und warten bis die anderen vorübergezogen sind. Es muss halt zeitlich passen. Sie sollten erst in der Wachkammer einschlafen. Schafft ihr das oder seid ihr wirklich tot?«

Er stupste Tal grob in die Seite und diese schrie auf und gab ihm einen Knuff gegen den Oberarm. 

 

Ughtred beobachtete die Treppe zum dritten Plateau. Er hockte auf einem Absatz zur nächten Ebene, hatte einen Humpen Gerstensaft auf sein linkes Knie gestützt und rieb sich mit der Rechten über die Stirn. Ihm gefiel die Sache nicht, aber welche Sache hatte ihm im Zusammenhang mit den Silberwölfen schon gefallen. Die mussten ja besser wissen, wie schlimm es war, wenn man sich gegenseitig vergiftete. Seltsam, in all der Zeit hier in Kisadmur, hatte er noch nie von einer Hinrichtung gehört. Sie töteten einander nicht, weil sie Angst vor den Geistern der Toten hatten. Sie konnten die grausamsten Experimente an Draiyn oder Quink vornehmen – und wahrscheinlich würden sie auch vor seinen Leuten nicht zurückschrecken – aber untereinander gab es keine Kriege oder Kämpfe um Leben und Tod. Er verstand das durchaus. Er hatte sie gesehen, die lebenden Toten. Und Tal hatte ihm erklärt, dass diese Wesen noch harmlos waren. Sie waren Gefangene ihrer Leiber, wirkliche Geister, waren offenbar durch nichts gebunden und galten als die schlimmste Bürde smavarischen Seins.

Er betrachtete die Architektur der Festung und wunderte sich über ihren Aufbau. Ganz eindeutig machte es den Silberwölfen nichts aus, ganz und gar ohne Privatsphäre auszukommen. Er kannte das ja schon von seinen beiden Wölfchen. Sie stritten sich, bissen sich gegenseitig und plötzlich schlug die Stimmung um und schon fielen sie übereinander her als wären sie korezuulische Waldhasen. Meistens war es in solchen Momenten zu spät, um auch nur wegzusehen. Er schüttelte den Kopf, musste dann aber lächeln. Sie waren wie Kinder – erwachsene und wirklich böse Kinder.

Er sah auf, als eine Gruppe von vier Silberwölfen in Rüstungen und Waffen am oberen Ende der Treppe erschienen. Sie sahen müde aus und er wusste, dass dies nur bedeuten konnte, dass sie wenigstens vier Stunden Wache gehalten hatte – am Stück wahrscheinlich! Wieder schüttelte er grinsend den Kopf. Wahrscheinlich würden sie nun eine viele Tage und Nächste andauernde Ruhezeit und viele aufmunternde Gespräche benötigen. Ein Wächter von Dranought war oft mehrere Tage im Dienst und wäre dabei weder eingeschlafen, noch hätte er sich beklagt. Einen Weg – oder wie hier einen Raum – im Auge zu behalten, war ja nicht mit dem Fällen von Bäumen oder dem Errichten einer Mauer zu vergleichen. Meist gab man die Wachen an eher ältere Leute ab, damit diese sich gebraucht fühlten. Ob er das den Silberwölfen vermitteln könnte? Wahrscheinlich eher nicht.

Er stand auf und sprang die Treppe hinunter. Es war so weit. So schnell er konnte rannte er zur Trinkhalle zurück und als er ankam wünschte er, es nicht getan zu haben. Ein anderer Barde hatte die Leier übernommen, aber Kyon war dennoch beschäftigt. Er befand sich zwischen einer großen schlanken Frau und einem kräftigen Mann und Ughtred schlug die Augen nieder, um nicht allzu genau sehen zu müssen, womit die drei beschäftigt waren. Er versuchte Tal zu finden und bereute auch dies. Sie lag auf einem der Tische und Odugme rasierte ihren Intimbereich, während sich die Kriegerin namens Veey sich mit der Hexe beriet und dabei an dem goldenen Glied des Phani herumspielte. 

Das war dann doch zuviel des Guten. Er pfiff zwischen seinen Fingern hindurch und warf seinen Krug nach Kyon. Leider verfehlte er, aber der Rest des Gerstensaftes spritzte dennoch auf die Silberwölfe und sie ließen lachend voneinander ab. Kyon blickte sich um und erstaunlicher Weiße verstand er was die Stunde geschlagen hatte. Schnell raffte er seine Hose auf und eilte zu Tal, gab Odugme einen Klaps, worauf dieser Tal beinahe geschnitten hätte und böse grunzte. Tal sah auf und wollte schimpfen, aber Kyon deutete auf den Nygh.

Beinahe im selben Moment erhoben sich fünf Kriegerinnen und Krieger und machten jetzt schon einen erschöpften Eindruck. Ughtred war zufrieden. Es war klar, dass die Wache die Andere nicht direkt ablösen würde. Subordination war ein Grundpfeiler der smavarischen Kriegskunst. Er lachte.

Unterdessen hatte Kyon seinen Arm um Tal gelegt und deutete den anderen an, jetzt mit ihre allein sein zu wollen – eigentlich ein unglaubwürdiges Konzept. Dennoch scherte sich keiner um die Beiden und es wurde in jederlei Hinsicht kräftig weiter gefeiert.

Es war natürlich nicht schwer die Ablösung einzuholen. Tal sprach sie lallend an und hielt ihnen einen Krig hin. Ob man anderenorts weiterzufeiern gedachte, fragte sie und zeigte dabei ihre angeschwollene Oberweite. Doch sie hatte sich den Schild auf den Rücken gehängt und obwohl sie durch hartes Training und gefundene Artefakte an Kraft zugenommen hatte, brachte sie das Chaos immer auf den Boden der Tatsachen zurück.

Die Vier nahmen den Gelbwein fröhlich an und beteuerten, dass sie ihn brauchen könnten und unten in der Wachkammer genießen wollten. Tal versuchte sie dazu zu bewegen hier und jetzt zu trinken, aber sie hatten es offenbar eilig. Zu sehr zu spät zu kommen schien nun doch nicht opportun zu sein.

Vorsichtig warteten die Abenteurer, bis die Wachablösung die Hälfte der Treppe erklommen hatten und taten so, als unterhielten sie sich über hoch brisante Wichtigkeiten. Dann setzten sie sich ebenfalls in Bewegung und folgten den anderen. Der Weg führte sie, wie beschrieben, durch einen Steinkorridor mit hohen Säulen und Wandverzierungen. Es gab dutzende von Durchgängen und Türen, die zeigten, dass Raugnith durchaus Räumlichkeiten mit Privatsphäre aufwies. Mehrfach unterbrachen kleine Plätze den Gang, doch offenbar hatte Kyons Spiel die meisten Bewohner dieses Teils der Festung in die Trinkhalle gelockt. Bis auf einige Quink, die ihren Arbeiten nachgingen und ihnen ohne große Neugierde hinterherblickten, stießen sie auf keine Hindernisse. Schließlich gelangten sie an eine Art Brücke, die über die Öffnung einer Wendeltreppe führte und hörten von unten die Stimmen der Wache. Sie der Weg hier oben führte durch ein großes, offenes Tor, welches in eine Art Thronsaal führte. Auch hier regte sich nichts, aber es hieß ja, dass sich hier die Gemächer des Fürsten befinden sollten und diesem wollte man auf keinen Fall begegnen.

Schnell und so leise es mit der Ausrüstung möglich war polterten sie die breite, aber auch recht steile Treppe hinab. Odugme hatte seine liebe Mühe den Sarg nicht abgleiten zu lassen, aber Ughtred stellte erneut seine Stärke zur Schau und half dem großen Mann.

Kyon, der voraus gegangen war, blieb abrupt stehen und Tal hätte ihn beinahe mit dem Speer aufgespießt. Sie wollte schon schimpfen, musste dann aber lachen, als er sich umdrehte und genervt die Lieder hob. Er machte sie nach. Sie stupste ihn mit der Speerspitze, um ihn dazu zu bewegen weiter zu gehen, aber er machte eine unwirsch Handbewegung und flüsterte: »Sie machen Pause.«

»Hier auf der Treppe?«, fragte Ughtred, der beinahe den Sarg hätte fallen lassen. Seiner Stimme war zu entnehmen, was er von der smavarischen Arbeitsmoral hielt.

Kyon setzte sich auf die Stufe auf der er eben noch gestanden hatte und sagte: »Es ist weit und steil. Hätte man hier nicht besser einen Vortex zum Einsatz gebracht?«

Tal setzte sich neben ihn und antwortete: »Und einen Quink mit einer Bettpfanne. Ich müsste mal für kleine Doppelmondhexen.«

Ughtred schüttelte den Kopf und stellte den Sarg hochkant ab, um Schlimmeres zu verhindern und machte Odugme ein Zeichen, dass dieser sich ebenfalls ausruhen sollte. 

Zum Glück dauerte die Ruhepause nicht allzulange, denn die Steinstufen waren hart und unbequem – eine Tatsache, die zweifelsfrei der Grund für die kurze Rast war. Als es weiter ging staunten die vier Abenteurer. Die Treppe war so lange, dass sogar Ughtred sich irgendwann wünschte, die einstigen Herrscher der Festung hätten tatsächlich einen Vortex einbauen lassen. Wie auch immer, irgendwann verhallten einige Umdrehungen tiefer die Schritte der Wache und man kam erneut zum Halten. Nun hieß es warten und lauschen. Tal hätte in den Astralraum gleiten können, um zu sehen was die Wächter taten, aber die Angst vor Raugniths Geistern war allgegenwärtig für die Silberwölfe und so entschied man sich, dieses Wagnis auszulassen. Stattdessen schlich Ughtred auf leisen Sohlen hinunter.

Es dauerte nicht lange, da hatte sich der Nygh überzeugt, dass aus der Wachkammer kein Laut mehr drang. Sofort wagte er sich weiter vor und lugte am Fuße der Treppe um den hier abgewinkelten Gang. Das erste, was er von den Wächtern zu Sehen bekam, war ein Fuß. Direkt am Eingang des kleinen Raumes lag einer der Silberwölfe auf dem Bauch. Einen Augenblick hatte Ughtred angst, die Hexe hätte die ahnungslosen Wächter vergiftet, aber dann hörte er ein Stöhnen aus dem Mund des Besinnungslosen. Er blickte um die Ecke und sah die anderen Kriegerinnen und Krieger. Zwei hatten es zu der niedrigen Bank geschafft und klagen lang ausgestreckt danieder. Ein weiterer war über dem Tisch zusammengesunken. 

»Es hat funktioniert. Sie schlafen«, rief er gerade so laut, dass die anderen ihn oben auf der Treppe hören konnten. Schnell kamen sie herunter und versuchten die Lage einzuschätzen. Es gab eine einzige Tür, die auf der anderen Seite des Treppenhauses die Wachkammer mit dem Tiefenfried verband. Ughtred besah sich das Schloss und Kyon begann die Schlafenden zu durchsuchen. Leider fand er keinen Schlüssel und sagte darum zu Ughtred: »Wie sieht es aus, Herr Dieb?«

Ughtred sah ihn an und hob die Augenbrauen. Dann sagte er: »Gut sieht das aus.«

»Na dann hopp hopp, die werden nicht die ganze Nacht schlafen.

Ughtred versuchte zu erfassen, ob gerade Tag oder Nacht war und packte dabei sein Werkzeug aus. Er bemerkte dabei, dass eine gewisse Nervosität von ihm Besitz ergriffen hatte. Natürlich ging es dabei keineswegs um diese Schloss hier. Er würde nur eione Minute brauchen es zu öffnen, aber was würde er auf der anderen Seite vorfinden? Drache, Drache, Drache, Drache – immer wieder dieses Wort in seinem Kopf. Er kniff die Augen zusammen und steckte einen Metallstift in das Schlüsselloch. Er zählte dabei die Sekunden. Schnell und effizient erfühlte er die Funktion des Schlosses und drückte mit einem anderen Werkzeug die winzigen Schnapper in seinem Inneren aus dem Weg. Dreiundzwanzig Sekunden – er atmete auf. »Offen«, schnaufte er.

Ohne nachzudenken öffnete Kyon die Tür und blickte in Augen eines Quink. Der breite Kerl trug eine erstaunlich wertige Rüstung, einen schweren Helm und zwei gefährliche Äxte, aber das schlimmste an ihm war, dass er nicht allein war.

Ohne weiteres Zögern ließ er den Bogen und einen Pfeil in seinen Händen erscheinen, machte einen schnellen Schritt zurück und schoss. Hinter sich hörte er, wie der Chaosschild zu Boden polterte und hoffte auf so wenig wie möglich kollateralschaden. Axtschwingend und knurrend kam ein Pulk von gerüsteten Killerquink auf ihn zu. Der Getroffene ignorierte den aus der Gelenköffnung seiner Rüstung ragenden Pfeil und Kyon schaffte es im letzten Moment seinem Axthieb auszuweichen. Dann sprang Ughtred an ihm vorbei und versenkte sein Bein im Schädel des Angreifers. Der Schlag erfolgte mit solcher Wucht, dass der Helm des Mannes in Stücken durch die Kammer flog und seine Kameraden traf. Blut erfüllte die Luft als der Nygh zu einem zweiten Schlag ausholte. Dann schoss der Speer des Raguel in die Kammer und der schrille Kriegsschrei der Hexe ließ Kyon das Blut in den Adern gerinnen. Er ließ weitere Pfeile über die Sehne gegen, aber nichts konnte das Wüten der Furie mit ihrem nach Blut lechzendem Speer übertreffen. Binnen weniger Sekunden hatte sich der Raum in eine Schlachtkammer verwandelt. Blut und Gedärm machten den Boden glitschig und der Gestank von frischem Kot raubte den Siegern die Sinne. Sie beeilten sich über die noch zuckenden Toten zu steigen, begierig nach dem Ende des Gemetzels und frischer Luft. Doch die Zeit drängte. Kaum war der Kampfeslärm verklungen, hob Ughtred eine blutige Hand. Kyon spitzte die Ohren und gab mit einem knappen Nicken zu verstehen, dass sich der Nygh nicht täuschte. Da kamen weitere Wachen die lange Treppe herunter. Ughtred untersuchte die Tür und musste einen der toten Quink verschieben, um sie schließen zu können. Dann betätigte er die drei auf der Innenseite angebrachten Riegel.

»Die Tür wird sie lange aufhalten. Sie wurde extra dafür gemacht, Angreifer von außen abzuhalten. Trotzdem sollten wir keine Zeit verschwenden«, sagte er und hob seine Axt vom Boden auf.

Die Kammer war sehr schlicht eingerichtet. Es gab Hochbetten und einen einfachen Tisch und Hocker für die Quinkwächter. In einem Regal standen haltbare Speisen. Der nun verschlossenen Tür gegenüber, befand sich genau die gleiche Vorrichtung. Eine Tür, die von der anderen Seite verschlossen werden konnte. Zu Ughtreds Glück, war diese Tür jedoch mit einem Schlüsselloch versehen und konnte so, von dieser Seite in Angriff genommen werden. Der Nygh versuchte den Blutgeruch zu ignorieren und beförderte seine Werkzeuge zutage. Mit geschickten Fingern machte er sich an dem Schlüsselloch zu schaffen und brauchte, trotz der Ablenkung seitens Kyon, der mehrmals drängte, nur wenige Sekunden das Hindernis zu neutralisieren.

Ein kurzer Gang führte zu einer erneuten Treppe und diese stellte sich als noch länger als die Erste heraus. Kyon fluchte, als er neben Tal hinunter blickte und war versucht ihr einen kleinen Tritt zu verpassen. Er wusste nicht genau, warum sie ihm so auf die Nerven ging, aber andererseits schien dies, zumindest in seiner Familie, normal zu sein. War dies der Grund gewesen, warum sein Vater es vorgezogen hatte von der Magensäure eines Drachen verdampft zu werden, als ein ruhiges Familienleben in Shishney zu verbringen? Er schüttelte den Kopf und spuckte durch den Mittelschacht der Wendeltreppe, als könne er so besser ihre Tiefe ermitteln. Tal sah zu ihm hin und er machte eine herrliche Handbewegung hinunter. Sie begann mit dem Abstieg, vergaß dabei aber nicht mit ihrem Hintern zu wackeln. Ughtred, der das Ganze wie immer zu ignorieren versuchte, rollte mit den Augen.

Der Abstieg war grausam und dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Sie mussten mehrere Male anhalten und auf den Stufen rasten und nach einer Weile war es derart dunkel, dass sie sogar improvisierte Fackel anzündeten. Als sie schließlich die letzte Stufe erreicht hatten, wandte sich Tal dieser zu und stach mit dem Speer nach dem alten Stein. Ein Funke stob auf, als wolle die Treppe sagen: »Mehr hast du nichts zu bieten, törichtes Weib?«

Ughtred hob die Fackel, die er aus Kleidungsstücken, Pech aus dem Lager der Wachen und einem Axtgriff gemacht hatte. Die Treppe endete in einem finsteren Gelass mit mehreren Ausgängen. Wohin sollten sie sich wenden? Er besah sich den Boden, aber nach all der Zeit der Einsamkeit, hatte der Keller jegliche Spuren versanden lassen. Es war, als hätte nie ein lebendes Wesen diese Tiefe betreten. Weder gab es Spuren, noch irgendwelche Gegenstände, die den Zweck des Raumes verraten hätten. Alles was der Keller zu sagen hatte, war zur Sprache der Einsamkeit geworden.

Kyon und Tal hatten sich auf den staubigen Boden gesetzt. Es war ihnen anzusehen, dass sie unbedingt eine weitere Rast brauchten. Ughtred indess, ging zu einem der Durchgänge auf der linken Seite des Gelassen. Ein düsterer Gang führte in einen weiteren Raum. Er betrat ihn und schreckte zurück. Hatte sich da etwas bewegt? Er hatte keine Ahnung wie lange untote Silberwölfe weiter existierten, wenn sie sich unter Verschluss befanden. Auf dem Boden lagen mehrere Leichen. Sie waren weitgehend skeletiert. Wenigstens fünf Personen hatten hier ihr Leben ausgehaucht. Zwei von ihnen kauerten an einer der Wände. Ihre Knochen waren noch von einer dünnen, du hartem Leder gewordenen Haut überzogen. Nichts rührte sich. Ughtred untersuchte die Toten vorsichtig ohne etwas zu berühren, fand aber nichts Brauchbares. Auch hier konnte er den Zweck des Raumes nicht bestimmen. Auch hier gab es mehrere Ausgänge, was die Vielzahl der möglichen Wege nur noch chaotischer machte.

Er rieb sich mit den Fingern über die Stirn und flüsterte einen korezuulischen Totengruß. Dann ging er müde zu den anderen beiden zurück. Er berichtete leise von seiner Entdeckung und äußerte seine Vermutung, dass wohl alle hier unten eingesperrt worden waren und früher oder später Elend verhungerten. Die Sache mit dem Vortex wurde aus seiner Sicht immer unsicherer.

Tal gab zu bedenken, dass es sein konnte, dass man das Zahnrad benötigte, um den Vortex zu aktivieren und dass die Flüchtenden damals unter Umständen einfach keine Chance gehabt hatten.

Aber warum dann das Tor verschließen und das Zahnrad beschädigen, wollte Kyon wissen. Vielleicht ein Fehler. Im Chaos des Angriffes hatte man sicher sehr fahrig gehandelt. Vielleicht war es tatsächlich ein Versehen gewesen.

»Wie auch immer, wir müssen den Vortex zuerst einmal finden, bevor wir ihn testen können«, knurrte Ughtred. Es war ihm anzusehen, dass er keine überflüssige Sekunde in diesem Grab verbringen wollte.

So machten sie sich auf und durchsuchten gemeinsam die Gewölbe unter Raugnith. Bald mussten sie erkennen, wie groß das unterirdische Areal der Festung war. Stunde um Stunde nahmen sie falsche Wege, überquerten sinnlos Brücken über noch tiefere Keller, durch forsteten Räume mit sonderbaren Interiör und fanden unzählige weitere Mumien längst verstorbener Festungsbewohner. Am Ende wussten sie nicht, wie viel Zeit vergangen war, doch als Ughtred eine breite Treppe zu dem bisher größten Gewölbe betrat, war ihm plötzlich klar, den richtigen Weg gefunden zu haben. Er schnalzte mit der Zunge und unterbrach die wieder einmal streitenden Silberwölfe.

Wütend sah Kyon zu ihm herüber, aber im selben Moment hob auch Tal in einer warnenden Geste die Hand. Doch es war zu spät. Ein dünner Strich erschien am Hals des Phani und dann spritzte Blut aus der Wunde. Etwas ganz und gar Unsichtbares hatte ihn angegriffen und eindeutig schwer verletzt. Gurgelnd griff er sich an den Hals und ging zu Boden.

Im selben Moment entstand mitten in der Luft ein Feuerball und schoss auf Kyon und Ughtred zu. Der Barde hatte nicht einmal Zeit seinen Bogen zu ziehen, sprang zur Seite, wurde aber dennoch getroffen. Brennend und schreiend rollte er die Treppe hinunter und wälzte sich hin und her. Ughtred versuchte ihn mit seinem eigenen Mantel zu löschen. Tal hob den schweren Schild und polterte nun ebenfalls die Treppe hinab. Wieder entzündete sich die Luft und dieses Mal schoss das brennende Element auf die junge Hexe zu. Trotz ihrer Sorge um die Freunde stahl sich ein grimmiges Lächeln auf ihre Lippen. Sie duckte sich hinter den Schild, ließ das Feuer an seinem unheiligen Wüten abgleiten, sprang dann auf seine Kante und stach mit dem langen Speer in die Luft, aus der sich das Feuer gebildet hatte. Sie streifte etwas und ein Röcheln ging durch den finsteren Keller.

Dann blitzte graues, verdorbenes Fleisch vor ihr auf und glitt durch die Luft aus ihrer Reichweite. Es war einer der Toten. Ein mächtiges Wesen, halb Geist, halb wandelnde Leiche und ganz zweifelsfrei ein Lych, ein Zauberer aus dem Totenreich.

Das Ding zischte und schien verwundert zu sein. Seine toten Augen schienen den Keller mit einem rötlichen Leuchten zu erfüllen. Dann war seine Stimme in den Köpfen seiner vermeintlichen Opfer. Es faselte vom Tod und dessen Vorzügen und wie er, Zuytolg bor Zuruiyk Bortulg, der einstige Kammerherr von Raugnith, seinen Frieden mit ihm geschlossen hätte. Der Tod sei für alle Lebenden die bessere Alternative. Er bedeute Freiheit, Friede und Glück.

Aus Kyons Richtung ertönte ein gewohntes Klacken und dann zischten zwei Pfeile durch die Luft und trafen den verfaulten Leib des Untoten Mittschiffs. Das Ding zischte erneut und krümmte sich. Dann verschwand er im Nichts und erschien unmittelbar neben Kyon. Er fuchtelte mit einer winzigen Ritualklingen durch die Luft, doch Tal hatte den Schild fallen lassen und war zur Stelle. Sie rammte dem Lych Raguels Speer in die Seite, hob den dürren Leib in den Luft und schmetterte ihn auf den Kellerboden. »Deine Zeit ist vorüber Totenzauberer«, schrie sie das Ding an, zog den Speer zurück und rammte ihn dem Lych in den Schädel.

Der Speer entfesselte seine elementaren Kräfte und ließ die morschen Knochen des Monsters in einem Funkenregen durch die Dunkelheit des Gewölbes schießen. Der Geist des Lych schrie und tobte, doch als die Reste seiner sterblichen Teile vergingen, verlor er denn Halt und glitt in die Anderwelt hinüber. Tal schrie vor Erleichterung und Zorn. Dann trat sie die verfaulenden Reste des Lych von der Speerklinge, ließ die Waffe klappernd zu Boden fallen und stürzte zu Odugme. Aus dem Augenwinkel sah sie Ughtred neben Kyon kauern, aber der Barde würde warten müssen. Odugmes Verletzung war tödlich und wenn sie nicht sofort handeln würde, wäre dieser verfluchte Keller sein Ende.

Mit fiebrigen Fingern beförderte die eins der Medpacks aus der Silberwacht zutage und öffnete eine der darin befestigten Patronen. Vorsichtig strich sie den schwarzen Inhalt des Dings auf die stark blutende Wunde am Hals des Nyghs. Dann gab sie ihm einen Stasetropfen und begann das winzige Besteck, weiches sie für die Operation an den Gefäßen benötigen würde zu aktivieren. Wie metallene Insektenbeine entfalteten sich die kleinen Klingen und Zangen. Dann spreizte sie die Wunde und begann mit ihrer Arbeit.

Stunden verging in dem nun stillen Gewölbe. Kyons Verletzungen waren nicht annähernd so schlimm wie die von Odugme, aber der stöhnte laut, als Ughtred Brandsalbe auf die Wunden auftrug. Später versorgte Tal auch Kyons Verletzungen und der Barde machte ihr Vorwürfe, weil er Schmerzen leiden musste, wärend der blöde Phani friedlich schlafen durfte. Die Hexe schlug vor, ihm ebenfalls die Kehle durchzuschneiden und fuchtelte mit ihrer winzigen Doppelklinge vor seinem Gesicht herum. Kyon verzog wütend das Gesicht, aber dann drücke sie ihm schnell einen Kuss auf die Lippen, stand auf und ging einige Schritte von ihm weg. Sie musste ihren Kopf klären. Verärgert trat sie gegen den Schild und setzte sich dann auf den Sockel einer der Gewölbestützen. Allein die Zeit, die Odugme in Stase verbleiben würde, raubten ihre den Verstand. Das Genörgel des Sliyn belustigte sie da eher, aber so richtig würde sie hier unten auf den harten Kellersteinen auch nichts anfangen können. Sie spuckte in hohem Bogen aus und erinnerte sich an die Worte ihrer Mentorin Akkatha. »Wenn die Zeit selbst eure Gedanken beherrscht, nehmt euch selbst aus ihr heraus. Der Geist ist frei von Zwängen wie Zeit und Schmerz. Versenkt euch im Jenseits und vergesst die Fesseln des Diesseits.«

Sie atmete tief ein, verknotete ihre Glieder zu einer bequemen Position und schlief ein. 

So vergingen lange Stunden auf dem unbequemen Kellersteinen. Keiner der drei hätte später genau sagen können, wie lange sie im Tiefenfried unter der Festung gelagert hatten. Kyon beschwerte sich, Tal ignorierte ihn und Ughtred versuchte die Zeit zu nutzen. So war es immer. Irgendwie schafften sie es, die Zeit die Odugme zur Regeneration benötigte zu überbrücken.

Irgendwann untersuchten Tal und Ughtred das finstere Gewölbe genauer. An seiner, dem Eingang gegenüberliegenden Wand, gab es eine breite Empore mit mehreren Stufen. Von hier kam das einzige Licht hier unten im Tiefenfried. Links und rechts neben einem steinernen Tron standen Feuerbecken, in denen orangefarbene kugeln von oben nach unten abbrannten, ohne sich dabei aufzuzehren. Ihrer Licht reichte dabei gerade einmal, den Steinstuhl und einen kleinen Teil der Empore zu erhellen. Tal mutmaßte, dass sich die Energie der Zauberfeuer ihrem Ende zuneigte und erklärte sie für ungefährlich. Ughtred, der längst entschieden hatte keinen der Teufeleien der Silberwölfe über den Weg zu trauern hielt sich von ihnen fern.

