Die Schwarze Perle 2
Ursprung: Tiba Fe
Land: Kisadmur
Autor: Ildarion Corpas
Dem Großes droht, Verzicht ist bald sein bester Freund …
LdY`s
Der eherne Speer des Raguel
Ein Recke, ein Held, mondhell und mit scharf geschnittenem Profile, kein andrer ist`s als Raguel Siarn dan Orthenaug. Jeder weiß wo er begraben und hierhin soll die Reise gehen. Denn, ja es gibt kein anderes Klingenwerk auf der Tiba Fe, das eher Schuppenkleid durchstoßen kann, denn dieses Hexenkönigs eherner Speer.
In Shishneys Zitadelle, hoch genug unter dem ewigen Eis der Zauberin Schloss, liegt der Mann, der Krieger, in ewiglichem Schlaf. Bei ihm sein eherner Speer, doch niemand wird hier jemals wieder eingelassen.
So steht es im Buche dieser Stadt: Eine unsichtbare Tür vom Aufzug der Zitadelle, linkerhand führt auf geradem Wege zu Räumen jenseits dieser Welt. Auch dort ist vermerkt, ein Wachraum unter diesem Grab, wo nur ein Rätsel die Decke über einer Treppe öffnet.
Auszug aus dem Tagebuch des Sliyn Lonkaiyth dan Y`shandragor
Raguels Grab
Man erzählte sich übelriechende Geschichten über die Hobgoblinplage in Quinkstadt, die vielleicht mit einem schrecklichen Nekromanten im Süden des Plagensumpfes in Verbindung stand, aber die Bewohner des Hauses Y`shandragor hatten ganz andere Probleme. Während also die verschiedenen Garden und Wachen Shishneys von Haus zu Haus gingen und versuchten der Rotaugenplage Herr zu werden, überlegte Kyon ungehalten, wie er den maroden Zustand seines Hauses in den Griff bekommen könnte. Als Tal ihn einige Tage nach ihrer Ankunft in Shishney nach den Arunensteinen fragte, gab er nur lapidar zurück, die wären längst für Nahrung und andere Annehmlichkeiten drauf gegangen. Er hatte den alten Flark, seinen letzten Quinkhofmeister, der ihm verblieben war, angewiesen, für die Ressourcen neue Bedienstete einzustellen, aber da er neben besagter Nahrung, Gelbwein und neuen Decken auch Farbe und Reinigungsmittel geordert hatte, waren die drei neuen Quink die der Alte vorstellte, alles andere als hochwertig. Es handelte sich bei ihnen um einen kräftigen, aber recht alten Mann, der mit einem Holzbein daherkam, einer alten Vettel mit schiefem Unterkiefer und einem sehr dürren Mädchen namens Kakluk, die so hässlich war, dass sich Kyon immerhin ihren Namen merken konnte.
Der Zustand seiner Mutter war, wie in den letzten fünfunddreißig Jahreszeiten unverändert. Sie saß in ihrem Schaukelstuhl und starrte aus dem trüben Fenster auf die nebligen Straßen hinaus. Es war, als könne sie allein kraft ihrer aussagelosen Blicke ihren Gefährten aus den tiefen der Unterwelt zurück holen. Doch Kyon hatte die Wildnis am eigenen Leib zu spüren bekommen. Sein Körper schmerzte und er erinnerte sich gut daran, wie es war, wenn sich die Todesangst in das Herz grub und an der Seele zu ziehen begann. Wer von einem Drachen gefressen wurde, kam nicht wieder. Nicht einmal die Essenz seines Vaters würde nach Shishney zurückfinden. Drachen gaben wertvolle Dinge niemals frei, wenn sie erst einmal davon Besitz ergriffen hatten. Er mochte sich nicht vorstellen, wie es war die Unendlichkeit im Gedärm eines gigantischen Ungeheuers zu verbringen. Hatten die Nugai sie dafür geschaffen? Waren die Smavari Drachenfutter mit brennenden und schreienden Seelen zum Vergnügen der Echesnkönige?
Er erhob sich und strich seiner Mutter über das seidenweiche Haar. Ein Speichelfaden rann ihr aus dem Mund, aber die neue Pflegerin, die Fettel, stand bereit und strich der Silberwölfin über das Kinn. Kyon nickte und unterdrückte den Drang, die Quink zu ermahnen. Sie hatte nichts Schlimmes oder Anstößiges getan, aber es traf ihn, zu sehen, dass dieses alte, niedere Wesen sich um seine Mutter kümmerte, während diese einst so schöne und mächtige Frau ihren Speichel nicht bei sich behalten konnte. Kein Wunder, dass seine Art immer wieder zu Ausbrüchen neigte, die ganze Landstriche in Wüsten verwandeln konnten. Das Dasein war ungerecht. Macht bedeutete wenig – Schicksal und Karma waren übermächtig. Schulterzuckend beschloss er, eine Rechnung zu begleichen.
Ughtred und Tal saßen in der Küche im Untergeschoss des Haupthauses und unterhielten sich über Lonkaiyths Tagebuch. Seiner Annahme aus, musste sich die Totenkammer des Raguel im zwölften Stock der Bergzitadelle befinden. Von den Lastenaufzügen auf der linken Seite einer Balustrade sollte es eine Geheimtür geben, die wiederum in einen Unraum führte. Ughtred fragte was das sei und die Hexe erklärte es ihm. Die Smavari hatten vor endlosen Millennien die Grenzen der Dimensionen, welche von anderen Wesen als Realität bezeichnet wurden, überschritten und Maschinen konstruiert, mit deren Hilfe sie diese Grenzen jederzeit erweitern konnten. Smavarische Unräume reichten von der physischen Welt, in die Anderwelt hinein. Besagte Gruft würde also wahrscheinlich außerhalb der Grundfesten der Zitadelle in einer anderen Dimension liegen.
Der Nygh sah sie verständnislos an und fragte, welchen Zweck dies habe, aber die Hexe lachte nur. Zwecke? Musste alles einen Zweck haben?
Als Kyon die große Küche betrat, gab er dem einbeinigen Quink ein Zeichen, dass es ihm zu kalt war und dass er gefälligst das Feuer anfachen solle. Der Alte gehorchte und Kyon ging zu der Anrichte, wo die alte Köchin seines Vaters gerade Milch warm machte. Er holte die Phiole aus der Gürteltasche, die Ayn Yrdelaiy yr Northwyll ihm gegeben hatte und gab zwei Tropfen in einen Becher. Dann gab er zum Erstaunen der alten Quink Milch dazu und bereitete zwei weitere Becher, die er allerdings nur mit Milch füllte. Er stellte sie dicht zusammen, ging zum Tisch und stellte zwei der Becher vor den Nygh und die Hexe und setzte sich mit seinem eigenen ihnen gegenüber. Natürlich hatte er den Becher mit den Tropfen vor Tal hingestellt. Er wartete einen Moment, trank einen Schluck, erkundigte sich nach dem Befinden der beiden und erhob sich, da er noch dringende Geschäfte zu erledigen hätte.
Tal und Ughtred sahen ihm etwas verwundert nach, aber er war schließlich ein wunderlicher Mann, also dachten sie nicht weiter über sein Verhalten nach. Es dauerte nur wenige Minuten, da begann die alchemistische Substanz der Ayn von Baiyl zu wirken.
Tal hatte das Gefühl, ihr Mieder würde immer enger und die Raumtemperatur stieg und stieg. Ja, Kyon hatte dafür gesorgt, dass der Kamin weiter angefacht wurde, aber ein solches Ergebnis hätte sie nicht erwartet. Sie öffnete die Knöpfe ihres Oberteils und sah Ughtred an. Vorher war ihr nie aufgefallen, wie schön seine Augen leuchteten und wie glänzend sein Haar war. Der Nygh nahm einen Schluck Milch und sah sie dann an. Dabei blieben seine Augen eine Sekunde auf ihren nun sichtbaren Brüsten hängen. Sie hatten sich zwischenzeitlich beide oft genug nackt gesehen, aber Ughtred begriff sofort, dass hier etwas nicht stimmte.
Tals Brüste schwollen an und sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse der Gier. Dann stand sie auf und wischte wortlos die Becher vom Tisch. Ughtred floh.
Das leise Plätschern des Regenwassers, dass über die defekten Fangrohre vom Dach auf die tief darunter liegenden Pflastersteine schlug, drohte Kyon in den Schlaf zu wiegen. Mit geschlossenen Augen lag er auf seinem großen, ein wenig nach Moder riechenden Bett und wartete auf den Einschlag – und er musste nicht lange warten.
Als sich die Tür öffnete, öffnete auch er träge die Augen. Aus der dunklen Kälte des Flures schälte sich der bleiche Leib der Doppelmondhexe. Ihre Augen glommen in dämonischer Leere als sie sich langsam dem Bett näherte. Im ersten Moment fand Kyon die Situation interessant genug, um sich einfach entspannt zurück zu lehnen, doch als er die lüsterne Mordgier in Ytˋtalans Blick erkannte, wurde ihm mulmig. Doch für Gegenwehr war es längst zu spät. Er hatte der Hexe körperlich nichts entgegen zu setzen und schon war sie über ihm und grub ihre Fangzähne stöhnend in seinen Nacken. Er versuchte zu schreien, aber sie presste einen Unterarm in seinen Rachen und sofort schmeckte er ihr eigenes Blut. Dann erfasste die beiden Silberwölfe ein übernatürlicher Strudel, von dem zwischenzeitlich schlecht gewordenen Hobgoblinsaft, den die Ayn von Baiyl der Hexe auf Umwegen verabreicht hatte, aufgeheizter Paarungstrieb. Im Verlauf dieses wilden Treibens ging ein Stuhl zu Bruch und wenigstens eins seiner Beine machte Bekanntschaft mit verschiedenen smavarischen Körperöffnungen. Sie verwüsteten gemeinsam Kyons Zimmer und die Köpfe der Bediensteten, die sich ängstlich in den Keller zurückzogen. Einzig Ughtred blieb auf der Treppe, doch auch er wusste später nicht zu sagen, wie er den beiden Furien hätte Einhalt gebieten können.
Als Tal erwachte lag sie in einem nach Urin, Kot und anderen Körperflüssigkeiten riechenden Bett. Sie fühlte sich seltsam ausgelaugt, aber auch auf eine übernatürliche Art befriedigt. Ihr Magen drückte, also verkroch sie sich in eine Ecke des dunklen Zimmers und verrichtete ihre Notdurft. Hatte sie etwas schlechtes gegessen? Sie überlegte, wie sie in dieses Zimmer gekommen war, konnte sich aber nur an eine düstere treppe erinnern, die sie emporgeschwebt war. Schweben war gut. Ihr Geschlecht schmerzte sie ein wenig, und ihre Waden bekamen langsam einen Krampf. Als sie aufstand, erblickte sie Füße, die aufrecht am Bettrand standen. Der dazugehörige Silberwolf lag auf der von ihr abgewandten Seite des Zimmers. Sie humpelte zum Bett und zog mit einem Ruck die widerliche Decke herunter und knüllte sie zusammen. Dann kroch sie zu den Füßen und lugte über den Rand des Bettes.
»Herr Sliyn?«, fragte sie leise und tatsächlich, da lag er.
Sie hob die Brauen. Er war in einem erbärmlichen Zustand. Nackt und bleich lag er im tiefen Schlaf der Erschöpfung. Eine seiner Rippen stand in einem unschönen Bogen aus seinem Brustkorb hervor. Oh oh, dachte Tal und berührte die Stelle.
Kyon stöhnte und kam zu sich. Er blinzelte und hob abwehrend die Hände, als er ihrer gewahr wurde. Sein Gesicht hatte etwas erschreckend Kindliches. Doch dann wurde er wach und wand sich in deinem Schmerz. Die gebrochene Rippe haltend, japste er nach Luft und war froh, als Tal neben ihn glitt und damit begann, eins der Kissen in Streifen zu reisen. Sie presste die Rippe vorsichtig an ihre ursprüngliche Position, ignorierte seine Schreie und begann ihn mit den Stoffstreifen zu fixieren.
Die Prozedur dauerte recht lange und als sie die Verletzung fixiert hatte, stand sie auf und ging, nackt wie sie war, durch das stille Haus. Sie holte eine ihrer Taschen und gab Kyon eine ihrer alchemistischen Tinkturen, um seine Schmerzen zu lindern.
»Waren das wir?«, fragte sie nach einer Weile und setzte sich auf die Bettkante. Sie schürzte nervös die Lippen und hob das Stuhlbein hoch, um daran zu schnuppern, ließ es dann aber polternd zu Boden fallen.
Ohne auf eine Antwort zu warten, sagte sie: »Ich weiß wirklich nicht, was da in mich gefahren ist. Jemand muss mich vergiftet haben.«
»Ja«, keuchte Kyon und versuchte sich auf dem Boden, wo er immer noch ans Bett gelehnt saß, in eine bessere Position zu manövrieren.
»Wir müssen herausfinden, wer uns das angetan hat«, hauchte die Hexe leiser.
»Müssen wir nicht. Wir sind jetzt quitt.«
Sie beugte sich vom Bett aus über ihn und fragte mit hängenden Haaren: »Wieso quitt?«
Kayon hob eine Hand, um sich zur Not zu verteidigen und sagte: »Ihr habt mich vergiftet, ich habe euch vergiftet, ergo, quit.«
Sie sah ihn an. »Ihr wart das?«
»Ja ich.«
»Wann?«
»In der Küche.«
»Ah ja?«
»Ja.«
Sie musterte ihn einen Moment. Dann rutschte sie neben ihn auf den Boden. Ihre Brüste waren angeschwollen und ihre Rippen zeichneten sich unter ihrer fast transparenten Haut ab. Kyon musterte sie vorsichtig. Sie war unberechenbar. Sicher würde sie ihm jetzt mit ihrer winzigen, s-förmigen Ritualklinge die Kehle durchschneiden und sein verdammtes Blut trinken.
Stattdessen sagte sie ruhig: »Ja, kommt mir auch so vor. Wir sind quitt.«
Dann richtete sie sich auf, kroch über ihm hinweg auf das Bett zurück und streifte dabei mit einem Knie seinen Brustkorb. Seinen erneuten Schmerzensschrei ignorierend verließ sie Kyons Schlafgemach.
Es vergingen einige ruhige Tage. Tal versuchte eine Audienz bei ihrer Ordensmutter Akkatha zu bekommen, wurde aber nicht zu ihr vorgelassen. Trotzig begab sie sich zurück ins Haus Yshandragor und vertiefte sich wieder einmal in die Studien der Bücher, welche sich seit ihrem Besuch in der geheimen Bibliothek in Dranought in ihrem Gehirn befanden. Die chaotisch durcheinander gewürfelten Informationen ließen sich schwer von ihren eigenen Erinnerungen und Gedanken trennen und hatten längst begonnen, sich in diesen aufzulösen. Dennoch fand sie was sie suchte und begann damit, die alten Anleitungen zu feinstofflichen Disziplinen auszuprobieren. Sie versetzte sich regelmäßig in Trance und suchte nach ganz bestimmten Formen. Sie hatte gelesen, dass es möglich war, die eigene Physis, derart mit ihren Wegbegleitern zu verschmelzen, dass jeder von ihnen mittels dieser Synergie die jeweils besten Eigenschaften der anderen Nutzern konnte. Immer wieder griff sie in die Membran, zupfte am den Fäden der Zwischenwelt, bis sie eines Tages darin Kyons Essenz entdeckte. Von diesem Moment an, gelang es ihr spielend, sich mit ihm zu verbinden. Als nächstes folgte Ughtred und dann war es auch kein Problem mehr Odugme mit in die Synergie zu ziehen. Bei den ersten Versuchen kam es zu kleineren Unfällen. Ughtred stolperte und Kyon zerriss eine Saite seiner Laute. Aber bald gelang es ihr, so gut wie der zu sehen und ausdauernd wie der Nygh zu laufen.
Ughtred beschäftigte sich viel mit Odugme. Er trainierte den Phani regelmäßig im Umgang mit Waffen und übte sich selbst dabei weit mehr, als er Anfangs dachte. Es dauerte nicht lange, da bemerkte er, dass seine Körperbeherrschung an Eleganz und Schnelligkeit zunahm und bei den wenigen Malen, da er sich mit Tal im Nahkampf übte, musste auch diese seine Fortschritte zugeben. Ansonsten half er, so gut es ihm möglich war, beim Einkauf, den Renovierungsarbeiten und der Einweisung der neuen Bediensteten. Er hasste es, wenn die Silberwölfe diese Leute Sklaven nannten. In Korezuul gab es keine Sklaverei und die Vorstellung ein anderes Lebewesen zu einem Leben zu zwingen, welches es nicht von Natur aus führen wollte, war jedem Nygh zuwider. Dennoch, er lebte jetzt, zumindest für einige Zeit in Kisadmur und da war es ratsam, sich den hiesigen Gepflogenheiten zu unterwerfen; auch wenn er sie noch so schrecklich fand.