Von der Empore aus, war in einer der Nischen in den Wänden ein schmaler Durchgang zu erkennen. Das Mauerwerk war so geschickt angeordnet und farblich angepasst, dass man in der Dunkelheit den besagten Durchgang wirklich nur aus wenigen Blickwinkeln wahrzunehmen vermochte.

Gemeinsam und so leise wie möglich näherten sie sich der Öffnung und lauschten, doch die Stille hatten sich des Tiefenfrieds bemächtigt. Es war, als hätten sie, die Eindringlinge, mit dem Lych auch jedes Geräusch hier unten zum Verstummen gebracht.

Leise sage Tal, sie wolle dem großen Sliyn nicht vorgreifen und so gingen sie zu dessen und Odugmes Krankenlager zurück. Wie vermutet, wollte der Barde im Augenblick nichts von dem Durchgang wissen, aber etwas später stand er auf, streckte die steifen Glieder und machte Anstalten, sich die Sache selbst anzuschauen. Natürlich begleiteten Tal und Ughtred ihn in angemessener Entfernung.

Schon in dem schmalen, durch eine geschickt in den Wänden eingebrachte Biegung verborgenen Korridor, der aus der großen Halle führte, war das Wummern des Vortex zu hören. Unheimlich tanzten violette Lichter über die Wände und ließen keine Interpretationsmöglichkeit. Hier unten befand sich der Spiegelturm des Kellerfriedens und hier unten, würde sich das Schicksal der Abenteurer erfüllen. Sie gingen langsam den Tunnel entlang und empfanden wieder einmal das Schleifen des Sarges und der daran befestigten Ketten als unerträglich.

Die Vortexkammer hatte einen rautenförmigen Querschnitt und war, bis auf den Spiegelturm leer. Das Ding war mehr als drei Meter hoch und strahlte matte violette Energie aus. Er schien funktionsfähig zu sein, doch er war blockiert. Oben befand sich ein Ring in dessen Mitte wiederum eine Achse hervorlugte. Ughtred deutete darauf und sagte: »Das muss es sein!«

Kyon nickte gequält, weil er das, was als nächstes kommen würde verabscheute. Doch dann stellte er sich vor den runenverzierten Turm und gab Ughtred zu verstehen, dass er breit war, ihn in die Höhe zu heben. Der Nygh grinste breit und kletterte auf den Rücken des Silberwolfes. Kyon wankte, aber Ughtred war ein geschickter Kletterer und schaffte es sich aufrecht auf die Schultern des Barden zu stellen. Dann steckte er das Zahnrad auf die Achse und erschrak fast, als es zuerst mit einem satten Klacken einrastete und sich dann langsam zu drehen begann. Er wollte herunter, aber Kyon verstand seine Bewegung nicht richtig und dann explodierten die Vortexöffnungen in den Raum und sie vielen beide schreiend zu Boden.

Drei Violette, armdicke Blitze schossen aus dem Spiegelturm zu drei Positionen an den Wänden und bauten die Öffnungen durch die die dünne Membran der Realität, hinüber zur Anderwelt auf. Wabernd tauchten sie alles in Fuchsia Farben es Zucken und violettes Licht. Der Ganze Raum schien sich zu verändern, wurde transparenter und schien nicht mehr Teil dieser Welt zu sein. Die drei Besucher erhielten einen Eindruck von der festigkeit der Realität und empfanden sonderbare Eindrücke kosmischer Ungereimtheiten. Doch dann beruhigte sich das Realitätschaos ein wenig und Tal deutete auf Kyon, als sie sagte: »Das Tagebuch, holt hes hervor! Wir dürfen jetzt keinen Fehler machen.«

Kyon erwiderte: »Ich dachte wir hätten uns schon entschieden.«

Ughtred, der befürchtete, es würde wieder einmal zu einem Streit kommen, sagte beschwichtigend: »Ich habe es noch nicht ganz verstanden und würde es gerne noch einmal durchgehen Herr Barde.« Er neigte dazu der Hexe Recht zu geben, da er ihre Launen noch schlechter einordnen konnte als die des Sliyn.

Aber dann sagte Kyon in erstaunlich ruhigem Ton: »Und was ist mit dem Dicken?«

Tal legte den Kopf schief, wie ein Wolf, der nicht verstand, warum ein Erdhörnchen in einem Loch verschwand und im nächsten Moment aus einem anderen wieder auftauchte. Sie wollte etwas sagen, aber Kyon hob die Hand und kam ihr damit zuvor. Er sagte: »Er geht uns hier unten ein, wenn wir ihn zurücklassen.«

»Der dicke«, murmelte Tal genervt, die stolz auf die athletische Figur ihres Phani war. Wieder wollte sie loslegen, aber diesmal kam ihr Ughtred zuvor: »Der Dürre hat Recht Frau Hexe. Wenn wir Odugme hier unten lassen, könnten sich seine Verletzungen verschlimmern. Wir sollten zumindest hierbleiben, bis es ihm wieder gut geht.«

Tal legte den Kopf erneut schräg, weil sie nicht verstanden hatte, wen Ughtred mit dem ›Dürren‹ gemeint hatte, aber Kyon sagte verärgert: »Genau Stumpen, wir hocken hier in der Finsternis und warten eine Jahreszeit, bis sich der Schwanzlose wieder in der Lage sieht seine Aufgaben zu verrichten.

Da platzte Tal die Hutschnur. Sie richtete sich auf und keifte: »Blödes Pack, mein Phani wird hier unten nicht eingehen! Wir machen es ganz anders. Wir gehen nach Angaworth zu meiner Mutter meines Vaters! Basta!«

Kyon und Ughtred sahen sie mit großen Augen an. Doch die Hexe hatte sich schon abgewandt und auf den Weg zur großen Halle gemacht. 

Später unterhielten sie sich im Schein eines ihrer Feuerzeuge über Tals Idee, doch weder Ughtred noch Kyon hatten dabei das Gefühl, etwas an ihrer Entscheidung ändern zu können. Hinzu kam, dass sie wahrscheinlich Recht hatte. Sie waren alle angeschlagen und Odugmes Zustand konnte nur als äußerst bedenklich beschrieben werden. Man könnte ihn für einen längeren Zeitraum in Stase versetzen, aber eine solche Maßnahme würde ihn kaum heilen und wer sagte überhaupt, dass diese Unternehmung in drei Tagen erledigt sein müsse? Zu dritt redeten sie sich den Ausflug nach Angaworth schön und am Ende hatten sie alle drei das Gefühl, die jeweils anderen überredet zu haben, der einzig richtigen Entscheidung beizupflichten. Zufrieden ruhten sie sich noch eine Stunde aus und begannen danach wortlos ihre Ausrüstung zu packen. Sie hatten beschlossen nur das Nötigste mit zu nehmen, da sie ja ohnehin wiederkehren würden.

Ughtred hatte zwischenzeitlich viele Städte der Silberwölfe gesehen, konnte sich aber deren größte Ansiedlung nicht noch prächtiger und seltsamer vorstellen, wie er es von Shishney gewohnt war. Was sollte noch drastischer sein als der Silberhafen mit seinen fliegenden Schiffen oder der unglaublichen Festung im Begr, die bis zu den obersten Zinnen des Gebirges reichte? Er hatte von den Wundern Angaworths gelesen, aber er hatte viele der Beschreibungen nicht verstanden. Unräume, so viel war ihm seit seiner Reise mit den Silberwölfen klar, waren Räume oder ganze Häuser, die sich auf der anderen Seite der Membran in der Anderwelt befanden. Er hatte das mit eigenen Augen in Raguels Grab gesehen und vor allem gespürt. Wer einmal durch die Membran gegangen ist, vergisst dieses Erlebnis niemals. In den Schriften der Wissenswahrer seiner Heimat allerdings, war von ganzen Straßenzügen oder Stadtvierteln in der Anderwelt die Rede. Konnte das sein? War es möglich, dass die Silberwölfe derart verrückt waren, dass sie derart große Areale in die Zwischenwelt verschoben und sich dann auch noch dauerhaft dort aufhielten? Er fragte Tal und sie nickte. Sie sprach leise und sagte, dass sie als Welpen Angaworths gesehen habe, sich jedoch kaum erinnern können. Wunder hingegen waren für sie an der Tagesordnung und Straßen, die ich in der Anderwelt befanden empfand sie nicht sonderlich spektakulär. Für sie, war der Konflikt zwischen ihren Eltern und der Vatermutter weit problematischer. Wie würde die alte Wölfin reagieren? Vor allem jetzt, wo sie, Tal, angefangen hatte, die Beweggründe ihrer Eltern zu begreifen. Yvatlan ven Arudsel war eine ebenso durchtriebene, wie auch typisch smavarische Frau. Sie hatte ein Gespür für Empfindungen und Schwächen und würde zweifelsfrei sofort erkennen, dass Tal begonnen hatte sich ihrem Vater zu nähern; was zwangsläufig einer Entfernung zur Großmutter bedeuten musste. Einst hatte sie auf Yvatlans Schoß gesessen und mit den Zähnen nach den Kordeln ihrer Bluse geschnappt. Würde sich die Vatermutter daran erinnern? Tal war sehr skeptisch. Und dann waren da ja noch ihre Begleiter. Kyon würde sie als Sliyn gerade so akzeptieren. Sie hielt sich an die Regeln und würde ihn beherbergen. Allerdings war sich Tal sicher, dass die Wölfin sich kaum auf die Allüren des Barden einlassen würde. Mit Odugmes würde sie sicher kein Problem haben, solange man den großen Mann wie einen Sklaven behandelte. Aber Ughtred, das war etwas ganz anderes. Nyghs waren keine Sklavenrasse der Smavari. Ughtred selbst würde sich mit Sicherheit nicht wie ein Untergebener verhalten. Er war zurückhaltend und ruhig, aber eben kein Sklave. Wie würde Yvatlan auf ein Wesen einer anderen Spezies reagieren, dass sich nicht der smavarischen Hoheit unterwarf? Sie schüttelte den Kopf und begann über die Regeln zu sprechen. Sie beschrieb Yvatlan ven Arudsel als einfache, wenn auch begüterten Frau, die keine anderen Meinungen außer ihren eigenen gelten ließ. Sie bat Kyon, sich zurückhaltend zu benehmen und seinen Status als Sliyn nicht zu überspannen. Ihre Vatermutter würde jede Hochnäsigkeit mit maximaler Ablehnung bestrafen und was dies bedeutete, musste sie nicht erst erklären. Gerade smavarische Frauen waren alles zimperlich, wenn sie sich übergangen fühlten. 

An Ughtred gewandt sagte sie: »Na ja, ihr kennt euch ja jetzt ein wenig mit den smavarischen Sitten aus und wisst wie unsere Leute anderen Völkern begegnen. Wenn wir im Anwesen meiner Vatermutter Yvatlan ven Arudsel sind, müsst ihr vornehme Zurückhaltung üben.«

Ughtred sah sie an und rieb sich dann über die Stirn. Dann fuhr er gedankenverloren das Zeichen der Wölfin in seiner Haut nach. »Am einfachsten wäre es wohl, wenn ich mich als euer kleiner Sklave ausgeben würde nicht wahr?«

Sie sah ihn an. Dann rollten ihre Augen nach innen und sie sah das zarte weiße Gesicht ihrer Mutter. Als Welpen hatte sie in den Armen ihrer Mutter gelegen und stets waren Schmetterlinge um sie herum geflattert. Güte, es sei die Güte, die kleiner, schwache Wesen anziehen. Dies und noch mehr hatte ihre Mutter einst zu ihr gesagt. Damals hatte Tal nach den Schmetterlingen geschnappt. Später hatte sie über ihre Mutter und ihren Vater gelacht. Doch heute, sah sie die Welt aus anderen Augen.

Sie blickte in die kleine Flamme auf dem Boden und sagte: »Nein, das wird nicht geschehen. Ihr seid kein Sklave und wir werden euch als unseren Wegbegleiter und Freund vorstellen.«

Kyon sah auf und spuckte in die Dunkelheit jenseits des Feuerkreises, doch Tal ignorierte ihn.  »Es genügt, wenn ihr sie nicht direkt ansprecht. Sie würde euch ohnehin zu nichts nützen sein.«

Ughtred nickte. Es war nicht klar, wie er auf Tals Ansprache reagierte. Er sagte einfach nichts. Tal zuckte mit den Schultern und holte ein Stück Trockenfleisch aus ihrer Tasche. Sie war nervös und versuchte dies mit dieser einfachen Geste zu überspielen, doch als sie bemerkte, dass die beiden anderen sie anstarrten, würgte sie den Streifen als Ganzes herunter und wandte sich ab.

Nach einer Weile erhob sie sich jedoch und erklärte, dass es keinen Grund gäbe, länger hier unten in diesem stinkenden Keller zu sitzen. Kyon und Ughtred standen wortlos auf. Sie hatten ohnehin nur darauf gewartet, dass die Doppelmondhexe bereit war. 

Der Vortex nach Angaworth befand sich laut Tagebuch im Süden. Niemand sprach aus was er dachte, doch es war eindeutig, dass die drei Abenteurer alles anderer als sicher über den Wahrheitsgehalt von Lonkaiyths Schriften waren. Vorsichtig streckte Kyon eine Hand aus und ließ die züngelnde Energie um seine Finger spielen. Fuchsjafarben krochen die Lichtbögen über seine Haut, machten sie transparent und ließen seine Knochen durchscheinen. Er wandte sich zu Tal und Ughtred um und zeigte seine Wolfszähne und kurz war die Werwölfin in seinem Schädel zu erkennen. Er grinste böse und machte einen entschlossenen Schritt in die ANderwelt hinüber. Für die Verbliebenen wirkte es, als zehnten die bunten Lichtbögen den Leib des Smavari auf. Tal sah zu Ughtred herunter und nickte ihm zu, aber es war dem Nygh anzusehen, dass er mehr als beunruhigt war. Dennoch griff er in die Lichter und ließ sich wortlos von den Anderweltkräften des Vortex verschlingen. Er erlebte dieses kosmische Ereignis bei vollem Bewusstsein. Zuerst zog ihm der Vortex den Boden unter den Füßen weg und er hatte das Gefühl aus der Welt gerissen zu werden. Fallend versuchte er sich zu orientieren und hörte die Angstschreie seines anderen Ichs, welches über ihm durch die Unendlichkeit glitt. Er war allein, dann lief er. Laufen bedeutete voran zu kommen. Sein ganzes Leben war er gelaufen, um von einem Ort zum nächsten zu gelangen, also tat er nun Instinkttief dasselbe. Wie in der Wüste von Draiyn Andiled dachte er sich laufend und kam so voran. Dann war es auch schon zuende und er stürzte zurück in die Realität. Er hatte Bewegungen gesehen, grau in violettem Licht, doch gerade, als sich diese Schemen seiner bemächtigen wollten, öffnete sich vor ihm die Dunkelheit und er stürzte zu Boden. Dies passierte leider im wahrsten Sinne des Wortes. Wie auch immer der Zielpunkt in Angaworth etabliert worden war, zwischenzeitlich musste es bauliche Veränderungen gegeben haben. Als Ughtred in einer Höhe von fast drei Metern durch die Membran brach und sich die Schwerkraft der Tiba Fe seiner bemächtigte fiel er wie ein Stein zu Boden und sah unter sich gerade noch den Barden, der sich den Kopf rieb. Schnell wie eine Giebelkatze drehte er sich in der Luft und kam auf allen Vieren am Boden auf. Er prellte sich zwar ein Handgelenk, hatte aber immerhin Kyon verfehlt und Schlimmeres vermieden. Ohne zu zögern drehte er sich um und breitete die Arme aus und diese Geste kam keine Sekunde zu früh. Schon brach Tal aus der Anderwelt und stürzte auf ihn zu. Sie hatte sich zum Glück für eine leichte Ausrüstung entschieden und trug nur eins ihrer sündhaft luftigen Kleidchen. Als sie in seinen starken Armen landete machte sie ein quiekendes Geräusch und zappelte wie ein Welpe, bis er sie zu Boden ließ. Ohne einen Dank schüttelte sie sich und sagte: »Wo sind wir denn nun wieder gelandet?«

Kyon deutete auf eine Beule an seinem Kopf und verzog schmerzhaft das Gesicht als er versuchte aufzustehen. Er war weit angeschlagener, als er es sich anmerken lassen wollte. Tal und Ughtred sahen ihm an, dass er unter Schmerzen litt und sie wussten beide, dass er damit nicht wirklich gut umgehen konnte. Er hatte andere Stärken.

Ughtred versuchte etwas zu erkennen. Sie befanden sich in einem Keller, der dem Tiefenfried Raugniths gar nicht unähnlich war. Aber andererseits, die Festung war von den Silberwölfen erbaut worden und dies hier war die Hauptstadt der kisadmurischen Silberwölfe. Warum sollten die Keller hier anders sein als weiter nördlich?

Er hatte sein Feuerzeug entzündet und deutete den düsteren Koridor hinunter. Es gab zwei Richtungen, aber auf der Seite auf die er zeigte, befand sich eine schwere Holztür. Vielleicht hatten sie Glück und der Ausgang des Kellers war ganz nahe.

Tal hob, Kyon imitierend, eine Hand und sagte leise: »Ich sehe Mal nach. Aber schon die Finger bei euch lassen ihr Molche.«

Dann ließ sie sich zu Boden sinken, verknotete ihre Glieder und glitt aus ihrem Leib. Sie sah noch wie Ughtred den Kopf schüttelte, doch dann wurde ihre Essenz eins mit dem Astralraum und sie ließ sich in Richtung der Tür fallen. Im Äthers konnte sie mehr der Struktur des Kellers erkennen. Es gab unzählige weitere Räume. Schnell durchmaß sie einige davon, fand einen zentralen Raum, in dessen Mitte ein Troll oder etwas vergleichbares angekettet war, aber ansonsten nichts weiter interessantes. Dieser Keller scheint unbenutzt zu sein. Doch als sie den Kopf durch einen der nahegelegenen Torflügel schob, zog sie ihn ruckhaft zurück. Auf der anderen Seite hatte sie ganz kurz ein gleißendes Leuchten wahrgenommen und dann eine Bewegung. Hier unten war doch etwas. Es war klein und hatte die Kontur eines Sackes. Ein langes, haariges Ärmchen schien ihm als einziges Fortbewegungsmittel zu dienen und sie war sich sicher, eine lederne Maske erkannt zu haben. Smavari verbannten ihre Maskenmännlein gerne in ansonsten verlassene Keller. Dies bestrafte einerseits die garstigen kleinen Kreaturen und schreckte eventuelle Eindringlinge ab.

So schnell sie konnte ließ sich sich durch die Wände in einen der Nebenräume ziehen und fand dabei mehr zufällig eine Wendeltreppe nach oben. Sie wusste, dass das Wesen sie ebenfalls wahrgenommen haben musste. Im Gestein schwebend überlegte sie fieberhaft, wie sie mit der Sache umgehen sollte. Maskenmännlein waren gefährlich. Sie verfügten oft über schreckliche psionische Kräfte und konnten darüber hinaus in geistigem Kontakt mit ihren Herren stehen. Es würde Alarm schlagen oder sie wenigstens erpressen. Diese Möglichkeit erschien der Hexe sinnvoller. Schnell ließ sie sich zurück in ihren Körper stürzen.

Als sie ihre Augen öffnete hatte sich Kyon gerade der Tür zugewandt und das bekannte Klacken seines Bogens, der in seine Hand geflogen war, bezeugte seine Nervosität. Schnell hob sie einen FInger vor ihre Lippen und nickte. Ja, da war etwas auf der anderen Seite und ja, es war gefährlich. Neben ihnen zog Ughtred lautlos seine Axt aus dem Gürtel und positionierte sich vorsichtig zwischen der Tür und dem Phani. Sie hatten ihn auf eine der Decken gelegt und ihn mittels Spinnenseilen hinter sich her gezogen. Er lag immer noch in Stase und wäre für jede Art von Angreifer ein leichtes Opfer gewesen. Ughtred ging in die Hocke und schwieg.

Fast zu spät kam Tal die Idee, mit den beiden in geistigen Kontakt zu treten. Sie hatte diese Disziplinen mehrere Male geübt und sie als äußerst leicht empfunden, doch jetzt, da es schnell gehen musste und wie so oft um Leben und Tod gehen könnte war sie zu nervös um die feinstofflichen Fäden in Einklang zu bringen. Fahrig griff sie in den Astralraum und wob die Stränge zu einer Form. Sie tastete nach Kyons Geist und frohlockte innerlich, als er in ihrem Kopf mit einer abfälligen Bemerkung antwortete. Sofort tat sie es mit Ughtred ebenso, doch dieser wehrte ihr Eindringen zuerst ab. Sie wandte sich ihm zu und deutete mit einem ihrer langen Finger an ihre Stirn und dann auf ihn. Er sah erschrocken aus, schüttelte den Kopf, doch dann rieb er sich mit der freien Hand über die Stirn und ließ sie ein.

›Ein Maskenmännlein wahrscheinlich‹, dachte sie. ›Hat mich wahrgenommen. Wird wahrscheinlich hier unten gehalten, um Eindringlinge auszurufen oder gar selbst auszuschalten. Aber wir sind drei und wir haben die Mittel es zu besiegen, wenn es zu einem Kampf kommen sollte.‹

Kyon verzog das Gesicht und wollte etwas sagen, als er sah, wie Ughtred blitzschnell eine seiner Wurfäxte zog und an ihm vorbei in Richtung der Tür schleuderte.

»Verflucht«, murmelte der Barde, drehte sich und schickte einen Pfeil hinter der Axt des Nyghs her.

Tatsächlich hatte sich die Tür einen Spalt geöffnet, doch beide Waffen fraßen sich zu hoch ins Holz. Das Ding kroch flach auf dem Boden. Es war ein schmutziger Sack, aus dem ein dürrer, Spinnenhaariger Arm reichte. Mit fahrigen Bewegungen kroch es in den Kellerraum.

Da Stand Tal auf und rief: »Wächter des Kellers, ich beschwöre dich. Halte ein und höre unsere Worte!« Dabei hob sie drohend Raguels Speer vor sich und blitzte mit den Augen.

»Hier steht …«, sie unterbach sich und blickte hinter sich zu Kyon, der auf dem Boden kauerte. Es war ihm anzusehen, dass er unter den Verbrennungen litt und Probleme haben würde, hier an einem Kampf teilzunehmen. »Hier kauert Kyon. Nein, Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor. Und dies ist Meister Ughtred, aus dem fernen Korezuul. Ich selbst bin Yt`Talan ven Arudsel, Doppelmondhexe und Nachfahrin der Vatermutter Lady Yvatlan ven Arudsel. Wir bereisen Angaworths auf einer Queste und gedenken uns im Hause derer von Arudsel auszuruhen. Stehst du uns im Wege? Willst du dein Dasein hier beenden und in der Anderwelt vergehen oder beugst du dich vor unserer Gewalt? Wir haben weit schlimmeren den Tod gebracht als dir, Wicht.«

Es war ersichtlich, dass der Unhold sich ordnungsgemäß bedroht fühlte. Er wich ein wenig zur Tür zurück und dann ertönte sein Zetern: »Jaaaaa, aber, me8n Meiiiisteeeer, wird mich unter Quaaaalen daniederstrecken. Das wird sicher erfreulich, doch auch kuuuurz.«

»Wenn der Zorn des Sliyn hier dich trifft, geht alles noch viel schneller und verabschiede dich schon einmal von deiner Seele, den dieser hier …« Sie deutete auf Ughtred, »… ist ein schrecklicher Seelendieb aus dem Reich der Geisterwälder.

Ughtred rieb sich kommentarlos über die Stirn und versuchte wie ein Seelendieb zu wirken. Das Wesen indess lugte mit seiner ledernen Maske aus dem Jutesack heraus, in dem es offenbar gefangen war. Die Maske hatte auf einer Seite eine große und auf der anderen zwei etwas kleinere Sichtöffnungen, die mit schmierigen Gläsern versehen waren. Es versuchte offensichtlich zu verstehen, was hier unten vor sich ging. Wahrscheinlich kam es alles andere als oft vor, dass Fremde durch sein Refugium schlichen. Es wusste garantiert nicht einmal von dem Vortex. Wie auch? Er war ja seit tausenden von Jahreszeiten inaktiv gewesen. 

»Was jetzt? Ein schneller und langweiliges Ende, oder eine sinnvolle Bestrafung, weil du uns nicht aufhalten konntest? Was soll es sein?« Tal stemmte bei diesen Worten ihre freie Faust in die Hüfte. Das Ding wedelte mit deinem Ärmchen und nickte ergeben. Dann zog es sich durch den Eingang zurück.

»Wendeltreppe«, sagte die Hexe und deutete auf den Ausgang mit den beiden Holzflügeln. Kyon erhob sich schwerfällig und Ughtred hob den Teil der Ausrüstung vom Boden auf, den er tragen konnte, während er den Phani hinter sich herzog. Jetzt war er der Sklave. Vielleicht sollte man einen Sark basteln und Odugme darin durch die ganze Tiba Fe ziehen. Das würde zumindest die Außenwirkung ihrer kleinen Unternehmung im Lot halten. Am schlimmsten war, dass er auch noch ein schlechtes Gewissen hatte, weil er Kyon nicht stützen konnte. Was was das nur mit den Silberwölfen? Wie machten sie es, sich alles und jeden zum Untertan zu machen?

 

Sie brauchten nur eine halbe Stunde, den Keller zu verlassen. Weit und breit gab es in diesem Teil der Stadt außer einigen entkommen Quinksklaven oder Hobgoblins keine Bewohner. Als sie ins Freie traten, erstreckte sich vor ihnen eine lange Straße von Links nach Rechts. Den Gebäuden, die zum Teil in die Felsenflanke des Gebirges gebaut waren gegenüber, befanden sich weitere Strukturen, vor denen sich Quink mittels Feuertonnen ihr Abendessen brieten. Die Umgebung sah ährmlich aus und überall auf dem Boden waren Müll und unrat verstreut. Ughtred versuchte dieses Bild mit Shishneys Reinlichkeit und Prunk in Einklang zu bringen, als Kyon seine Aufmerksam mit einem brüsken Rempler nach links dirigierte. Da gingen dem Nygh fast die Augen über. Die Straße führte auf eine Schlucht zu, wo sie über eine Brücke führte und danach wiederum in einen riesigen Platz vor einer Art in das Gestein des Gebirges Getriebe es Stadttor mündete. Ab der Stele, an der die Straße zur Brücke wurde, war sie von gebogenen Lampen beleuchtet, welche sich über den Bogen der Konstruktion bis hin zu dem Tor in die Lüfte erhoben. Der Stadtteil in dem sie sich befanden, musste eine Art vorgelagertes Viertel der niedrigsten Arbeiter sein. Die Brücke hingegen, führte über diese gigantische Schlucht zum Haupteingang von Angaworths, der Hauptstadt von Kisadmur.