Erwähnenswert ist an dieser Stelle noch das Treffen zwischen Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor und den beiden Maskenmännlein seines verstorbenen Vaters. Viele höhergestellte smavarische Häuser rühmten sich wenigstens eines dieser Wesen ihr Eigen zu nennen. Wie die Linie derer von Yˋshandragor an sogar zwei von ihnen gelangte, ist in der Dunkelheit der Geschichte verloren gegangen. Maskenmännlein sind krude Geister der dunkelsten Gefilde der Anderwelt. Sie erscheinen als kleine, wie der Name schon sagt, Männlein mit Masken und zeigen niemals ihre wahren Gesichter. Wahrscheinlich ist dies auch besser so und kein Smavari würde versuchen dieses zweifelsfrei mehr als schreckliche Geheimnis zu lüften.
Der Zweck von Maskenmännlein hingegen war mehr als einleuchtend, besaßen diese Wesen doch geradezu legendäre zauberische Fähigkeiten. Silberwölfe waren ja nun ebenfalls in solchen Dingen bewandert, doch wer einen Diener hatte, musste nicht selbst den Küchenboden kehren und die Magie der Maskenmännlein überflügelte nicht selten die Kräfte ihrer Herren. So auch im Hause Yˋshandragor, in dem Splinternackt, das bedeutend freundlichere Maskenmännlein, einst Faktotum seines verstorbenen Herrn Lonkaiyth für die Sicherheit des Hauses sorgte. Doch tief unter dem Gemäuer des Hauses wirkte Zangenbrand, der Schmied und Pfeilbauer des Herrn und er war alles andere als hilfreich und friedlich. Dies ging soweit, dass Lonkaiyth diesen bösen Geist vor langer Zeit mit einer brennenden Eisenkette an seine Esse schmiedete, um seiner Flucht und Rache vorzubeugen.
Als Kyon also mit den Renovierungsarbeiten und seinem eigenen Wohl einigermaßen zufrieden war, zitierte er Splinternackt zu sich. Maskenmännlein müssen erscheinen, wenn ihre Herren sie beim Namen riefen, und Kyon war nun ganz offensichtlich der Herr im Haus. Sein Vater hatte ihn früher immer vor diesen Wesen gewarnt. Sie hatten nie etwas Gutes im Sinn und würden so oft wie möglich versuchen, ihren Herren zu schaden. Strafen sahen sie als Vergnügen an und eines von ihnen ganz und gar auszulöschen war der Sage nach recht schwierig.
Einen Übergaberitus hatte es nicht gegeben, aber Kyon war leichtgläubig in diesen Dingen und ging einfach davon aus, dass beide Geister nun ihm dienten. Also befahl er, und so weit er es einzuschätzen vermochte, taten sie beide, was er erwartete; zumindest hatte es den Anschein.
Tatsächlich verbeugte sich Splinternackt vor dem jungen Silberwolf und als dieser dem Eltwesen auftrug, sich um bestimmte Dinge im Haushalt zu kümmern, bestätigte es seine Befehle. Als er jedoch sagte, es solle hinunter in den Keller gehen und neue Pfeile beim Pfeilmacher in Auftrag geben, verneinte es mit bitterem Hohn in der Stimme. Diesen Weg müsse er selbst gehen, da der grimme Zangenbrand von niemandem als dem Meister selbst Befehle anzunehmen trachtete. Kyon hatte sich schon gedacht, an dieser Stelle zu scheitern. Dennoch war es den Versuch wert gewesen. Zangenbrand war wirklich ein unangenehmes Ding und er hatte immer ein ungutes Gefühl, die schweren Ketten vor der Schmiede zu lösen und die Feuerhölle des Kobolds zu betreten. Aber es musste sein. Die Reise hatte seine Pfeile aufgebraucht und es war an der Zeit, sich neu auszurüsten. Er wollte zwar keineswegs zu neuen Abenteuern aufbrechen, zumindest nicht in der nächsten Zeit, aber er wusste ja, wie schnell sich die Stimmung der Hexe ändern konnte und dann wollte er nicht unbewaffnet in einer Höhle aufwachen.
Die Treppe zu Zangenbrands Schmiede war durch eine Doppelte Schwarzholztür mit schweren Eisenbeschlägen gesichert. Es gab nur einen Schlüssel für die sechs Schlösser und es dauerte jedes Mal gut und gerne eine Ewigkeit sie zu bedienen. Kyon hasste diese Prozedur, aber sein Vater hatte ihm schon als Welpe klar und deutlich eingebläut, wie wichtig sie für das Überleben des Hauses und ganz Shishneys war. Ist der Gnom denn wirklich so gefährlich, hatte er damals mit großen Augen gefragt und der Vater hatte nur stumm genickt.
Er starrte in die Dunkelheit hinter der zweiten Tür. Die Treppe war steil und hier unten hätte es kalt sein sollen, doch die Luft war von einer unguten, die Nackenhaare aufstellenden Wärme erfüllt. Mit langsamen Bewegungen hob er die alte rostige Eisenlampe und fühlte das Bitzeln, wo ihr Haltebogen seine Finger berührte. Der Gang ging in einem steilen Winkel in die Tiefe hinab und er hatte mühe nicht vornüber zu kippen. Als er vor der Tür der Schmiede angekommen war, hatte ihn sein Mut fast schon wieder verlassen, aber er dachte an die Hexe und ihr verdammtes Gift und riss sich zusammen.
Vorsichtig hob er eins der Schlösser an den Ketten der Tür, erkannte aber, dass er es nicht mit einer Hand öffnen können würde. Er musste die Lampe abstellen.
Mühsam schloss er eins der Schlösser nach dem anderen auf und ließ die schweren Ketten durch die Eisenringe rattern. Der Krach war ohrenbetäubend und er hätte sich gewünscht, sein Vater, oder wer auch immer für diese Sicherheitsmaßnahme verantwortlich war, hätte sich einst etwas anderes, unauffälligeres einfallen lassen.
Er drückte die schwere Tür nach innen und folgte mit den Augen dem Licht, welches sich ängstlich in den Raum wagte. Doch kaum hatte es die Hälfte des Gewölbes erreicht, stürzte sich ein schwarzes Monster darauf und fraß es mit Haut und Haaren auf. Was blieb, war eine absolut undurchdringliche Finsternis, in der nicht einmal die scharfen Augen eines Smavari etwas sehen konnten. Es war eine übernatürliche, vom Bösen durchdrungene Dunkelheit und ein schwächerer Geist als der eines Eltwesens wie Kyons eines war, wäre allein an diesem schwärenden Bösen zugrunde gegangen.
Allen Mut zusammennehmend rief Kyon den Namen des Maskenmännleins. Zangenbrand, Zangenbrand, Zangenbrand, denn wer den Namen eines solchen Wesens kannte und zu nutzen wagte, hatte Macht über sein Handeln.
Und Zangenbrand gehorchte. Als zwei rote Pünktchen in der undurchdringlichen Finsternis erschien der böse Geist und er knurrte und seine Anwesenheit sprach von brechenden Knochen und verglühendem Fleisch. Doch Kyon blieb stark und gab seine Pfeile in Auftrag. Es solle schnell gehen und er erwarte, die Pfeile oben in der alten Rüstkammer vorzufinden. Ein anderes Maskenmännlein würde sie abholen. Wieder fauchte der Schmied und Feuer loderte auf, aber er gehorchte und Kyon, der genug hatte, wandte sich ab und begann mit der Zeremonie der Wiederverschließung dieser Hölle unter seinem Haus.
Es würde einige Tage dauern und der Höllenschmied würde sich sicher nicht beeilen mit diesem Auftrag, aber die Pfeile würden kommen. Kyon berichtete Splinternackt von seinem Erfolg und dieser lächelte hämisch. Es wäre nicht das erste Mal, dass einer der bestellten Pfeile nach hinten losginge. Das Männlein erinnerte sich gut daran, wie er einmal dem alten Yˋshandragor ein Ohr wieder annähen musste, weil ein Explosionspfeil zuerst explodiert und dann erst geflogen war. Aber davon erzählte er Kyon nichts und dieser hätte es zweifellos auch nicht hören wollen.
Weitere Tage vergingen. Der Frühling schien eine Pause zu machen, denn es war wieder kälter geworden und hatte sogar einige Male in den Nächten geschneit. Die Stadtwächter suchten immer noch nach wilden Hobgoblins und mehr als einmal wurden unschuldige Haushobgoblins auf öffentlichen Plätzen verbrannt. Man konnte nie wissen. Leider kam es durch diese Vorgehensweise zu einer Vermehrung der Ratten in den Häusern der Bewohner Shishneys und somit wurden die Stimmen lauter, man solle es nun gut sein lassen mit der Rotaugenverfolgung. Auch im Hause Yˋshandragor entdeckte man einen unbekannten Hobgoblin und Tal und Ughtred gaben sich große Mühe ihn einzufangen. Als es ihnen endlich gelungen war, das quirlige Wesen zu packen, brachten sie es pflichtbewusst zur Wache im Osten des Viertels, doch dort wurde es verhört und da es beteuerte, ein Haushobgoblin zu sein, weigerte man sich, es zu massakrieren. Die Rattenplage hatte nun vorrang und die Obrigkeit hatte verboten Hobgoblins zu verbrennen, die nicht eindeutig als wild auszuweisen waren.
Kyon wurde befragt, ob er den Hobgoblin kenne und dieser winkte ab und sagte, er sei ein Sliyn und als solcher konnte es kaum seine Aufgabe sein, jedes Rotauge in seinem Haus beim Namen zu kennen. Man solle den dürren Kerl in Frieden lassen, schließlich hätte er bei seiner Rückankunft Ratten im Hofe seines Hauses gesehen und das könne ja nun wirklich nicht sein. Tal und Ughtred, die sich noch gut an die Gefahren durch wilde Hobgoblins im Plagensumpf erinnerten, waren ein wenig fassungslos, aber es war schließlich sein Haus und andererseits hatte ihnen der Hobgoblin auch nichts getan. Also ließen sie ihn frei.
Kurz nach der Sache mit dem Rotauge hatte Tal feststellen müssen, dass sie nun wirklich über kein einziges annehmbares Kleid mehr verfügte. Sie ging zu Kyon und fragte erneut nach den Arunensteinen und bekam dieselbe Antwort wie beim ersten Mal. Diesmal jedoch verlangte sie einen Ersatz für ihren Anteil. Kyon überlegte einen Moment und trug einer der Quinkdienerinnen auf, ein Kleid seiner Mutter herbeizuschaffen. Doch es war Tal anzusehen, dass diese Sache für sie alles andere als erledigt war. Kyon hatte ein ungutes Gefühl. Er traute der Hexe alles zu und wollte nicht eines Morgens mit einer ungeraden Anzahl von Hoden erwachen. Er überlegte einen Moment bei dem Gedanken und schüttelte dann den Kopf. Er korrigierte sich. Zwei war die Zahl. Nicht eins und auch nicht drei und fünf schon gar nicht – zwei!
Ressourcen mussten her, aber wie? Er überlegte und entschied sich noch am selben Abend bei einer Soiree in der Nachbarschaft, einige seiner neuen Lieder und Geschichten zum Besten zu geben. Gesagt, getan und der Abend lohnte sich sogar in jeder Hinsicht. Er trug Lieder vor, erhielt ein wertvolles Armband von einer alten Dame, der er nur einmal in die Brustwarze biss und hatte später ausdauernden Beischlaf mit dem Gastgeber und dessen beiden Frauen. Als er das noble Haus verließ, nahm er noch zwei Kerzenständer und ein Ding mit, dass er zuerst für eine Kruge gehalten hatte, das sich jedoch als extravagantes Feuerzeug herausstellte. Er versetzte die Sachen noch auf dem Nachhauseweg, bog aber dann ins Haus Lysai ab, wo dessen Besitzer Pegual Athmortis darauf bestand, aus Kyons Hand die Schulden des Hauses Yˋshandragor bezahlt zu bekommen. Wie gewonnen, so zerronnen, dachte der Barde und überlegte, wie er schnell an mehr Ressourcen gelangen könnte.
Seine Gedanken wanderten zur Silberwacht. Er hatte die Bleidecke dort erhalten. Sie hatten da derart viele Waffen, die konnten niemals alle zum Einsatz kommen. Schade im Grunde oder? Doch dann stolperte er über eine Treppenstufe und rannte in den harten Bauch einer ihm bekannten Kriegerin. Ayn Urkaiyney y`Yrten sah ihn mit ihren harten, durchdringenden Augen an und in Gedanken sah er zu, wie sie ihm eines seiner Eier entfernte. Nope, das war nicht der Weg. Er wollte gerade seinen Geist an einen anderen Ort gleiten lassen, da hörte er die Herrin der Silberwacht die Luft durch die gebogene Nase ziehen. Er wand sich zu ihr um, und schnell wandte sie sich ab. Sie war ihm verfallen. Er nickte. Konnte es sein? Er überlegte, warum er selbst nichts davon fühlte. Die Frau war ihm durchaus sympathisch und er mochte ihre straffen Rundungen und auch ihre Stärke imponierte ihm, aber das war nicht zu vergleichen mit der Liebe, die er für Northrian empfunden hatte. Konnte er aus dieser Sache Ressourcen schlagen?
Direkt am nächsten Morgen, die Tagesschwestern waren noch lange nicht aufgegangen, ging er vom Haus Lysai in Richtung der Wache. Er nickte Raguels Statue auf dem Platz davor freundlich zu und hatte diesmal ein eher seltsames Gefühl. Es war, als würde der alte Kriegsheld ihn mit seinen steinernen Augen verfolgen, aber Kyon konnte sich jetzt nicht mit solchen Dingen beschäftigen. Er war schließlich auf Freiersfüßen und musste sich darauf konzentrieren, keinen seiner Hoden zu verlieren.
Er setzte sich in eine der Wachstuben, beförderte seine Laute zutage und ließ ein fröhliches Soldatenlied erklingen. Er mochte diese Art der Unterhaltung nicht, aber jedes Publikum hatte seine Vorlieben und er war weit davon entfernt sich das seine exklusiv aussuchen zu können.
Die Krieger lachten, tranken und bedachten Kyon mit Lob. Sie liebten es, wenn ihre Wache mittels musikalischer oder gar sexueller Unterhaltung erträglicher gemacht wurde. Etwas später fragte Kyon einen der Männer, wo man wohl die Ayn in einem privateren Umfeld als der Silberwacht treffen könne. Sie hatte ja kein Stadthaus, wie er wüsste, aber eventuell verkehrte sie ja in einem. Der Soldat lachte und schüttelte den Kopf. Das Leben der Kriegerin fand hier in der Wache statt. Kein Wunder, dass sie so spröde sei und nie einen der Männer zwischen ihre kräftigen Schenkel ließ.
»Nie?«, fragte Kyon seltsam betroffen und der Krieger schüttelte den Kopf.
»Es heißt, sie sei unglücklich verliebt.« Der Mann sah Kyon bedeutungsvoll an und nickte dann.
Kyon überlegte. Wenn er unglücklich verliebt war, betäubte er diesen Schmerz mit sexueller Hingabe. Das funktionierte fast immer und wenn es einmal nicht klappte, trank er einen Tropfen moraidischen Rum.
Doch wie auch immer, gut für ihn, oder? Er wollte gerade gehen, da hielt ihn der Soldat zurück und sagte leise: »Kennt ihr Ayn Yz`Arun Djarias?«
Kyon überlegte einen Moment und antwortete: »Die Männerfresserin?«
Der Soldat nickte. »Ihr konnte nie etwas nachgewiesen werden. Ja, die drei Ehemänner sind tot, zweifelsfrei, aber weder konnten ihre Geister gefunden werden, noch war es möglich die Alte als Mörderin zu überführen.«
Er überlegte kurz. Dann fügte er hinzu: »Der wahrscheinlich höchste Richter Shishneys geht bei ihr ein und aus. Wahrscheinlich einer der Gründe, warum sie nicht überführt werden konnte.«
Kyon überlegte und fragte schließlich: »Und was hat das mit der Silberwächterin zu tun?«
»Na ja, die beiden scheinen Freundinnen zu sein und in Kürze wird die Männerfresserin erneut heiraten.«
»Ah ja? Und wer ist der zukünftig Tote?«
»Ein Stutzer namens Adaiyron dan Y`raguas, er ist der Handlanger von Horath bor Borug, dem besagten, wahrscheinlich höchsten Richter der Stadt.«
Kyon lächelte. Frischfleisch für die Kannibalin.
»Wann findet diese Farce statt?«
Der Soldat fragte in die Runde und einer seiner Kameraden wusste das Datum. In sieben Nächten würde Ayn Urkaiyney also im Hause Djarias sein und Häppchen genießen. Da würde man sich sicher über den Weg laufen.
Ytˋtalan schlenderte durch die Turmstadt und betrachtete die pittoresken Türen und Fenster der Häuser. Sie hatte Flark gefragt, ob es hier eine Heilerin mit Schwerpunkt Augenheilkunde gäbe und der alte Quink hatte entsprechende Erkundigungen eingeholt und ihr die Adresse einer Dame namens Nyshnifee yr Learnith genannt. Jetzt stand sie vor besagtem Haus und überlegte. Viele Ressourcen waren ihr nicht geblieben. Kyon hatte eine seltsame Fähigkeit alle Ressourcen in seiner Umgebung zu kanalisieren und dorthin fließen zu lassen, wo er sie am besten brauchen konnte.
Sie klopfte und wartete einen Moment, aber dann wurde die Tür von einer älteren Quink in einer grünen Tracht geöffnet. Die Meisterin erwarte die Frau Hexe.
»Ihr seid kurzsichtiger als eine einäugige Quink nach einem Marsch durch ganz Draiyn Andiled«, sagte die Frau. Sie trug eine Art kurzes Teleskop auf einem ihrer glimmenden Augen und stierte damit in Tals Augen. Dann nickte sie und griff nach einer Phiole auf ihrem Tisch. Überall in dem Behandlungszimmer stapelten sich Gläser, Metallgestelle und Phiolen mit obskuren Tinkturen. Tal hatte sich diese Dinge angesehen, bevor sie sich auf den Behandlungsstuhl, ein Ding, dass sie sich auch gut in einer Folterkammer der Zitadelle hätte vorstellen können, Platz genommen hatte.
»Und nun?«
Die Heilerin schob mit spitzen Fingern Tals Kinn soweit zurück, bis ihre Augen etwa waagerecht zur Decke empor blickten und dann tropfte sie eine leicht brennende Flüssigkeit hinein.
»Blinzeln«, befahl sie mit freundlicher Stimme.
Tal blinzelte und bemerkte jetzt erst winzige grünliche Pünktchen an der Decke, die hin und her wuselten.
»Glühwürmchen«, sagte die Frau. »Ihr seht sie jetzt, weil meine Tinktur die Fehlkrümmung eurer Augen korrigiert. Aber das ist keine dauerhafte Lösung, wenn ihr nicht das Augenlicht verlieren wollt.« Sie machte eine Pause, aber ehe Tal etwas sagen konnte, fügte sie hinzu: »Andererseits wäre das bei euch keine allzu große Veränderung, oder?«
Tal schluckte ihren Ärger herunter und sagte: »Und was schlagt ihr vor?«
»Sehgläser. Wollt ihr elegant oder lieber stabil?«
Die Hexe überlegte eine Sekunde und sagte dann: »Beides. Wann kann ich sie abholen lassen?«
»Ich habe hier etwas Schmales, in dunkelgrün-metallic mit an den Ohren entlang gehenden Streben und Klemmen in Fledermausflügelform. Das Passt zu eurer seltsamen Frisur. Und dies hier nenne ich Modell Fliegerbrille.«
Sie hielt ein dickes Lederband hoch, an dem sich ein Gestell aus demselben Material befand. Darin waren zwei kreisrunde Löcher, in die man die Gläser einsetzen konnte. Tal fand, es sah aus wie das Gesicht einer mittelgroßen Höhlenspinne, aber was tat man nicht alles für tote Gegner?
»Also wann kann ich sie abholen lassen?«
Die Heilerin spielte mit der Lederfassung und sagte: »Das würde zwei Ressourcen machen.«
»Abgemacht.«
»Pro Glas.«
»Pro Sehhilfe?«
Ein feines Lächeln verunstaltete die Lippen der Frau als sie zurückgab: »Pro Glas.«
Das spätere Gespräch zwischen Tal und Kyon verlief recht spröde. Sie brauche acht Ressourcen, er hätte keine, er solle welche besorgen, er würde welche besorgen …
Sieben Nächte später stand Kyon in einer Schlange vor dem Anwesen der Djarias. Die Mauern wurden von Lampions in giftig grünes Licht gehüllt. Das Klientel in der Schlange stammte aus allen Schichten und Ethnien Shishneys. Da waren Krieger der verschiedenen Wachen, Günstlinge des Fürstenpaares, niedrige Adlige aus der Turm- und der Oberstadt und sogar Bewohner von Quinkstadt. Kyon konnte zwar keine Doppelmondhexen sehen, aber er würde sich nicht wundern zumindest jemanden aus dem Chentaitempel Shishney hier anzutreffen. Ob so jemand natürlich in der Schlange warten würde, war eher unwahrscheinlich.
Gerade rückten alle einen Schritt weiter, als hinter Kyon ein rhythmisches Stampfen näher kam. Er wandte sich um und sah im diesigen Licht der Teufelslampen eine massige runde Gestalt durch die Dunkelheit stapfen. Im ersten Moment dachte er, der Irre Riese aus der Totenstadt in der Wüste hätte überlebt und wäre ihm hierher nach Shishney gefolgt. Aber dann kam das Ding näher und Kyon erkannte darin einen smavarischen Droiden. Es handelte sich dabei um einen über sechs Meter großen Dayl`Vic`Snir, einer Art gigantischer Kugel mit zwei kurzen Stummelbeinchen und stählernen Flügeln. Sein Kranichkopf saß auf einem dicken, langen, sehr beweglichen Hals, der den Eisenschnabel und die lange, dünne Lanze darunter zu gefährlichen Waffen machte. Am Rücken, direkt hinter dem Halsansatz des Vogeldroiden, befand sich eine Aufnahme für verschiedene Werkzeuge. Man konnte hier eine Plattform, einen Kran oder eine Feuerlanze befestigen oder eben wie im vorliegenden Fall einen weit über den Kopf des Dings ragenden, gigantischen Hammer.
Kyon blinzelte und versuchte, die Gestalt zu erkennen, die ganz oben auf dem Hammerkopf ritt. Es war tatsächlich dieser, wahrscheinlich höchste Richter Shishneys. Horath bor Borug war ein alter, sehr dürrer Mann mit einer schmalen Nickelbrille und schütterem, glatt nach hinten gekämmten Haar. Er trug einen fadenscheinigen, hellgrünen Anzug und wirkte wie eine alte Eidechse. Was der merkwürdige Ritt auf dem Hammer bedeutete, konnte Kyon nicht einmal erahnen.
Als die Türwächter des Anwesens den Richter auf seinem seltsamen Reittier erblickten, öffneten sie die Türen weit und ließen ihn vor. Niemand in der Schlange sagte etwas dazu. Erst im letzten Moment sah Kyon nun auch den jungen Mann, der im Schatten des Droiden einherging und ebenfalls durch die Tore schlüpfte. Der Delinquent, ganz zweifelsfrei.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis der Barde am Tor angekommen war. Das Pärchen vor ihm war ohne Ansprache eingelassen worden und Kyon war sicher, dies würde bei ihm nicht anders sein. Doch der smavarische Krieger an der giftgrünen Holztür hielt ihn an.
»Wer seid ihr?«, wollte der Mann schroff wissen.
Kyon sah ihn an und setzte eine genervte Miene auf.
»Ich bin Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor, Barde und Bogenschütze und stadtbekannter Abenteurer.«
Der Wächter sah ihn ungerührt an und deutete dann hinter Kyon auf die Nächsten.
Kyon öffnete den Mund und wollte etwas sagen, aber er sah dem Krieger an, dass dieser auf Befehl handelte und wahrscheinlich noch schlechter gelaunt war als er selbst. Der würde ihn nie und nimmer in das Haus der Kannibalin lassen.
Er nickte und machte eine wegwerfende Handbewegung. Mir doch egal, dachte er und schlenderte an der Hauswand entlang. Er trug einen dicken Pelzmantel seiner Mutter, denn es war immer noch recht kalt. Der Boden war jedoch nass. Der Schnee blieb nicht länger liegen. Bald würde es wärmer werden. Den Nugai sei dank.
Er umrundete langsam das große Anwesen und suchte nach einem Hinterausgang und natürlich gab es diesen. Mehrere Midyar mit gezackten Hellebarden überwachten ankommende Quink, welche vollgeladene Schlitten und Holzwagen in das Anwesen bugsierten. Dutzende von Gelbweinfässern, Säcken mit Nahrungsmitteln und andere Güter, die Kyon auf die Schnelle nicht identifizieren konnte wechselten vom Reich der kalten Straße in das Revier der Kannibalin hinüber. Als Kyon sich einem der Echsenkrieger näherte, neigte dieser aufmerksam den stacheligen Kopf. Er sah auf Kyon herunter seine Augen sagten: dies ist der Hintereingang.
Kyon versuchte an ihm vorbei zu gehen, doch der Midyar versuchte ihm den Weg zu verstellen und ein weiterer der riesigen Wächter näherte sich bedrohlich. Doch der Silberwolf machte eine herrische Handbewegung und knurrte: »Zur Seite Echse!«
Und tatsächlich wichen die Midyar. Sie konnten nicht unterscheiden, welcher der Silberwölfe ihnen Befehle erteilen durfte und welche nicht. Trat einer der Smavari entsprechend herrisch auf, gab es nichts mehr, was sie ihm entgegensetzen konnten. So betrat Kyon das grün beleuchtete Anwesen und suchte nach einem Übergang aus dem Lieferantenbereich hinüber zum Außengarten, in dem sich ein Teil der Gäste befinden musste.
Eine schmale Tür brachte schließlich das erwünschte Ergebnis. Er schielte durch die Eisengitter und sah die Schatten der Gäste, die sich im Hof tummelten. Gläser die auf hohen Tischen befanden wurden von quinkförmigen Droiden aufgefüllt. Es gab Wärmelampen und offene Stehlen mit Feuer und über der ganzen Anlage flimmerte die nach oben steigende warme Luft. Smavari standen in kleinen Grüppchen beisammen und nahmen Häppchen von Silbertabletts, die ihnen Quink in seltsamen Kostümen reichten.
Der Gartenbereich war relativ trist und die wenigen Pflanzenbereiche waren zwischenzeitlich zertrampelt worden. Kyon suchte nach der Herrin der Silberwacht und schließlich fand er sie. Sie stand wie viele der anderen Gäste an einem der Hochtische und schien sich mit einem wahren Hünen von Mann zu unterhalten. Kyon erkannte in dem Kerl zuerst nicht einmal einen Smavari. Er war sicher zwei Köpfe größer als er selbst und sein Haupt verunstaltete eine abstehende Mähne. Er sah eher wie ein struppiger Bär, als wie ein Silberwolf aus.
Ayn Urkaiyney trug ein zugegebenermaßen bezauberndes Abendkleid, welches trotz der Heizstehlen ihre Brustwarzen abbildete. Sie hatte ihr massiges dunkles Haar zu einer Turmfrisur hochgesteckt in der vierzehn Silbernadeln mit eisblauen Köpfen steckten. Ihre Lippen gaben ihr wie immer ein genervtes Aussahen.
Kyon näherte sich den beiden so, dass die Ayn ihn möglichst spät erkannte. Er stand praktisch direkt neben ihr, als er hörte, wie sie mit einem leisen Ton des Entzückens die Nachtluft einsog. Sie hob die gekrümmte Nase und schnupperte, als wäre sie eine Wölfin auf der Jagd. Dann sah sie sich um und Kyon tat es ihr gleich und dann trafen sich ihre Augen wie durch einen wirklich seltenen Zufall.
Sie sah mit einem Lächeln an, doch dann trafen sich ihre Augen und irgendetwas in ihr gefror.
»Was für ein Zufall, euch hier zu treffen Wachtherrin«, sagte Kyon galant und sie gab dem Riesen neben sich mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er sich eine andere Begleitung suchen sollte. Kyon war begeistert. Das klappte ja großartig. Es würde nicht lange dauern und er hätte Zugriff auf alle Ressourcen der Silberwacht. Neue Vorhänge, ein neues Bett, Bezüge, guten Gelbwein, ausgebesserte Fenster, all dies rückte in greifbare nähe.
»Es ist geradezu wunderbar«, antwortete die Kriegerin und Kyon fragte sich, warum er solchen Respekt vor dieser kleinen Frau hatte. Sie war deutlich kleiner als er und auch wenn ihre Oberarme sie als Nahkämpferin auswiesen sah sie in ihrem dünnen Kleidchen und den abstehenden Nippeln alles andere als gefährlich aus. Leider änderte sich dies eine Sekunde später als sie freundlich lächelnd sagte: »Also Sliyn Kyon, zufällig glaube ich so überhaupt nicht an Zufälle und darüber hinaus kenne ich die Gästeliste der Besitzerin dieses Anwesens und ich fürchte, euer Name steht nicht darauf. Darüber hinaus, will ich eure Blicke der Zuneigung möglichst unbewertet lassen, aber ich teile euch hiermit in aller Freundlichkeit mit, dass ich euch entmannen werde, wenn ihr euch ein weiteres Mal mit den Absichten an mich heranschleicht, die euch heute hierher geführt haben.«
Kyon schluckte und rollte mit den Augen. War er ein derart schlechter Schauspieler? Oder konnte sie seine Absichten ebenso riechen, wie seine Macht über ihren Unterleib?
Er hob entschuldigend die Schultern und sagte dann voller Reue: »Ich bitte euch inständig um Verzeihung und um die Erlaubnis mich zurückziehen zu dürfen.«
Sie nickte milde und schnupperte schnell an seinen Schläfen. Dann machte sie eine wegwerfende Handbewegung, als wolle sie einen Kleinstamytoren aus Draiyn Andiled vertreiben.
Mit einer letzten Verbeugung wandte er sich dem Hinterhof zu und verließ den Garten über denselben Weg, über den er hier eingedrungen war. Er griff sich unterwegs in den Schritt und prüfte, ob seine Eier noch da waren. Sie hatten sich auf das Kleinstmögliche zusammengezogen und waren weit in seinen Schritt nach oben gewandert. Aber sie waren noch da. Er war froh, mit heiler Haut davongekommen zu sein.
»Ist es denn erlaubt, in die Bergzitadelle zu gehen?« Ughtred nahm einen großen Schluck Gerstensaft und sah Tal und Kyon an. Sie saßen in demselben Zimmer, in dem sie das aller erste Mal zusammengekommen waren. Ughtred hatte noch deutlich das Bild vor Augen. Da hinten war Tal wie eine Puppe auf dem Boden gelegen und hatte sich erst geregt, als ihr Geist aus dem toten Leib ihres Bruders zurück in ihren Lebenden geglitten war. Er schüttelte langsam den Kopf und rieb sich mit der Hand über die Stirn.
Kyon zog an seiner Pfeife und sagte dann mit Rauch in der Stimme: »Die Zitadelle steht jedem offen. Wer soll erkennen, ob nicht sogar ein Nygh von seinem Herrn hier draußen in der Stadt als Dienstbote hineingeschickt wurde?«
»Dienstbote«, murmelte Ughtred, sagte aber sonst nichts weiter dazu.
Tal ließ das Datentagebuch an die Stelle mit der Zeichnung des Unraumes springen. Der Kristall stand wieder einmal zwischen ihnen auf dem Tisch und warf seine Bilder in den Raum darüber.
»Zwölf, das bedeutet also wahrscheinlich zwölfter Stock, oder?«, fragte sie.
Die anderen beiden hoben gleichzeitig die Schultern und ließen sie wieder sinken. Doch dann fragte der Nygh: »Wie ist das mit den besagten Aufzügen? Wie steigt man da heraus, wenn sie durch einen Tunnel nach oben fahren?«
Kyon erklärte: »Ab dem sechsten Stockwerk gibt es Balustraden. Man kann jederzeit von den Plattformen der Aufzüge heruntertreten.«
Ughtred nickte beruhigt. Trotzdem konnte er sich das Konstrukt des Aufzugsschachtes und des ganzen Baus nicht recht vorstellen. Sie hatten ihm erklärt, dass man den sternförmigen Querschnitt des Turmes in das Gebirge geschnitten hatte, aber wie sollte er sich dies vorstellen? Hatten sie ein Messer genommen und das Granit damit ausgehöhlt? Von ihr unten musste es dutzende und aberdutzende von Stockwerken bis ganz nach oben zur Zitadelle Shishney geben. Wie konnte man einen fünfzackigen Turm in ein Gebirge schneiden? Die Wunder der smavarischen Welt waren für Nichteltwesen ganz zweifelsfrei unbegreifbar.
Er nahm noch einen Schluck und fragte: »Und dann? Was wenn wir dort sind?«
»Improvisieren wir«, sagte Tal. »Wie immer.«
Kyon nickte nur.
Ughtred sagte: »Wie aber finden wir einen geheimen Zugang, der über all die Jahreszeiten nicht gefunden wurde?«
Kyon beantwortete die Frage: »Wir wissen von seinem Vorhandensein. Das reicht.«
Sie unterhielten sich noch eine Weile darüber, was sie anziehen würden und ob sie bewaffnet oder unbewaffnet zur Zitadelle gehen würden. Kyon hatte keine echte Meinung zu dem Thema und sah keinen Nutzen in einer Bewaffnung für diese Aufgabe, aber Tal wollte weder auf ihre Rüstung, noch auf ihre Langschwert verzichten.