Alle hier schien zu leuchten und sich auf eine merkwürdige, unreales Art zu bewegen. Auf der Straße brachten Quink Rohstoffe in die Stadt und zwischen ihren Karren und Schlitten bewegten sich moderne Transportdroiden und von fantastischen Tieren gezogene Kutschen. Das Tor, oder besser sein sich nach oben verjüngender Sturz, war gigantisch. Ughtred hätte das Material, aus dem es geschaffen war nicht benennen können und war sich nicht einmal sicher welche Farbe es hatte. Gerade waren die Tagesgeschwister am untergehen, da wechselte die Fassade und die Brückenbögen zu einem tiefen Dunkelgrün, doch im nächsten Moment schienen wieder Rottöne vorzuherrschen. In den Torflügeln und den Wänden links und rechts davon befanden sich Nie schön, in denen er glaubte Silberwölfe sitzen zu sehen. Kyon, darauf angesprochen nickte und erklärte, dass dies Torwächter seinen. Sie hätten ihr körperliches Dasein aufgegeben und verbrächten den Rest der Unendlichkeit in der Funktion die Torflügel mittels geistiger Energien zu öffnen und zu schließen. Auf seine Frage wie sie schliefen und sich entleerten, bekam er keine Antwort. 

Tal hob eine Hand, doch als sie damit nicht das gewünschte Ergebniss erzielte, nahm sie den Daumen und Zeigefinger ihrer freien Hand in den Mund er ließ einen schrillen Pfiff erschallen. Ughtred und Kyon erschraken und der Silberwolf sah sich um, wie ein gescholtener Welpe. Doch kurz darauf hielt einer von den Transportdroiden und ließ die Rampe seiner Kabine aufklappen. Es handelte sich um ein seltsames Ding, halb künstlicher Lope, halb humaner Oberkörper, dort wo der Hintern des Tieres hätte sein sollen. Anstelle eines Rückens befand sich an der Oberseite des Vehikels eine enge Kabine, in der allerdings dennoch drei der Abenteurer platz fanden. Odugme hingegen wurde auf eine Ladefläche zwischen den fünf Beinen des künstlichen Wesens gelegt. Ughtred hatte Angst, die Fahrt könne den Freund weiter verletzen, aber Tal beteuerte, dass diese Art von Droiden ihr Handwerk verstanden und eine einmal in Auftrag gegebene Last niemals beschädigt würde. Außer natürlich ein anderes Fahrzeug würde den Droiden rammen. Oder die Brücke würde einstürzen. Oder ein Amytor … Ughtred hob warnend die Hand und Tal wandte sich dem Droiden zu. Er hatte ein echtes Gesicht, nur schmale Augensensoren und etwas, dass wie ein Sehschlitz in einem altertümlichen Helm aussah. Sie erklärte, wohin die Reise gehen sollte und da der Fährmann das Anwesen derer von Arudsel kannte, stand dem Einzug nach Angaworth nichts mehr im Wege.

Ughtred machte ein bedenklich es Gesicht.

»Was los?«, fragte Tal in saloppen Ton und wischte sich eine Strähne ihres zwischenzeitlich wieder länger gewordenen Haares aus den Augen.

Der Nygh blickte zu der Brücke hinüber und wollte etwas sagen, aber sie kam ihm zuvor: »Keine Angst, die Brücke wird nicht einstürzen und Amytoren gibt es hier auch nicht. Die Stadt wird gut bewacht.«

Er rollte mit den Augen und erwiderte: »Genau das macht mir Sorgen. Werden sie uns nicht kontrollieren? Wird man nicht wissen wollen, was wir hier machen?«

Sie lachte. »Ich besuche meine Vatermutter?!«

»Und ich?«

»Ihr seid mein Freund und ich stelle meine Freunde gerne meiner Familie vor.« Sie stockte. Tatsächlich, hatte sie noch niemals einen Freund einem Mitglied ihrer Familie vorgestellt. Northrian hatte ihr Kyon vorgestellt, aber nie umgekehrt. Sie hatte sich so lange für ihre Eltern geschämt und hätte nie in Erwägung gezogen, jemanden mit zu ihnen zu bringen. Bei ihrer Vatermutter war es im Grunde fast noch schlimmer. Sie befürchtete, niemanden auf der Tiba Fe zu kennen, der es aus der Sicht der alten Dame wert gewesen wäre, ihn ihr vorzustellen.

Sie räusperte sich und sagte: »Macht euch keine Sorgen. Wir Smavari sind ein freundliches Volk und mögen Gäste.«

Ughtred schüttelte den Kopf und gab es auf. Er blickte die Schlucht entlang und bewunderte die vielen kleineren Landhäuser, die hier in zum Teil irrwitziger Bauweise in den Fels gestellt worden waren. Wie machten die Verrückten das nur? Dranought war ebenfalls in eine Steilwand geschlagen worden, aber die Unterkünfte befanden sich innerhalb des Gebirges. Es war ja eher kein Problem Gebäudestruktueren in einen Fels zu schlagen. Hier aber, wuchsen Türme, Mauerwerk und zum Teil ganz und gar freistehende Zimmerfluchten aus dem Berg und ragten weit über die Schlucht hinaus. Einige der Bauwerke schienen gar den Fels nur zu berühren und schwebten über der Schlucht. Erneut schüttelte er den Kopf und nahm die Wunder von Angaworth in sich auf.

Als der Droide das gigantische Tor erreichte, wurde offensichtlich, dass einen Spalt weit offen stand. Dieser Spalt, maß wenigstens fünfzehn Schritte und war über zehn Mann hoch. Dahinter befand sich ein kleiner Platz, auf dem es sich viele Quink bequem gemacht hatten. Eine lange Schlange von ihnen wartete, ins Inner der Stadt vorgelassen zu werden. Hinter dem Platz gab es eine noch viel größere Fläche, und dahinter noch eine. Die beiden Letzteren waren teilweise überdacht. Gewaltige Steinbögen bildeten ein riesiges Gewölbe und schützen die großen Plätze vor dem, für die Silberwölfe gefährlichen Einfluss der Tagesschwestern.

Überall bewegten sich Quink, Droiden, Smavari und andere Wesen, deren Herkunft und Art zum Teil schwer zu bestimmen war. Ebenfalls war es unmöglich, auch nur zu schätzen, was all die Leute hier taten oder vorhatten. An den Rändern der Plätze befanden sich, ähnlich wie in Raugnith, nur bedeutend größer und weitreichender, eine Vielzahl von Trinkhallen, Sudhäusern und anderen Etablissements. Hinter den Plätzen erstreckte sich eine Welt der Wohnstrukturen, die ebenso fantastisch war, wie die Brücke und das Tor Angaworths.

Die drei ließen bei einem offenen Sudhaus anhalten, um sich zu beraten, aber nach kurzer Zeit stellte sich heraus, dass es nichts zu Beraten zu geben schien. Sie waren nun hier und der Gnade von Tals Vatermutter unterworfen. Was sollten sie tun, ein Gastgeschenk mitbringen? Kyon kannte die Frau nicht, aber er wusste wie diese Wesen waren. Versuchte man sich unehrlich einzuschleimen, war man auf Gedeih und Verderb verloren. Da würde er es lieber mit seinem angeborenen Charme versuchen. Ughtreds und Odugmes Zukunft hingegen sah er im Argen.

Tal winkte ab. Ihre Großmutter sei eine nette alte Dame und würde sie herzlich empfangen. Der Miesepetersliyn würde schon sehen. Seltsamerweise schienen sie ihre eigenen Worte jedoch auch nur wenig zu beruhigen. Es war zu lange her, um Frau Arudsel noch richtig einschätzen zu können. Außerdem konnte alles Mögliche passieren. Grüne Wölfin, Nyghhass oder Phanineid waren da noch die geringsten Sorgen über die sie auf der Fahrt nachgedacht hatte. Andererseits war sie eine Doppelmondhexe und Kyon ein Sliyn. Das musste einfach reichen. Yvatlan war nicht einmal eine Ayn. Aber sie war Yvatlan. Tal schwieg und deutete auf den Lastdroiden. Was würde es bringen Zeit zu schinden? Sie hatten den verrückten Riesen besiegt und den Speer an ihrer Seite. Was konnte schon schief gehen?

 

»Lady Yvatlan ven Arudsel ist leider unpässlich, doch sie bittet die Gastfreundschaft des Hauses anzunehmen und freut sich schon auf ein Wiedersehen mit der Tochter ihres geliebten Sohnes.« Der Hofmeister des Anwesens hatte nicht nachgefragt. Er war ein älterer, schmaler Quink mit einem schwarzen Anzug aus Hirschleder. Sein Kinn war erstaunlich lang und berührte beim Sprechen seine Brust. Als sich die Tür des Anwesens geöffnet  hatte, stand er schon dahinter. Eine weiträumige Einfahrt trennte die äußere Mauer vom eher trutzigen Haupthaus. Der Quink hatte ohne zu zögern gesprochen und machte damit klar, dass man die Besucherin und Besucher erwartet hatte. Dies war nicht eben ungewöhnlich, wie Tal und Kyon wussten. Gerade ältere smavarische Damen konsultierten häufig Hellseher, wenn sie das Gefühl hatten, etwas in der Eintönigkeit ihres endlosen Daseins würde in Kürze ins Wanken geraten. Zweifelsfrei hatte Yvatlan genau dies getan und sich vorhersagen lassen, wer sie in Kürze besuchen würde. Was genau sie jedoch wusste, stand in den Sternen. Tal blickte Kyon an, hob die Schultern und sagte: »Hofmeister, veranlassen den Transport meines Phani in meine Gemächer. Er ist verwundet und benötigt einen Heiler.«

Kyon sah sie böse an.

»Ja, und, er hier, Kyon, nein, Sliyn Kyon, er ist auch verwundert, äh verwundet und braucht auch einen Heiler. Dringend das Ganze.«

Sie sah zu Ughtred hinunter, doch dieser winkte nur ab,

Der Quink sagte trocken: »Es wurde sich gekümmert. Der Droide kann den Phani hereinbringen. Wen die Dame und die Herrschaften mir folgen wollen, die Zimmer und Erfrischungen warten.«

Vom restlichen Aufenthalt in der großen Stadt ist nicht allzuviel zu berichten.Lady Yvatlan ven Arudsel empfing natürlich einige Stunden später die Tochter ihres Sohnes. Wie erwartet hatte sie selbst sich nicht verändert, doch für Tal sah dies natürlich ganz anders aus und wo die Dame früher mit der Haltung der jungen Frau noch zufrieden gestrichelt hatte, ließ sie nun unverhüllt durchblicken, dass sie keine Kollaboration mit dem abtrünnigen und sturren Sohn duldete. Wo käme man da hin? Smavari lebten nicht mit ihren Sklavenrassen zusammen und ja, der Sliyn (der im Übrigen nicht zu dieser Besprechung geladen war) könne selbstverständlich des Regenerationsbett des Hauses nutzen, der große schwarze Mann hingegen natürlich nicht. Tal versuchte es mit Bitten und Verärgerung, doch die Hausherrin blieb stur. Seelenruhig erklärte sie der Sohnestochter, wie lieb sie einst gewesen war und das sie sich nun schämen sollte, die smavarischen Werte mit ihren viel zu flachen Schuhen zu treten. Ja, die Tage könne man den Sliyn empfangen und nein, der Phani dürfen nicht ins Regenerationsbett. Und der Wicht (sie sprach von Ughtred) brauche so etwas ja nicht, da er ganz und gar astrahl sei und sich jederzeit selbst regenerieren könne. Sie unterhielt sich sogar einige Momente mit dem Nygh, ging aber auf dessen Aussage, ein ganz normales Wesen zu sein nicht ein. Abfällig stufte sie ihn ebenfalls als, wenn auch interessanten, Diener des Sliyn oder Tals ein. Über North wurde nicht gesprochen und Tal fragte sich später warum. Vielleicht hatte Yvatlan diese Gedanken abgeblockt. Dies war ihre geistige Kraft. Jedes einzelne Mal, wenn Tal versuchte verbal auf sie einzuwirken, wischte die alte Dame die Argumente aus der Luft und ließ sie in der Anderwelt verschwinden. Weder kam sie mit Härte noch mit offensichtlicher Ablehnung daher. Sie wischte einfach nur und Tal redete über das Wetter.

Zu besagtem Treffen mit Kyon kam es nicht. Der Termin wurde kurz vorher von dem Quink mit dem steifen Anzug verschoben. Die Lady sei unpässlich und man würde einen neuen Termin vereinbaren. So ging es mehrere Male und am Ende hatte man das Gefühl, selbst der Grund für die Verschiebung zu sein. Schließlich war man es leid und konzentrierte sich auf die Erholung und die Stadt. Kyon hatte immerhin besagtes Regenerationsbett konsultiert und fühlte sich wie neu geboren. Gemeinsam mit Ughtred zog er von Kaschemmen zu Lusthaus und versuchte den Nygh zu verderben, aber Ughtred war eine harte Nuss und es würde schon wenigstens ein oder zwei weitere Abenteuer brauchen, ihm die Seele zu verkehren. Was nicht war konnte ja noch kommen.

Im Übrigen lernte der Nygh bei einem dieser Besuche einer Kaschemme im Zentrum von Angaworths Iselwig kennen. Genauer gesagt, lernte sie ihn kennen. Sie sah ihn den Schankraum betreten, versteckte sich jedoch. Warum war ihr nicht einmal klar. Natürlich hatte sie seit langer Zeit keinen anderen Nygh mehr zu Gesicht bekommen und hätte jeden Grund gehabt auf ihn zuzustürzen und ihn zu umarmen, aber das Leben unter den Silberwölfen hatte sie genau wie Ughtred auch, verändert. Sie war vorsichtig geworden und nahm Abstand von Konzepten wie Zuneigung und Glück. 

Wer sich nun fragt, wer Iselwig überhaupt war, muss sich leider gedulden, bis diese Geschichte fortgesetzt wird (Anmerkung des Autors).

Schließlich bestädigte der Quinkheiler des Hauses Odugmes Genesung und somit gab es keinen Grund mehr, länger in Angaworth zu verweilen. Kyon brachte Gründe vor. Freude, Befriedigung, Ruhe, Kreativität und all solche Dinge konnten jedoch Tal nicht überzeugen die wunderbare Tristesse von raugniths Kellern weiter zu meiden. Außerdem wartete das Abenteuer in Form einer urgewaltigen Bestie auf sie. Was hatte da Angaworths schon entgegen zu setzen.

Der Ausflug der grünen Wölfin in Kyons Leib wurde hier absichtlich ausgelassen. Es wäre kaum hilfreich seinen Charakter weiter mit dem Tod Unschuldiger Kindlein oder anderen Unschönheiten zu belasten. Das schafft er mit etwas Mühe früher oder später sicher ganz allein. Nur soviel sei gesagt: Er war blutig – der Ausflug.

 

Niemand hinderte die Abenteurer daran die Anlage vor Angaworth zu betreten und nicht einmal das Maskenmännlein stellte sich ihnen in den Weg. Der Vortex hatte sich nicht verändert. Sein Flackern begrüßte die Abenteurer und Ughtred stöhnte leise, wurde aber von Odugmes riesiger Hand auf der Schulter getröstet. Der Phani hatte weitere Narben davongetragen und würde auf dem Markt von Shishney sicher nicht mehr viel bringen, aber er war gesund und an Erfahrung reicher. 

Der Rückweg nach Raugnith schien schneller vonstatten zu gehen als die Reise nach Angaworth. Dies lag aber vor allem an der Routine. Man rannte nicht durch die Zwischenwelt. Man wollte sich bewegen. Es war wie Tals Astralwanderung. Man ließ sich ans Ende des Tunnels fallen. Ughtred hatte den Bogen fast heraus, als die Reise auch schon endete und er auf den dunklen Steinboden des Spiegelturmzimmers prallte. Kyon, der vor ihm gegangen war, hatte einen leichtfüßigen Hopser gemacht und sich mit einladender Geste vor dem Nygh aufgebaut. Als begrüße er den Freund in einer neuen Unterkunft verneigte er sich demonstrative und benotete dann mit seinen Fingern Ughtreds Sturz. Dieser rappelte sich auf und wollte dem Barden schon seinen nackten Hintern präsentieren, aber da kam auch schon Tal aus der Zwischenwelt und so verkniff sich Ughtred diese freundliche Geste.

Es war soweit. Die Stunde der Wahrheit hatte geschlagen. Kyon hob und senkte die Schultern, wandte sich der nächsten Öffnung im Gefüge der Anderwelt zu und schüttelte dabei den Kopf. Es war ihm anzusehen, dass er selbst nicht nachvollziehen konnte, warum er all dies hier tat. Dann streckte er eine Hand aus, ließ die Lichtbögen mit dem Stoff seines Hemdes spielen und verschwand im Nichts. Ughtred rieb sich die Stirn und folgte dem Barden. Tal wandte sich zu Odugme um und machte ihm ein Zeichen, den Sarg stehen zu lassen. Sie ging neben der ramponierten Kiste in die Hocke und legte eine Hand auf das Holz, als sie flüsterte: »Diesmal nicht mein Bruder.« Dann deutete sie auf den Vortex und Odugme schlurfte den anderen beiden hinterher.

 

Daragros Feueresse

Hustend versuchte Kyon sich zu orientieren. Dann nutzte er den ersten Atem um zu fluchen und bereute es sofort. Er blinzelte und machte schnell Platz für die anderen. Seine Knie taten ihm weh, denn er war aus der Anderwelt auf scharfkantige Steine geprallt. Hinter ihm war das Schnaufen des Nyghs zu hören. Er blickte sich um und sah, wie Ughtred mit den Füßen voran auf dem Boden der Höhle aufkam und ein Stück an Kyon vorbei schlitterte. Dann ging er in die Hocke und Kyon fragte sich, warum ihm selbst dies nicht gelungen war. Offenbar machte dem Nygh nicht einmal das Fehlen der Atemluft etwas aus. Der kleine Mann deutete auf Kyons Halstuch und sagte mit seinem unerträglichen Akzent: »Ihr solltet drauf Pissen, Herr Silberwolf. Ein mit Urin getränktes Tuch vor dem Gesicht filtert die Giftstoffen aus dem Rauch den ihr einatmet.«

Dann riss er sich ein Stück Stoff aus dem Unterhemd und tat genau, was er Kyon vorgeschlagen hatte. Der Barde schüttelte angewidert den Kopf. Und da wagte sich dieser Stumpen, seine Taten als pervers zu betiteln. Pisse im Gesicht, ging es perverser? Doch dann blieb ihm erneut die Luft weg und so ging er kurzerhand auf den Vorschlag des Nyghs ein. 

Tal und Odugme waren ebenfalls aus dem fuchsiafarbenen Licht des Vortex geschlittert. Sie husteten und Kyon erklärte sein Handeln und tat so, als ob es seine Idee gewesen wäre. Tal riss ein Stück ihres Überrocks herunter und gab es Odugme und nutzte ihr eigenes Halstuch für sich selbst.

Die Höhle hatte etwas von Grund auf Bedrohliches. Es war nicht das Gefühl beobachtet zu werden oder sich im Revier eines Raubtieres zu befinden. Es waren die Elemente selbst. Es stank nach Schwefel und anderen Chemikalien und die Luft war viel zu heiß und von beißendem Qualm erfüllt. Immer wieder ging ein Rumpeln durch den Berg, als wolle der Vulkan die Besucher nie vergessen lassen, dass er nur ein Nickerchen machte und jederzeit bereit war zu erwachen und sie in glühender Lava aus seinem Magen zu würgen.

Kyon richtete sich auf, stieß sich den Kopf an einer Felskante und fluchte. Das Tuch dämpfte jedoch seine Worte. Er rieb sich den Kopf und deutete auf eine schmale Öffnung. Außer dem Vortex gab es hier nichts Auffälliges. Es gab kein Zeichen, dass jemals vor ihnen jemand hier gewesen war. Dennoch ließ er seinen Bogen so langsam wie möglich in seine Hand gleiten und legte locker einen Pfeil auf die Sehne. Dann schlich er auf den Durchgang zu. Nach einigen Schritten gab es einen Knick, von dem Kyon schätzte, dass er in Richtung Norden führte, doch er war sich nicht sicher, denn er hatte hier unten die Orientierung verloren. Er wandte sich zu den anderen um, konnte sie aber im Qualm kaum erkennen. Er zwängte sich durch einen Tunnel mit kantiken Vorsprüngen und unebenem Boden. Dann kam er an eine Abzweigung. Er wählte ohne besseres Wissen den linken Durchgang und fand sich nach wenigen Schritten in einer kleinen Felsenkammer wieder, in der ihm zumindest das Atmen leichter fiel. Ughtred drängte sich an ihm vorbei und deutete auf eine Stelle im Fels.

»Seht Mal, da entweicht der Rauch. Es muss hier Risse in der Außenwand des Berges geben; eine Art Bruch«, sagte der Nygh und nahm das Tuch von seinem Gesicht um die bei Weitem bessere Luft einzuatmen.

Sofort taten die anderen es ihm gleich. Kyon fragte, ob das Geröll brüchig genug sei, um auch einen Fluchtweg darzustellen und Ughtred nahm einige Brocken auf und untersuchte sie. Dann zuckte er mit den Schultern und sagte: »Weiß nicht genau. Wir müssten eine Weile graben. Aber ja, besser als hier unten zu ersticken. Im Ernstfall müsste man es schaffen, hier ins Freie zu kommen. Allerdings weiß ja niemand, wie es da aussieht. Vielleicht würden wir in die Tiefe stürzen.«

Kyon verzog das Gesicht und murrte: »Witzig wie immer, der Herr Dieb. Kann er nicht einmal etwas Lustiges oder Erfreuliches sagen?«

»War doch erfreulich …«

»Was für ein Glück«, knurrte Kyon und schob sein Tuch zurecht.

Da es von hier aus nicht weiter zu gehen schien, machte er kehrt und ging zu der Abzweigung zurück. Als er an Odugme vorbei kam, konnte er trotz der Maske des Phani sehen, dass der große Mann Probleme mit der Nähe des Schildes hatte. Tal tat sich ebenfalls nicht gerade leicht damit, doch aus anderen gründen. Sie war stärker geworden, weit stärker als Kyon selbst, aber der Schild war äußerst schwer und zweifelsfrei nicht für die Schultern eine zierlichen Hexe geschmiedet worden.

»Hier entlang«, hüstelte er und verschwand im Dunst des zweiten Ganges. Hier erweitere sich der Durchgang bald zu einem komplexeren Höhlensystem. Auch die Luft schien hier zumindest ein bisschen atembarer zu sein. Kyon hob einen Stein auf und war ihn in den Raum. Er erwartete zwar keine Bewohner in diesem Inferno, aber er war vorsichtig geworden. Aus dem Tunnel wurde eine hohe Kavernen aus erkältet er Lava und Felsgestein. Es war gut zu erkennen, welch unglaubliche elementaren Kräfte hier gewütet haben müssen. 

Er schlich über den geröllübersähten Boden, versuchte möglichst keine Steine zu bewegen und erkannte wenigstens zwei weitere Durchgänge. Wieder entschied er sich dafür, zuerst den Linken zu testen und wurde mit einer unerwarteten Belohnung konfrontiert. Der Tunnel war Recht lang, endete aber in einer kleinen Kammer, in der zerbeulte Rüstungsteile und vor allem Knochen auf dem Boden lagen. Wenigstens zwei Smavari waren hier gestorben und die übrigen Gebeine ließen auf Quink und Hobgoblins schließen. Eine Abenteuergruppe wie die ihre, dachte Kyon, aber seltsamer weiße, verstärkte dies nicht seine Angst. Er überlegte und kam zu dem Schluss, dass es da offenbar nichts mehr zu verstärken gab. Kurz überlegte er, wie Ytˋtalan ihren Ängsten begegnete. Die Hexe schien sich jenseits jeglicher Realitäten zu bewegen. Oder lag dies gar nicht an ihrer Berufung? Er dachte an seine Mutter und schüttelte den Kopf. Es musste ja einen Grund geben, warum die meisten Festungen und Städte Kisadmurs von Frauen beherrscht wurden – und wohlgemerkt, im Reiche der Smavari herrschte das Recht des Stärkeren. Was sagte dies über das Gefälle zwischen Männern und Frauen aus? Natürlich hätte er sie mit einem gezielten Pfeil besiegen können, aber wie schnell würde sie eine ihrer todbringenden Kräfte aus dem Äther ziehen und ihn in eine schleimige Kröte verwandeln? 

Schnell schob er diese Gedanken in den Hintergrund und untersuchte das smavarische Skelett mit den am besten erhaltenen Rüstungsteilen. Weder gab es Waffen, noch sonstige Ausrüstungsstücke und auch Ressourcen fand er keine, aber plötzlich ertastete sein Geist ein neuronales Signal. Er erlaubte den Kontakt und schon erhob sich ein Shimwas aus dem Schmutz neben dem Skelett. Es war ein alter gravitorischer Shimwas und er schien in einwandfreiem Zustand zu sein. Der darin gebrannte Geist verband sich mit Kyon und begann langsam seine stärkende Wirkung zu entfalten, während das Gerät selbst seinen Platz neben dem anderen Externen Shimwas den Kyon besaß Stellung bezog. 

Zuerst überlegte Kyon, das Gerät zu verbergen. Er kannte Tal. Sie würde es für sich beanspruchen. Aber er hatte das Gefühl, dass es seine eigenen Kräfte besser unterstütze, als es an ihr wirken würde und außerdem konnte es ja auch nicht sein, dass sie stets alles Angriff, was er fand. Schließlich war er ein Sliyn. Schließlich bedeutete dies nichts und er musste wieder an ihre Hexenkräfte denken. Es ärgerte ihn und er entschied das Fundstück in jedem Fall zu verteidigen. Mutig wandte er sich um und machte eine wedelnde Handbewegung.

»Zurück, hier ist nichts und es geht nicht weiter.«

Ughtred, der alles mit angesehen hatte, nickte stumm und gehorchte. Er grinste grimmig, weil er zu wissen schien, was in dem Barden vor sich ging.

Tal sagte: »Was ist denn da?«

»Nichts, habe ich doch gesagt.«

»Was habt ihr denn da über eurer Schulter schweben? Das war doch eben noch nicht da oder?«

Er holte tief Luft, bereute es und murmelte: »Doch, doch, Frau Hexe, das war schon immer da. Ihr solltet euer Brille reinigen.« Und mit diesen Worten folgte er Ughtred und zwängte sich dabei harsch an Tal vorbei.

Sie drückte sich an die Wand und warf einen Blick in die Felsenkammer.

»Da sind Knochen am Boden. Sicher andere Abenteurer«, sagte sie mit quängelicher Stimme und Kyon wusste genau, was als nächstes kommen würde.

»Habt ihr da einen neuen Shimwas gefunden?«

Er rollte mit den Augen und erwiderte harsch: »Neeee, das ist ein sehr alter Shimwas, und er gehört jetzt neuerdings mir!«

Sie nickte und als er sich abgewandt hatte, streckte sie ihm die Zunge heraus. Doch er hörte ihr leises Flüstern in der heißen Luft: »Noch gehört er euch, noch.«

Der zweite Tunnel schließlich machte einen großen Bogen. Kyon, dessen Empfindsamkeit für solche Dinge nicht gerade geschult waren, spürte, wie sich die Temperatur bei jedem seiner Schritte hob. Seine Haut schien zusends auszutrocknen und das Tuch vor seinem Gesicht hatte seine Wirkung verloren. Er schwitzte wie ein Quink in der Wüste und löste das Tuch, um etwas besser atmen zu können; doch es gab kaum noch etwas zum Atmen.

»Es wird immer heißer«, sagte er überflüssiger Weiße, denn es war eindeutig, dass die Anderen seine Wahrnehmung teilten. Einzig Odugme schien die Hitze wenig auszumachen. Zwar rann ihm Schweiß über die riesige schwarze Brust, aber sein Metabolismus schien auf hohe Temperaturen eingestellt zu sein. Mit glänzender nackter Haut zwängte er sich an scharfkantigen Steinen vorbei und versuchte möglichst weit von dem Schild entfernt zu bleiben.