Die lange Straße war prächtig im Licht des mittäglichen Frühlings, und weit im Norden, wo die Häuser sich zu berühren und zu verbinden schienen, endete sie auf einem gewaltigen Platz vor dem Sockel der fünfeckigen Gebirgszitadelle. Hier von außen konnte man das Schema des gewaltigen Gebäudes bestenfalls erahnen. Links und rechts standen die Kanten des Turmes aus dem Stein des Gebirges hervor und bildeten dutzende von Metern hohe Kanten, die in der feuchten Luft glänzten. Sie schienen aus einer Art schwarzen Glases zu bestehen und waren ein Stück weit durchsichtig, ohne dass man allerdings wirklich ins Innere der Anlage hätte blicken können. Von hier unten konnte man die eigentliche Zitadelle des Fürstenpaares weit oben im Gebirge bestenfalls erahnen. Sie lag im ständigen Frühlingsnebel und schien mehr Sage als Realität.
Der Platz vor dem gigantischen Haupttor des Turmes leerte sich bereits. Smavari waren keine Freunde der Tagesschwestern und wenn die beiden Sonnen aufgingen, zogen sie sich in ihre Häuser zurück. Natürlich galt dies nicht für die unzähligen Quink, die hier mit den verschiedensten Diensten beauftragt waren. Sie brachten Waren in den Gebirgsturm oder transportierten leere Transportbehälter heraus. Flinke Läufer beförderten Nachrichten in beide Richtungen und überall zwischen ihnen standen bewaffnete Krieger, die für Ordnung sorgten.
Von Kyon, Tal und Ughtred nahmen sie jedoch keinerlei Notiz. Die drei marschierten geradewegs über den Platz und bahnten sich ihren Weg durch die Menge am Tor.
Endlich im Inneren angekommen, staunte Ughtred nicht schlecht über die unwirkliche Architektur dieses Gebäudes. Kyon hatte als Welpe hier einen Tag der blauen Sonne verbracht. Seine Eltern waren wie die meisten anderen Stadtbewohner in den Berg gezogen, als Itaraun, die blaue Sonne sich ankündigte und ihre Welt mit einem einhundert Jahre andauernden Tag überzog. Für die Smavari war dies nichts besonderes. Viele von ihnen erlebten dutzende dieser Ruhezeiten in ihrem ewig andauernden Leben. Alle eintausend Jahre kam Itaraun und verbannte die Elt in die Dunkelheit des Gebirges. Für Kyon hatte der Zackenturm kaum etwas Geheimnisvolles.
Tal war ebenfalls schon oft hier gewesen und kannte ähnliche Gebäude aus der kisadmurischen Hauptstadt Angaworth, wo ihre Großmutter lebte. Außerdem machte sie sich nichts aus Architektur und deren Magie. Für sie waren diese Spielereien Firlefanz, verglichen mit der Allmacht der lebendigen Natur.
Doch Ughtred war geblendet von dem, was er sah. Seine Leute hatten den Stein ebenfalls bearbeitet und Dranought, seine Heimatstadt, wies grandiose Ecken und Winkel im Gebirge auf, doch mit der Statik dieses Gebäudes konnten sich die Nyghgebäude nicht messen. Sie waren an die Regeln der Physik gebunden und wehe dem, einer der Baumeister hatte es mit den Verlagerungen übertrieben. Wenn die Tiba Fe bebte, konnten Türme einstürzen. Wie hatten es die Silberwölfe nur geschafft, diesen unglaublichen Hohlraum zu erschaffen und ihn vor allem zu stabilisieren?
Er blickte an den graublauen Wänden der ersten Halle hinauf und konnte in ihrem Zentrum weit über den sechsten Stock hinaufsehen, ohne dass ihm dabei auch nur ein einziger Stützpfeiler die Sicht nahm. Der Innendurchmesser der Aufzugshalle war derart gewaltig, dass man vom Eingang aus nicht die Gesichter der Aufzugspassagiere erkennen konnte. Und hier im Inneren war auch noch besser zu erkennen, wie es gemeint war, diese Sache mit dem Querschnitt in Form eines Pentagramms des ganzen Turmes. Die Vorderseite der Eingangshalle lag in einem der nach innen gewölbten Winkel besagten Pentagramms und links und rechts des Haupttores reichten spitz zulaufende Wände hinaus auf den Platz. Die hinteren Zacken konnte man leider nicht erkennen, lagen sie doch weit in den Fels gebaut und durch Trennmauern abgeschirmt außerhalb seiner Wahrnehmung.
Langsam gingen sie auf die Plattformen der Aufzüge zu. Alle drei waren zufällig gerade hier unten, aber die rechte setzte sich just in diesem Moment in Bewegung. Ughtred erkannte erst jetzt, dass die Trossen in einem leichten Winkel von der Eingangstür weg nach oben führten. Dies bedeutete, dass der ganze Turm in einer Schräge erbaut sein musste. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, wie man dieses Bauwerk errichtet hatte. Es war, als wären Asan, Götter oder zumindest Titanen nach Kisadmur gekommen und hätten hier mit ihren gigantischen Händen und einer unermesslichen Zauberkraft im Gebirge gewirkt. Doch zu welchem Zweck? Ughtred wusste, dass die Zitadelle den Silberwölfen als Bergfried diente. Er kannte die Geschichten über ihre langen Auszeiten, wenn Itaraun über die Welt herrschte und wie es war, wenn sie nach einhundert Jahren erwachten und ihre Herrschaft erneuerten. Quink wurden nicht so alt. Und die Wölfe taten nichts, um sich in Erinnerung zu halten. Für sie schien es selbstverständlich, sich schlafen zu legen und nach einhundert Jahren zurückzukommen und erneut zu herrschen. Für die neu entstandenen Generationen der Quink musste solch ein Erwachen eine Katastrophe bedeuten. Eben noch lebten sie in Freiheit und entschieden selbst über ihr Dasein und schon kamen bleiche Hexenwesen über sie und machten sich aus ihren Häuten Mäntel und Decken.
Der Nygh schüttelte sich bei dem Gedanken und wunderte sich, dass es in der Historie seines Volkes so selten zu echten Auseinandersetzungen mit den Silberwölfen gekommen war. Es gab scheinbar keinen Grund für diesen Frieden. Korezuul lag ungünstig im Norden der Tiba Fee und man hatte ja gerade kürzlich gesehen, wie mühselig sich eine Reise von Kisadmur dorthin gestaltete. Dennoch, wenn die Elt sich etwas in den Kopf setzten, neigten sie auch dazu, es durchzusetzen. Natürlich waren seine Leute deutlich wehrhafter als die zahmen Quink. Auch die Nyghs kannten psionische Kräfte und sie waren bedeutend bessere und zähere Krieger als die Silberwölfe. Außerdem hatten sie die Große Mutter auf ihrer Seite. Eine der mächtigsten Göttinnen des Universums überhaupt, hatte sich dafür entschieden, den Nyghs und allen Skergen beizustehen. Sie waren Kinder des Urtitanen, aber Mutter Natur, hatte sie als ihre Kinder angenommen und wer wollte sich mit ihr messen?
Es gab Geschichten über einen Angriff seitens der Wölfe auf Korezuul. Sie waren durch die Dimensionen gekommen und hatten ihre alles vernichtenden Waffen mitgebracht. Es schien, als hätte das letzte Stündlein für die Nyghs geschlagen, doch dann war der Zorn der Mutter über die Angreifer gekommen. Alle Amytoren der Wälder und Gebirge hatten sich auf die Wölfe gestürzt, Stürme und Blitze waren über sie gekommen und am Ende war die Mutter selbst erschienen und hatte die Elt mit Krankheit und Elend geschlagen. So stand es in den Aufzeichnungen, die man versteckte und solchen wie Ughtred vorenthielt. Aber er hatte sie Gelesen. Er hatte die Bilder gesehen, die Zeugen vor all den Millennien von diesen Dingen gezeichnet hatten und seine Nackenhaare hatten sich bei dieser Lektüre aufgestellt. Nun, da er die Macht der Silberwölfe in Form dieses Gebäudes sah, begriff er die Allmacht der Götter in seiner Architektur.
Kyon deutete auf den linken der Aufzüge, der sich langsam mit Passagieren füllte und sicher bald abfahren würde. Der Mittlere wurde noch entladen und wies derzeit gut drei Dutzend Quinkarbeiter auf, die leere Kisten zu einem der Seitenausgänge des Bergturmes trugen.
Ughtred fragte etwas über den Aufbau und das Alter des Gebäudes, aber die beiden Silberwölfe waren schon losgelaufen. Als sie die Plattform erreichten wurde Ughtred mulmig. Sie hatte einen Durchmesser von über fünfzehn Metern und bestand aus einem groben Gitter, durch welches man auf den Boden darunter blicken konnte. Ein Geländer gab es nicht. Er wollte gar nicht wissen, wie oft es passierte, dass eine der Plattformen so voll war, dass Arbeiter sich im Gedränge gegenseitig über den Rand schoben. Unwillkürlich suchte er den Boden nach alten Blutflecken ab, fand aber nichts. Dafür gewahrte er einen großen Droiden, der mit einer Art Besen bewaffnet besagten Boden reinigte. Der Nygh schüttelte den Kopf und rieb sich, wie immer, wenn er nervös war, die Stirn.
Vierzehn mächtige Taue liefen durch ein Gewirr von Zahnrädern und offenen Walzen durch die Maschinerie der Plattform und Ughtred versuchte zu begreifen, wie sie arbeiteten aber einige der Räder schienen sogar gegenläufig zu arbeiten und so schaffte er es einfach nicht mit ihrer Funktion klar zu kommen. Als sich das Gebilde in Bewegung setzte, gab es kein Rattern oder Knacken, wie es bei einer Maschine in Korezuul der Fall gewesen wäre. Dort betrieb man Lastenaufzüge mit dampfbetriebenen Maschinen und diese waren in der Regel sehr laut. Hier war nur das Stöhnen der Arbeiter und die Unterhaltungen der Turmbewohner zu hören. Die Plattformen gaben bestenfalls ein leises Reiben von sich. Außerdem bewegten sie sich unglaublich sanft. Es gab weder ein Ruckeln, noch zitternde Bewegungen, nur die einzig sanfte schräge Fahrt nach oben. Er hatte zwar keine Höhenangst und die Plattform war keineswegs überfüllt, aber dennoch hielt er sich ein Stück von den Rändern entfernt. Er sah Kyon zu, wie dieser mit den Zehenspitzen in der Luft, genau am Rand stand und vor und zurück wippte. Gab es ein Gegenteil von Höhenangst? Wollte der Silberwolf in die Tiefe gestoßen und unten von einem Droiden aufgekehrt werden? Ughtred sagte nichts, aus Angst er könnte den Kameraden erschrecken und so verursachen, was er fürchtete.
So fortschrittlich und geheimnisvoll die Aufzüge arbeiteten, Geschwindigkeit hatte zweifelsfrei nicht auf der Agenda ihres Erfinders gestanden. Es dauerte viele Minuten, um vom Boden das erste Stockwerk zu erreichen und tatsächlich gab es hier keine Ausstiegsmöglichkeit. Güter, die hier heraufgebracht werden sollten, mussten zweifelsfrei über die Treppen in den Wänden der Anlage transportiert werden. Hier unten war der gesamte Raum eine Art gewaltiger Dom von unermesslichen Ausmaßen.
Plötzlich begann es zu schneien und Ughtred hob die Augenbrauen. Hinzu kam ein recht lautes und seltsam deplatziert klingendes Geräusch über ihm und als er den Blick hob, stockte ihm der Atem.
Über ihnen schälte sich ein gewaltiges Monster aus der milchigen Trübnis des Hohlraumes. Es war eine Art gigantischer Wurm oder Hundertfüßer, dessen winzige Beinchen träger in der Luft Ruderten. Anstelle eines Gesichts oder eines Mauls, schoben sich viele Meter lange schienenartige Gestelle aus seinem Kopf; deren Zweck Ughtred nicht erahnen konnte. Das ganze Ding rotierte langsam durch die Luft und steuerte den Zwischenraum der Aufzugsplattformen an. Es war unersichtlich, was genau es in der Luft hielt, denn es war nicht aus Flugholz und verfügte weder über Flügel, noch war es mittels Seilen an den Turmwänden befestigt. Vor allem war es kein Lebewesen. Es war eine Art riesiger Droide und der Schnee, der nun den Turm erfüllte, ging von seiner Unterseite aus.
»Berggräber, für den Bergbau«, murmelte Kyon, ohne seinen Blick nach oben zu bewegen.
»Für den Bergbau?«, fragte Ughtred. »Es fliegt!«
Kyons Antwort war eine Mischung aus Verwunderung und Ärger: »Soll es durch den Fels schwimmen? Welche Wunder erwartest du noch von dieser Welt?«
Der Nygh beließ es dabei und beobachtete den gigantischen Wurm, der sich bis ganz nach unten schlängelte und dann in einer sanften Kurve durch den Eingang glitt. Von außen musste es aussehen, als verließe ein Drache seine Höhle. Er schüttelte den Kopf.
Ab dem sechsten Stockwerk gab es wie versprochen auf der Innenseite des Turmes eine Art Balustrade aus demselben Gitter, aus dem auch die Aufzugsplattformen bestanden. Hier war es ein Leichtes, die Aufzüge zu betreten oder zu verlassen, ohne in die Tiefe zu stürzen. Vorsichtiger musste man natürlich sein, wenn keine der Plattformen vor Ort war, denn auch hier gab es keine Geländer oder andersgeartete Sicherheitsvorkehrungen und Ughtred fragte sich, wie viele Quink in den letzten Millennien in die Tiefe gestürzt waren.
Wie zu erwarten war, dauerte die Fahrt in das zwölfte Stockwerk sehr lange und irgendwann setzte sich der Nygh im Schneidersitz auf das Gitter. Immer noch von der schieren Größe des Bauwerks fasziniert, beobachtete er, wie die Gestalten unter ihm kleiner und kleiner wurden. Im Zwölften angekommen, verließ er mit seinen Begleitern den Aufzug und wandte sich, dem Tagebuch entsprechend nach links. Doch plötzlich hielt Kyon ihn an der Schulter zurück und deutete auf eine der zahllosen Treppenfluchten, die ebenfalls auf die Balustrade mündeten. Zuerst verstand der Nygh nicht, aber dann sah er die beiden smavarischen Wächter, die offenbar auf ihn aufmerksam geworden waren. Er beeilte sich im Treppentunnel zu verschwinden, aber die beiden Männer hatten sich schon in Bewegung gesetzt. Kyon ging einige Stufen nach oben, aber dann blieb er stehen und wartete. Von unten war nichts zu hören. Gerade drückten sich zwei von oben kommende Quink an Tals ausladendem Zweihänder vorbei, als Kyon wieder nach unten gehen wolle und just in diesem Moment kamen die besagten Wachen um die Biegung der Treppe.
»Darf ich fragen, wer ihr seid und was ihr hier macht?«, fragte der schmalere der beiden Krieger und sah Kyon direkt an.
Der Barde zögerte keinen Wimpernschlag und sagte mit leicht verärgerter Stimme: »Ich bin Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor und ich zeige meinem Freund aus Korezuul die Schönheit der Bergzitadelle. Ist daran etwas auszusetzen?«
Der Krieger senkte den Blick und machte einen Schritt zur Seite. Er war zweifelsfrei kein Sliyn und er hatte auch sicher nicht das Recht, einem solchen sinnlos die Zeit zu stehlen. Kyon ging mit Tal und Ughtred an den beiden vorbei, zurück zum zwölften Stockwerk und deutete auf Deckenstreben und Einlässe für die Zugseile der Aufzüge, als erkläre er einem landesfremden Besucher die Besonderheiten der smavarischen Baukunst.
Die Wächter blieben noch einen Moment stehen und unterhielten sich. Es war nicht unwahrscheinlich, dass sie den Schwindel erkannt hatten, aber was sollten sie tun? Sie waren stärker als Kyon, besser bewaffnet und wahrscheinlich waren sie sogar im Recht, aber sie waren ebenfalls Smavari. Smavarische Wächter machten eine kurze Wachphase durch und gingen dann in Kur. Sie brauchten lange sich zu erholen und je komplizierter ihre mehrstündige Wache verlaufen war, umso mehr hatten die Helfer, speziell für diese Arbeit ausgebildete junge Leute, wurden benötigt, um das Trauma der Überarbeitung und sinnloser Verantwortung in den Griff zu bekommen. In den letzten Millennien gab es dutzende Fälle von unbefugtem Eindringen in die Zitadelle. Diebe hatten ihre Ressourcen aufgebessert, Sklaven waren entführt worden und einmal hatte ein Pirat versucht, bis zur Festung Shishney vorzudringen, um die Fürstin zu entführen und Kisadmur mittels Löseressourcenerpressung zu destabilisieren und in heillose Aufregung zu versetzen. Kyons Wissen nach, stand der Moraidi oben im Eispark der Herrin von Shishney. Er war zu einer Erinnerung geworden. Damit hatte er den meisten anderen Vorkommnissen etwas voraus. Denn der Rest, war Staub auf den Stufen der ungezählten Treppen des Gebirgsturmes.
Sie waren auf der Balustrade zurück und gingen auf der linken Seite entlang. Die Wände waren glatt, hatten aber ab und an Risse und schienen an vielen Stellen durchscheinend zu sein. Ughtred untersuchte unauffällig die Strukturen und fand sich außer Stande, die Materialzusammensetzung zu begreifen. Die Wände hatten etwas Kristallines, fast wie normales Glas, aber in ihrem Inneren befanden sich längliche Strukturen, wie magnetisiertes Metall, welches mittels Polarisierung zu kratzigen Strängen geformt worden war. Wenn er genauer hinsah, hatte er sogar das Gefühl, dass das Zeug im Inneren der Wände in Bewegung wäre. Immer wieder scheinen die winzigen Fasern ihre Richtung zu ändern, als wäre der gläserne Anteil des Materials zähflüssig.
Er überlegte. In einem der alten Kristalle hatte er gelesen, dass normales Glas auch nicht starr war. Besah man es sich bei Tageslicht, oder ging es gar zu Bruch, war es hart, bekam messerscharfe Kanten und konnte sogar als Messer benutzt werden. Doch die Alten wussten, wenn man Glas nur genügend Zeit ließ, floss es stets der Anziehung der Tiba Fee folgend, und wurde an der, dem Weltenkern am nächsten liegenden Teil dicker und dicker, während es weiter oben an Stärke verlor. War dies hier derselbe Vorgang? Spielte die Welt gar keine Rolle beim Fließverhalten von Kristallen?
»Ich sehe hier nichts«, holte Tal ihn aus seinen Gedanken.
»Ihr solltet eure Sehhilfe tragen, Frau Hexe«, konterte Kyon und deutete auf die Wand. »Sie hat schließlich unsere letzten Ressourcen verschlungen.
Tal nestelte in ihrer Tasche herum und fingerte nach dem schmalen Rahmen der Brille. Dann hob sie das Ding vor die Augen und schließlich setzte sie es auf. Sofort verbesserte sich ihre Sicht. Doch sie kam zu spät. Ughtred fuhr mit den Fingern eine unsichtbare Linie an der Wand entlang und nickte.
»Das ist es«, sagte Kyon und sah sich ein letztes Mal nach den Wächtern um.
Leider hatten sich zwischenzeitlich nicht nur besagte Wächter auf dem Rundgang der Gitterplattform eingefunden, sondern auch eine ganze Anzahl von Quink und sogar einige Droiden. Es schien, als ob viele von ihnen durchaus interessiert an den Belangen der Besucher waren. Kyon sah Tal und Ughtred an, richtete sich auf und deutete auf die Aufzugstrossen, als erkläre er dem Nygh ihre Funktionsweiße. Dann schlenderte er zu einer der Aufzugsplattformen und machte einen großen Schritt. Auf dem Aufzug deutete er erneut auf den Tunnel und erzählte Ughtred von der Höhe der Zitadelle und ihrem Ursprung.
Tal und Ughtred zuckten mit den Schultern und folgten dem Barden. Was sollte man machen? Zuviel Aufmerksamkeit war nun einmal zuviel Aufmerksamkeit. Man würde zu einem anderen Zeitpunkt wieder kommen.
Am nächsten Tag, Kyon und Tal hatten lange geschlafen, standen die beiden Tagesschwestern an ihrer höchsten Position, als Ughtred die Tür zu Kyons Haus öffnete und auf die Straße trat. Tal und Kyon hatten ihre Kapuzen über die Köpfe gezogen und folgten ihm. Gegen Mittag, war es mehr als Ungewöhnlich Silberwölfen im Freien zu begegnen. Das Licht der Sonnen behagte ihnen nicht und schadete ihrer Haut. Mittags hielten sie meist ein Schläfchen, folterten in dunklen Kellern ihre Sklaven oder machten andere erbauliche Dinge in Abwesenheit des Sonnenlichtes. Darum war diese Tageszeit auch zweifellos die Beste, um möglichst wenigen neugierigen Leuten zu begegnen, die am Ende auch noch etwas zu sagen hatten. Natürlich würde innerhalb der Turmzitadelle trotzdem etwas los sein, aber mit smavarischen Wachen war eher nicht zu rechnen. Obwohl in der Anlage Dämmerlicht herrschte, war es üblich, auch hier die Tageszeiten zu berücksichtigen. Es war smavarischen Wachen nicht zumutbar, Wache zu halten, wenn alle anderen schliefen. Außerdem erschien es der Obrigkeit auch überflüssig Wächter an Zeiten zu unterhalten, an denen ja ohnehin alle schliefen. Das die Quink sich nicht an solche Vorgaben hielten war ihnen ganz und gar egal.
Als die Drei also zum zweiten Mal in diesem Frühling das gewaltige Haupttor der Zitadelle durchquerten, gab es in der großen Halle keine smavarischen Krieger. Natürlich war die Halle dennoch bewacht. Ein Kontingent von Quinkwächtern sorgte für eine Atmosphäre absoluter Sicherheit. Von außen betrachtet, wirkte hier alles überwacht und sicher. Tatsächlich stand die Bergzitadelle jedoch jedem offen, denn die Quink hatten nicht die Befugnis, Silberwölfe anzuhalten, und ein Quinkbote, der im Namen seines Herren sprach, durfte ebenfalls nicht an seinem Auftrag gehindert werden.
Ughtred deutete auf den mittleren Aufzug, der sich gerade dem Erdboden näherte. Er war leer. Sie betraten die Plattform und warteten, bis sie sich erneut in Bewegung setzte. Wie beim ersten Mal dauerte es lange, bis die Vorrichtung den zwölften Stock erreichte, aber auch hier herrschte zu dieser Uhrzeit absolute Ruhe. Niemand war da. Kyon ging festen Schrittes zu der Stelle an der Wand, an der sie die Geheimtür vermuteten. Er untersuchte den feinen Spalt und hob die Schultern, doch Ughtred war schon zur Stelle. Obwohl sie niemand beobachtete, bewegte er sich so leise wie möglich. Vorsichtig nahm er sein Sichtglas aus der Tasche und hielt es an die Wand. Da waren dunkle Arme auf der Innenseite zu sehen. Wahrscheinlich die Gelenke oder Führungen der Tür. Als nächstes beförderte er eine schmale Brechstange zutage und versuchte sie unten zwischen Fußboden und Tür zu schieben. Das Material fühlte sich brüchig und seltsam fein an und als er ein wenig mehr drückte, brach eine dünne Kante ab. Perlmutt, dachte er. Wie konnten sie Wände aus Perlmutt bauen?
Er schob den Geißfuß eine Spur tiefer und stemmte das Konstrukt nach oben. Tatsächlich ließ es sich auf diesem Weg ein wenig aus seiner Führung ziehen.
Kyon erkannte den Rand der Tür und legte seine Fingerspitzen daran und tatsächlich reichte der Widerstand seiner Fingernägel, die unglaublich dicke Tür aus der Führung zu sich heraus zu ziehen.
Wie Ughtred schon vermutet hatte, lief sie auf langen, abgewinkelten metallen Armen, die es erlaubten, sie nach außen zu ziehen und auf die Seite zu schieben.
Sofort trat ein schaler Geruch aus der hinter der über eine Hand breiten Tür befindlichen Kammer. Die Öffnung schien im ersten Moment dunkel, aber die halbtransparenten Wände ließen tatsächlich noch einen minimalen Teil des ohnehin wenigen Lichtes im Turmbau hinein und Wesen wie die Smavari oder Nyghs, reichte dies, um sich zumindest eine Vorstellung von ihrer Umgebung machen zu können.
Kyon machte einen vorsichtigen Schritt hinein und betrat einen niedrigen Bogengang, der von seiner geometrischen Lage schon aus dem Gebirge herausragen musste.
»Unraum«, murmelte Tal hinter ihm und er nickte.
Kyon machte einen weiteren Schritt und fühlte sich für einen Moment schwerelos. Er konnte die Tiefe unter der Realität dieses quantenverschobenen Raumes spüren. Mit jedem, den er machte, hatte er mehr und mehr das Gefühl, hinunter nach Shishney stürzen zu müssen, doch nichts dergleichen geschah. Der Steinboden war alt und fest und würde hier noch lange bestehen, nachdem die Tiba Fe längst in eine ihrer drei Sonnen gestürzt war.
Ughtred fragte: »Wie funktioniert das?«, und Tal erklärte ihm, dass dieser Teil des Gebäudes in einer anderen Realität verankert worden sei und dass es solche Unräume häufig in Gebäuden der Smavari gab. Wenn man wusste, wie man es anzustellen hatte, war es gar nicht so schwer hinüber zu bauen. Sie hatte einmal ein Seminar in Angaworth zu diesem Thema besucht und zusammen mit ihrer Großmutter ein Unraummodell zusammengebaut, in dem man Falter von der Tiba Fe in die Anderwelt senden konnte.
Ughtred hörte nicht mehr zu. Ihm schwirrte der Kopf. Hinter Tal hatte er nun auch den Bogengang betreten und das Gefühl des Schwindels war überwältigend. Es war, als stünde er wieder auf einer der Fahrstuhlplattformen, und diese rase mit unbändiger Geschwindigkeit in eine Richtung, die er weder in die Kategorie hoch oder runter einordnen konnte. Er rieb sich mehrfach die Stirn und versuchte seinen Kopf zu klären, aber es dauerte einen Moment, bis er wieder klar denken konnte.
Erst als er die Nebenwirkungen des Unraumes überwunden hatte, gelang es ihm, sich auf den etwa drei Meter breiten und sechs Meter langen Keller zu konzentrieren. Er sah zu, wie Kyon vor ihm an einer geländerlosen Treppe im hinteren Drittel des Raumes stehen blieb. Sie bestand aus groben Steinblöcken und führte zur geschlossenen Decke hinauf, wo sie endete. Der Nygh versuchte ihren Zweck zu erkennen, doch es schien keinen zu geben.
Tal sagte: »Das Gewölbe lässt sich garantiert öffnen, wenn wir Steine aus den Seitenwänden ziehen. Seht mal. Die Quadratischen in jedem Gewölbe stehen etwas hervor. Die kann man sicher bewegen.«
Kyon war um die Treppe herum gegangen und hatte sich ihre Stirnseite angesehen. »Hier ist der Rätselspruch aus dem Tagebuch.«
Tal und Ughtred kamen zu ihm und wirklich, hier im Stein der Treppe waren die Glyphen der Scherbenschrift zu sehen, die Lonkaiyth ihnen in seiner Anleitung hinterlassen hatte.
Der Erste links vom Bogengang
Dann drei mal drei sind unberührt
Das Spiegelbild des Letzten auch
Vier zum Eingang hin
Und noch einer gleich daneben
Wieder dessen Spiegel
Und einer weiter in den Raum
Dann der letzte auf der rechten Seite
Kyon deutete auf den ersten Stein neben dem Eingang in den Keller und nickte. Tal, die näher daran stand, griff nach der Kante und zog daran und tatsächlich ließ er sich mit einem leisen Knirschen einige Finger breit herausziehen. Sie lachte wie ein Kind und fragte: »Wie geht es weiter?«
Kyon las vor: »Dann drei mal drei sind unberührt, also der elfte als nächstes und dann sein Gegenüber auf der anderen Seite!«
Systematisch gingen sie die Anleitung durch und zogen an den Steinen und kaum waren die richtigen acht aus ihrer endlose Millennien alten Position gebracht, ertönte es über ihnen an der Decke der flachen Kammer ein Knirschen und Stöhnen. Langsam und wie von Geisterhand öffnete sich ein schmaler Durchgang über der Treppe und gab dieser einen Sinn. Raguels Grabkammer hatte sich geöffnet.
Tal lächelte Kyon an, doch dieser machte ohne zu zögern den ersten Schritt auf die Treppe. Sie streckte ihm die Zunge heraus und folgte. Der Nygh kam ihnen hinterdrein.
Die Treppe mündete in einen zwölf Meter langen Raum, an dessen Ende sich eine Empore mit einem steinernen Sarkophag befand. Hier lag Raguel Siarn dan Orthenaug in seinem letzten Ruhebett. Der schwere Deckel des Sarges wurde dem liegenden Abbild des toten Fürsten nachempfunden und in seinen steinernen Händen lag sein mächtiger Speer. Das Abbild war eine brillante Arbeit aus früheren Zeiten, und die Hände des ehemaligen Helden hielten den Speer quer vor sich, so dass seine Klinge über den Deckel des eigentlichen Sarges hinaus ragte. Es war sofort ersichtlich, dass es sich bei dem Speer um eine wirkliche Waffe, und nicht ebenfalls um eine Nachbildung aus Gestein handelte.
Die drei Abenteurer näherten sich der Empore und Ughtred hob die Hand. Er hatte Angst vor eventuellen Fallen und trat darum zuerst näher, doch so genau er die Steine auch untersuchte, er fand nichts verdächtiges. Schließlich trat Tal an den Sarg heran und berührte den Speer. Wie im Tagebuch beschrieben, schien er keine negativen Kräfte auf sie hernieder regnen zu lassen. Kurzerhand griff sie zu und entzog ihn dem Griff seines ehemaligen Besitzers.
»Und jetzt?«, murmelte der Nygh.
Tal sah ihn an und zuckte mit den Schultern, aber Kyon sagte: »Niemand in Shishney wird den Speer erkennen. Zumindest keiner der Quink. Raguel lebte viele Generationen vor ihnen. Wir gehen und nehmen den Speer mit uns. Es gibt keinen Grund ihn zu verhüllen.«
Gesagt, getan – ohne weiteres Fehlerlesen gingen sie mit ihrer Beute zu der Treppe zurück. Unten angekommen drückten sie die Steine zurück an ihre Positionen und verließen den unteren Kellerraum durch das Bogentor. Auf der Balustrade angekommen, schoben sie vorsichtig die Geheimtür an ihre ursprüngliche Position zurück. Sie warteten einen Aufzug ab, weil gerade ein Kontingent bewaffneter Midyar an ihnen vorüber fuhr und nahmen dann die nächste Plattform.
Ganz und gar unbehelligt verließen sie die Bergzitadelle und waren nun die stolzen Besitzer einer der mächtigsten Waffen des smavarischen Reiches.
Das Zahnrad
Einige Tage vergingen. Ughtred trainierte weiter mit Odugme und Tal übergab eines Tages das Kreuzschwert ihres Bruders an den Phani. Sie wollte sich auf den Speer konzentrieren und übte sich im Umgang damit. Schließlich ließ sie auch den großen schwarzen Mann gegen sich antreten und zeigte ihm den richtigen Umgang mit Langwaffen.
Kyon unterdessen versuchte immer noch, Ressourcen anzuhäufen. Er besuchte mehrere Soirees, ließ sich fürstlich für Balladen und Geschichten entlohnen und gab sie später wieder für Helfer und Helferinnen, Drogen und extravagantes Essen aus. Er taumelte durch die Straßen der Stadt und verlor sich wie so oft zuvor in ihren Winkeln.
Als sie wieder einmal am Runden Tisch in seinem Haus saßen, sagte Tal: »Wir müssen die Sache mit dem Zahnrad angehen. Wir müssen es finden und dafür sorgen, dass es repariert wird. Was steht noch einmal genau im Tagebuch?«
Ughtred sah Kyon an, als dieser genervt vorlas: »Der Schmied wird es richten. Nur leider ist der nicht mein Freund. Schuld und Sühne über dieses Haupt, doch nahm ich diesem Krüppel seine Gattin und weh ihm, somit seinen Erben. Wie soll ich vor ihn treten? Ist dies mein schwerstes Abenteuer? Härter scheint mir dieser Gang, als Mandibelzangen und des Riesen Klauen, doch es muss sein. Also bittend, flehend muss ich in die Quinkstadt gehen, dort den ehemaligen Rivalen um den Gefallen bitten. Tut ers nicht, ich weiß nicht was. Der nächste der dies Kunststück vollbringen könnte lebt in Rivenest, allein das Reisen dahin ist zu teuer für mein Haus.
Doch ihn zu zwingen, wird kaum möglich sein. An Leib und Seele ist der Mann bezwungen längst, noch wär er zu überzeugen? Sein Hass auf uns wird nicht gewichen sein, womit auch das Betteln ohne Frucht verbleibt. Kein Ding besitz ich, das er sein Eigen nennen will. Nichts, gar nichts bleibt mir zu tun. Außer, außer vielleicht die Frau. Ist dies möglich? Kann und will ich dies versuchen? Was würd sie sagen, wenn ich ihn zu uns ins Hause lade – Frieden schließen einfach so?