Neben der Temperatur, schien auch bei jedem Schritt den Kyon machte ein Geräusch an Macht zu gewinnen. Es knisterte und rauschte und dann war da noch etwas pulsierendes und mahlen des. Seine Nackenhaare stellten sich auf und er Begriff, was er hier hörte. Es musste der Magen des Berges sein, der sich mit dem Herzschlag der Bestie ein Duell lieferte. Wie waren sie nur hierher gekommen? Er verfluchte zum tausendsten Male seinen Vater und fragte sich, wie er nur so dumm gewesen sein konnte, diese Unternehmung in Angriff zu nehmen. Er war doch klug. Warum saß er dann nicht in einem der Lusthäuser in der Oberstadt von Shishney und ließ sich von einem der Helfer massieren? Warum?

Der Feuersee war unbeschreiblich. Aus dem Tunnel tretend, fanden sich die Abenteurer in einem riesigen, unüberschaubaren Felsendom wieder. Die Decke war an manchen Stellen dutzende von Metern hoch und im unebenen Boden gab es Löcher und Gruben, von ebensolcher Tiefe. Aus der Decke flossen Lavaströme, ergossen sich über den Boden und stürzten dann in die bodenlosen Tiefen hinunter. Alles hier war in Bewegung. Flüssiger Stein machte einen Großteil der schmalen Brücken über den schier endlosen Lavassee unpassierbar. Kyon versuchte sich einen Überblick zu verschaffen und zählte sechs Brücken, aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, mittels einer von ihnen auf die andere Seite des Doms zu gelangen. Doch offenbar, war dies die einzige Möglichkeit diese Unternehmung weiter zu führen. Wie beschrieb es sein Vater im Tagebuch?

 

Ist des Riesen Fluch erobert, kann nur die Hand des Wolfsvolks ihn bezwingen. Andre geben Leib, Geist und Leben. Und auch der Wolf soll Vorsicht walten lassen, denn laut und schlimm verdorben ist das Flüstern dieses Dings.

Doch zu welchem Zwecke? Nun dies zu beantworten fällt nicht schwer. Wer sie kennt wird wissen: die Feueresse des Daragros brennt das Fleisch von jedem Knochen.

Oh weh uns, denn an dieser Stelle gilt`s. Kein Zurück mehr und kein Zaudern, jetzt zeigt es sich wie Helden streiten. Ganz ohne Furcht geht`s hoch hinauf in der Bestie feuriges Bett. Hier liegt der Schlüssel zu uns noch verborgener Welt.

 

Er rieb sich den Schmutz aus den Tränen den Augen und wollte etwas sagen, aber Ughtred, der neben ihn getreten war, deutete auf eine Stelle in der Mitte des Infernos und rief gegen das Brüllen der Lavefälle an: »Da, seht ihr das? Da ist eine Art Steg. Wenn Tal den Schild über uns hält, können wir die Lava abhalten und auf die andere Seite gelangen.«

Kyon schüttelte den Kopf. Er konnte sich nicht vorstellen, diese elementaren Kräfte zu beeinflussen.

»Was ist mit der Außenwand. Seht dort, da fließt keine Lava herab.«

Der Nygh schüttelte mit dem Kopf und rief: »Da ist eine Lücke und kann von hier aus erkennen, dass die Steine locker sind. Was wie ein Weg aussieht ist eine Todesfalle. Wir müssten springen und zumindest ihr würdet das auf keinen Fall bewerkstelligen.«

Der Barde verzog das Gesicht. Es war einfach unmöglich. Das ganze Ding war unmöglich. Sie würden verbrennen und wenn sie wie durch ein Wunder doch die andere Seite erreichten, würden sie was tun? In die Schlafkammer eines Lugen eindringen und ihn bestehlen? Bei den Nugai, was hatte er sich bei diesem Irrssin gedacht?

Tal trat neben sie und ließ den Schild zu Boden fallen. Sie streckte sich und knöpfte ihren Überrocks auf. Dann löste sie die Schnallen ihrer leichten Lederrüstung bekannt sich auszuziehen. 

»Was wird das?«, fragte Kyon und schüttelte den Kopf. War sie jetzt ganz und gar verrückt geworden. Dachte sie etwa daran jetzt und hier ihre Triebe zu befriedigen?

Wortlos zog sie sich weiter aus. Ihre Haut glänzte vom Schweiß und war gerötet von der Hitze. Ihre Brüste hatten sich zusammengezogen und waren klein und hart. Ihr ganzer Körper hatte etwas Knabenhaftes, doch da war auch eine Ausstrahlung von zäher Stärke, die sie eckig und unnahbar wirken ließ. Sie bückte sich zu ihrer Tasche und holte einen großen Tiegel hervor. Dann begann sie sich mit der darin befindlichen Paste einzureiben. 

»Brandsalbe, wisst ihr noch?«

Ughtred nickte und begann sich ergeben ebenfalls auszuziehen. Er hätte den Hort ohnehin nicht gerüstet betreten. Er musste flink sein. Keine Rüstung seines oder sonst eines Volkes hatte etwas dem Zorn eines Drachen entgegenzusetzen. Ein Lendenschurz musste genügen. Er würde zumindest seine Würde waren. Doch hier unten und mit den Silberwölfen zählte diese Geste wahrscheinlich ausschließlich für ihn. 

Er wandte sich Odugme zu, um diesem zu zeigen wie er sich eincremen musste, aber die Hexe gebot ihm Einhalt. Sie sagte nüchtern: »Nein. Er wird nicht mit uns kommen!«

Ughtred sah den Phani an und nickte. Sie hatte Recht. Es gab hier nichts für den großen Mann zu tun oder zu finden. Auf der anderen Seite des Feuersees gab es nur den Tod. »Ja. Er bleibt besser hier«, sagte er und versuchte seinen Rücken mit der Salbe zu erreichen.

Tal langte nach seinem Kopf, drehte ihn, so dass er ihr den Rücken zuwenden musste und begann diesen mit Salbe zu bestreichen. Ughtred war dies eindeutig unangenehm. Die Art, wie die Silberwölfe mit Intimität umgingen war für ihn immer unangenehm. Doch was sollte er hier unten tun? Sich zieren und verbrennen? Sicher nicht.

Kyon hatte nun ebenfalls begonnen sich zu entkleiden. Er schüttelte dabei den Kopf, als wolle er immer wieder dieses Schicksal hinterfragen und dabei den toten Vater verfluchen, aber er handelte wie ein Droiden, effizient und ohne weitere Ausflüchte. Schließlich hatte er seine Vorderseite mit der Salbe bestrichen und bückte sich, damit Ughtred am Rücken weiter machen Konnte, aber Tal schob den Nygh brüsk zur Seite und übernahm selbst diese Arbeit. Er wollte dies eigentlich nicht. Zumindest zu einem großen Anteil gab Kyon ihr die Schuld für diese ganze Misere. Sie würde alles tun, um wieder in ihren scheiß Hexenzirkel aufgenommen zu werden. Sein Leben war in ihren Händen keinen Pfifferling wert. Er dachte an Northrian und den Shimwas in ihrem Panzerhandschuh. Verflucht seinen alle Hexen des smavarischen Reiches. Doch als sie ihre sitzen Finger auf seinen erhitzten Rücken legte und mit den Lippen nahe an seine Ohren kam beruhigte er sich ein wenig. Es war, als lege sich mit dem dünnen Film der Brandsalbe eine Schutzhaut über seine ganze Welt und isolieren ihn von dem brennenden Chaos der Feuerhöhle. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Leise flüsterte er: »Eure Mentorin hat sicher ihren Spaß, denkt ihr nicht?«

Sie biss ihn in ein Ohrläppchen und sagte: »Euer Vater hatte sicher seinen Spaß als er das Tagebuch schrieb.«

Er öffnete die Augen und versuchte etwas zu erkennen, aber es dauerte einen Moment, bis er sich wieder an den beißenden Qualm gewöhnt hatte. Vor ihm war Ughtred gerade dabei seinen Lendenschurz zu gürten und packte dann den Rest seiner Sachen zu einem ordentlichen Haufen zusammen und schnürte diesen mit seinem Waffengurt. Odugme kauerte neben ihm und half dabei. Der Phani sah besser aus, aber er hatte sich noch nicht ganz von der Verletzung, die der Lych ihm beigebracht hatte erholt.

»Den Dicken lassen wir hier oder?«, raunte Kyon und bog sich von ihr weg, als sie ihm mit ihren spitzen Nägeln in die Rippen kniff.

»Ich meine doch nur jetzt, nicht für immer«, schnaubte er.

Schließlich hatte sie ihre Arbeit verrichtet und stand auf. Nackt, dünn und seltsam erhaben, hob sich ihr Profil von den Feuersäulen und den glühenden Fällen ab. Sie deutete auf den Eingang des Feuerdoms und rif: »Odugme, du wirst hier zwischen diesem Durchgang und der nächsten Kammer auf uns warten und auf unsere Ausrüstung aufpassen. Nimm schon einmal Ughtreds Packen und bringe ihn dort hinein!«

Der Phani gehorchte ohne eine Regung. Es war dem riesigen schwarzen Mann nicht anzusehen, dass er darüber froh war, den Feuersee nicht überqueren zu müssen. Er wäre seiner Herrin ohne zu zögern auch in die Lava gefolgt. Nun aber hob er Ughtreds Gepäck auf und verschwand damit geduckt im Zugang des Feuerdoms. Der Nygh begann Tals überflüssige Ausrüstung zu schnüren und vermied es dabei zuzusehen wie sie sich an kleidete. Kyon hingegen blieb auf dem heißen Boden sitzen und beobachtete die Hexe. Erst als sie ihren Überrocks und das enge Oberteil zugeschnürt hatte begann er ebenfalls seine Ausrüstung zu trennen.

Einige Minuten später standen sie am Rande der schrecklichen Abgründe in deren Schlünde ein glühender Tod lauerte. Ughtred deutete erneut auf eine der Brücken und sagte: »Dort gibt es nur wenige Stellen, an denen uns die Lava von oben treffen könnte. Ihr müsst den Schild über unsere Köpfe halten. Das muss euer Vater gemeint haben Herr Barde.«

Tal hob testweiße den Schild hoch und versuchte ihn über ihrem Kopf zu balancieren. Vor einer viertel Jahreszeit wäre dies undenkbar gewesen. Sie wunderte sich selbst über die hinzugewonnen Stärke. Und dennoch war der Chaosschild zu schwer für sie. Die Helden der Frühzeit, ihre Stärke wurde hier verlangt. Sie konzentrierte sich und griff in die Anderwelt hinüber. Grimmig fingerte sie nach den Fäden ihres eigenen Leibes, verklebte hier einige die ansonsten lose durch den Äther flatterten und schuf an anderer Stelle feste Knoten. Sie sah ihre Muskeln in Form der Moleküle und richtete sie vorsichtig neu aus. Ein Ziehen der Schmerz ging durch ihren Leib, aber es war ein guter Schmerz, ein Schmerz der Stärke und der Hoffnung. Dann streckte sie sich und ließ die Psionik auf ihr Fleisch und ihre Knochen wirken. Ihre Muskeln spannten sich und nahmen dem Schild schließlich sein Gewicht. Sie streckte den Arm und hob den Schild zum ersten Mal mit nur einer Hand hoch über den Kopf. 

Ein grimmiges Grinsen spielte um Ughtreds Lippen und er nickte zufrieden. Kyon sah sie an und nickte ebenfalls. Aber es war ihm anzusehen, dass er nicht sicher war, ob das genügen würde. Der Schild war schwer, aber noch viel schwerer war der flüssige Stein, der von der Decke floss. Er äußerte seine Bedenken und Ughtred deutete auf eine der gefährlichen Stellen. »Wir müssen genau dort unter der Feuerblut hindurch. Nahe am Rand. Ihr müsst ihr helfen den Schild schräg zu halten. Wenn ihr zu gerade unter den Fluss der Lava geratet, wird euch das Gewicht erdrücken und wir werden verbrannt und von der Brücke in die Tiefe geschwemmt.«

Kyon machte ein genervtes Gesicht: »Schräg, geradem was soll der Unterschied sein?«

»Wenn ihr den Lavafluss nur ablenkt, wird das Gewicht des flüssigen Steins gerade so zu tragen sein. Außerdem wird dann der Flug uns beim richtigen Winkel des Schildes sogar vorantreiben. Wie gesagt, ansonsten sind wir Schlacke.«

Tal sagte: »Ihr müsst uns anleiten!«

Ughtred nickte und deutete erneut auf die Stelle die er für den Weg über den Feuersee ausgesucht hatte. Dann machte er einen ersten vorsichtigen Schritt auf die schmale Brücke. Das Gestein war locker und sofort brachen mehrere Brocken ab und stürzten in die Tiefe.

Er trat zurück und überließ Tal den Vortritt. Die Brücke würde halten. Er sagte es den anderen und Kyon sagte verdrossen: »Bezweifle ich keinen Moment. Und auf der anderen Seite werden uns Helferinnen und Helfer erwarten und die Eier massieren.«

Tal kicherte und trat mit dem Schild über dem Kopf auf die Brücke. Im selben Moment fiel ein glühendes Steinchen zwischen dem Rand des Schildes und ihrem Kopf hindurch und grub sich durch das Leder ihres Schulterharnischs. Sie schrie auf und taumelte zurück. Beinahe hätte sie den Schild losgelassen, doch sie biss die Zähne zusammen und holte nur eine Tinktur aus der Gürteltasche. Schnell öffnete sie das Gefäß mit den Zähnen und tröpfelte seinen Inhalt in die Wunde unter der Schulterplatte. Fluchend wartete sie auf die schmerzstillende Wirkung. »Fängt ja gut an«, fluchte sie, stand aber auf und fingerte nach dem Schild.

Nach einigen Schritten auf der Brücke war es Ughtred dessen Bart in Flammen stand. Funken hatten sich darin verfangen und das Weizenhaar entzündet. Kyon lachte und griff in die Flammen, um sie mit seinem Handschuh zu ersticken. Ughtred wand sich und nahm Staub vom Boden auf und rieb ihn sich in den noch glimmenden Bart. Da wurde auch Kyon von einem glühenden Brocken getroffen und wäre beinahe von der Brücke gestürzt. Wie sollte das nur gehen? Sie mussten jetzt schon unter den Schild. Sofort!

Tal strengte sich an und hob den Schild hoch und Ughtred schüttelte den Kopf. »Ja, ja, schräg, dann helft mir mal Herr Sliyn!«

Kyon kam nahe an sie heran und griff den Rand des Schildes. Zu zweit konnten sie ihn recht gut halten. Doch es war alles andere als beruhigend, die brennenden Steine auf das Metall prasseln zu hören. Dennoch kamen sie langsam voran und schließlich erreichten sie den ersten Lavastrom. Die Luft war kaum noch atembar und derart heiß, dass sich die feinen Hährchen der drei Abenteurer kräuselten.

»Vorsichtig jetzt«, knurrte Ughtred und versuchte genau in der Mitte des Schildes zu bleiben. »Haltet den Schild so schräg wie eben möglich!«

Tal und Kyon zitterten vor Anstrengung und der Barde fluchte immer wieder laut, wenn winzige glühende Steinchen seine Finger trafen, die am Außenrand über den Schild ragten. Dann war es soweit. Tal schob den Schild mit einem Ruck unter den Strom und stöhnte, als das Gewicht des flüssigen Steins sie zu Boden zu drücken drohte. Kyon schrie und verbrannte sich die Hände und Ughtred streckte sich, um so gut wie möglich zu helfen. Doch der Schilf griff nach seinem Geist und ihm drehte sich der Magen herum.

»Schnell, wir müssen durch«, schrie der Nygh und drückte Tal am Hintern über die Brücke. Er spürte, dass sie am Rande ihrer Kräfte war und drohte zusammen zu brechen. Über ihnen zischte der flüssige Stein und drohte sie zu Asche zu verbrennen. Ughtred schob und Tal und Kyon versuchten den Schild so schräg wie eben möglich zu halten, ohne dabei die Lava zu ihnen durch zu lassen. Dann kippte das Ganze, aber nicht, weil den Silberwölfen die Kraft versagte, sondern weil sie den Strohm passiert hatten und plötzlich das Gegengewicht wegfiel. Scheppernd stürzte Tal mit dem Schild vornüber und Kyon stolperte ebenfalls und glitt über den Rand der Brücke. Eine Sekunde stürzte er auf das Inferno zu und sah sich brennend zu den Monden aufsteigen, doch da packte die starke Faust des Nyghs seinen Kragen und stoppte seinen Sturz mitten in der Luft.Unter unglaublichen Anstrengungen hob er den Barden auf die Brücke zurück, glitt aus und fiel entkräftet auf den Geretteten.

Doch es blieb keine Zeit zur Ruhe. Glühende Steinchen regnete auf die Drei herunter und verbrannt ihnen Rüstung, Kleidung und Haut. Tal schrie vor Zorn und hob den Schild wieder hoch. Das Prasseln der Steinchen war ebenso nervenzermürbend wie das Surren und Kreischen des Schildes. 

»Weiter«, zischte sie und kam wackelig auf die Beine. Sie deutete auf Kyon, dessen Hände Brandflecken aufwiesen und zischte: »Ughtred, ihr müsst ihm helfen. Da kommt noch ein schmaler Lavafall. Ich werde ihn alleine halten.« Bei diesen Worten blickte sie zu dem Schild hinauf und konzentrierte sich auf ihre psionischen Kräfte. Erneut wob sie eine Veränderung der Realität und stärkte damit ihre Knochen und Muskeln. Ihr Gesicht wurde zu einer Maske des Schmerzes und Ughtred sah sie als alte, zornige Frau. Dan drückte sie den Schild hoch über ihren Kopf und ging auf das nächste Hindernis zu.

Ughtred hätte später nicht mehr sagen können, wie lange sie gebraucht hatten, den Feuersee zu überwinden. Er lag auf dem Rücken auf einem schmalen Absatz und blickte auf die Funken, die keine drei Meter von seinen Füßen entfernt von der Decke regneten. Er atmete einige Male tief aus und ein und hustete, denn auch auf dieser Seite des Infernos gab es keine frische Atemluft. Dann erhob er sich auf den Hintern und sah zu Kyon herunter, der unmittelbar neben ihm lag. Er klopfte auf die Flammen am Rock des Barden und zog ihn noch ein Stück weiter von der Bruchkante des Feuersees weg. Tal hatte sich hingekniet und begonnen das Verbandszeug zurecht zu legen. Die Brandwunde in ihrer Schulter schmerzte. Sie beträufelte sie mit einem Schmerzmittel und wandte sich dann den anderen zu. Kyons Hände mussten behandelt werden. Sie würden sie brauchen. Ohne Hände kein Bogen und ohne Bogen würden sie den verrückten Plan den Drachen abzulenken kaum umsetzen können.

Kyon stöhnte, als die Hexe seine Brandwunden mit Salbe bestrich und an einigen Stellen eingebrannte Steinchen entfernte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie alle Wunden versorgt hatte. Allen dreien fiel das Atmen schwer, doch sie mussten durchhalten. Keiner sagte etwas. Allein die Vorstellung des Rückweges war unaussprechlich. Nur die Tatsache des Drachen an sich, ließ sie nicht weiter daran denken, denn angesichts etwas derart schrecklichen, würde auch der Rückweg über den Feuersee zu etwas alltäglichen werden. Wenn sich zufällig ihre Blicke trafen, konnte jeder un den Augen des jeweils anderen die allgegenwärtige Frage erkennen: ›Was tun wir hier und wie wird dies ausgehen?‹

Schließlich war es Kyon, der sich aufrichtete und dem Inferno den Rücken zuwandte. »Es ist soweit. Lasst uns einen Luren aufwecken!«

Ohne widerrede rappelten sich Tal und Ughtred auf. Sie machten einen zerzausten Eindruck, aber ihre Haltung war die entschlossener Helden. Kyon nickte. Sie hatten sich alle drei verändert. Es war an der Zeit. Wenn nicht jetzt, dann niemals. Er würde den Traum seines Vaters erfüllen.

Entschlossen ließ er den Bogen in seine Hand gleiten und griff nach dem ersten Pfeil. Ughtred indessen war unbewaffnet und zog seinen Lendenschurz fest. Sein Hemd Zug er aus und ließ es zu Boden gleiten. Sie sahen zu Tal hinüber, die ihren Schultergurt festzurrte und die Zähne zusammen biss. Sie hatte starke Schmerzen, doch der Schild und der Speer machten sie stark. Sie streckte sich und pochte mit dem Speer Schaft auf den Boden: »Gegen den Drachen!«

 

Vom Rande des Feuersees führte ein gebundener Tunnel zur Schlafkammer des Lugen. Hier auf dieser Seite war sowohl sein Herzschlag, als auch sein Atmen zu hören und zu spüren. Heiße Luft erzeugte einmal eine Wand, die Eindringlinge am vorankommen hinderte und kurz darauf, zog sie an ihnen und bezeugte die Ungeheuerlichkeit ihres Hierseins. Der Tunnel war lang, oder kurz, weder die beiden Silberwölfe, noch der Nygh hätte die Zeit bestimmen können. Doch plötzlich blieb Ughtred abrupt stehen und deutete auf die linke Seite der Wand. Ein gleißendes grün-blause Glasobjekt war hier in den Fels gedrungen, schien aber nicht mit dem Gestein verschmolzen zu sein. Tal und Kyon wollten schon weiter gehen, doch plötzlich verspürte die Hexe ein seltsames Ziehen. Sie sah ihre Vision von dem Glasding. War es das?

Sie deutete mit dem Speer auf das Glas und rief Ughtred zu: »Was genau ist das? Ich glaube ich habe davon geträumt.«

Der Nygh zuckte mit den Schultern, sagte dann aber: »Es hat die Form eines riesigen Kristalls. Fast wirkt es wie ein Zahn.«

Kyon lachte und sagte: »Vielleicht hat der Luge einen verloren.«

»Das könnte es tatsächlich sein«, stimmte der Nygh zu und sag Tal an.

Sie sagte: »Das Ding ist mit meinem Schicksal verbunden. Ich glaube es ist mit aller Schicksal verbunden. Schlagt es aus dem Stein Herr Dieb. Wir nehmen es mit uns!«

Ughtred wollte schon erklären, dass es viele Tage und Nächte dauern könnte, biss sie das Material um den Kristall genügend geschwächt hätten, aber er sah im Blick der Hexe, dass sie nicht übertrieben hatte, als sie aller Schicksal sagte. Er ließ sich von Kyon ein Messer geben und versuchte sich an dem Gestein, welches sich sofort und ohne Probleme löste. Fassungslos sah er mit an, wie sich das mannslangen Ding mehr oder weniger von selbst aus dem Fels löste. Jeder seiner Schläge ließ Gesteinsbrocken herabfallen und binnen kurzer Zeit war der vermeintliche Zahn befreit und wäre beinahe zu Boden gestürzt. Instinktiv griff Ughtred danach und hätte nicht erstaunter sein können. Das riesige Ding schien nichts zu wiegen. Es war leicht wie die Luft und er konnte es ohne Anstrengung auf seiner Handfläche balancieren. 

»Große Mutter, welche Wunder schenkst du uns noch?«, murmelte er und drehte sich mit dem glimmenden Glas zu den anderen um. Tal wollteihre Hand ausstrecken, aber da erkannt er sie, dass der Zahn sie nicht erhören würde. Sie sah erneut ihre Vision. Der Nygh musste ihn tragen, nur ihn würde er akzeptierten. 

»Legt ihn einfach hier auf den Boden. Wir nehmen ihn auf, wenn wir fliehen.«

Ughtred nickte stumm und drehte das Ding in der Luft. Es war so sonderbar, etwas derart großes ohne Mühe heben zu können. Dann ließ er es vorsichtig zu Boden gleiten.

 

Die Drachenhöhle hatte gigantische Ausmaße. Sie musste über siebzig Schritte im Durchmesser haben und war nach oben hin offen. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Teil des Vulkans, der vor langer Zeit ausgebrochen war, denn alles hier unten war Schwarz und von erkalteter Schlagge überzogen. Die Wände wirkten, als wären sie von knotigen schwarzen Narbengeschwüren übersät. In der heißen Luft konnt nichts und niemand auf Dauer überleben. Kyon prallte direkt vor den giftigen Dämpfen des Drachenmodems und der Schwefelluft zurück. Er konnte nur vom Eingang aus agieren. Tal, von den Chaoskräften des Schildes geschützt machte die ersten Schritte in das Lager der Bestie hinein und erstarrte. Etwa in der Mitte der riesigen Höhle lag der Luge. Was sie zuerst für einen gigantischen Lavabrocken gehalten hatte, regte sich im Schlaf und ließ ihre schlimmsten Alpträume wahr werden. Das Monstrum war gut und gerne dreißig Meter hoch und musste von seinem Dornenübersätzen Kopf bis zur Schwanzspitze die selben Ausmaße wie seine Schlafkammer haben. Sein Odem stank nach giftiger Galle und verbranntem Fleisch. Die Haut war rissig und großteils mit Schuppen bedeckt, die fast so groß wie der Chaosschild waren. Dieses Monster war älter als ihre eigene Spezies und würde noch hier sein, wenn die Smavari längst den Weg alles Vergänglichen gegangen waren. Wie sollten sie es nur besiegen?

Doch dann sah sie den Nygh, der seitlich in die Höhle huschte und richtete den Schild gegen den Drachen aus. Sie mussten ihn nicht besiegen. Es würde reichen ihn abzulenken. So hatte es Kyons Vater in seinem Tagebuch beschrieben und so würde es geschehen. Ohne weiteres Zögern machte sie den ersten Schritt auf den Schlafplatz des Titanen zu und stolperte über einen Lavabrocken.

Ughtred erschrak und blickte zu ihr herüber. Dann sahen sie beide kurz zu Kyon zurück und sahen, wie dieser die Sehne seines Kriegsbogens durchzog und den Pfeil in die flirrende Luft entließ. Gebannt und ohne die Wahl etwas anderes zu tun folgten Tals und Ughtreds Blicken dem Pfeil und beiden stockte der Atem, als sie mitansehen mussten, wie das winzige Ding sich in eines der nun geöffneten Augen des Monsters grub!

Ughtred, dem zumindest die giftige Luft nicht schadete, spurtete los. Noch war der Drache nicht wirklich wach. Es sah aus, als würde es eine Weile dauern, bis er in der Lage war klarer zu denken. Diese Zeit musste er nutzen. Er rannte, sprang über Lavabrocken und rutschte unter umgefallen hindurch. Nur einmal sah er zurück. Tal war auf das Monstrum zugestürmt. Sie würde sterben. Mit hoch erhobenem Schild und vorgestrecktem Speer prallte sie gegen den Schwanz des Drachens. Sie stieß zu und entließ die gewaltige Kraft von Raguels Klinge. Mit einem Donnern drang der Speer zwischen zwei Schuppen in die dicke Haut des Monsters und verursachte einen erstaunlich großen Riss. Dunkles, sich entzünden des Drachenblut quoll hervor und die Bestie öffnete verschlafen das Maul und gab ein Gähnen von sich. Doch da schwirrten schon weitere Pfeile von Kyons Sehne und trafen in das sich träge bewegende Auge.

Langsam blinzelte der Drache und es war ihm anzumerken, dass er versuchte zu erwachen und zu begreifen, was hier vor sich ging. Wie viele Millenien hatte er hier in der Glut des Vulkans geschlafen und Drachenträume geträumt? Bitte zuvor ist ein Wesen bis zu ihm vorgedrungen, nie hatte etwas anderes als kosmische Vorgänge seinen Schlaf gestört. Er hatte von verglühenden Sonnen geträumt. Nun waren Flöhe dabei ihn zu wecken. Träge entfaltete er einen seiner turmhohen Flügel und streifte dabei den Chaosschild. Kreischend gab das Artefakt die Energie, die seine Trägerin augenblicklich getötet hätte zurück und grub nach den Gedanken der Bestie. 

Tal stürzte, konnte sich jedoch sofort wieder aufrappeln. Sie spürte den Konflikt zwischen dem Schild und der unheiligen Gedankenwelt des Drachen. Sie musste diese zusätzliche Ablenkung nutzen. Mit einem gewaltigen Sprung stieß sie sich vom Boden ab und flog, Schild und Speer voran auf die Flanke des Monsters zu. Erst im letzten Moment riss sie den Schild zur Seite und stieß zu.

Wieder drang der Speer durch die faltige Haut des riesigen Wesens und trank sein Blut. Der Drache wälzte sich auf die Seite und hätte dabei Tal beinahe mit einem seiner Hinterbeinen wie ein lustiges Insekt zermalmt.

Pfeile Flogen und Speerstöße drangsalierten den Drachen und zogen dessen Aufmerksamkeit auf sich. Unterdessen tat Ughtred das Einzige, was er noch tun konnte. Er rannte, rannte um sein Leben, um das seiner Freunde und um den Traum des Abenteurers. Es vergingen nur Sekunden, doch es war Zeit genug, die Bewegungen des abstrus großen Drachen zu sehen und sich Gedanken über sein Hierseins zu machen. Er war nicht der Sohn des Abenteurers, aber die Silberwölfe hatten seinem Vater das Leben gerettet und allein für diese Tat würde er für immer an sie und ihr Schicksal gebunden sein. Er tat es aus Freundschaft und weil auch er Feuer gefangen hatte. Welche Welt hätte er sonst gelebt? Ein Leben als Sammler oder Schafhirte im Geisterwald? Er hatte Riesen besiegt, gegen Untote gekämpft und war in der Zitadelle der Silberwölfe in das Grab des Mächtigsten Kriegers der Welt eingedrungen und hatte dafür gesorgt, dass seine Freundin den Speer des Helden an sich nehmen konnt. 

Er rannte und rutschte unter einem Felsen hindurch. Über ihm schwirrten wie das Segel eines smavarischen Kriegsschiffes ein Flügel des Monsters durch die Höhle und streifte dabei die Lavawand. Brocken fielen zu Boden und drohten ihn zu erschlagen.

Er rannte und sprang über einen Riss im Boden, der entstanden war, als die Hexe ihren Speer in die Seite des Drachen gestochen und dieser mit seinen Krallen den Stein malträtiert hatte.

Er rannte und machte einen letzten Satz, als er vor sich die Öffnung zum Hort gewahrte und hinter sich das saugende Geräusch hörte, welches anzeigte, dass der Drache erwachte und Luft in seine infernalen Lungen sog.

Dann war um ihn Leichtigkeit, Verdreht heißt, Farben und das chaotische Durcheinander einer durch die dauernde Anwesenheit des Lugen verdrehten Realität. Die Zähne Luft war erfüllt vom Glanz goldener Kostbarkeiten und dem Schein unzähliger Edelsteinen. Dutzende von Artefakten sogen gierig an seiner Seele. Sie waren ausgehungert und hätten sich an jeden gebunden, der sie aus dem Hort befreit hätte. Machtringe sehnten sich nach der Kontrolle schwacher Seelen, Heldenschwerter dürsteten nach Blut und kostbare Diademe versprachen Lust, Liebe und ewiges Glück. All dies drang in Ughtreds Geist und versuchte ihn für sich einzunehmen, doch der Meisterdieb war kein Mann, den Versprechen locken konnten. Er kam zum Stillstand und lauschte dem Wüten der Bestie hinter sich. Mit einem schnellen Blick suchte er den Schatzhaufen nach der goldenen Zange ab und nur er war in der Lager, dieses Werkzeug von den anderen Reichtümern zu unterscheiden. Da lag sie. Zwischen einen Ringen, aus Steinen gezogenen Königsschwertern und allmächtigen Schlangendiademen lag eine schmale Zange aus purem Gold. Ughtred griff zu, steckte das Werkzeug unter sein Wambst und wandte sich ungeachtet aller Schätze dem Drachen zu.

Draußen erwachte das unheilige Tier. Tal merkte es im letzten Moment. Es waren die Augen. Feurig rot, begannen sie sich in dem Moment zu klären, als jemand den Hort betrat und dieses Klären war der Beginn der Hölle. Der durch die Unendlichkeit des Kosmos streifende Gedankenwelt des Drachen kehrte binnen Sekunden zur Tiba Fe zurück. Sie waren auf anderen Welten, bedienten sich anderer Körper, entdeckten, lernten, zerstörten und verdammten. Nun aber, wurden sie bei ihrem physikalischen Leib gebraucht, denn sie waren in seine Schlafkammer gedrungen: Diebe!

Da erwachte der Drache und wie er es immer tat, holte er Luft und übergoss seine Welt mit dem alles reinigenden Inhalt seiner gewaltigen Lungen. Flüssiges Feuer prallte gegen harten Fels, wurde umgeleitet und schoss wie gleisende Gischt nach oben, nur um die Luft erfüllend wieder über dem Drachen zusammen zu brechen. Dies würde keiner der Eindringlinge überleben. Wieder und wieder kotzte die Bestie große Massen glühender Galle in die Luft, wo sie sich entzündete und alles und jeden in die infernale Realität des Lugen zog. Doch es war niemand mehr hier!

Tal hatte sich umgedreht und war gerannt. Sie hatte den schweren Schild fahren lassen und nur Raguels Speer mit sich genommen. So schnell ihre starken Beine sie trugen war sie auf Kyon zugerannt und dieser hatte ebenfalls die Zeichen der Zeit verstanden. Stolpernd, schlitternd und sich überschlagend hatten sie den für den Drachen zu engen Tunnel erreicht und rannten auf den Feuersee zu. Wie sie die Lavafälle überleben sollten, konnten sie nicht planen. Kyon hatte nicht einmal realisiert, dass der Schild die Höhle nicht verlassen hatte, doch selbst wenn Tal ihn mit sich genommen hätte, ohne den Nygh, hätten sie niemals die Kraft aufgebracht, ihn zu halten. Und Ughtred war nicht da. Wie auch? Über diesen Rückweg hatte nichts im Tagebuch gestanden. Was hatten sie sich nur gedacht? Es hätte ja sein können, dass der Drache sich mit Speeren und Pfeilen wecken ließ und sich danach wie eine Brave Giebelkatze zusammenrollte und wieder einschlief. Sie erreichten den Feuersee und schlitterten beide auf der linken Seite neben dem Stollen auf den Boden. Sie atmeten Feuer und versuchten einfach nur zu überleben. Hinter ihnen herrschte das Inferno höllischen Zorns.

 

Ughtred späte aus der Öffnung des Hortes und konnte gerade noch schnell genug den Kopf zurückziehen, als die turmhohen Stirn des Drachen seine Sicht verdeckte. Dann blies der Odem des Schreckens in die Kammer und hätte jedes andere Lebewesen binnen Sekunden vergiftet. Nur die besondere Immunität gegenüber Giften und Krankheiten der Nyghs rettete den Meisterdieb vor diesem Schicksal. Er presste sich an die Wand und hielt den Atem an. Dann hörte er das wütende Schnauben in der großen Kammer und die Einschläge vom Schwanz und den Flügeln. Der Luge wand sich mehrmals hin und her, riss Brocken aus den Wänden und verursachte durch sein Getrampel tiefe Risse im Boden des Berges. Dann schien er es selbst nicht mehr auszuhalten und machte sich daran, an der Innenwand des Vulkans nach oben zu klettern. Meterlange Krallen gruben sich in das Gestein und ließen Felsbrocken zu Boden donnern. Schließlich brach eine der Wände und stürzte hinunter. Tonnenschweres Gestein durchbrach den Höhlenboden und entließ die darunter schlummernde Lava. Ughtred sah sich seinem Tod gegenüber. Er musste handeln, jetzt sofort. Er drückte die Zange gegen seinen Bauch und rannte los. Wieder sprang er über Hindernisse – die nun jedoch in Flammen standen und hoch giftige Gase absonderten. Er rannte wie zuvor, doch diesmal in der Gewissheit zu überleben. Er wusste es einfach. Der Drache hätte Feuer in seinen Hort speien können, er hätte in der Schlafkammer warten oder zumindest zurückkehren können, aber nichts davon war geschehen. Stattdessen waren die trägen, wenn auch zornigen Flügelschläge der Schuppenbestie hoch über dem Gebirge zu hören. Das Monster hatte beschlossen draußen zu wüten und nach den Eindringlingen zu suchen, was bedeutete, dass es nichts von dem Vortex wusste. Sie würden überleben. Sie würden diesen Ort schneller hinter sich lassen, als der Luge es begreifen konnte.

 

Am Rande des Feuersees kauerten die Hexe und der Barde und bangten um ihr Leben. Über ihnen tobte der Luge und tief unter ihnen erwachte der Vulkan. Tal klammerte sich an Kyon und war im Begriff jede Hoffnung zu verlieren. Da rutschte Ughtred neben den beiden aus dem Tunnel.

Er atmete schnell und rief: »Seht doch ihr Narren! Der See hat Schräglage. Die Wand ist eingedrückt und der Boden sackt weg. Die Lavaströme werden gleich nicht mehr auf die Brücken strömen. Macht euch bereit!«

Im selben Moment brach tatsächlich ein großes Stück der Wand ein, stürzte auf mehrere der Brücken und riess sie in die Tiefe. Gleichzeitig gab es einen lauten Krach und die restliche Scholle geriet wie der Nygh es vorher gesagt hatte in Schräglage.

»Jetzt!«, brüllte Ughtred und wedelte mit dem schwerelosen gläsernen Zahn des Drachen. Er hatte ihn aufgegriffen und mitgenommen, denn er vertraute seiner Hexe.

Schneller als sie es selbst für möglich gehalten hatten waren Tal und Kyon auf den Beinen und stürzten voran. Es war nur noch eine halbwegs begehbare Brücke übrig und selbst hier war ein Riss entstanden, der einen mehrere Schritte weiten Sprung erfordern würde. Tal fasste Kyon bei der Hand und mobilisierte erneut alle Kräfte, die der Äthers für sie zugänglich machte. Dann sprang sie, den Speer voran in der einen Hand und Kyons in der anderen, mit einem übernatürlichen Satz über den infernalen Abgrund. Ughtred schrie und sprang ebenfalls und schaffte die Distanz mit der geschmeidigkeit seiner Art. Wie eine Raubkatze landete er auf allen Vieren, ließ den Zahn eine Sekunde vor sich durch die Luft schweben, packte aber sofort wieder zu und rannte weiter. 

»Schnell, er bricht aus!«, rief er gegen das brüllen des Berges an.

Tal rief nach Odugme. »Lauf, lauf in den Vortex! Sofort!« Und tatsächlich, als die drei selbst in die Vortexkammer gelangten, sahen sie gerade noch, wie der Phani, den Befehl befolgend tapfer in das wabernde Fuchsia der Membran eintauchte. Dann folgten sie in einem wilden Knäuel und ließen Daragros Feueresse und den Zorn des Lugen hinter sich zurück.

 

Zurück in Raugnith

Kyon löste seinen verschmorten Mantel aus einer Brandwunde und Tal schlug ihm, wie eine Mutter die das Kind schließlich vor dem Herd gewarnt hatte, auf die Finger. Dann beugte sie sich liebevoll über ihn und berührte mit ihrem Ausschnitt sein Gesicht, während sie nach dem hinter ihm liegenden Medpacks langte. Kyon fluchte leise, beließ es aber dabei.

Auch Ughtred hatte Brandwunden abbekommen, wartete aber, bis die Hexe sich um den Barden gekümmert hatte. Er schüttelte den Kopf, bei dem Gehabe der beiden und löste sein Oberteil, um die Zange zu befreien. Sie war aus Gold und damit viel zu weich, um als echtes Werkzeug durchzugehen.

Mit verdrehten Kopf schielte er nach dem Turm über ihm und versuchte einzuschätzen wo man sie ansetzen müsste. Da war das Zahnrad und in dessen Zentrum die Achse. Die Zange hatte zwei Finger, die ohne Zweifel in zwei Öffnungen in der Achse passen würden. Er fragte sich als Sohn eines Schmiedes, warum eine Zange und kein Schlüssel, aber vielleicht gab es verschiedene Achsen mit unterschiedlichen Durchmessern. Andererseits hatten die Silberwölfe das ganze Ding ersonnen und bei ihnen musste beim besten Willen überhaupt nichts Sinn machen.

Kyon stöhnte und schob Tal mit einer groben Bewegung von seinem Schoß. Sie streckte ihm wie üblich die Zunge heraus und kümmerte sich um ihre eigenen Wunden. Ughtred war erstaunt, wie hart dieses Wesen im Nehmen war. Die Brandwunde in ihrem Schlüsselbein  hatte den Durchmesser einer Kinderhand und müsste höllische Schmerzen verursachen und dennoch dachte die Hexe an nichts anderes als ihre infantilen Leckereien. Demonstrativ entfernte sie ihr Oberteil, stellte ihre Brüste zur Schau und begann dann die Wunde zu reinigen. Zur Krönung des Ganzen verbog sie den geschmeidigen Hals wie ein Wolf und leckte die Wundränder sauber.

Kyon jedoch war ebenfalls ein Meister in diesem Spiel. Anstelle ihr wieder einmal zu verfallen – man bedenke, sie waren gerade erst einem Drachen entkommen – sagte er mit seiner üblichen genervten Stimme: »Angaworths!«

Tal sah auf und konterte: »Bildet einen Satz Herr Sliyn!«

Ughtred mischte sich ein und sagte: »Er meint, der Vortex könnte uns erneut nach Angaworth bringen und wir hätten die Möglichkeit uns zu kurieren.«

Kyon nickte und stellte den Nygh mit einer Handbewegung auf ein Podest. Gleichzeitig degradierte er damit die Hexe zu kindisch er Blödheit.

Tal sagte: »Na die werden sich freuen …«

 

»Und wie genau seid ihr in den Keller der Struktur in der vorgeschobenen Siedlung gelangt? Dort unten herrscht ewige Dunkelheit und wilde Bestien und Schlimmeres wachen über diesen Ort.« Der Mann vor Kyon Trug ein Tuch vor dem Mund und eine Lederrüstung, die ihn als Mitglied einer Wache auswies. Bisher hatte er sich nicht vorgestellt, aber nun sagte er: »Ich bin Sliyn Farylaiyd Murouniy, Herr der Turmwache von Angaworths und ich will verstehen, was hier vor sich geht.«

Man hatte Kyon mit gespreizten Beinen auf einen Holzschemel gebunden und verhörte ihn nun seit geraumer Zeit. Anfangs war es dem Krieger noch um den Vorgang an sich gegangen, aber je mehr Wahrheit Kyon von sich gab, umso vertrackter wurde die Lage des Wächters. 

Kyon atmete tief ein und sagte: »Vortex. Einfach so und einfach durch. Wolt ihr dies eurer Obrigkeit berichten? Oder lasst ihr uns – die wir ein ehrwürdiger Sliyn und eine Doppelmondhexe von Shishney sind – nicht besser einfach unserer Wege gehen?«

 Farylaiyd, der Herr der Wache, blickte zu Boden. Dann murrte er: »Und da kann jederzeit wieder jemand rein?«

Kyon schüttelte den Kopf. »Wie gesagt, wenn wir uns hier in der wudnerbaren Hauptstadt ohne weiter aufzufallen ausgeruht haben, werden wir durch den Vortex zurückgehen, wo wir her kamen. Dann werden wir ihn auf der anderen Seite umlenken. Fertig. Euer Problem ist gelöst. Unsere leider nicht. Wie gerne würde ich mit euch tauschen, aber das Wachthandwerk liegt mir leider nicht.«

Kyon sagte all dies ohne Spur jeglichen Humors und der Wächter nahm es ganau so auf.

»Ihr schließt den Vortex auf der anderen Seite?«

»Wir lenken ihn in eine andere Richtung.«

»Irreversibel?«

»Denke schon.«

»Also gut. Wehe ich höre von euch während eures Aufenthaltes hier!«

Kyon zeigte seine Wolfszähne und murrte: »Wir sind zu müde, um Ärger zu machen.«

Dann war alles wie bei ihrem ersten Besuch in der Hauptstadt. Oder auch nicht. Zwar behielt es sich Tal vor, sich in den Gemächern der Vatermutter auszuruhen und sich ausgiebig ihrer Genesung und anderen schönen Dingen zu widmen, doch diesmal begleitete Ughtred Kyon bei seinen Streifzügen durch die riesige, ganz und gar verrückte Stadt. Kaum hatten sie sich ein wenig erholt, besuchten sie Jahrmärkte, die Schmieden der Kellerstadt und den sich drehenden Friedhof. Ughtred nahm alle Eindrücke der Silberwolfwelt in sich auf und hatte begriffen, längst ein Teil von ihr geworden zu sein. Kyon lachte nur.

Mehrere Tage und vor allem Nächte gingen über die Hauptstadt Kisadmurs und nahmen den Helden ihre Lasten. Wunden wurden in Regenerationswannen negiert, Erschöpfungszustände von Helfern und Helferinnen aus den Muskeln massiert und vor allem die Geistige Anspannung hatte hier kaum eine Chance sich weiter auszubreiten. Angaworth war ein Ort der Absonderlichkeiten und saugte Anspannung in sich auf.

Kyon spielte ein halbes Dutzend Mal auf und es gelang ihm sogar einen Hit zu landen. Es dauerte nicht lange, da fiff jede Frau und jeder Mann die Melodie des Liedes über den Barden mit dem Kriegsbogen und seiner tölpelhaften Hexe. Zum Glück gelang es dem Liedchen nicht bis zu besagter Hexe vorzudringen – zumindest noch nicht.

Der Barde versuchte weitere Lieder zu etablieren, schaffte es aber nur noch auf die niederen Ränge. Er würde in Angaworth ein One-Hit-Wonder bleiben, aber wer konnte dies schon von sich behaupten? Außerdem hatten Barden mit diesem Schicksal häufig einen tiefgründigen Ruf. Er ließ sich noch einige Male im Zusammenhang mit Drogen aus Kaschemmen werfen und täuschte schließlich einen Selbstmord vor. Damit war er eine Legende.

 

Der Aufbruch zurück nach Raugnith fiel ihnen diesmal deutlich schwerer. Tal Vermisste die Leiche ihres Bruders. Der Sarg stand in der Katakombe des Vortexturmes. Sie hatten ihn dort zurück gelassen, um Odugme zu schonen und weniger Aufsehen zu erregen. Hatte im Grunde nichts gebracht und nun wollte sie zu ihm zurück. Dennoch hielten auch sie die Annehmlichkeiten der großen Stadt zurück. Selbst Ughtred schien sich in Angaworth wohl zu fühlen. Sie hatte ihn kaum gesehen und nun, da sie in den Gewölben vor dem fuchsiafarbenen Durchgang standen machte er nicht unbedingt einen abenteuerlichen Eindruck. Kyon darüber hinaus fehlte, beziehungsweise kam zu spät. Tal wollte schon umkehren und ihn an seinen Ohren in diese Geschichte zurückziehen, da hob Ughtred die Hand und deutete in die Dunkelheit der Kellerfluchten. Leicht torkelnd und mit schlecht gepackter Ausrüstung erschien der Barde und hob seine Faust zu dem wohlbekannten Befehl. Tal zeigte ihm ihren Hintern und ging genervt durch das Anderwelttor.

In Raughnit hatte sich nichts verändert, aber was hätte sich auch verändern sollen? Seit Äonen hatte außer ihnen und dem schwachsinnigen Lych niemand diesen Ort betreten. Tal ging zu Northrians Sarg und setzte sich darauf. Eine seltsame Müdigkeit hatte sich ihrer bemächtigt. Sie legte sich mit dem Oberkörper auf das zerschrammte Holz und Odugme legte eine dünne Decke aus ihrer Ausrüstung über ihre Schultern.

Unterdessen untersuchte Ughtred erneut die Zange und den Turm. Er reichte natürlich nicht dort hoch und überlegte, wie er es machen sollte ohne sich an den Silberwolf wenden zu müssen. Er ging zu Odugme und verushcte zu erklähren, dass er an die Achse des Turmes heran musste und deutete dabei nach oben. Der Phani schien Angst zu haben und verstand vor allem nicht, was man von ihm erwartete. Ughtred gab auf und wandte sich dem Barden zu. Wieder erklärte er, was er vorhatte und nun stellte sich auch Kyon dumm. Natürlich hatte er mitbekommen wie der erste Versuch bei dem Phani verlaufen war und machte sich nun einen Spaß daraus den Nygh ein zweites Mal auflaufen zu lassen. Da baute sich Ughtred breitbeinig vor ihm auf und deutete auf den Turm.

Kyon stand auf und ließ mit zwei knappen Bewegungen des Kopfes seinen Nacken knacken. Er überlegte, wie er aus dieser Nummer herauskommen könnte ohne seine Würde zu verlieren aber es scheint keinen Ausweg zu geben. Also beugte er vorsichtig das Knie und ließ den Dieb auf seine Schultern steigen. Würdelos, würdelos, würdelos … aber auch irgendwie lustig. Er stand auf und hatte Schwierigkeiten den Nygh nach oben zu heben. Tal hätte das sicher leichter vollbracht. Konnte die elende Blindschleichen eigentlich alles besser als er? Sie sah nicht gut und trug diese bescheuerte Brille, aber darüber hinaus war sie eine Naturgewalt, die er nicht gegen sich stehen haben wollte. Hätte sie nicht wenigstens körperlich schwächer als er sein können? Was half es ihm, wenn er einem Kleinstamytoren die Fühler wegschießen konnte, wenn er nicht einmal in der Lage war diesem dünnen Mädchen den Arsch zu versohlen? Auch wenn sie es miteinander trieben hatte stets sie die Oberhand. Sie war bestimmt doppelt so stark wie er. Wenn er bei einem Mann lag, war ihm dies ganz egal – im Gegenteil, er liebte es sich von starken Armen verwöhnen zu lassen. Aber doch nicht bei der Zauberschnecken!?

Er versuchte sich zu konzentrieren und gelobte, seinen Körper zu stärken. Er war ja noch jung und jetzt wo er auf dem Weg war, einer der größten Abenteurer aller Zeiten zu werden, würde es ihm sicher nicht schwer fallen, entsprechende Artefakte an sich zu binden. Bald würden Shimwas um ihn herum schwirren und ihn zu einem Raguel dieser Zeit machen.

»Passt doch auf Mann«, knurrte Ughtred über ihm, als er ihn beinahe fallen gelassen hätte.

 

Vorsichtig berührte Ughtred die Achse und das Zahnrad. Weder das eine, noch das andere ließ sich von Hand bewegen. Er hatte schwierigkeiten sich zu konzentrieren. Die Lichtblitze des Vortex erhellten zwar den Raum, zeichneten aber auch unheilvolle, tentakelbewehrte Schatten an die schmutzigen Wände. Die Grauen Wächter des Dazwischen waren hier überall und tasteten blind nach einem Durchgang zur Realität, um sich an den Seelen der Echten zu laben. 

Nervös fummelte er die goldene Zange aus seinem Gürtel und versuchte mit ihr die Achse zu greifen. Wenn der schwachsinnige Silberwolf doch nur stillhalten würde. Erneut fuhr er Kyon an und forderte Konzentration.

Dann gelang es. Er packte die Vertiefungen mit den Fingern der Zange und das Werkzeug rastete ein. Vorsichtig versuchte er es zu bewegen und tatsächlich, die Achse schien sich nun drehen zu lassen. Nach rechts? Oder nach Links? Wie weit?

»Es geht. Ich kann sie drehen! Was jetzt?«

Ughtred tat sich schwer mit dem Tagebuch des alten Abenteurers. Er verstand dessen Worte nicht und hatte auch das seltsame Gefühl, sich jedes Mal selbst zu schaden, wenn er es versuchte.

Kyon trat von einem Bein auf das andere und hätte den Meisterdieb beinahe erneut fallen gelassen. Dieser fluchte laut und weckte damit die eingeschlafene Hexe auf. Auch gut.

Als Tal die Augen öffnete rief Ughtred ihr zu: »Die Zange pass! Was nun? In welche Richtung soll ich drehen?

Tal hob die Hand und wollte sich von Kyon den Kristall seines Vaters geben lassen, erinnerte sich aber daran, dass sie ihn längst an sich genommen hatte. Sie kramte ihn aus ihrer Gürteltasche und aktivierte ihn.

Die seltsam gehaltvollen Glyphen aus der smavarischen Scherbenschrift erschienen vor ihrem Gesicht. Sie ließ die Zeichen nach oben wandern und suchte nach dem Eintrag mit der Zange.

 

›Aus des Drachen Hort die alte Zange ist zu bergen. Endlich fliehen aus der Bestie Reich, zurück durch die Anderwelt. Und dann mit der goldnen Zange schnell die Richtungen des Tores in ihr Gegenteil verkehren. Nun gibt es Nord, Südwest und Südost und wieder stellt sich die Frage nach dem rechten Weg. Nur einer kann nach Granband gehen, dieser eine Ort, die Karte fehlen lässt. Drei Möglichkeiten, zwei sind falsch und keine Schrift ist noch zur Hand dies Rätsel mir zu lösen. Es bleibt nur einen nach dem anderen zu gehn und zu hoffen so vom Glück gesegnet zu sein, gleich das Rechte mir zu wählen. Hier sei gesagt, es ist gefährlich nicht zu wissen wo der Fuß hintritt, denn viele Wege führen von der Tiba Fe zu Orten, die noch finsterer sind, als alle die ich bisher besuchte.‹

 

Sie blinzelte und versuchte den Hinweis in diesen Worten zu finden. Waren da Richtungen oder gar Zahlen zwischen den Zeilen verborgen? Sie laß den Text rückwärts und dann noch einmal laut, kann aber zu keinem Ergebniss. Dann konzentrierte sie sich auf die feinstoffliche Welt und versuchte hier einen Zusammenhang zu erkennen, doch auch auf diesem Weg erschloss sich ihr das Rätsel nicht. 

Ughtred sagte: »Da ist eine winzige Einteilung auf der Achse. Es ist möglich elf oder zwölf Schritte zu drehen. Es sollte also einen Zahlenhinweis geben.«

»Geht das etwas schneller?«, knurrte Kyon dessen Rücken schmerzte, weil er nach wie vor einen Nygh auf den Schultern trug. »Hab von Anfang an gewusst, dass es keinen Unterschied zwischen Nyghs und anderen Plagegeistern gibt«, murmelte er verdrossen.

Unterdessen durchforstete Tal noch einmal das Tagebuch. Es endete mit einem grotesk fröhlichen ›Leshydro‹, der ultimativen Grußformel der smavarischen Gesellschaft. Und dann? Dann kam ein kryptisches Postskriptum.