So muss es sein. Er wird geladen in unser Haus zu trautem Stelldichein. Nur so kann es gehn, denn jeder andre Weg ist mir verwehrt. Welch ein Abenteurer wäre dies, wenn so schlichte Moral ihn hielt von seinen Zielen? Beschlossen ist es und sogleich schreib ich ihm den Brief.«
Er machte eine Pause und nahm einen Schluck aus seinem Becher mit Faltersud. Dann fügte er hinzu: »Aber wo soll das Ding denn sein? Haben wir es auf einer der Reisen übersehen?«
Ughtred, der sich schwer mit der Scherbenschrift des Tagebuchs tat sagte: »Hattet ihr nicht vorgelesen, dass es im Keller sein soll?«
Kyon sah den Nygh an und erwiderte: »Da hätte ich es gesehen. Wir haben doch alles nach wertvollen Dingen durchsucht; mehr als einmal.«
Tal sagte: »Na ja, hier steht …« Sie fuhr mit den Fingern durch die Luft und ließ das Tagebuch eine bestimmte Stelle seines Inhaltes auf die Tischplatte projizieren. »Erster Keller, rechte Treppe, zweite Truhe in der Nische.«
Kyon schüttelte den Kopf. »Kann nicht sein.«
»Lasst uns nachsehen Herr Barde«, sagte der Nygh, stand auf und zog an Kyons Ärmel. Tal lachte und stand ebenfalls auf, aber sie ging zum Fenster und sah in den Regen hinaus. Von hier aus, konnte sie die Doppeltürme ihres Zirkelhauses sehen. Sie legte die Stirn in Falten und presste sie dann an das kalte Glas. Inständig hoffte sie, dass all die Abenteuer ihr früher oder später die Tore in das Zirkelhaus öffnen würden. Die Schwarze Perle war ein Mythos, aber sie wusste auch, wie Akkatha funktionierte. Anerkennung war wichtig und diese vergab die Hexenkönigin nur an jene, die sie sich verdient hatten. Andere, lebten ein Dasein in den Schatten. Aber sie würde sich diese Anerkennung verdienen.
Plötzlich wurde ihr heiß und kalt und ihr Blick wurde vom Boden unter ihren Füßen angezogen. Ihr war schwindlig und dann kam die Vision über sie:
Keller um Keller glitten an ihr vorüber, bis sie merkte, dass sie es war, die in die Tiefe sank. Irgendwo um sie herum war Kyon, denn auch er wurde in den Strudel der Unterwelt gezogen.
Nach den Kellergewölben des Hauses, mit seiner Esse und dem bösen Geist darinnen, kam die Kanalisation, und dann noch ein Haus, eine Ruine unter dem Anwesen. Noch tiefer wiederum befanden sich dessen Keller und darunter wieder eine Kanalisation. Shishney war alt, und im Alter bildeten Städte Schichten, die sie früher oder später abwarfen wie Schlangen ihre Haut.
Gerade als Tal dachte, den Grund erreicht zu haben und jetzt Kyon ganz deutlich neben sich im Gestein schweben sah, brachen sie gemeinsam durch eine weitere Schicht und gerieten in freien Fall durch eine unterirdische, domartige Kuppel. Hier unten endlich erstreckte sich die erste Stadt am Fuße der Odoreys und niemand hätte ihr Alter bestimmen können. Tausende von Gebäuden ohne Dächer erstreckten sich über eine Distanz, die das heutige Shishney mehr als vervierfachen würde. Tal und Kyon konnten in die Gebäude hineinsehen und sahen seltsame Gestalten, die jedoch nur Schatten ihres einstigen Daseins darstellten. Sie waren vergangen und hatten nur Visionen hinterlassen. Mit großen Köpfen, schlurften sie vornübergebeugt durch die Strukturen ihrer toten Welt. Groß waren diese Bewohner der Unterwelt gewesen und Tal fragte sich, wer sie gewesen waren.
Als sie zu sich kam, lag sie am Fenster und Ughtred hatte ihren Kopf auf sein Knie abgelegt. Besorgt blickte er sie an, aber er selbst sah viel schlimmer aus, als sie sich fühlte. Doch dann überkam sie eine gnädige Bewusstlosigkeit.
Sofort hob der Nygh sie auf und brachte sie in eins der Zimmer. Von irgendwoher hörte er Musik. Das musste der Barde sein. Er legte die leblose Hexe auf ein muffig riechendes Bett und stürmte los, um nach Kyon zu suchen. Unterwegs rief er nach den Bediensteten, aber niemand schien in Hörweite zu sein. Seine Nase blutete und er wischte sich mit dem Handrücken das Blut und Rotz aus dem Gesicht. Was war nur geschehen?
Die Musik wurde lauter. Als er Kyons Zimmer erreichte, stand die Tür offen und der Silberwolf saß auf einem Schemel und hatte seine Laute ans Kinn gepresst. Er bewegte sich langsam vor und zurück und hielt in seiner Hand eine Art Bogen. Mit diesem Gerät fuhr er über die Seiten des Instruments und entlockte ihm für Ughtred übermäßig fremdartige Melodien. Es klang so seltsam alt und treibend und Ughtred rieb sich die glühende Stirn. Er sagte etwas, aber das Gefiedel wurde immer anstrengender und riss ihn in einen Strudel der Unverständnis.
»Kyon, es ist Tal …« versuchte er es erneut, aber dann verließ ihn die Kraft und er sank zu Boden.
Das Zimmer war dunkel, aber auf dem Fensterbrett glomm ein Talglicht. Ughtred hatte die Augen geöffnet, war sich aber nicht sicher, ob er wach war oder noch immer in diesem schrecklichen Traum umher taumelte. Seine Lippen waren trocken und sein Kopf tat ihm weh. Er berührte kraftlos seine Stirn und stellte fest, dass sie glühte. Nyghs wurden praktisch niemals krank. Er war eine Ausnahme. Aber war er das nicht schon immer gewesen?
Er sank auf das feuchte Bett zurück, fror und schwitzte und versuchte etwas zu sagen, aber dann glitt er wieder in die Dunkelheit seines Fiebers zurück.
Als er erneut erwachte, saß Tal neben ihm. Sie sah unbekümmert aus, aber das tat sie in den meisten Fällen. Sie hatte unbekümmert ihren Bruder als Ersatzkörper benutzt, um ihn aus dem Kerker der Zitadelle zu retten, erinnerte er sich.
»Kyon …« keuchte er mit trockenen Lippen. Die Hexe wischte ihm mit einem nassen Lappen, den er aus der Küche kannte, über die Stirn und dann über die rissigen Lippen, aber er hatte keine Kraft sich zu beschweren. Hygiene und Sauberkeit spielten im Dasein der Silberwölfe eine eher untergeordnete Rolle. Er ließ es über sich ergehen. Selbst als Tal ihm eine ihrer Hexentinkturen einträufelte schluckte er sie. Was hätte er tun sollen? Er war schwach und sie eine Wölfin.
Im Hintergrund seines Kopfes – oder war es irgendwo im Haus? – fiedelte Kyon die Schreckensmelodie und versuchte Ughtreds Schädel zum Zerbersten zu bringen. Er schloss die Augen und gab sich Mühe dies zu verhindern.
Mehr als drei Tage waren vergangen, so erzählten es ihm die beiden Silberwölfe später, als sie endlich wieder gemeinsam in der Küche saßen und heißen Faltersud tranken. Ughtred verzichtete natürlich auf den schwarzen Mottenbrei und hielt sich an seinen eigenen Tee. Es ging ihm besser.
Eine Massenvision, hatte Tal es genannt. So etwas komme vor. Kyon zuckte mit den Schultern und spuckte einen unzermahlenen Insektenflügel auf den Küchenboden.
»Und um was ging es da?«, fragte der Nygh und versuchte, Kyons Tischmanieren zu ignorieren.
Tal antwortete mit latentem Interesse: »Wir haben eine Architektur, tief unter Shishney gesehen. Es muss eine erste smavarische Siedlung gegeben haben, aber weit unter dieser befinden sich noch heute die verlassenen Überreste einer noch viel viel älteren Stadt.«
Kyon überlegte lauf: »Wer kann die gebaut haben? Wir sind die Ältesten und Tollsten oder?«
Die Hexe schüttelte den Kopf und nickte dann, als sie sagte: »Die Aspekte des Kar haben die Stadt in der Tiefe gebaut. Ich weiß aber nicht, welcher Aspekt. Es waren nicht die Nugai. Sie leben nicht in der Tiefe. Vielleicht irgendwelche Asan, denen ist alles zuzutrauen.«
»Asan sicher nicht, oder?« Kyon schüttelte den Kopf. »Die Nugai hätten sie bestimmt platt gemacht.«
»Nugai gehen wie gesagt nicht unter die Erde. Sie hassen das Reich der Würmer«, gab Tal belehrend zu bedenken.
Alle drei starrten noch eine Weile in ihre Getränke. Dann sprachen sie nicht weiter über die Vision. Ughtred genas, aber die schreckliche Melodie blieb ihm noch eine ganze Weile im Kopf und verfolgte ihn in seinen Träumen.
Einige Tage später begaben sie sich endlich auf die Suche nach dem Zahnrad. Kyon hustete und trat schimpfend eine alte Holztruhe von den Treppenstufen. Normalerweise ging er immer in den zweiten Keller hinunter, weil sich hier die Schmiede des Pfeilmachers befand. Im ersten Keller gab es Spinnweben, Staub und vergammeltes Gemüse. Dies war kein Ort für ihn. Er schalt sich dafür, nicht die Quink geschickt zu haben.
»Seht mal«, hörte er Ughtred sagen und hob die Kerze höher, die er aus dem Salon mitgenommen hatte. Der Nygh bückte sich über einen Stapel von Gerümpel und Kyon schob ihn grob zur Seite. Hustend zerrte er eine alte, zerbrochene Truhe aus einer Nische neben der Treppe.
»Da hol mich der Nugai«, flüsterte er, als die Truhe am Kellerboden zerbrach und ein schwerer Gegenstand, der in ein Tuch gewickelt war, davonrollte.
Ughtred sagte: »Das ist es, Barde, hier seht.«
Der Nygh hob das schmutzige Bündel vor Kyons Augen und rieb sich Staub über die Zeichen auf seiner Stirn.
»Du siehst aus wie eins meiner Maskenmännlein«, sagte der Silberwolf.
»Seid mal froh, dass ich keins bin, Herr Barde. Aber ich will der verdammte Urtitan sein, wenn dies schmucke Stück hier, nicht das gesuchte Zahnrad ist!«
Er wickelte die Lumpen auseinander und brachte ein über einen Handspanne durchmessendes und mehr als halb so breites Gebilde aus einem rosafarbenen Metall zutage. Des Weiteren befanden sich mehrere Bruchstücke in dem Tuch.
Das Zahnrad selbst wies einen tiefen Riss auf, in dem wenigstens ein Viertel seiner ursprünglichen Masse fehlte.
»Sieht nicht gut aus«, sagte der Nygh. »Die Bruchstücke reichen nicht einmal, um den Riss zu füllen und ich habe keine Ahnung, was das für ein Metall sein soll.«
Kyon legte den Kopf schief und knurrte resignierend: »Also kannst du es nicht reparieren, war klar.«
Ughtred zuckte mit den Schultern und murrte zurück: »Wird schon einen Grund haben, warum euer Vater einen Brief an den besagten Schmied schreiben wollte.«
»Papperlapapp«, erwiderte Kyon gereizt. »Mein Vater hat dieses Tagebuch schließlich zu Lebzeiten geschrieben und damit zu einer Zeit, da sowohl der geile Schmied, als auch meine Mutter in einem ganz und gar anderen Zustand als heute waren. Was könnte Amyithas heute und in ihrem jetzigen Zustand von meiner Mutter wollen? Das ist Unsinn. Wir müssen eine andere Lösung für das Zahnrad finden. Es gibt eine Unzahl von Schmieden, wird schon einer dabei sein, der es richten kann.«
Tal, die einzige Treppenstufen weiter oben stand, mischte sich ein: »Euer Vater schreibt im Tagebuch, dass es keinen anderen gibt.«
»Da steht, in Rivenest lebt und wirkt einer«, sagte Kyon stur.
Ughtred warf ein: »Rivenest ist die Hauptstadt von Oriad und liegt auf der anderen Seite der Todesgrube.«
»Die Tinscrad«, sagte Tal. »Es würde sicher über eine Jahreszeit dauern und eine unschätzbare Anzahl von Ressourcen kosten, auf eigene Faust dorthin zu reisen.«
Kyon nickte und sagte gut gelaunt: »Gut, fangen wir an, welche zu sammeln.«
Sie gingen die Treppen hinauf und unterhielten sich weiter über ihre Möglichkeiten. Tal und Ughtred vertraten die Meinung, den hiesigen Schmied überreden zu können. Man müsse nur eine Einladung schreiben und ihn in die Gesellschaft zurückholen. Kyon hingegen blieb starrsinnig. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, nach Oriad zu reisen.
Nach einer Weile unfruchtbarer Argumentationen, stand er auf und nahm seine Jacke von einem der Stühle, wo er sie wie immer unachtsam hingeworfen hatte. Tal wollte noch etwas sagen, aber Ughtred legte ihr die Hand auf den Arm. Er schüttelte den Kopf, als wolle er sagen: lasst ihn, er ist sturer als eine trächtige Lope.
Indessen hatte Kyon schon seinen Salon verlassen und war die gebogene Treppe des Vestibüls hinunter gegangen. Er hatte eine ganz klare Vorstellung, wie das laufen würde. Zuerst würde er sich für die nächsten Nächte in einige der Häuser in der Ober- und Turmstadt einladen. Dort würde er Lieder über ihre bisherigen Abenteuer aufspielen, sich vergnügen und eine nicht mindere Anzahl von Ressourcen abgreifen. Er blieb einen Moment stehen und dachte über besagte Lieder nach und kam zu dem Schluss, dass er bisher keinerlei Zeit dafür aufgebracht hatte, sie überhaupt zu komponieren. Egal – mussten es eben alte Lieder sein. Vielleicht konnte er ja einfach ein wenig an den ursprünglichen Texten schrauben.
So schlenderte er durch die engen Gassen zwischen den uralten Häusern und genoss seine Freiheit. Hier war auch schon das erste Ziel. Das Haus Chron, wusste Feste zu feiern. Er klopfte, ein Quink fragte unterwürfig, was der Sliyn wolle und er beauftragte den Diener, den Herrn des Hauses Yˋshandragor für die nächste Soiree vorzumerken. Der Quink verbeugte sich ehrerbietig und terminierte diese Anfrage auf die übernächste Nacht. Kyon ließ den Hausherrn grüßen und kehrte in eine der Kaschemmen in der Turmstadt ein. Hier ließ er eine Ressource, feierte bis spät in die Nacht und prahlte mit seinen Abenteuern.
So ging das viele Tage lang. Er ließ in einem der Herrenhäuser Kerzenständer von großem Wert mitgehen, erhielt Liebesgeschenke und erfreute sich allgemeiner Wertschätzung. Dann versackte er in verschiedenen Lusthäusern und wachte am nächsten Morgen blank wieder auf. So war er, so war sein Leben. Leider beobachtete er sich nicht dabei und war nach wie vor überzeugt, früher oder später die Reise nach Oriad finanzieren zu können.
An einem sehr frühen Morgen ging er sogar zum Silberhafen und befragte einen der Hafenmeister zu diesem Thema. Es handelte sich tatsächlich um einen Smavari und als dieser vom Plan des Barden hörte, Rivenest zu besuchen, stahl sich ein vergnügtes Lächeln auf seine schmalen Lippen. Er erzählte von dem Vortex in der Festung, oben über der Stadt. Leider ließe die Herrin niemanden hinauf und jeder, der es versuchte, wurde von ihr in eine Eisstatue verwandelt. Sie mochte weder Besuch, noch gab sie Soirees oder andere öffentliche Anlässe, die man sich für einen Sprung durch den Vortex hätte zunutze machen können. Eisstatue – das war ihr Ding. Sie war verrückt, wie so viele sehr alte Smavari, aber wer hätte ihr verdenken können, Leute zu Eis erstarren zu lassen? Leute waren generell lästig. Da kam ihm ihre Art des Umgangs mit ihnen durchaus normal vor.
Eine andere Möglichkeit, so der Hafenmeister, wäre die große und vor allem öffentliche Vortexanlage in Angaworth. Hier würde es keinerlei Probleme geben, nach Rivenest zu reisen. Die Obrigkeit der Hauptstadt Kisadmurs war deutlich freundlicher zu ihren Untertanen als die von Shishney; zumindest auf ihre Art geschäftstüchtiger und realitätsnäher. Eisstatuen konnten unmöglich wirklich produktiv sein.