 

›Postskriptum: Lange suchte ich nach Zahl und Richtung, doch keinen Hinweis fand ich, in der Meister Schriften. Bis – ja bis ich las, Buch acht, im Abschnitt zwölf der Dimensionenbrecher Schwüre:

 Drei, vier, sechs und neun

wird keiner jeh bereun

Die Geraden gehen rechts

die andern gegenüber

Und dann der Summe Hälfte

in ihre Richtung wieder‹

 

Hier endete das Tagebuch endgültig. Tal lass den Reim mit passend kindlich verstellter Stimme laut vor. 

Sofort kommt konterte Kyon genervt: »Drei nach links, vier und sechs nach rechts, dann nein und elf nach links. Hopp, hopp Herr Dieb!«

»Wieso elf«, fragte Tal. Zahlen waren nicht ihre Stärke.

»Weil drei und vier und sechs und neun durch zwei halt elf ergibt Frau Hexe.«

Sie wollte den Kristall nach ihm werfen, hielt sich aber zurück.. Er war schließlich schön. Also der Kristall. Na ja und Kyon auch. Stattdessen streckte sie ihm nur die Zunge heraus und stand auf. Wenn die beiden Blödmänner nicht langsam in die Gänge kämen, wieder sie sich der Sache annehmen müssen. 

Ughtred drehte die Zange auf die genannten Zahlen, aber nichts geschah. »Drei nach links, mache ich doch«, sagte er. 

Tal schüttelte den Kopf und antwortete Schulmeisterhaft: »Wenn ihre oben nach dort dreht, ist das aber unten rechts.«

Der Nygh schüttelte den Kopf und versuchte es noch einmal in den entgegengesetzten Richtungen. Warum mussten Silberwölfe nur alles anders herum machen? 

Er ließ die Skala die letzten Klicks um elf Striche rotieren und da rastete die Achse mit einem satten Klacken ein und das Zahnrad begann sich langsam zu drehen. Im selben Moment kam auch in den ganzen Turm Bewegung. Er drehte sich auf seinem Sockel nach links und die violetten und fuchsiafarbenen Lichtbögen wanderten schreiend und laut knisternd an den Wänden entlang. Es war deutlich zu erkennen, wie sie die Membran des Dazwischen zerschnitten und die alten Wunden sich langsam schlossen.

Dann rastete das Zahnrad ein und die drei Lichtblitze zeigten auf die genau gegenüber liegenden Wände der vorherigen Konstellation, doch den Tal war sofort klar, dass hier etwas nicht stimmte. Das Portal, welchem Kyon am nächsten stand, flackerte seltsam und etwas Halbreales schon daraus hervor zu ragen. Es schien eine Art Struktur aus dunkelgrünem Metall zu sein und es schien sich dort wo es sich zumindest zur Hälfte befand in rasender Geschwindigkeit zu bewegen. Lichter wechselten sich in stotterndem Stakato ab und machten es unmöglich die Situation genauer zu bestimmen. 

Erschrocken musste Tal mit ansehen, wie Kyon einen Schritt auf diesen Vortex zumachte und schließlich sogar seine Hand danach ausstreckte. Sie wollte ihn mir einem Ruf zurückfahren, aber dann erkannte sie die Vision die er ihre beschrieben hatte. Ein Tunnel, Lichter, ein Mann und dieses fremdartige Wort ›Prag‹.

Kyon sah sie wankende Gestalt in dem halb realen Fahrzeug, denn um ein solches musste es sich bei der Struktur handeln. Entschlossen machte er einen Schritt in das Chaos hinein, steckte den Arm aus und griff mit der Hand nach der Gestalt. Er reichte an der Hand die er gefasst hatte und zog das Wesen in seine Realität herüber. Die Anderwelt krachte und dir Lichtblitze verwandelten den ganzen Raum in ein Chaos auf violetten Explosionen. Dann schloss sich der Vortex, doch die Struktur blieb nach wie vor zur Hälfte im Hier und zur anderen im Dazwischen hängen und blockierte diesen Weg für immer. 

Kyon, Tal, Ughtred und sogar Odugme starrten das Wesen an, dass Kyon aus der Anderwelt gezogen hatte. Es war zweifellos Ende Art Mann. Um etwa drei Kopf größer als ein Nygh war er immer noch viel kleiner als die beiden Smavari. Er war schmal, aber nicht so grazil wie die Silberwölfe und seiner Haltung fehlte jegliche Stärke. Anstelle eines Gewandes oder einer Rüstung trug er eine Art zweite Haut aus schwarzem Stoff, die seinen Auftritt noch weicher und irgendwie lächerlich machte. Sein Gesicht war bleich, ohne die Vornehmheit der Eltwesen und obwohl er generell über die selben Organe wie diese zu verfügen schien, verunzierde ein Streifen dünnen Gesichtshaares seine ohnehin irgendwie wässrige Ausstrahlung noch mehr. 

Zitternd war er zu Boden gegangen und starrte nun zu Kyon auf. Er hob abwehrend die Hände, bildete mit seinen Fingern ein Kreutz und gab ein seltsames und unverständliches Gebrabbel von sich.

Kyon verhielt sich für seine Verhältnisse erstaunlich einfühlsam und machte eine aus seiner Sicht beruhigende Geste, aber die Vortexblitze und der Kraft der nicht heilenden Membran bei der halbrealen Struktur machten die Kommunikation nicht gerade einfacher. Das Wesen hatte eindeutig Angst und selbst Kyon schien dies zu verstehen. Wo auch immer es ursprünglich herkam, es musste Schlimmes erlebt haben, denn der Fluch der Halbrealität war sicher alles anderer als angenehm. Welchen kosmischen Schrecken musste der hässliche kleine Mann ausgesetzt gewesen sein? Kyon war sein Mitleid deutlich anzusehen. 

Vielleicht war dies der Umstand, der den Fremden dann doch zumindest ein wenig beruhigte. Tal kniete sich vor ihm hin und deutete auf Kyon und nannte dessen Namen. Dann stellte sie sich und die anderen beiden vor. Aufmunternd deutete sie auf ihn und machte ein fragendes Gesicht.

Er sagte: »Upíre? Bůh mi žehnej, nezabíjej mě. Nosferatu?«

Tal verstand kein Wort und griff ohne zu zögern in das Feinstofflich, um Zugang zu seinem Geist zu erlangen. Es war gar nicht schwer. Der Widerstand dieser Spezies war gering und es schien ihr, als würde sie sich ihm verständlich machen. Doch in dem Moment, wo sie den geistigen Kontakt erzwungen hatte, geriet der kleine Kerl in Panik. Er schrie wirres Zeug und zappelte mit den Beinen und versuchte von ihr weg zu kriechen. Sie musste lachen und entließ ihn aus ihren Geisteskräften. Er beruhigte sich bald.

Dann versuchte es Kyon noch einmal mit ihm zu sprechen und als dies ebenfalls keinen Erfolg zeigte, baten die Silberwölfe Ughtred sein Bestes zu geben. Doch leider schien der kleine Mann auch die Sprache der Nygh nicht zu verstehen und außerdem schien ihm Ughtred fast noch mehr Angst zu bereiten als die Silberwölfe. Tal dachte kurz über Odugmes seltsame Sprache nach, aber dann erinnerte sie sich, dass der Phani ja gar nicht richtig sprechen konnte. Sie hatte sich mittlerweile so daran gewöhnt ihn mit ihren geistigen Kräften anzusprechen, dass sie sein reales Stummsein vergessen hatte.

Gerade als sie aufgeben wollten und schon darüber nachdachten, was sie mit dem seltsamen Männlein machen sollten, sagte dieses mit erstickt er Stimme: »Franz …«

Tal strahlte und deutete erneut auf sich und sagte: »Tal!«

Er wiederholte vorsichtig: »Taaal.«

»Mit kurzem ›A‹ wie in Yˋtalan oder ›Tannenbaum‹. Du scheinst uns ja doch ein wenig zu verstehen.«

Und dann sagte Franz: »Verstehen!?«

Natürlich sprach jedes Wesen im Universum Smavarisch, oder war in der Lage die smavarische Sprache zu erlernen, handelte es sich doch um die älteste und tollste Sprache überhaupt. So zumindest sah es Tal. 

»Wie bist du in den Vortex geraten?«, wollte Kyon wissen und versuchte dabei so ungefährlich wie möglich zu klingen.

»Bist du …«, sagte Franz.

Kyon schüttelte den Kopf und überließ den Spinner Tal. Ja, er hatte ihn gerettet und nun ein Vorrecht auf seine Sklavendienste, aber wer wollte schon einen Sklaven, der noch hässlicher als die Quink aussah? Wobei … Mit etwas anderer Kleidung und einem Rasiermesser für das Gesichtshaar – konnte ein Wesen hässlicher als ein Quink sein? Er winkte ab und beließ es dabei. Die Hexe sollte ihr Ding mit ihm machen. Sie würde mit ihrem ausgeprägten Helfersyndrom ohnehin nicht von dem Kleinen abhalten. Schließlich hatte sie ihnen auch den Stumpen eingebrockt. Er sah zu Ughtred hinüber, dem ähnliche Gedanken durch den Kopf zu gehen schienen.

Tal indess unterhielt sich rege mit ihrem neuen Haustier und es war eindeutig, das Franz zwar nichts verstand, aber offenbar erstaunlich schnell smavarische Wörter lernte. Na und? Kyon konnte es egal sein.

Das Wesen namens Franz wiederholte erstaunlich gut das Gehörte. Es waren keine konkreten, verständliche Aussagen, bloß unzusammenhängende Worte, doch Tal spürte, dass der fremdartige kleine Mann mit den hässlichen runden Ohren schneller lernte als jedes Tier das sie kannte. Schließlich schien er auch zu begreifen, dass sie ihn nicht fressen würden. Zumindest nicht in nächster Zeit. Sie überlegte, ob Kyons Vision von ihm ihnen nicht sogar in irgend einer Weißen geholfen hatte. Wenn Franz nicht mit seinem seltsamen Fahrzeug in diesem Vortex gesteckt hätte, wären sie vielleicht hindurch gegangen. Im Tagebuch gab es nur noch einen Hinweis auf das richtige Tor, nämlich ein ›X‹ oder ein Kreuz, welches in der Vorstellung der Smavari eher ein verbietendes und ablehnendes Zeichen darstellte. Tal hatte tatsächlich am Boden der Kammer ein entsprechendes Zeichen gefunden und damit diesen Durchgang ad acta gelegt. Der halb geöffnete Vortex aus dem sie Franz gerettet hatten schloss sich ebenfalls aus. Also blieb nur noch einer und dies machte die Situation natürlich einfacher. Lonkaiyth hatte sicher nichts von Franz gewusst und hätte somit eine fünfzig prozentige Chance gehabt, den falschen Durchgang zu wählen. Sie versuchte sich die Herkunft von Franz vorzustellen, hatte aber zu wenige Hinweise. Fahrzeuge in Form von Tunneln, die durch Tunnel rasten und dabei rumpelnd Lichtblitze ausstießen. Männlein mit dünnen Stoffanzügen ohne jeden Schmuck. Dies schien ihr schon sehr fantastisch und ganz sicher nicht erstrebenswert.

»Es bleibt nur ein Durchgang. Wir haben den Weg nach Grandband gefunden«, sprach sie ihre Gedanken aus.

Kyon nickte. Er hatte das ›X‹ auch gesehen und hatte keine Gegenargumente.

Ughtred deutete auf den Fremden und sagte: »Was machen wir mit dem hier?«

»Dem hier …?«, wiederholte der Betroffene.

Kyon zuckte mit den Schultern. Ehe er irgend etwas anstellt, nehmen wir ihn lieber mit. Wir haben ihn gerettet. Er gehört jetzt uns!«

Ughtred rollte mit den Augen und rieb sich dann mit der Hand über die Stirn. Er überlegte, aber im Grund hatte Kyon natürlich Recht. Was würde es nützen den Mann hier zu  lassen? Die Lichtblitze und die Kellergewölbe waren nicht gerade eine beruhigende Umgebung. Er wusste nicht wie er sich den Ort, an dem sich die Perle befand vorzustellen hatte, aber wirklich schlimmer als hier, würde es sicher nicht werden.

 

Grandband

Der Vortex blitzte und gab knallende und kratzende Geräusche von sich und es war den beiden Silberwölfen anzusehen, dass sie unsicher waren, ob er überhaupt richtig funktionieren würde. Die Halbrealität des anderen Durchgangs wirkte sich auf das gesamte Gefüge des Dazwischens aus und verursachte starke Indifferenzen. Was, wenn dieser Fehler in der Realität sich auf die ganze Tiba Fe auswirkte? Wäre es nicht besser, das Zahnrad wieder auf die ursprüngliche Einstellung zu drehen und das Ganze zu vergessen?

Ughtred ging diesmal als erster. Er machte einen beherzten Schritt in die Anderwelt und fühlte sich fallen. Er lief und fiel und trieb durch tanzende Lichter. Um ihn herum umschmeichelten ihn die allgegenwärtige Anwesenheit der Grauen Wächter. Diese gigantischen, offenbar nur aus Schleim und Tentakeln bestehenden Halbwesen trieben auf der anderen Seite des Vortextunnels durch das Plasma des Dazwischen und versuchten träge die Membran zu durchdringen, doch der Vortex hielt. Hinter ihm glitt Tal durch den Äther. Sie hatte sich erneut von ihrem Bruder verabschiedet und Odugme befohlen den Sarg in Raugnith stehen zu lassen. Sie wusste, dass diese Reise anders sein würde. Ein kurzer Abstecher von Shishney nach Angaworth oder einem anderen unmittelbar in der Nähe befindlichen Ort war eine Sache, aber ein Sprung von einer Welt zu einer anderen, würden ihre Geister nicht so einfach verkraften. Sie hatte versucht, sich mental auf die Reise durch den Kosmos vorzubereiten, doch so etwas war leichter gesagt, als getan. Ihre Lehrerin für Vortexreisen hatte die Tiba Fe selbst noch nie verlassen und konnte bestenfalls auf einer theoretischen Ebene dozieren. Jetzt und hier die Heimatwelt hinter sich zu lassen und in die Tiefen des Universums einzutauchen, von allem losgelöst zwischen Sonnen und Sternenstaub durch das Nichts zu wandern, dass war schon etwas anderes, als es beschrieben zu bekommen.

Sie versuchte Ughtred vor sich zu erkennen. Wie musste es ihm gehen, wenn sie schon Probleme hatte ihren Geist, ihre Essenz und ihren Körper in einem Stück durch den Vortextunnel zu bewegen? Er hatte zweifellos diesem Ziehen der Welten, diesem Ungleichgewicht der Realitäten noch weniger entgegen zu setzen als sie. Seltsamer weiße machte sie sich um Kyon weniger Gedanken. Er war derart in sich gefestigt, dass er nicht den Eindruck vermittelte mit einem Vortextunnel Probleme zu haben. Vielleicht war es die Werwölfin in ihm, die ihn solchen Dingen gegenüber immun machte. Realitätsverschiebungen wie solche Besessenheiten suchten im Universum ihresgleichen. Was war schon ein Vortex gegen die Doppelexistenz an ein und dem selben Ort?

Dann waren da noch Odugme und dieses Franzding. Ihr Phani machte ihr am meisten Sorgen. Sein Geist war bedeutend schwächer als der eines Eltwesen oder eines Nyghs. Würde er es unbeschadet überstehen? Nicht auszudenken, wenn er den Grauen Wächtern zum Opfer fallen würde. Eine Berührung der Membran, ein winziger Riss und es gab kein Entkommen. Sie würden seinen Geist und seine Seele schlürfen und seinen Leib der ewigen Transformation im nicht realen Raum überlassen – für immer und immer. Frank hingegen schien dies ja schon zu kennen und außerdem war er kein Phani und daher nicht so viel wert. Natürlich wäre es lustig, ihn ihrer Mentorin vorstellen zu können. Sicher hatte noch niemand auf der Tiba Fe eins wie ihn zu gesicht bekommen. Er war zwar hässlich aber zumindest auch kurios und man könnte sicher viele Erkenntnisse über seine Herkunft herausfinden.

Lichter Tanzten vor ihren Augen und graue Schemen schrammten mit einem gummiartigen Geräusch an der Membran entlang. Sie konnte nicht erkennen, wohin der Weg führte. Da war kein Licht am Ende des Tunnels, nur Schwingungen und sich überschlagende Eindrücke von Welten, denen der Vortextunnel auf ihrer Reise näherte und sich wieder entfernte. Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie durch das Dazwischen wanderte, denn hier verging weder Zeit noch entstand irgend ein Verlust. Hatte man Hunger, wenn man in den VOrtex eindrang, dann hatte man auch Hunger, wenn man ihn verließ. War man müde, so fühlte man sich am Ende der Reise ebenso müde. Es verging keine Zeit, es verging nichts. Man hätte aus äußerer Sicht eine Million Jahreszeiten im Tunnel verweilen können, man währe um keinen Tag gealtert. Draußen verging keine Zeit. Im Inneren verstand man die Zeit nicht mehr. 

Mitten in ihren Gedanken, sah sie vor sich das Blitzen der Realität und machte sich auf den Sturz bereit. Die Öffnung in Angaworth hatte sie gelehrt sich auf alles gefasst zu machen. Doch als sie an der Reihe des Austretens war, geschah dies sanft und ohne Geräusche. Sie rutschte auf sandigen Boden und musste sofort an Draiyn Andiled denken, doch ihre Umgebung war kühl. Sie versuchte zu atmen, doch die Luft war seltsam hart und schmeckte bitter wie abgestanden er Faltersud. Vor ihr stand Ughtred und hatte die Arme ausgebreitet um sie notfalls aufzufangen und diese Aufforderung konnte sie nicht ausschlagen. Sie glitt nach vorn und fiel dem kleinen Mann in die starken Armen. Mit einem Handgelenk an der Schläfe drehte sie sich auf den Rücken und gab ein laszieves Stöhnen von sich. Ughtred ließ sie auf den sandigen Boden fallen und schüttelte genervt den Kopf. Da sah sie, dass er gelitten hatte. Es war nicht seine Haut oder seine Haltung, es waren seine Augen. Sie hatten die kosmischen Schrecken der Unendlichkeit erblickt und diese waren nicht für Wesen wie ihn gemacht. Sie gehörten den Alten oder deren Kindern, aber nicht sterblichen Wesen wie den Nyghs und kein Sterblicher, sollte mit ihnen in Kontakt treten. Chaosschild, Riese, Drache und Vortex – dies waren Dinge, die sich nicht nur auf den Geist sterblicher Geschöpfe auswirkten, sondern auch auf ihre Seelen.

Sie stand auf und machte für den Nächsten Platz. Die Öffnung ins Dazwischen befand sich in der Ecke einer soliden Mauer. Suchend tanzten die violetten Lichtblitze des Vortex durch den großen Raum. Wo waren sie hier gelandet?

Der Boden der steinernen Kammer war eindeutig deutlich größer als die Decke. Einen Augenblick dachte sie, der Vortex hätte auch hier die Realität verbogen, aber die Erbauer dieses Gelassen schienen diese Form in voller Absicht erzeugt zu haben. Alle vier Wände strebten in einem Winkel der Decke zu und gaben dem Ganzen etwas zutiefst Fremdhaftes. Hinzu kamen schmale Schlitze, an der Decke, die wohl Fenster darstellen sollten, aber so hoch waren, dass man unmöglich durch sie hindurch sehen konnte. Es gab eine Öffnung im Raum, deren Zargen ebenfalls schräg standen. Draußen schien ein Gang diesen Raum mit weiteren zu verbinden. Der Boden hier und im Gang war von grauem Sand bedeckt und es war unmöglich zu sagen, ob dies eine Folge der Elemente und der Zeit oder der Wille der Erbauer des Gebäudes war. 

Da es weder Möbel, noch anderes Interieur gab, konnte auch der Nutzen der Kammer nicht bestimmt werden. Sie war groß genug, um als Lager zu dienen, aber es gab keine Hinweise auf Güter oder Abdrücke im Sand, die eine solche Vermutung bekräftigt hätten.

Da trat Kyon aus den Lichtblitzen und dicht hinter ihm stolperte Odugme hervor. Der Barde rutschte in den Sand, aber Odugme fiel und Tal stürzte sofort zu ihm. Sie schob seine Maske nach oben und besah sich seinen Zustand. Erschrocken wischte sie ihm mit dem Handballen das dicke Blut von der Wange, dass aus seinen Nasenflügeln getreten war. Seine Augen flackerten und er schnappte nach Luft. Was hatte er nur gesehen, was jagte ihn?

Später wusste sie nicht mehr wie lange es dauerte, bis sich alle von dem Weg zwischen den Sternen erholt hatten, doch irgendwann, kam Kyon zu ihr und legte seine Hand auf ihre Schultern. Es war ein seltsamer Moment des Trostes, denn sie selbst hatte ja kaum unter der Vortexreise gelitten. Er nickte ihr freundlich zu und deutete auf den merkwürdig schiefen Durchgang.

»Wir sollten zumindest die Umgebung erkunden«, sagte er ohne Grimm in der Stimme.

Ughtred sagte: »Kann mir mal jemand helfen?«

Mit seinem kleinen Bartspiegel in der Hand stand er unter einer der schmalen Fensteröffnungen. Tal trat zu ihm und hob ihn hoch. Die Öffnung war jedoch so schmal und so dicht an der Decke, dass er den Kopf noch so schräg legen konnte, sehen würde er so nichts. Also nahm er den Spiegel zu Hilfe und beschrieb, was er erblickte: »Da ist eine schroffe Steinlandschaft und eine riesige rote Sonne. Wir befinden uns wahrscheinlich auf einem Hügel, aber rings umher gibt es gezackte Gebirgsformationen. Wahrscheinlich ein Tal oder zumindest Eine Senke. Es gibt kaum Vegetation. Tiere sehe ich auch keine und Leute scheinen auch keine da zu sein.«

Er schwieg und Tal ließ in auf den sandigen Boden herunter.

Dann sagte er: »Wenigstens scheint es nicht heiß oder zu kalt zu sein. Die Luft hier drinnen atmet sich schwer, aber wir werden uns daran gewöhnen.«

Kyon stöhnte und sagte: »Ich habe das Gefühl, man hätte mir einen Phani auf den Rücken gebunden.«

Der Nygh antwortete: »Denke, das liegt an der unterschiedlichen Schwerkraft.«

»Was soll das sein?«, wollte der Barde wissen und Tal dozierte: »Es ist die psionische Anziehungskraft der Tiba Fee. Damit sorgt sie dafür, dass wir nicht von kosmischen Kräften in die Schwärze des Nachthimmels gezogen werden. Wir können froh sein, dass diese Welt uns ebenfalls bei sich hält.«

Ughtred wollte noch etwas sagen, behielt dann aber seine eigene Meinung zum Thema Schwerkraft für sich. Sie waren so fortschrittlich, auf ihre Art so weise, aber dann wieder hielten sie sich an kindlichen Vorstellungen fest, die jeder Nygh mit seinen ersten Holzspielzeugen und dem Eintritt ins Erwachsenenleben abgibt. 

»Auf geht's«, sagte er schließlich und hob seine Umhängetasche mit dem letzten Proviant, den sie noch hatten vom Boden auf.

Das Gebäude in dem sie sich befanden, schien eine Art Tempel oder zumindest etwas vergleichbares sein. Es war still und groß und strahlte eine seltsam zeitlose Stille aus. Von dem Raum, in dem sie angekommen waren, führte ein Gang mit vielen weiteren, türlosen Durchgängen auf eine breite Treppe und weiter in das Gebäude hinein. Kyon entschied, sich das Ganze zuerst anzusehen, da er sich ein Bild von den hier lebenden Gorden machen wollte.

Die Gorden – sie waren die Erzfeinde der Smavari. Sie waren groß, stärker als Arwölfe und schreckliche Berserker im Kampf. Gnade hatte man von diesen Bestien nicht zu erwarten. Außerdem waren sie Barbaren und sprachen keine den Smavari bekannte Sprache. Also sie sprachen kein Smavari. Eine andere Sprache war für einen Silberwolf kein Sprechen.

Er überlegte laut, wie man sich mit diesen Leuten unterhalten sollen, kam dann aber zu dem Schluss, dass seine Pfeile ja eine universelle Sprache darstellten. Tal gab zu bedenken, dass sie zumindest versuchen könnte, mittels Psionik zu kommunizieren und Ughtred war der Meinung, dass Freundlichkeit eine weit bessere und ebenso universelle Sprache darstellten als das Kriegshandwerk.

Kyon zuckte mit den Schultern und ließ seinen Bogen aufschnappen. Er deutete den Gang hinunter. Dann sagte er düster: »Seht ihr das? Da hinten ist die Decke des Gebäudes eingebrochen.«

Ughtred blinzelte und fragte dann: »Was ist denn das? Was steckt denn da im Boden? Gehört das zur Architektur?«

Aber die über fünfzehn Meter langen schwarzen Säulen die hier durch die Decke ragten und zum Teil den Boden durchdrungen hatten gehörten ganz sicher nicht zum normalen Interieur dieses Gebäudes.

»Das sind smavarische Torpedos aus geschwärztem Silber. Unsere Schiffe werfen sie in großer Zahl und von weit oben auf feindliche Städte ab, um sie unbewohnbar zu machen. Dabei geschieht meist weder den Bewohnern, noch deren Ressourcen etwas. Die brauchen wir ja, wegen ihnen ziehen wir in den Krieg«, sagte Kyon monoton.

Ughtred trat an eins der Dinger heran. Es ragte schräg aus der Decke und hatte sich mit unglaublicher Wucht in den Boden gebohrt. Sein Durchmesser Betrug wenigstens einen Meter und es musste gut und gerne zwanzig Meter lang sein. Oben und unten lief es einfach spitz zu. Die Oberfläche war raus und schwarz korrodiert. Er strich mit der Hand darüber.

»Warum Silber?«, wolte er wissen.

Kyon sagte mit einem Schulterzucken: »Weil es uns gefällt.«

»Aber ist es nicht schädlich für eure Gesundheit?«

»Wenn euch solch ein Ding auf den Kopf fällt, was denkt ihr? Ist es schädlich für eure Gesundheit?«, fragte Kyon sarkastisch und berührte den gigantischen Torpedo.

Er spürte das Bitzeln des Metalls an seinen Fingerkuppen. Seine Handschuhe ließen diesen Bereich frei. Dann leckte er sich über die Finger, als könne er das Gift so lösen. Stattdessen begann nun auch seine Zunge zu kitzeln. Er lächelte und dachte an die vielen Sexspielzeuge aus Silber, die er mit Northrian ausprobiert hatte. Dann zog die Wolke des Verlustes über seinen Geist und er wandte sich ab. Er hasste es, wenn der Stumben seine Tränen sah. Das hatte etwas Perverses, als sähe ihm ein Tier beim Kopulieren zu. 

Schließlich rief er: »Hier ist nichts. Der Tempel ist leer und wahrscheinlich unbenutzt. Wenn die Perle hier wäre, hätten wir sie sicher gespürt. Ein derart mächtiges Artefakt wird sich ganz sicher auf uns auswirken.«

Ughtred rieb sich über die Stirn und fragte: »Ja? Was soll es denn nun genau sein Herr Barde?«

Kyon ignorierte ihn und wandte sich der anderen Richtung des Tunnels zu, doch der Nygh war nicht gewillt das Thema sofort wieder fallen zu lassen. Er wandte sich an Tal und wiederholte die Frage.