Leider, leider lag Angaworth auf der anderen Seite des großen Gebirges von Kisadmur und es gab nur zwei Möglichkeiten, die Hauptstadt zu erreichen. Option eins war der Vortex in der Festung – Eisstatue. Option zwei war eine unglaublich weite Schiffsreise um die Odoreys herum. Der Hafenmeister nannte verschiedene Haltepunkte weit im Süden des Landes und Kyon, der sich mit Geographie nicht wirklich auskannte, glaubte, was er hörte. Am Ende wäre der Weg nahezu ebenso lang wie die direkte Route über das Meer, nur eben ohne das Meer. Außerdem sollte man Angaworth gesehen haben. Kyon überlegte, und später am Abend sprach er seine Reisepläne den anderen gegenüber an.
Tals Großmutter lebte in Angaworth. Sie vermisste die alte Dame und wäre zweifelsfrei froh gewesen, sie besuchen zu können, aber sie wusste auch, dass es ein wirklich langer und beschwerlicher Weg zur Hauptstadt war. Über die Hälfte ihres eigenen Lebens war es her, dass sie mit ihren Eltern von dort auf die Westseite des Gebirges gezogen war.
»Es ist ein weiter und gefährlicher Weg von Shishney nach Angaworth. Die Fürstin wird uns kaum ihren Vortex nutzen lassen«, sagte sie halblaut beim Essen und schaufelte sich ein paar Echsenschwänze auf den Teller.
Kyon grunzte und schluckte den rohen Fleischbrocken herunter, den er sich gerade in den Mund gestopft hatte.
Ughtred schüttelte den Kopf und versuchte sich auf die Salatschüssel zu konzentrieren, die man ihm hingestellt hatte. Die Essgewohnheiten der Silberwölfe waren ebenso fremdartig für ihn, wie ihr Sexualleben. Wie konnte man nur einen blutigen Fleischbrocken herunterwürgen, ohne ihn ein einziges Mal vorher zu kauen? Wahrscheinlich musste man Wolfsblut in seinen Adern haben. Er fragte sich, wie viel Wahres an den Sagen über die Entstehung der Elt war. Ihre Erschaffer, sie nannten sie die sagenumwobenen Nugai, hatten sie aus ihrem eigenen Fleisch und Blut gemacht, doch angeblich hätte ein Gott einer anderen Art, ihrem Rezept einen Tropfen Wolfsblut hinzugegeben und damit die Silberwölfe von ihren Eltern entfremdet. Er dachte an die Entstehungsgeschichte seiner eigenen Leute. Alle Skergen stammten von dem Urtitanen Crynos ab, doch auch sie hatten sich von ihrem Vater gelöst und die große Mutter Natur als Schutzherrin angenommen. Die Parallele war durchaus interessant; zumindest, wenn man an Schöpfungsmythen glaubte.
»Ich gehe zu dem Schmied nach Quinkstadt und frage ihn einfach, ob er das Zahnrad für uns reparieren kann«, sagte der Nygh und nahm einen Bissen Brot in den Mund.
Kyon war immer noch mit dem Fleischbrocken in seiner Kehle beschäftigt und keuchte: »Absolut sinnlos. Er wird es nicht machen.«
Tal sagte: »Warum denn eigentlich nicht? Er hat doch kein Problem mit euch. Es war euer Vater, der ihn beleidigt und destabilisiert hat.«
»Spielt keine Rolle. Er wird es trotzdem nicht machen. Er ist sauer und verletzt und mit Sicherheit stur.«
Tal überlegte einen Moment und fragte dann: »Und eure Mutter? Wäre es denkbar die beiden wirklich zusammen zu führen?« Sie rechnete schon damit, dass Kyon einen Wutausbruch bekommen könnte und wandte sich sicherheitshalber ihrem Essen zu, aber dieser schluckte endgültig das tote Tier herunter, nahm einen Schluck Gelbwein und sagte: »Für was denn? Sie ist in ihrer eigenen Welt. Erstens will sie ihn nicht sehen, und zweitens würde es ihm kaum etwas bringen, sie so, wie sie jetzt ist, zu besuchen. Mir wäre es im Grunde egal, aber ich sehe keinen Sinn in dem Versuch.«
Das ärgerte Tal. Sie verstand Kyon nicht. Seine Mutter mochte sich in sich zurückgezogen haben, aber tat gerade so, als wäre dies ihre freie Entscheidung gewesen. Sie trauerte, und zwar heftig. Wie groß musste ihre Fähigkeit zu lieben sein, wenn sie der Verlust ihres Gatten derart marterte? Aber sie war ja nicht tot. Wer hätte sagen können, was ein Besuch seitens eines alten Freundes in ihr auszulösen vermochte?
Sie stand auf, schob ihren Teller über den Rand des Tisches und wandte sich ab. Kyon tat das Ganze als Laune ab und Ughtred, der erschrocken war, stand ebenfalls auf und ging der Silberwölfin hinterher.
»Idioten«, murmelte Kyon und stopfte sich einen noch größeren Brocken Fleisch in den Rachen.
Auf der Treppe holte Ughtred die Hexe ein und sagte: »Ich gehe jetzt mal in die Quinkstadt.«
»Mir egal«, schnaubte Tal und ging die Treppe nach oben.
Quinkstadt lag am westlichen Rande Shishneys und grenzte im Süden an den Plagensumpf. Am westlichsten Rand ging der Stadtteil in eine Ebene mit Heidegraß und verkrüppelten Obstbäumchen über. Die dunklen Nadelgehölze des Gebirges begannen erst weiter nördlich, warfen aber ihre Schatten bis hier herunter. Es war nach wie vor kühl und regnerisch und Ughtred, der sich an die zeitlichen Gewohnheiten der Silberwölfe gewöhnt hatte, schlurfte durch das trübe Dämmerlicht des Nachmittags.
In den Gassen arbeiteten viele Quink. Wenn Ughtred an ihren Läden, Schmieden und Ständen vorüber kam, sahen sie auf und beobachteten ihn. Er war ihnen weit fremder, als ihre Herren, die Silberwölfe. Obwohl er von seiner Leibesgröße her, unter den Quink nicht im geringsten auffiel, hätte er sich kaum mehr von ihnen unterscheiden können. Quink gingen eher geduckt und neigten zur Buckelbildung. Ihre bleiche Haut hatte eine seltsam wässrige, graue oder bläuliche Färbung und wirkte immer irgendwie feucht. Ihre Augen lagen extrem tief in den schwarz umrandeten Höhlen und glichen winzigen weißen Murmeln. Und so war auch ihr Blick. Sah man einem Quink direkt in die Augen, hatte man das Gefühl man blicke durch Glas in sein Gehirn. Hinzu kamen die Fingerdorne der Fischwesen. Ihre Hände waren lang und wiesen kleine Schwimmhäute auf, aber hier vielen vor allem die bis zu zwanzig Zentimeter langen Dornen an ihren äußeren, kleinen Fingern auf. Diese urtümlichen natürlichen Waffen waren steif und konnten nicht mit Fingernägeln oder Klauen verglichen werden. Es waren eher kleine Hörner an den Händen.
Am Auffälligsten an einem Quink aber, war ganz zweifelsfrei sein Unterkiefer, denn von Natur aus hatte er praktisch keinen. Jeder in der Zivilisation lebende Quink bekam, sobald er das Erwachsenenstadium erreicht hatte, einen künstlichen Unterkiefer aus Metall eingepflanzt. Dieser medizinische Vorgang war schmerzhaft und konnte nur mit Hilfe von Betäubungsmitteln überstanden werden. Die Unterkiefer wurden von den Quink selbst geschmiedet und wiesen Zacken auf, die allerdings rein optischer Natur waren. Quink schlangen ihre Nahrung herunter und zerkleinerten sie daher vor dem Essen. Die gezackten Prothesen waren einfach Teil ihres Erscheinungsbildes. In der Wildnis lebende Quink verzichteten zum Teil auf diesen schmerzhaften Tant.
Ughtred sah als Nygh natürlich ganz anders aus. Er hatte, wenn auch nicht so lange und spitze, Ohren wie die Silberwölfe, ein ebenmäßiges Gesicht und ausdrucksstarke, grüne Augen. Am meisten schien aber sein Bart auf die neugierigen Quinkkinder zu wirken. Immer wieder kamen einige von ihnen herangelaufen und zupften an seinem Bart. Dann lachten sie.
Überhaupt schien es einen wesentlichen Unterschied zwischen den Kindern und den Erwachsenen zu geben. Bei den Nyghs waren Kinder und Erwachsene ja auch verschieden, aber es war irgendwie anders. Erwachsenen Nyghs fehlte es nicht an Lebensfreude. Hier in Quinkstadt schien es, als ginge diese jedem Individuum spätestens mit dem Erwachsensein verloren. Ältere Quink schlurften gebeugt dahin und schienen das Interesse an allem verloren zu haben. Sie machten einen mehr oder weniger gefühllosen Eindruck und Ughtred fragte sich, wie sie sich unter diesen Bedingungen überhaupt noch vermehren konnten. Er hatte sogar einmal gehört, dass die Silberwölfen das Trinkwasser der Quinkstadt mit einer Droge versetzten, welche die Libido der Bewohner verstärken sollte. Wenn dies wirklich so war, konnte Ughtred hier in den Straßen eher nichts davon bemerken.
Die Schmiede war nicht schwer zu finden. Zuerst wollte er jemanden fragen, aber dann sah er schon von einem Platz, auf dem Pilze verkauft wurden, eine dicke schwarze Rauchsäule im Westen aufsteigen und da wusste er, wo er hingehen musste.
Tatsächlich lag Amyithas Schmiede im Nordwesten, nahe des Stadtrandes zum Gebirge hin. Es handelt sich bei dem alten Haus um ein baufälliges Gebäude mit einem einem Hochofen in seinem Zentrum. Zur einen Seite war es offen; dies war die eigentliche Schmiede, und die andere Seite schien der überdachte Hauptraum zu sein. Die Steinwände waren windschief und das Fundament hatte längst mehrere Handbreit dem Sog des Sumpfbodens nachgegeben. Zu jeder Tages- und Nachtzeit stieg dicker, unheilvoll öliger Qualm aus dem ebenfalls schiefen Schornstein und überzog die Umgebung mit einer schmierigen Schicht des so entstehenden Fallouts.
Trotz dieser Eigenheit seines Gewerbes war der stille Schmied in Shishney und sogar über die Grenzen der Ansiedlung hinaus anerkannt. Kein anderer Handwerker in der Umgebung leistete auch nur annähernd ähnlich gute Arbeit wie Amyithas Darin und jeder Krieger, der etwas auf sich hielt, ließ seine Klingen ab und an in Quinkstadt richten und auf die korrekte Grundschärfe bringen.
Einen Moment lang erkannte Ughtred in dem Bild des alten Hauses mit seiner eigenartig böswilligen Ausstrahlung seine wahre Natur. Es war ein Sinnbild des smavarischen Umgangs mit ihrer Umgebung. Sie schufen und zerstörten und zerstörten, um zu schaffen und schufen erneut, um zu zerstören. Der Nygh schüttelte diese Gedanken ab und rieb sich dabei die Stirn. Wenn es die Nugai wirklich gab oder gegeben hatte, war ihr Nachlass für die Tiba Fe in Form ihrer Kinder alles andere als gut. Die Silberwölfe hatten nicht nur über ein Drittel dieser Welt in eine Wüste verwandelt, sie verpesteten darüber hinaus die Luft, versklavten ganze Völker und schufen Waffen und Geräte, über deren Gefährlichkeit der Nygh überhaupt nicht nachdenken wollte.
»Andaloy«, rief Ughtred auf Smavarisch und erhielt sofort eine Antwort aus dem Inneren der Schmiede. Ein älterer, sehr gut gebauter Quink kam aus dem Haus. Er trug eine Schmiedeschürze, einen flachen Helm und ein Kinn aus purem Silber. In einer seiner langen Hände hatte er einen schweren Schmiedehammer.
»In wessen Namen sprichst du Fremder?«, fragte der Schmiedegehilfe und legte den Hammer auf einen der großen Ambosse am Rande der glimmenden Esse.
Ughtred stellte sich vor und vergaß nicht, Kyons Haus zu erwähnen. Er hatte gelernt, dass es immer einen Unterschied machte, ob man alleine etwas wollte, oder im Namen eines Silberwolfes sprach. Außerdem wollte er vermeiden, später nachgesagt zu bekommen, Kyons Abstammung absichtlich verheimlicht zu haben.
Der Quink stellte sich als Seklaid, Meister Amyithas Darins Aushilfe vor. Auf die Frage hin, ob der Meister zu sprechen sei, hob er die Schultern. Es war nicht üblich, dass Amyithas mit Bediensteten sprach, im Grunde sprach er so gut wie mit niemandem, aber mit einem Nygh, würde er vielleicht ja eine Ausnahme machen. Ughtred war zumal der erste Nygh, den Seklaid seit seines Lebens zu Gesicht bekommen hatte, was die Wahrscheinlichkeit aus seiner Sicht verstärkte. Er wandte sich der Tür zu, aus der er gekommen war und verschwand im Haus, nur um eine Sekunde später wieder aufzutauchen und den Besucher hereinzuwinken.
Das Innere des Steinhauses sah noch unordentlicher aus als die Schmiede draußen. Überall standen Tische mit Werkzeugen, Halbzeugen und fertigen Produkten herum, aber am meisten erstaunte Ughtred die Decke des Raumes. Hier hingen hunderte der wundervollsten Schmiedearbeiten, die er in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Schwerter, Äxte, Speere und alle Arten von Kriegszeug, sowie Rüstungen, Helme und Schilde hingen hier an Drahthaken zwischen dem Gebälk und bei ihrer schieren Menge, hätten sie auch an keinem anderen Ort in diesem Haus Platz gefunden. Er staunte nicht schlecht über die offensichtliche Qualität der Erzeugnisse des Schmiedes.
Im hinteren Bereich des Zimmers, gab es einen etwas weniger zugestellten Bereich. Hier befanden sich ein einfaches Bett, eine Küche und ein Esstisch mit einem hochlehnigen Stuhl, von dem gerade Amyithas aufstand.
Der Mann war für einen Silberwolf recht groß, aber erschreckend schmal. Sein Gesicht hatte eine graue Färbung angenommen und sein dunkles Haar hing ihm fettig und dünn über die Hakennase. Trübe gelbe Augen glommen in der Dunkelheit des Raumes. Dann sah Ughtred den Arm des Schmiedes und auch sein Bein. Beide Gliedmaßen bestanden offensichtlich aus purem Gold und mussten unglaublich schwer sein. Der Mann humpelte, doch dies schien keineswegs am Gewicht des Beines zu liegen. Im Gegenteil, das künstliche Bein schien sich geschmeidiger als das andere zu bewegen. Dasselbe schien für den Arm zu gelten. Das Ding sah eher aus wie ein Teil einer ehrfurchtgebietenden Rüstung und passte nicht zum schmalen Körperbau des Schmiedes, aber in seinen Bewegungsabläufen wirkte er kräftig und elegant.
Als Amyithas vor seinem Gast stand, sagte er: »Nygh?«
Ughtred bestätigte und stellte sich vor. Dann brachte er seine Anliegen vor und versuchte, dabei so geschäftsmäßig wie eben möglich zu klingen. Er wollte eine bessere Waffe. Auf seinen Abenteuern hatte er schmerzlich feststellen müssen, wie wirkungsvoll Tals Schwert und die Pfeile des Barden im Vergleich zu seiner Axt gewesen waren. Nyghklingen waren offenbar schön geschmiedet, aber mit der Gefährlichkeit der kisadmurischen Waffen konnten sie nicht mithalten. Der Schmied sah sich die Klinge aus Korezuul an und nickte. Dann erklärte er, dass er die vorhandene Waffe mit einer Legierung veredeln könne und nannte seinen Preis, der dem Nygh eher niedrig erschien. Ughtred willigte ohne weiter zu überlegen ein und brachte das Bündel mit dem zerbrochenen Zahnrad zum Vorschein.
Amyithas sog hörbar die Luft zwischen seinen dünnen Lippen hindurch. Er streckte die gesunde Hand nach Ughtred aus. Seine Haut wirkte wie altes Pergament. Vorsichtig, als könne er sich verbrennen, berührte er das Zahnrad und murmelte kaum hörbar: »Wygs Rad.«
Ughtred sah ihn an und der Schmied richtete sich auf.
»Eine alte Geschichte. Vor langer Zeit gab es einen Angriff auf eine Festung hier in Kisadmur. Der damalige Herrscher der Anlage wollte seine Familie retten und schickte sie in den Kellerfried. Danach zerstörte er den Mechanismus, der die Tore verschloss und machte ihn so unbrauchbar. Der Zugang war gegen die Angreifer geschützt. Im Verlaufe der Kämpfe kam aber der Schmied des Herrschers ums Leben und als alles vorüber war, konnte das Tor nicht mehr geöffnet werden. Dies hier ist das Zahnrad, das damals zerbrochen wurde. Nur mit ihm war es möglich in die Keller unter Raugnith, so der Name der Festung, zu gelangen.«
Er machte eine Pause und nahm eines der kleinen Bruchstücke aus dem Tuch und hielt es vor seine kränklichen Augen.