Nun strich auch die Hexe über die geschwärzte Haut der schrecklichen Waffe. Sie überlegte einen Moment und sagte dann leise: »Es spielt kaum eine Rolle Herr Meisterdieb. Es ist ein Artefakt aus längst vergangener Zeit. Wenn wir es nicht erschaffen haben, stammt es aus den Schmieden der Kar-Wesen und was die Götter erschaffen, wirkt sich auf jeden von uns aus.«

»Haben sie auch die Lopen erschaffen?«, wollte der Nygh wissen.

»Ja, ganz sicher.«

»Und dann auch deren Scheiße oder?«

Tal sah zu ihm herunter und verzog das Gesicht, sagte dann aber wie zu einem störrischen Kind: »Ja Ughtred, auch das.«

»Und wie wirkt sich die auf uns aus?«

»Sie stinkt.«

Ughtred rieb sich erneut über die Stirn als er davonging und leise murmelte: »Genau!«

 

Kyon stand mit einem Fuß auf der Treppe und sah sich zwei Feuerbecken links und rechts der Stufen an. Die Dinger waren erloschen, aber er kannte die Machart dieser Becken. Sie waren eindeutig Smavarisch.

»Sind das Beutestücke?«, fragte Tal, der neben ihn getreten war. 

Kyon nickte und fuhr mit dem Finger über den Rand eines der Becken. Dann ging er langsam die viel zu tiefen Stufen hinauf.

Tal flüsterte leise: »Sie waren also auch bei uns …«

Oben angekommen ging der Barde in die Hocke. Es war Tag, schätzungsweise Mittag und das Gebäude schien sich tatsächlich auf einer Anhöhe zu befinden. Keine einhundert Schritte von ihm entfernt befand sich eine Siedlung aus seltsamen Strukturen. Er ging noch weiter in Deckung und gab den anderen ein Handzeichen, es ihm gleich zu tun. Wenn die Pferdemänner sie hier oben entdeckten, war ihr Fleisch keinen Faltersud mehr wert.

Die Gebäude dort unten gehörten sicher dem selben Kulturkreis wie jenes, in dem sie durch den Vortex gelandet waren an. Allerdings war der Tempel hier oben eckig, während unten in der Siedlung runde Formen vorherrschen. Die Häuser schienen alle in ihrem Grundriss nur ein Zimmer zu beherbergen, waren aber dafür fast alle mindestens drei oder gar vier Stockwerke hoch und hatten ein kuppelförmiges Dach. Türen gab es überhaupt keine und auch die Fensteröffnungen schienen nicht mit Glas oder wenigstens Leder geschützt zu sein. Kyon überlegte, wie schwer es sein musste, Sklaven dazu zu bringen, ein Haus rein zu halten, welches ständig geöffnet war. Dann dachte er an den sandigen Boden des Tempels. Barbaren eben, was wollte er von solchen Wesen erwarten? Wahrscheinlich kannten sie das Konzert häuslicher Reinlichkeit nicht einmal und hielten sich ihre Sklaven ausschließlich zum Vergnügen.

Ughtred legte sich flach auf den Boden und machte Odugme und dem Franzmann ein Zeichen, es ihm geich zu tun. Dann kroch er neben Kyon und Tal. Die beiden waren bis zum Rand des Hügels vorgedrungen und lagen nun ebenfalls flach auf dem Boden. Ihnen stand die Anspannung in die Gesichter geschrieben. Die Pferdemänner waren die Erzfeinde der Smavari und in eine ihrer Niederlassungen einzudringen war sicher ähnlich gefährlich, wie sich einem Drachenhort zu nähern. Ein grimmiges Lächeln stahl sich auf Ughtreds Lippen und er lächelte wirklich selten.

»Ich sehe viele Bewohner und nur zwei oder drei Wächter, aber selbst die Kinder, wenn die kleinen Kinder sind, tragen Waffen«, sagte Kyon verdrossen.

»Und die Perle?«, wollte Tal wissen.

Ughtred, der nun neben ihnen lag, sagte: »Was ist das für ein kleines Gebäude hier vorne?«

Er deutete auf den vermeintlichen Eingang des Dorfes, wo sich ein wenige Schritte großer Bau aus dunklen Steinen befand. 

Kyon zuckte mit den Schultern und murmelte: »Wenn da die Perle ist, warum dann keine Wachen?«

Tal sagte: »Ich seh mir das Mal an!« Und schon hatte sie sich auf den Rücken gedreht, ihre Augen geschlossen und ihren Körper verlassen. Aus dem Augenwinkel sah sie noch, wie Kyon an ihren Nippeln herumspielte, aber sie lachte nur im Äther und schoss den Hügel hinunter.

Im selben Momen – oder sogar schon Minuten, bevor sie die Idee hatte ihren Körper zu verlassen – begann der Sog. Es war übermächtig und zerrte an ihrer Essenz. Eben hatte sie noch eine klare Richtungsvorgabe, huschte den Hügel hinunter und versuchte sich an den Gebäuden zu orientieren und schon wurden die von ihr erschaffenen astralen Schwerkraftverhältnisse verfälscht. Sie wurde auf das kleine eckige Gebäude zugezogen. Wie ein Fisch an einer silbernen Angelschnur bewegte sie sich auf dieses unvermeindliche Schicksal zu. Sie wehrte sich, legte neue Schwerkraftpunkte fest, orientierte sich an der Allgewalt der hiesigen Sonne und dem Planetenkern, doch nichts auf dieser Welt hatte mehr Gewicht, als der Inhalt der kleinen kantigen Struktur. Sie raste einmal daran vorbei, schaffte es mit viel Geschwindigkeit dem unmittelbaren Sog zu entkommen und versuchte etwas über die Pferdemänner zu erfahren. Sie lebten hier. Es schien weder eine Wache, noch eine schwere Bewaffnung zu geben. Keins der Häuser hatte eine Tür. Dennoch war offenbar jeder, bis hinab zu den Kindern bewaffnet. Jetzt bei Tage schienen sie verschiedenen Gewerken nachzugehen, Sie waren eindeutig Jäger und ernährten sich von Wild. Nahe der Behausungen konnte sie auch kleine Beete erkennen, aber ansonsten gab es keine Anzeichen für Ackerbau. Auch fand sie weder eine Festung, noch ein Haus, dass wesentlich  größer als die anderen war und daher die Unterkunft eines Fürsten hätte sein können.

Ein letztes Mal gab sie dem Sog nach und ließ sich in Richtung des kleinen, einzig eckigen Gebäudes ziehen, doch kurz davor überwog ihre Angst und sie wehrte sich hineingezogen zu werden. Es kostete sie all ihre geistigen Kräfte dem Ziehen zu widerstehen und nur der Rückzug, entlang der goldenen Fangleine, die ihre Seele mit der Realität und ihrem Körper verband, rettete sie vor dieser unheiligen kosmischen Kraft.

Dann öffnete sie die Augen und sog scharf die stinkende Luft Granbands in ihre Lungen. Sie würgte und verpasste Kyon eine Ohrfeigen. Dieser grinste böse und legte dann fragen den Kopf schief.

»Sie scheinen keine Festung zu haben, ernähren sich offenbar von der Jagd und ich konnte keine Anführerstruktur erkennen. Wenn die Perle hier ist, dann eindeutig in dem kleinen Raum, aber Herr Sliyn, da stimmt etwas nicht.«

Er zuckte mit den Schultern, als wolle er sagen: ›Was hat denn bisher bei dieser verrückten Unternehmung gestimmt?‹

Einen Moment schwieg sie und sah Ughtred an. Dieser rieb sich die Stirn, als wüsste er, was sie gleich sagen würde.

»Da unten, in diesem winzigen Gemäuer, ist etwas episches. Ja, ich glaube sie ist da, aber ich befürchte, wir werden ihr nicht gewachsen sein!«

»Blödsinn«, murrte Kyon. »Ich bin nicht durch die Fänge eines scheiß Drachen gegangen, um mich dann hier von ein paar Pferdemännern in die Flucht schlagen zu lassen.«

»Das ist es nicht. Es sind nicht die Gorden. Es ist etwas übernatürlich starkes, dass an meiner Seele gezogen hat.«

Kyon deutete auf ihr Mieder und sagte: »Sicher habt ihr nur meine Hände auf eurem dürren Leib gespür Frau Hexe.«

Ughtred kniff sich in die Nasenwurzel und sagte verdrossen: »Herr Barde, ist dies die richtige Zeit für solche Leckereien?«

Kyon wollte eine Hand ausstrecken, aber Tal schlug mit dem Panzerhandschuh ihres Vaters danach und Kyon schrie schmerzhaft auf.

»Seid ihr verrückt geworden?«

»Kyon, da unten ist etwas zutiefst Verheerendes. Es ist fraglich, ob wir einen Gewinn aus seiner Entdeckung machen können«, versuchte sie es erneut.

Doch der Sliyn wurde immer trotziger. Er zog die Nase hoch und spuckte Rotz in den staubig grauen Wüstenstand.

»Ihr wolltet doch unbedingt den Spuren meines irren Vaters hinterher irren. Eure Akkatha lacht sich sicher ihr Höschen nass, wenn sie uns hier in ihrem Kristallspiegel zusieht. Was jetzt? Drehen wir um? Sagen wir, wir haben die Perle gefunden, aber sie war nichts für uns?«

Tal schluckte. Sie waren einen weiten We gegangen. Dennoch war ihr Gefühl eindeutig. Dieses Ding da unten bei den Gorden, war nichts gutes. Niemand würde hier erhoben weggehen. Sie hatte es gespürt. Die Pferdemänner wussten es. Sie schienen den Inhalt des kleinen Gebäudes nicht einmal zu beschützen. Es war vielmehr so, dass sie den Rest der Welt zu schützen schienen.

»Wir sehen sie uns an«, sagte sie.

»Und dann stecken wir sie ein und kehren als reiche Smavari nach Shishney zurück«, donnerte Kyon.

Tal schwieg, aber ihr Blick traf sich mit dem des Nyghs. Für ihn spielte der Reichtum und das Ende dieser Unternehmung ohnehin eine ganz andere Rolle als für sie und Kyon. Sie hatte mittlerweile verstanden was ihn trieb. Es war tatsächlich die Freundschaft und den Rest machte seine natürliche Neugierde und Abenteuerlust. Doch er würde niemals für Reichtum oder einen kuriosen Schatz in den Tod gehen.

Kyon deutete den Hügel hinunter und befahl: »Wir warten die Dämmerung ab und schleichen hinunter.«

Tal sagte ruhig: »Sie werden nachts die Wachen kaum abziehen.«

»Na und? Haben wir nicht einen Meisterdieb? Für was haben wir den Kerl all die Zeit mit uns geschleppt? Soll er noch sinnloser gewesen sein als der Sarg und die Gebeine eures toten Bruders?«

Tal kämpfte mit den Tränen. Also gut. Sollte er seinen Willen haben. Und ja, er hatte nicht unrecht. Ihre eigene Eitelkeit hatte sie hierher gebracht und ja, wahrscheinlich war es genau das, was ihre Mentorin Akkatha von ihr erwartete.

Ughtred legte ihr die Hand auf den Arm und sagte: »Er hat ja irgendwie recht. Ich machˋs.« Und damit stand er auf und ging einige Schritte an der Sichtgrenze des Hügels entlang, um sich ein besseres Bild von dem Areal machen zu können. Er würde in jedem Fall warten, bis dieser gigantische rote Glutball verschwunden wäre. 

»Hoffentlich gibt es überhaupt eine Nacht auf diesem öden Brocken«, murrte er und hob die Hand an die Stirn, um gegen das Licht besser sehen zu können. Es war nicht weit. Kaum mehr als zweihundert Schritte. Wenn es dunkel genug wäre, würde er den Hügel hinunter schleichen, in das kleine Gebäude, welches wie alle anderen keine Tür zu haben schien, eindringen und die blöde Perle klauen. Von den Gorden wusste er so gut wie nichts, aber es kümmerte sie zweifellos nicht, was andere über sie dachten, wenn sie Welten überfielen und alles was nicht niet- und nagelfest war mit sich nahmen. Davon zeugten zumindest die beiden Feuerbecken in dem Gebäude hinter ihm. Die Silberwölfe hatten sie ihnen mit Sicherheit nicht als Souvenirs mitgegeben.

Vorsichtig, um nicht gesehen zu werden, kam er zu den anderen zurück und setzte sich auf den Boden. Er erklärte seinen Plan und dass es wichtig sei, die Nacht abzuwarten. Dies musste er nicht zweimal sagen, denn Tal und Kyon taten sich ohnehin schwer mit dem Sonnenlicht. Nur der seltsame Fremdling fragte nach, auf was gewartet wurde und was als nächstes geschehen würde. Ughtred wunderte sich nicht schlecht, denn Franz lernte mit jeder verstreichen den Minute mehr der smavarischen Sprache. Das musste etwas psionisches sein, oder er kannte die Sprache schon und hatte sie nur vergessen. Vielleicht litt er an einer Art Gedankenverlust durch seine schrecklichen Erfahrungen im Zwischenraum. Vielleicht war er aber auch nur ein Meister rin Sachen Linguistik. Er selbst würde diese Sprache niemals akzentfrei und grammatikalisch korrekt sprechen können. Die Vielen Zischlaute und unzähligen Varianten das ›Y‹ auf möglichst seltsame Art einzuflechten und auszusprechen machten ihm dies unmöglich.

Sie redeten wenig und warteten einfach nur ab und es ergab sich, dass es viele Stunden dauerte, bis die rote Sonne Anstalten machte, sich zur Ruhe zu begeben. Die Tage hier mussten wenigstens doppelt oder gar drei Mal so lang wie die auf der Tiba Fe sein. Als der Glutball allerdings hinter dem Gebirge verschwunden war, wurde es binnen weniger Minuten stockdunkel und merklich kühler. 

Tal fröstelte und beäugte Kyons Mantel, doch es war wie immer Ughtred, der ihr seine Jacke anbot. Dann zuckte er mit den Schultern, rieb sich über die Stirn und machte sich für den Abstieg bereit. Ähnlich wie im Drachenhort, ließ er einen Großteil seiner Waffen und vor allem seine Rüstung zurück. Er wollte schnell rennen können und sich so leise wie möglich bewegen. Vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzend, ging er geduckt den Hügel hinunter und blieb immer dann stehen, wenn sich unten jemand bewegte. Die Pferdemänner hatten mit dem Untergehen ihrer Sonne die Straßen von Grandband verlassen und nur noch wenige von ihnen machten hier die Runde. Es sah nicht so aus, als würden die Übriggebliebenen Wache stehen oder einen bestimmten, der Nacht geschuldeten Beruf ausüben. Nur zwei oder drei von ihnen standen reglos an einer Art Stange an einer Hauswand. Sie könnten Wachen sein, dachte der Nygh, und versuchte sich möglichst so zu nähern, dass er ihrer Aufmerksamkeit entging.

Er erreichte ungesehen das erste Haus und duckte sich unter einem Fenster hindurch. Es gab tatsächlich weder Glas, noch andere Materialien, die man anderen Orts vor solche Öffnungen zu bringen bevorzugte. Die Pferdemänner mochten es offenbar luftig. 

Neugierig lugte er über das abgerundete Fensterbrett und sah zu, wie einer der Pferdemänner den Raum dahinter betrat. Der riesige Kerl nahm seinen gezackten Helm ab und gähnte laut. Sein Mund teilte sich nicht vertikal, wie es bei Nyghs und Silberwölfen der Fall war, sondern horizontal und erinnerte damit eher an einen großen Hundskopf mit ausladenden Lefzen. Sein Kiefer war mit einer Reihe äußerst starker Zähne bestückt, die in ihrer Anordnung an kein Tier erinnerten, welches Ughtred kannte. Auch hatten die Gorden offenbar zwei Daumen, einen auf jeder Seite des Mittelhandknochens und lange, äußerst kräftige Finger mit gebogenen Klauen. Der Mann – als er sich auszog gab es keinerlei Zweifel an dem geschlecht dieses Wesens – streckte sich und legte sich dann auf eine dünne Matte, wo er die Arme hinter dem Kopf verschränkte und auf etwas zu warten schien. Und tatsächlich betrat kurz drauf ein sehr kleiner Gorde mit zierlichen Gliedern den Raum. Der Große tat so, als sei ihm die Anwesenheit der Kleinen unwillkommen und knurrte wie ein Arlöwe. Die Kleine jedoch setzte sich neben ihn und als er die Hand nach ihr ausstreckte, biss sie ihn und der Mann lachte kehlig. Dann begann er leise in einer guturalen Sprache zu murmeln und die Kleine rollte sich neben ihm zusammen und hörte zu, bis sie einschlief.

Ughtred war fasziniert. Diese Wesen hatten Kinder und sie erzählten ihnen ganz eindeutig Geschichten. Sie schienen nicht im Mindesten die Monster zu sein, zu denen die alten Geschichten sie machen wollten. Oder täuschte er sich? Würde die kleine Pferdemännin ihn essen, wenn man ihr die Gelegenheit dazu gab?

Er schlich weite rund versuchte diese Gedanken zu vertreiben. Es brachte nichts, sich um solche Dinge Sorgen zu machen. Sie würden ihn nicht bemerken – er war der Meisterdieb!

Drei der runden Häuser musste er hinter sich bringen und einmal eine offene Stelle überbrücken, auf die einer der vermeintlichen Nachtwächter hätte sehen können, doch er war ein Schatten in der Dunkelheit und tatsächlich bemerkte ihn niemand. Dann hatte er den Platz erreicht und die Perle war in greifbarer Nähe. Er musste nur noch ungesehen in den kleinen Raum gelangen, der eindeutig ebenfalls nicht versperrt war.

So leise wie möglich schlich er sich näher. Das Gebäude glich der restlichen Ansiedlung zwar in seiner Beschaffenheit, aber es hatte architektonisch einen ganz anderen Stiel. Vor allem war es würfelförmig. Wo die anderen Häuser alle einen runden Grundriss aufwiesen, war dieses hier viereckig oder sogar quadratisch. Die Wohnhäuser waren mehrstöckig und hatten wiederum runde Kuppeldächer. Hier gab es ein Stockwerk und ein flaches Dach. Die Häuser hatten abgerundete Türöffnungen und Fenster – hier gab es einen geraden Eingang und zwei schmale, ebenfalls gerade Fensteröffnungen. Es war, als stamme es zumindest aus einer anderen Epoche oder war von einem anderen Volk der Pferdemänner errichtet worden. Nur der Baustoff schien der selbe zu sein. Es handelte sich um ein dunkles, eindeutig per Hand bearbeitetes Gestein.

Trotz der Dunkelheit konnte Ughtred die Einzelheiten seines Ziels erkennen. Große Brocken waren aus den Wänden gebrochen und nur notdürftig repariert worden. Das kleine Gebäude war eindeutig eine Art Schrein und er wurde nicht sonderlich fürsorglich instand gehalten. Jedes Haus der Nyghs wurde liebevoll gepflegt. Hier schien man eher Abstand zu halten.

Als er sich den Eingang näher ansah, entdeckte er davor eine große Menge sehr dünner Glasscherben. Er versuchte zu verstehen, ob der Schrein doch einst mit Fenster versehen war, aber die Scherben auf dem Boden waren winzig und schienen alle gebogen zu sein. Dann entdeckte er mehr oder weniger unzerbochene Glaskugeln zwischen den Scherben. Sie waren dunkel und schienen aus eben dem dünnen Glas zu bestehen. Etwas größer als ein Augapfel und zweifellos hohl, konnten sie kaum mehr als zwei, drei Krähenfedern wiegen. Wenn er die Menge der Scherben überschlug, mussten hier tausende zerbrochener Kugeln auf dem Boden verstreut zu liegen. Er rieb sich die Stirn und versuchte dies mit dem Gegenstand seines Hierseins in Zusammenhang zu bringen. Galskugeln, schwarze Perlen, machten die Pferdemänner Kopien des Artefaktes? Sah so die Schwarze Perle von Granband aus? Ärgerlich begriff er, dass die Scherben es nicht gerade leichter machen würden, den Schrein zu betreten. Es würde kaum möglich sein, nicht auf Glas zu treten und damit knirschende Geräusche zu verursachen. Vorsichtig trat er auf eine der Scherben und versuchte die entstehenden Laute so gering wie möglich zu halten. Er hielt inne und lauschte. Nichts geschah. In den Schatten geduckt wartete er viele Herzschläge und rechnete mit sich näher den Schritten, doch er blieb unbehelligt. Also gut, dachte er, es gilt.

So leise wie nur eben möglich schlich er Schritt für Schritt in das Chaos aus Scherben hinein und schließlich erreichte er die Öffnung des kleinen Kubus. Natürlich war klein relativ. Für ihn war die Türöffnung gigantisch, denn sie hätte drei Nyghs übereinander einlassen können, aber wie die Gebäude der Silberwölfe, war auch hier alles überdimensioniert und im Vergleich zu den Unterkünften der Pferdemänner war der Schrein wirklich klein. 

Ughtred lugte in die Dunkelheit. Es gab offenbar keinen Mond und auch die Sterne schienen die Welt der Gorden zu meiden. Doch Ughtreds Augen konnten dennoch gut genug sehen. Es gab nur einen einzigen Raum und hier war sie. Auf einem breiten, schwarzen Sockel, stand, ohne eine Halterung, als würde sie jeden Moment herunterrollen, die Schwarze Perle. Sie war deutlich größer als er erwartet hatte. Sie war so groß wie sein Kopf, tief schwarz und makellos. Wie eine echte Perle sah sie nicht aus. Es handelte sich eher um eine glatt geschliffene Steinkugel. Die Oberfläche war weder glänzend, noch matt und er hätte auch nicht sagen können, ob sie wirklich schwarz war. Sie schien eher das Licht zu schlucken und weiß kaum Reflexionen auf. Gerade wollte er nach ihr greifen, als er erschrak.

Hinter ihm räusperte sich jemand und dann intonierte er mit rauer Stimme einen guturalen Reim: 

»DOR GORAD ORG GORDUBAN NARID AR ARUNAD ORG

AD NERID MA GORD AR DORAM MAROD«

Er wandte sich um und da stand einer der Pferdemänner. Er trug eine Art Tunika und nur eine seiner Schultern wurde von einer Rüstungsberge aus rötlichem Metall geschützt. Sein Gesicht wurde von einem hier offenbar typischen Helm verhüllt, doch gerade als er ausgesprochen hatte, nahm er die Maske ab und entblößte seine kräftigen Kiefer. Er war eindeutig alt. Seine Wangen waren eingefallen und der Kiefer hatte an Kraft verloren. Die rötlichen Augen hatten etwas Ausgeblichen es und er schien müde zu sein und die Mähne, die bei den anderen Pferdemännern die breiten Schultern zierten waren grau und verfilzt.

Er wiederholte seinen Spruch und hob vorsichtig die Hand. 

Ughtred wollte nach der Perle greifen, da ertönte neben dem Alten ein ziehendes Geräusch. Ein zweiter Gorde trat in seinen Blickwinkel und dieser hatte eine Waffe auf seiner Schulter. Ughtred kannte die schrecklichen Feuerlanzen der Silberwölfe und Begriff, dass das Ding auf der Schulter des Kriegers eine Feuerwaffe sein musste. Es war gedrungener und hatte mehrere Rohre, während besagte Feuerlanzen schlank, lang und eleganter wirkten, aber er war sich sicher, die Gordenwaffe würde ähnlich verheerend wirken.

Er traf eine Entscheidung. So schnell er konnte wandte er sich der Perle zu und griff danach. Das Dinge würde schwer sein, aber er musste handeln. Jetzt oder nie. Doch der Pferdemann war schnell. Er riss die Waffe hoch und betätigte den Auslöser. Ein saugendes Geräusch erscholl und etwas Glühendes schoss durch die Dunkelheit in das kleine Gebäude hinein. Wäre Ughtred nicht ohnehin in Bewegung gewesen, der Kerl hätte ihn getroffen und zu einem glimmenden Stück Nyghfleisch verwandelt. Stattdessen rollte sich Ughtred ab, prallte gegen die Seitenwand des Raumes, rappelte sich auf und rannte auf die Pferdemännner zu. Diese, überrascht von der Wendung, versuchten ihn einzufangen, doch er war zu klein und viel zu flink. Der Alte hob abwehrend die Hände und ein weiterer, den Ughtred nicht hatte sehen können, weil er seitlich am Gebäude gestanden hatte, stolperte über seine eigenen Beine und viel dem mit der Waffe vor die Füße. Hinzu kam eine zierlicher Pferdemann, vielleicht eine Frau, die etwas rief und ebenfalls nach Ughtred griff, ihn jedoch wie die anderen verfehlte. 

Er rannte zwischen Beinen hindurch, machte einen Ausfallschritt und rettete sich, wie eine wilde Giebelkatze, in die Dunkelheit. Zuerst wollte er den Hügel hinauf laufen, doch dann dachte er an die Anderen und versuchte zumindest aus dem Lichtschein der immer meher werdenden Lampen neu hinzukommender Pferdemänner zu entkommen.

Oben an der Kante lagen Tal und Kyon nebeneinander und sahen dem Treiben zu. Genervt fragte Kyon: »Hat er sie wenigstens?«

»Ist doch jetzt egal. Die haben auf ihn geschossen. Wir müssen ihm helfen!«

Sie wollte aufstehen, aber Kyon legte ihr die Hand auf den Arm und schüttelte energisch den Kopf. Dann zischte er: »Nein, noch nicht. Der schafft das auch so. Wir haben noch Möglichkeiten.«

»Möglichkeiten? Ihr und eure Möglichkeiten könnt mir gestohlen bleiben. Ich muss ihm helfen!«

Sie wandte sich zu Odugme, der ein wenig weiter hinten kauerte und gab ihm den stummen Befehl, sich zum Eingang des vermeintlichen Tempels zurück zu ziehen und den kleinen Mann aus dem Zwischenreich mit sich zu nehmen, aber der Phani missverstand ihr Zeichen, stand auf und kam auf sie zu.

Sie versuchte ihn noch zu stoppen, als Kyon sie zischend auf den Fehler aufmerksam machte, aber es war zu spät. 

Von unten waren laute Gordenstimmen zu hören. Man hatte sie entdeckt!

Ergeben stand Kyon auf und wandte sich dem Dorf unter ihm zu. Es waren zwischenzeitlich sicher einhundert Gorden, die sich auf dem kleinen Platz versammelt hatten. Sie trugen Laternen und viele von ihnen hatten kurze Schwerter, Lanzen und schwere Feuerwaffen, die sie auf den Schultern trugen mitgebracht. Sie waren gerüstet und machten einen mehr als wehrhaften Eindruck.

Kyon schob sich die Haare aus der Stirn und murmelte: »Riesen, Drachen, Untote – was sind da ein paar bis an die Zähne bewaffnete Gorden? My Lady …« Er streckte Tal die Hand hin und half ihr aufzustehen.

Unterdessen hatten sich die Pferdemänner – und -frauen, denn es waren zweifellos Individuen beiderlei Geschlechts in dem Pulk aus Leuten vertreten – ein wenig beruhigt und viele von ihnen deuteten den Hügel hinauf. Einer von ihnen, ein wahrer Riese mit Pranken wie ein Werbär, war schon einige Meter aufgestiegen, gefolgt von einer Frau und dem Alten, der immer noch versuchte die Menge zu beruhigen und sich darum immer wieder umsah. Dann rief er etwas dem Riesen zu und dieser blieb stehen und es kam zu einer hitzigen Diskussion. Schließlich schien sich der Alte durchzusetzen, denn die Frau unterstütze ihn offenbar. Langsam kam er den Hügel herauf und der große Krieger und die Frau blieben einige Schritte hinter ihm.

Kyon streckte seine Hand aus und sein Bogen, der noch auf dem Boden gelegen hatte, schnellte hinein. Tal trat es dem Sliyn gleich und wollte Raguels Speer levitieren lassen, doch nichts geschah, also bückte sie sich kokett und hob ihn auf konventionelle Weiße auf.

Beruhigend hob der Alte die Arme und machte ein Zeichen, unbewaffnet zu sein. Nur was wollte er damit bezwecken? Unten wartete die Meute nur darauf sich auf die smavarischen Erzfeinde zu stürzen. Wollte er sich über sie lustig machen?

Kyon ließ einen Pfeil auf die Bogensehen schnellen, zielte aber nicht auf die Pferdemänner. Er hob die Hand und versuchte möglichst gelassen zu wirken. Ein Schuss aus einer der Energiewaffen und es wäre vorbei mit seiner Gelassenheit.

Der Alte winkte und wiederholte seinen Spruch und kam auf etwa zehn Schritte heran.

In diesem Moment erschien Ughtred hinter Tal und sagte außer Atem: »Sie haben Feuerwaffen.«

Tal zischte: »Ist uns aufgefallen.«

So standen sie zu fünft auf dem Hügelkamm und erwarteten das Urteil der Gorden. Doch was dann geschah, hatten sie nicht erwartet. Der Alte griff an seinen Gürtel und holte einen smavarischen Wissensspeicher hervor. Der Datenkristall erglomm in der Dunkelheit der Nacht und tauchte das seltsam längliche Gesicht des Alten in ein fahles grünes Licht. Als er nun wieder zu sprechen begann, waren seine Worte fast zu verstehen. Er sprach Smavarisch!

»Koin Loid! Nie Kamfen!« Es war ihm anzuhören, dass er es nicht gewohnt war diese Worte zu sprechen und seine Stimmbänder und sein andersartiger Mund machten ihm diese Aufgabe auch nicht leichter, doch der Datenkristall gab ihm die Worte vor und er intonierte sie so gut er es eben vermochte. Als er sie mehrmals wiederholt hatte, gingen sie ihm leichter von der Zunge und waren entsprechend besser zu verstehen: »Kein Leid! Nicht Kämpfen!«

Kyon wollte etwas erwidern, aber Tal trat vor und sagte: »Wir sind ebenfalls nicht für den Kampf hierher gekommen. Doch wir sind auf einer Queste und wir werden uns nicht abhalten lassen, diese zu erfüllen.«

Der Alte machte wieder seine beruhigende Handbewegung und deutete auf das Dorf unter ihm. Dann sagte er: »Grandband, sitzen, sprechen!?«

Sie sahen sich an. Tal legte Kyon die Hand auf den Arm mit dem Pfeil. Sie war es leid zu kämpfen. Der Tod machte ihe nichts aus, aber in der Tiefe ihres Herzens sehnte sie sich nach der Ruhe der elterlichen Umgebung. Nun verstand sie die traurigen Blicke ihrer Mutter und auch die wissenden des Vaters. Sie hatten beide gekämpft, Blut vergossen und zahllose Leben genommen. Dann hatten sie sich zurückgezogen und sie, Tal, hatte sie für Feiglinge und Langweiler gehalten. Was wäre daran, diese Wesen hier abzuschlachten oder bei dem Versuch dabei selbst ums Leben zu kommen? Wo wäre der Gewinn? Ihr Geist würde nicht zu einem Mond auffahren, um dort für immer mit Gleichgesinnten zu tanzen. Sie wusste nicht einmal, ob Srolldur – Gargog Tschurschn, der Alte sagte ihnen später, dass die Welt auf der sie sich befanden diesen Namen trug – überhaupt einen Mond hatte.

So ließ Kyon den Bogen sinken und auch Ughtred steckte seine glimmende Axt in den Gürtel und stemmte die Fäuste in die Hüften. Dabei sagte er: »Aber der Dicke da unten ballert nicht mehr mit seinen Feuerbolzen auf mich, das wir uns da verstanden haben!«

 

Die Bewohner der Siedlung hatten niedrige Schemel für die Gäste herbeigebracht und viele saßen nun um sie herum auf dem kleinen Platz in der unmittelbaren Nähe des Schreins der Schwarzen Perle von Granband. Gargog Tschurschn schien das Wort zu führen, aber die Frau, ihr Name lautete Schogatull schogHortsan, schien ihm in nichts nachzustehen. Im Gegenteil, er war wohl eine Art Ältester Berater, während sie als Kriegerin das Sagen zu haben schien. Auch der Riese unter den Gorden und zwei drei weitere Bewohner Granbands hatten sich in den engeren Kreis zu den vermeintlichen Feinden begeben. Keiner von ihnen verstand die Smavari, doch Schogatull übersetze mit Hilfe des Kristalls so gut er konnte.

Tal stellte sich und die anderen vor und verhaspelte sich wie immer bei dieser Aufgabe. Aber natürlich konnte sich ja ein Sliyn nicht selbst vorstellen. Bei Kyons genereller Wortkarg heißt, wäre dies ohnehin nicht möglich gewesen. Andererseits spielten ihre Ränge oder Hintergünde für die Pferdemänner auch wirklich keine Rollen. Sie waren Eindringlinge auf einer törichten Queste und mussten nun als Freund oder Feind eingestuft werden. Innerhalb der hiesigen Gesellschaft schien es zwar den Rat zu geben, der sich nun zusammengefunden hatte, aber die anderen Pferdemänner machten einen ebenso interessierten Eindruck wie jene im engeren Kreis und immer wieder kamen Zwischenfragen aus den hinteren Rängen, welche auch sofort und so gut wie möglich übersetzt wurden.

Natürlich wollten die Gorden wissen, ob mit einem Angriff seitens der Silberwölfe zu rechnen war. Doch falls sie Angst vor einem solchen Ereignis hatten, zeigten sie diese nicht im geringsten. Als Tal ihnen erklärte, dass außer ihnen niemand hierher unterwegs war, schienen sie ihnen darüber hinaus zu glauben. Es gab in Kriegsberichten Erzählungen über entkommene smavarische Folteropfer seitens der Gorden. Diese Leute hier schienen jedoch von ganz anderer Art zu sein.

Tatsächlich erklärte Schogatull ihnen schließlich den Grund für die generelle Lebenshaltung der Bewohner von Srolldur. Sie waren vor langer Zeit, vom gordischen Reich abgeschnitten worden. Irgend etwas an ihren Vortextoren schien nicht zu stimmen und so waren sie nicht länger in der Lage, mit der Gemeinschaft zu kommunizieren. Im Laufe der Generationen ohne Kriege und Überfälle veränderte sich das Wesen der Pferdemänner. Srolldur war eine stille, große Welt ohne wertvolle Ressourcen. Es war nicht schwer hier zu überleben, denn es gab genügend Wild zur Jagd und schmackhafte Pilze, die kleine Gemeinden ernähren konnten. Der Krieg hatte die Gorden von Srolldur vergessen und so hatten sie von ihm abgelassen. Auf die Frage hin, was es mit der Schwarzen Perle auf sich hatte, senkte Schogatull den länglichen Schädel. Er murmelte einige Sätze in seiner eigenen knurrenden Sprache, doch als er aufblickte war etwas wie ein mildes Lächeln auf seinen fremdartigen Zügen zui erkennen.

Er sagte etwas in die Menge und ein Raunen ging durch den Kreis. Dann übersetzte er seine eigenen Worte. Er hatte seinen Leuten gesagt, dass diese Gäste wissen wollen, was es mit dem Globus auf sich hatte. Viele der Pferdemänner gaben nun knurrende Laute von sich, die aber offenbar eine Art Lachen darstellten.

Doch es stellte sich schnell heraus, dass es sich bei diesem Lachen um eine Gefühlsregung der Resignation handelte. So berichtete der Alte von einer Zeit, lange bevor sein Volk die Welten des heutigen Gordischen Reiches bereist hatte. Zu dieser Zeit aber herrschten die Alten Wesen über die Welten und sie führten schreckliche Kriege untereinander. Vierzehn verschiedene Aspekte dieser Wesen gab es und die Wirren ihrer Konflikte waren unüberschaubar. Hier auf Srolldur Hausten Alte Wesen die Städtebauer waren. Doch ein anderer Aspekt, ihre Feinde, bereiste die Welten in gigantischen Gerätschaften und bekämpften alles und jeden mit scheußlichen Waffen. Tausende und abertausende der Globen kamen so zum Einsatz. Aus weiter höhe abgeworfen, landeten sie auch auf dieser Welt und löschten alles Leben, welches sie berührten in sekundenschnelle in Luft aus. Ja, dies sei die Kraft des Globus. Alles Leben, das mit ihm in Berührung kommt, ist nicht mehr. Es löst sich auf, wird desintegriert und nicht einmal seine Atome scheinen übrig zu bleiben.

Beid diesen Worten murmelten viele der Pferdemänner und der Alte übersetzte ihre Worte mit: »Und auch die Seelen der Aufgelösten fanden niemals heim!«

Dann wartete er einen Moment und sah die Fremden an. Kyon schüttelte still den Kopf, aber Tal sagte: »Die Perle löst Leute auf?«

Gargog nickte stumm und sagte dann: »Sie löst jegliches Leben auf. Egal ob Pflanze, Tier oder Frau und Mann, alles vergeht in ihrer Nähe.«

»Kann man sie mit einem Werkzeug, einer Zange oder so wegheben?«, wollte Ughtred wissen.

Der Alte schüttelte den Kopf und sagte: »Ein Kraftfeld hebt den Globus auf dem Sockel auf dem sie liegt. Es waren unsere Ahnen, die ihn hier sicherten.«

Tal fragte: »Wenn es tausende waren, wo sind die anderen hin? Sind es etwa die Scherben?«

Da erzählte der Alte weiter. Als die Feinde der Alten Wesen vergangen waren, schien man die Waffen neutralisiert zu haben. Denn sie wirkten wohl ebenfalls gegen ihre Erbauer. Doch diesen einen Globus, hatten sie wohl vergessen. Er lag lange Zeit hier unter dem Sand der Steppe verborgen, bis ihn vor vielen tausend Sonnenzyklen die Ahnen der Gorden fanden und den Schrein um ihn herum bauten.

Mit der Zeit entwickelte sich eine Art Kult um den alten schrecklichen Gegenstand. Junge Gorden bliesen Glaskugeln und warfen damit nach ihm. Es war eine Art Initialritus, der ihre Furchtlosigkeit vor der Allmacht der Alten Wesen versinnbildlichen. Doch niemals, berührte einer von ihnen das schreckliche Ding. Sie alle wussten genau, was dann passieren würde. Auflösung war das einzige Gesetz des Globus. Unterschritt man die Distanz eines Kopfes zu der Kugel, war man unaufhaltbar dem Nichts überantwortet.

Kyon hob den Kopf und starrte in den wolkenverhangen Himmel. Der gewaltige Glutball, der zweifellos Srolldurs einzige Sonne darstellte hatte seine überwältigende Masse an den Horizont verlagert und verwandelte nun die Landschaft in ein Chaos aus rotem Licht und wabernden Schatten. Der Barde holte Luft und rieb sich die Stirn, als wolle er Ughtred imitieren. Dann sagte er zuerst leise und wiederholte seine Worte direkt noch einmal etwas lauter: »Das kann nicht sein! Es kann einfach nicht sein bei den Nugai!«

Tal legte beruhigend eine Hand auf seinen Arm, aber er schüttelte sie ab wie einen Kleinstamytoren und als er zum dritten Mal verkündete mit dem Gesamtergebnis unzufrieden zu sein schrie er fast. 

Die Pferdemänner sahen ihn an. Ihren Augen war eine seltsame Abgeklärtheit und auch eine Art von Mitleid anzusehen. Sie sagten nichts ob seines Ausbruchs sondern starrten einfach nur. Es war ganz klar was sie dachten: ›Da ist nichts, außer der Auflösung.‹

Kyon stand wütend auf und sagte in die Runde: »Ich glaube das nicht. Wir werden es zumindest versuchen.«

Tal sagte: »Was versuchen? Wollt ihr euch auflösen?«

»Nein, aber wir werden uns zumindest ansehen wie es ist.«

Er deutete auf den Fremden namens Franz und sagte: »Er wird es machen. Es gibt ihn hier überhaupt nicht und er ist ein Wesen der Anderwelt. Er machtˋs!«

Ughtred stand auf und sagte: »Habt ihr jetzt ganz und gar den Verstand verloren? Ich werde nicht zulassen, dass ihr dem Kerl was antut!« Hilfesuchend sah er Tal an, da er sie zwischenzeitlich als deutlich wärmer als den Barden empfand, doch auch in ihre Augen war ein seltsamer Glanz getreten. Sie zuckte mit den Schultern und sagte nichts.

Kyon hingegen richtete sich auf und sagte: »Du da, Franz oder wie auch immer dein Name sein soll, geh in den Schrein und hole uns die Schwarze Perle heraus! Es wird dein Schaden nicht sein.«

Der Alte hob abwehrend die Hand und Ughtred schnaubte und verstellte den Eingang des kleinen Gebäudes.

Da erhob sich Tal ebenfalls, konzentrierte sich kurz und wob die Realität auf der feinstofflichen Seite der Welten zu einem ihrer Muster. Mit langsamer, deutlich veränderter Stimme sagte sie zu Ughtred: »Es ist gut, kleiner Freund, dem Fremden Männlein wird nichts schlimmes widerfahren. Lasst ihn nur durch.«

Zäh und raschelnd wie Schlangenschuppen, die über den Wüstenstand gleiten drangen die psionisch veränderten Worte in das Gehirn des Nyghs und veränderten seine Wahrnehmung. Er versuchte sich zu wehren, aber nach einer Sekunde hatte er schon vergessen gegen wen oder was er sich wehren wollte und plötzlich erschien ihm Kyons Idee ganz vernünftig. Wer sagte denn, dass der Franzmann überhaupt hier in dieser Dimension sein wollte? Vielleicht schickte die Perle ihn dorthin zurück, wo er herkam. Oder anderswohin. Egal wohin.

Er ließ erschöpft die Schultern hängen und blickte in eine der Laternen der Pferdemänner. 

Kyon nickte mit entschlossener Miene und deutete auf den Schrein der Schwarzen Perle. Dann wiederholte er seinen Befehl: »Geh und hole und sie Schwarze Perle Franz.«

Der Fremde, der nicht im Geringsten zu verstanden haben schien, um was es hier überhaupt ging und sich offenbar in aller erster Linie um die fremdartigkeit – und wahrscheinlicher Gefährlichkeit – der ihn umgebenden Gestalten sorgte, erhob sich und ging auf den Eingang zu.

Da standen auch viele der Pferdemänner auf. Sie hatten zweifellos lange niemanden mehr gesehen, der versucht hatte den Globus, wie sie die Perle nannten, zu berühren versuchte. Sie warnten ihre Kinder vor diesem Vorgang und hatten Rituale um das alte Artefakt gesponnen, doch niemand unter ihnen schien bisher mit eigenen Augen gesehen zu haben wie es wirkte. Neugierig hafteten ihre Augen auf dem Fremdling. Nur noch Gargog Tschurschn, der Alte versuchte Kyon aufzuhalten. Er wiederholte alle Warnungen und beteuerte, dass der Globus nichts ausser der ultimativen Auflösung bringen würde, aber der Barde blieb hart und wichte alle Warnungen mit einer letzten herrischen Handbewegung beiseite. Wie der Sliyn der er war, deutete er mit seiner bleichen, schmalen Hand auf den Eingang des Schreins und Franz, folgte diesem Befehl.

Die Zeit schien stillzustehen. Keiner der Pferdemänner atmete, als der Fremde das kleine Gebäude betrat. Dann drängten sie sich näher heran, aber die schmale Öffnung erlaubte es nicht allen gut sehen zu können. So beobachteten nur die Silberwölfe, ihr kleiner Freund, der große schwarze Mann in ihrem Gefolge und eine handvoll der Pferdemänner, darunter der Alte, die Frau und der riesige Krieger, wie das Wesen namens Franz den Schrein betrat, seine Hand nach der düsteren Kugel ausstreckte und ohne Warnung aufhörte da zu sein, noch ehe er sie auch nur berühren konnte. 

In der Luft tanzten noch einen Augenblick Partikel seiner Haare und seiner Haut, doch als sein seltsamer Anzug leer zu Boden glitt war zu erkennen, dass auch diese letzten Partikel, von einer unheiligen, alles Leben auflösenden Kraft desintegriert wurden. Dann war er fort und Kyons Schultern sanken herab.

»Was haben wir getan?«, sagte Ughtred, doch Tal legte ihm die Hand auf die Schulter und flüsterte: »Er ist daheim.«

Kyon jedoch schüttelte den Kopf. Als er sich umdrehte ging ein Raunen durch die Menge der Pferdemänner. Es war geschehen. Wie in den Geschichten der Alten beschrieben, hatte der Globus sein Werk getan. Er löste auf – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Gargog war anzusehen, dass er nicht gerade glücklich über die Vorgänge dieser Zeit war. Wie viele seiner Leute würden in sehnsüchtig er Hoffnung den Globus testen wollen? Er blickte zu Boden und es war ihm anzusehen, dass er sich mitschuldig fühlte. 

Unterdessen war Kyon ein Stück vom Schrein abgerückt und ging auf und ab. Er murmelte wirr vor sich hin und scholt die Grillen seines Erzeugers. »Warum? Warum hatte der alte Narr ihn hierher geführt? Mit was würde er heimkehren?«

Tal trat neben ihn und hörte ihm eine Weile zu. Dann sagte sie mit fester Stimme: »Kehren wir heim. Die Reise ist zuende!«

»Zu Ende? Und mit welchem Ergebnis? Wir haben nichts. Eure Akkatha wird euch nicht ins Zirkelhaus einlassen und ich werde meine scheiß Zimmerdecken nicht streichen lassen können. Der Alte hatt uns genarrt. Soll er tausend Tode im Magen des Drachen sterben!«

Tal schüttelte den Kopf. Ein seltsam grimmiges Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Als sie nun sprach, tats sie es als eine andere, neue Doppelmondhexe: »Wir sind Helden. Haben wir nicht den irren Riesen besiegt, den Drachen genarrt, Welten bereist und die legendäre Schwarze Perle von Grandband gefunden?« Sie machte ein kleine Pause, dann sagte sie: »All dies ist geschehen und all dies soll uns Tür und Tor öffnen. Was wir gesehen haben wiegt weit mehr als jede Lehrstunden in meinem Zirkelhaus. Wir sind reich und haben für den ewigen Rest unseres Daseins ausgesagt Herr Sliyn.«

Kyon brauchte eine Weile und so setzte sie sich neben ihn und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Sie wusste genau, warum er mit seinem Schicksal haderte. Es war die Sinnlosigkeit der Taten seines Vaters und die Tatsache, dass er selbst in diese Falle getappt war. Er hatte früh geahnt, dass diese Unternehmung ein bodenloses Loch sein würde. Er hatte den Irrsinn in den Worten seines Vaters erkannt. Aber all dies änderte nichts an den tatsächlichen Abenteuern die sie erlebt hatten. Sie waren Helden! 

»Meint ihr?«, fragte Kyon, als hätte er ihre Gedanken gelesen und tatsächlich schienen sich ihre Geister in der feinstofflichen Welt getroffen zu haben.

Sie spielte einen Moment mit den filigranen Fäden seiner Seele, ehe sie in seinem Sagte: »Wir sind Helden Katha`Kyon dan Y`shandragor und jede Hexe, jeder Sliyn und selbst die Fürsten von Shishney werden dies anerkennen. Schreibt Lieder, Gedichte, berichtet und legt ein eigenes Tagebuch an, sie werden es sehen und feiern. Wir sind die Entdecker der Schwarzen Perle von Grandband!«

 

Es gab nur eine Kurze Verabschiedung von den Pferdemännern. Man versicherte ihnen nichts, dass keine weiteren Smavari durch die Anderwelt nach Srolldur kommen würden, um zu plündern und töten, wie sie es immer getan hatten und die Garden gaben ebenfalls keine Versprechen. Doch es war dem alten Gargog Tschurschn anzusehen, dass er gerne mehr über die Welten jenseits des Äthers erfahren hätte.

Als die verbliebenen vier Fremden den Hügel zum alten Tempel hinaufstiegen, standen die Bewohner von Grandband auf dem Platz um den Schrein der Schwarzen Perle und blickten ihnen stumm hinterher. Nur einige der Kinder winkten oder taten so, als seinen ihre Stöcke Feuerwaffen, mit denen sie auf die Flüchtigen Silberwölfe und ihre Soldaten schossen.

 

Epilog

Tal und Kyon standen an der Rehling der Zermalmenden und blickten auf Shishney herab. In wenigen Minuten würde ihr gemeinsames Abenteuer enden. Hinter ihnen kauerte Ughtred auf einer der Ankerkisten und schärfte eine seiner Äxte. Am Horizont war ein letzter Rest der Sonnen zu erahnen und nächtlicher Regen lag in der Luft. Alle drei waren an Erfahrung reicher. Alle drei wussten um den Schatz, den sie in sich trugen. Es war der Reichtum der Freundschaft, auf dessen Schwingen sie an den Ausgangspunkt ihrer Reise zurückkehrten. 

Die Häuser schlängelten sich wie ein träger Fluss unter ihnen vorüber und der Silberhafen bildete sich träge aus dem Nebel der Eisschlange. Rufe wurden laut und die Mannschaft mühte sich mit den Halteseilen ab. Als ein Ruck über das Deck des Kriegsschiffes ging, ertönte die Pfeife des Maat: ›Anlandung erfolgt, die Leinen sind fest, die Reise hat ihr Ende gefunden.‹

Kyon blickte Tal an. Er öffnete die Lippen, schloss sie aber wieder ohne etwas zu sagen. Dann deutete er auf ihre Reisesäcke und die Quink nahmen das Gepäck auf. Nur Ughtred scheuchte sie davon. Er hielt nichts davon andere an sein Hab und Gut zu lassen. 

Shishney präsentierte sich unverändert. Bald öffnete sich die Tür des Hauses Y`shandragor und der letzte verbliebene männliche Diener Flark verbeugte sich mit genervter Miene, als wolle er sagen: ›Schade, der Junge Herr hätte sich ruhig wie der Vater vom Drachen fressen lassen können.‹

Wieder saßen sie am runden Tisch. Hatte sich die Reise gelohnt? Kyon dachte an seinen Vater. Was hätte er alles erzählt, wäre er zurückgekehrt. 

 

Tags darauf stand Kyon am Fenster eines Ballraumes. Ein benachbarter Fürst hatte ihn eingeladen, seine Geschichte zu erzählen. Gebannt lauschte man ihm. Doch keine der Zuhörerinnen und keiner der Zuhörer verstanden auch nur ein Wort. Bei der Beschreibung der Perle leuchteten ihre Augen, doch auf die Frage hin, wo dieser Schatz nun sei sagte Kyon schlicht: »Wo er immer ist.«

Sie blickten ihn an und dann dämmerte ihnen, dass dieser Witz keine Pointe hate. Einer der Stutzer stand auf, warf sein Tüchlein auf die Tischkande und ging. Wenigstens zwei der anwesenden Schönen begannen, lautlose Tränen des Verlustes zu vergießen. 

Der Hausherr trat neben Kyon und legte ihm seltsam zudringlich eine Hand auf den Arm. Kyons Ausstrahlung hatte sich verändert. Seine Aura wirkte sich auf die anderen Wölfe aus. Er war gewachsen und alle spürten es. 

Mit gieriger und erwartungsvoller Stimme erklärte ihm der Fürst, dass es in Kürze eine Soiree in der Zitadelle stattfände und das man das Haus Y`shandragor laden würde. Außerdem würde er es gerne sehen Kyon bis dahin zu bewirten. Ohne eine Miene zu verziehen, lehnte der bogenschießende Barde das Zweite ab. 

 

Mit gemischten Gefühlen verließ Tal die Pension. Ihre Schritte führten sie in Richtung Zirkelhaus. Doch sie zögerte. Plötzlich lacht sie ein Eisvögelchen aus und flirrte über die Oberfläche des Baches. Da lachte auch Tal und sie ging über die Brücke. Das Zirkelhaus lag in der Finsternis eines wolkenbedeckten Himmels. Midyar mit langen Kegelspeeren bewachten das äußere Tor. Tal wischte die Reptilien mit einer Handbewegung zur Seit.

Die Herrin der Doppelmondhexen blickte sie mit amüsiertem Gesichtsausdruck an. In ihrem Zimmer brannten Schmetterlinge und verbreiten einen rauchigen und hölzernen Geruch.

Tal hörte sich von dem Lugen sprechen. Als sie von dem Schild berichtete, muss sie schlucken. Immer noch knackten ihre Ohren beim Gedanken an das sich windende Chaos. Dann war endlich die Kugel an der Reihe. Für Tal war da nichts Romantisches an der Vorstellung an diese gefährliche Waffe. Desintegration war nichts, wofür es sich lohnen würde einen Drachen zu bestehlen. 

Akkatha lächelte zufrieden. Sie hatte für heute genug gehört. Mit einer eleganten, psionisch unterstützen Bewegung erhob sie sich aus ihrem Stuhl und schwebte vor ihr Schülerin.

»Du bist erwacht meine Liebe«, sagte sie und bildete mit ihrer linken Hand das Zeichen der Zustimmung. 

Tal wollte etwas erwidern, aber sie hatte in der Tiefe ihres Herzens schon vor ihrem Besuch gewusst, wie die Hexenkönigin ihr Abenteuer bewerten würde. Vielmehr hätte sie keine andere Entscheidung akzeptiert. Hatte sie nicht einen Riesen besiegt? Hatte sie nicht den Drachen bestohlen? War sie nicht ohne Kriegsschiffe ins Reich der Pferdemänner eingedrungen? Sie war nun eine Hexenheldin und als eine solche gebührte ihr Anerkennung und Bewunderung. 

Sie bezeugte der Mutterhexe ihre Zuneigung und durfte sich entfernen. Ihr Schritt war beschwingt. Alle Hexen, denen sie im Zirkel begegnete, beugten ihre Häupter. Sie alle wussten es: die Hexe Yt`Talan ven Arudsel war von ihrer Queste zurückgekehrt und sie war zu einer Heldin angewachsen.

 

Ughtred schlenderte durch Quinkstadt. Sein Weg führte ihn zur Eindornigen. Das gelbe Licht der Kaschemme zog ihn magisch an. Im Inneren steuerte er den Stammtisch an. Der Puca war es, der ihn zuerst erkannte. Er meckerte seinen Namen. Da hob auch der dürre Smavari seinen Kopf. Ein breites Grinsen erschien auf dem Gesicht des Silberwolfes und die beiden Hobgoblins an seiner Seite begannen schrill zu lachen.

Mit einer lässigen Handbewegung bestellte der Nygh auf smavarisch eine Runde Gelbwein und Gerstensaft für das ganze Haus. Dann setzte er sich an den Tisch und begann zu erzählen.