»Elamit«, murmelte er. »Dieses Material hätte ich auch verwendet.«
Er gab es zurück und sah Ughtred erwartungsvoll an.
»Es muss repariert werden. Für den Herrn Kyon Yˋshandragor.«
Der Schmied legte den Kopf schräg, als wäre er ein Geier, der einen leckeren Happen Aas entdeckt hatte.
»Yˋshandragor«, machte er und schüttelte den Kopf. »Kann nicht repariert werden.«
»Herr Schmied, wir kommen als Bittsteller. Kein anderer kann das Zahnrad heilen. Ich würde die Reparatur bezahlen.«
Amyithas schüttelte bestimmt den Kopf und sagte mit hochmütiger Stimme: »Ich habe zu tun. Leider kann ich das Zahnrad nicht in Auftrag nehmen. Geh jetzt Nygh. Man wird dich informieren, wenn deine Waffe fertig ist.«
Da Ughtred den alten Silberwolf nicht noch mehr verärgern wollte, verneigte er sich höflich und ging.
Als der Nygh den beiden anderen von seinem Misserfolg erzählt hatte, winkte Kyon ab und machte wüste Bemerkungen über die Erfolgschancen dieser Unternehmung. Er verhielt sich ablehnend und faselte immer wieder von der großen Reise nach Rivenest. Tal ärgerte sich maßlos. Um sich abzulenken und nicht tatenlos herumzusitzen, stand sie ebenfalls auf und sagte in freudloser Gleichmut: »Ich gehe hinauf in das Zimmer eurer Mutter. Ich will versuchen mit ihr reden. Am Ende hat sie eine eigene Meinung zu der ganzen Sache. Soll ja vorkommen.«
Kyon entließ sie mit einer lässigen Handbewegung, als brauche Tal seine Erlaubnis, nach oben zu gehen. Sie streckte ihm die Zunge heraus und verschwand.
Ughtred, der die ganze Zeit keinen Ton mehr gesagt hatte, stand ebenfalls auf und ging in den Hof. Er musste den Kopf frei bekommen und dachte über den Bau einer eigenen kleinen Werkstatt in diesem Bereich nach. Alles war besser als die sinnlosen Streitereien der beiden Kinder.
In Nyni`scie dan Y`shandragor Kammer war es kühl wie immer und draußen, vor dem stumpfen Fenster erzeugte der andauernde Regen feine Bindfäden als Kulisse. Die Ayn saß in ihrem Schaukelstuhl und neben ihr, am Boden, hockte die alte Quink, die der Dienerschaft neu beigetreten war. Sie zupfte an einem Stück Stoff oder Leder herum und summte eine alte, smavarische Weise.
Als Tal das Zimmer betrat, machte sie eine Handbewegung, welche die Alte dazu bewegte, schwerfällig aufzustehen und das Zimmer zu verlassen. Dann setzte sich die junge Hexe auf das kalte Fensterbrett und griff liebevoll nach der Hand der älteren Frau. Nyni war zweifellos eine Schöne Frau gewesen. Ihre Züge waren ebenmäßig, die Nase schmal und ein wenig gebogen und ihre Augen hatten diese typische Form, die sie als Kisadmuri auswies. Tal erkannte Kyon in diesem von Gram und Schmerz gealterten Gesicht. Wenige Jahreszeiten hatten gereicht, ihr die Blüte, die Schönheit und die Unsterblichkeit zu nehmen.
»Erzählt mir von einst«, sagte Tal leise und blickte auf das trübe Wetter, jenseits der dicken Glasscheibe.
Sie streichelte Nynis Hand und spürte ihre leise reaktion. Sie war wie eine Motte, der das Licht fehlte, um das sie kreisen konnte. Die Hexe konzentrierte sich und berührte die feinen Fäden der Membran in dem Zimmer, brachte sie zum schwingen und leuchten. Sie knüpfte keine spezielle Form, wie sie es tun würde um eine ihrer mächtigen Disziplinen real werden zu lassen, sondern spielte nur und vertrieb sich damit selbst die Zeit und die Sorgen. Northrian kam ihr in den Sinn. Wie musste es sein, in einem Shimwas? Sie hatte gelernt, der Shimwas speichere Geist und Seele, doch im Gegensatz zu anderen Geistspeichern versetzt er den wachen Anteil des Geistes in eine Art Trance und bedient sich seiner Reflexe. Jede Eigenständigkeit, jede Hoffnung, Erinnerung und jeder Weg nach Draußen geriet in Vergessenheit. Sie blickte auf den kalten Stein an ihrem Handgelenk und fragte sich, ob da noch etwas von ihrem Bruder war. Was würden ihre Eltern sagen?
Plötzlich erstreckte sich um sie herum eine Wiese am Rande eines Waldes. Sie wusste genau, dass es sich um eine Vision handelte, denn die Optik der Landschaft fühlte sich falsch an. Sie wirkte wie mit einem Pinsel gemalt; einem alten, viel zu breiten und harten Pinsel. Sie war in einem Gemälde.
Sich umblickend versuchte sie zu begreifen was man ihr sagen wollte. Da erschien ein Reh. Es stand einige Schritte von Tal entfernt und sah sie mit traurigen Augen an.
»Nyni?«, sagte die Hexe und hörte ihre Stimme von weiter Ferne zu der Szene herüber wehen.
Das Reh sagte: »Sie sollten es erfahren.«
Tal nickte. Die Ayn hatte recht. Doch ehe sie etwas erwidern konnte, sagte das Reh: »Euer Vater ist ein guter Mann. Er hat verdient, dass ihr über euren Schatten springt. Jeder sollte sich darin üben, wirklich jeder und jede.«
Erneut nickte Tal und spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Dann hauchte sie: »Und ihr?«
Da löste sich das Bild auf und die Ayn starrte wieder aus dem Fenster in ihre Regenwelt. Der Bann war gebrochen, aber Tal fühlte sich seltsam bestärkt. Sie stand auf, küsste die alte Smavari auf die Stirn und ging.
Sie versuchte es auf eigene Faust. Es wäre doch gelacht, wenn sie den alten Schmied nicht um den Finger wickeln konnte.
Ihr Weg führte Tal, am Zirkelhaus vorbei, zur Brücke nach Quinkstadt. Der Frühling war trotz der fortgeschrittenen Tage launig. Es regnete feine Tröpfchen und der Nordwind brachte kalte Luft aus dem Gebirge herab.
Kaum hatte sie das Tor an der Grenze der Oberstadt erreicht, schrie über ihr eine zottige Krähe. Das Tier sah ein wenig fremd aus, vielleicht eine hier in Kisadmur eher seltene Art. Es hatte dunkles Gefieder und war für eine Krähe eher klein.
»Krääääähhhhhh, kräääääääh, kiiiik, kräääääääh«, sagte die Krähe und Tal blieb stehen, schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Sprache der Tiere. Leicht wob sie die Fäden der Anderwelt zu dem Muster ihrer Wahl. Dann öffnete sie die Augen wieder und sah in den Himmel hinauf.
»Sag das noch einmal!«, befahl sie dem Vogel.
›Kräh-gebt iiihr mirrrrr was Futäär, rett ich euch einmarrrl«, schnarrte das struppige Wesen.
»Klingt nach Erpressung«, erwiderte die Hexe, ging aber auf die Brücke zu, wo viele Quink ihren Nahrungsvorrat durch Angeln ergänzten. Als sie sich mit spitzen Fingern einen kleinen Fisch aus einem der Eimer nahm, sahen die Leute ihr zwar nach, sagten aber nichts. Kein Quink würde sich über solch eine Tat seitens einer Silberwolfhexe beschweren. Man wollte schließlich den nächsten Tag erleben.
Tal sah zu der Krähe auf, die nun auf einen der Brückenpfosten geflattert war. »Da, du freches Biest«, lachte sie und warf ihr den Fisch hin.
Das Tier fraß und Tal ging nach Quinkstadt.
Sie besuchte ihre kleine Pension und unterhielt sich einige Zeit mit Huinkis, ihrer alten Wirtin, bei bitterem Faltersud. Dann suchte sie an den Pollern nach dem Eisvogel, fand ihn aber nicht. Also ging sie weiter, passierte den Pilzmarkt und fand, wie Ughtred vor ihr, am westlichen Horizont die Rauchsäule der Schmiede. Der Himmel hatte eine schmutzige Farbe angenommen und je näher sie der Schmiede kam, desto dicker wurde der schmierige Belag auf den Häusern.
Seklaid, der Gehilfe des Schmiedes, empfing sie freundlich. Er konnte ja nicht ahnen, welchen Ärger sie bedeutete. Er führte sie ins Innere des Gebäudes und stellte sie dem Meister vor.
»Ven Arudsel, ein mir nur zu gut bekannter Name«, sagte Amyithas Darin und deutete auf den Tisch, wo er gerade Faltersud bereitet hatte.
Tal setzte sich.
»Ihr kennt meine Familie?«
»Das meine ich wohl. Eurem Vater habe ich das hier zu verdanken.«
Er deutete auf seinen goldenen kybernetischen Arm.
Dann sagte er: »Er warf ab, obwohl wir noch unten waren. Alles für das Reich, auf Befehl des Mirthas, ihn zu stärken durch Ruhm und Dinge. Wir hatten vergessen, dass es nur Dinge waren, nach denen wir strebten.«
»Zürnt ihr ihm?«
»Wem? Eurem Vater? Nein.«
Der Schmied schenkte Sud nach und wischte sich dann mit einem schmutzigen Lappen über den dünnen Mund. Schließlich sagte er: »Euer Vater hat eine Entscheidung getroffen. Einmal hat er Befehle befolgt und dann hat er sich gegen sie gewandt. Beides waren mutige Taten. Ich zürne ihm nicht.«
Tal starrte in ihren Becher. Wenn sie der Meinung war, dass Kyon über seinen Schatten springen musste, würde sie dies früher oder später auch von sich selbst erwarten.
Freimütig erzählte sie dem Schmied von ihrer Unternehmung, der Schwarzen Perle und dem Zahnrad.
Er lehnte ab und riet ihr, die Sache zu vergessen.
Sie verabschiedete sich und erklärte nicht aufzugeben.
Doch als sie am nächsten Tag wieder nach Quinkstadt kam, war die Schmiede geschlossen. Der Quink arbeitete und behauptete, sein Meister sei nicht zugegen. Tal rief nach ihm, aber der Quink hatte den Auftrag, niemanden einzulassen, und sie wollte ihm nicht schaden. Dennoch kam es beinahe zum Streit und der Quink fürchtete mehr als einmal um sein Leben.
Ebenso verlief es am Tag darauf und auch am nächsten. Der Schmied wollte sie nicht empfangen und sie befürchtete, dies war sein gutes Recht. Es verärgerte sie natürlich, aber was sollte sie machen? Sie konnte schlecht, Raguels Speer voran, in die Schmiede stürmen und den alten Kriegshelden zwingen. Wenn Smavari sich weigerten etwas zu tun, war es immer schwer sie umzustimmen. Gewalt, war zweifelsfrei die letzte Lösung in solchen Fällen.
Als sie schließlich am vierten Tag zurück im Haus war, erzählte sie Ughtred und Kyon von ihren Besuchen bei der Schmiede und erntete Hohn vom Herrn des Hauses. Er hatte es ja gleich gesagt und nein, das würde niemals passieren, dass der alte Krüppel ihnen half.
Tal versuchte, ihn umzustimmen. Sie sagte, er solle es selbst versuchen, schließlich hatte sein Vater dem Schmied schlimmes Unrecht angetan. Kyon räumte sogar ein, dass er ihre Meinung teilte. Er empfand die Taten seines Vaters nicht gerade als ehrenwert oder heldenhaft. Einen Mann zu diskreditieren, der im Krieg einen Arm und ein Bein verloren hatte, war nicht, worauf man hätte stolz sein müssen. Trotzdem empfand er die Sache als nicht lohnenswert.
Doch das Gespräch wurde immer hitziger und irgendwann erlag Kyon dem Stakkato den verbalen Angriffen.
Er sagte: »Also gut, einen Versuch. Ich gehe zu dem Schmied aber dafür müsst ihr mir etwas versprechen!«
Die Hexe sah ihn mit wütenden Blicken an. »Was?«, blaffte sie.
»Ihr versprecht mir, mich nie wieder gegen meinen Willen oder ohne mein Wissen zu vergiften! Dann mache ich es.«
Sie überlegte nicht einmal als sie antwortete: »Ja, fa dri mon!«
Diese Formel war heilig. Eine Abmachung, die so besiegelt worden war, konnte nicht gebrochen werden und Kyon sah der Hexe an, dass sie ihre Entscheidung im selben Moment, da sie die Worte ausgesprochen hatte, auch schon wieder bereute. Besonders seltsam daran war, dass er selbst den Schwur ebenfalls nicht ganz oder gar positiv einstufte. Warum? Schließlich hatte sie versprochen, ihn nicht zu vergiften? Er war verwirrt, nahm die Sache aber als Sieg. Der Schmied würde ihn sowieso wegschicken und er würde zukünftig vor der Hexe sicher sein.
Seltsam unbehaglich erhob er sich.
»Was macht ihr?«, fragte Tal und Kyon antwortete mit einem gezwungenen Lächeln: »Ich gehe nach Quinkstadt. Kann ich auch jetzt gleich machen. Wird eh nichts bringen.«
Die junge Silberwölfin sah ihm hinterher. Sie fühlte sich nicht gut. Das war falsch gelaufen. Schwüre dieser Art waren einfach nicht in Ordnung. Sie musste an ihrer Disziplin arbeiten. Wenn Akkatha von dem Schwur hörte, würde es Schimpfe hageln.
Kyon war gut gelaunt. Er stellte sich die Ankunft bei Angaworth vor, sah sich über die große Brücke vor dem höchsten Tor der Welt gehen und die Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt bewundern. Nach wie vor war das Wetter trüb und ein Frösteln vertrieb die aufgesetzten, guten Gedanken. Er wusste wohl, wie schwer es war, eine größere Menge an Ressourcen anzuhäufen. Seit dem Tod seines Vaters hatte er einfach nur vor sich hin gelebt und das Vermögen der Familie war ihm aus den Händen geglitten. Das Haus Yˋshandragor hatte einst über eine große Anzahl von Sklaven verfügt. Es war nie eines der reichsten Häuser der Oberstadt gewesen, denn sein Vater war auch nicht unbedingt eine Krämerseele gewesen, aber dafür hatte seine Mutter mit harter Hand für den Erhalt eines gewissen Standards gesorgt. Nach ihrer Abwendung von der realen Welt jedoch, hatte Kyon sich gehen lassen. Jegliche Warnung seitens der Dienerschaft hatte er ignoriert und allzu eindringliche Einwürfe mit harter Hand zur Seite gewischt. So war das Haus in seinem Wert tiefer und tiefer gesunken, bis er im Grunde nichts mehr gehabt hatte. Seither lebte er von der Hand in den Mund, was ihm allerdings dank seines guten Aussehens und seiner Künste erstaunlich gut gelang. Dennoch war er arm.
Die Kosten für eine Überseereise waren mehr als horrend. Mit den Ressourcen der nun erlebten Abenteuer hatte er die gröbsten Arbeiten am Haus erledigen und neue Quink anwerben lassen. Sollte dies umsonst gewesen sein? Warum hatte sein Vater diesen verdammten Brief nicht zu Lebzeiten verschicken können? Warum hatte er sich unbedingt von einem Drachen fressen lassen müssen? Er fragte sich, ob dies auch sein Weg sein würde. War dies eine Art Karma seines Daseins?
Missmutig schlurfte er durch die schmutzigen Gassen von Quinkstadt. Was für ein Ort. Er verabscheute den Fischgestank, die allgegenwärtigen Stände und die vielen neugierigen Kinderaugen. Diese winzigen Wesen erinnerten ihn an Ratten, die nur auf seinen Tod warteten, um ihm dann das Fleisch von den Knochen zu nagen. War er dem Sumpf von Hyn doch nicht entkommen?
Er musste länger nach der Schmiede als seine beiden Vorgänger suchen. Quinkstadt war ihm fremd und er wäre nie auf die Idee gekommen, einen ihrer schmutzigen Bewohner nach dem Weg zu fragen. Angewidert wich er immer wieder Wasserlöchern auf dem Weg aus. Es gab einen Grund, warum die Oberstadt ihren Namen trug. Sie lag mehrere Meter höher als Quinkstadt und galt daher als trocken. Hier grenzte irgendwie alles an den Plagensumpf, stank und war nass.
Es dauerte fast eine Stunde, bis Kyon endlich die Schmiede gefunden hatte. Der Quink ließ ihn allerdings direkt ein. Er hatte nach Tals Erzählung ihres Misserfolgs fast damit gerechnet, unverrichteter Dinge nach Hause zurückkehren zu müssen. Jetzt war er nicht sicher, ob ihm dies nicht sogar lieber gewesen wäre.
Der alte Schmied stand im Chaos seiner Höhle und starrte seinen jungen Gast aus gelben, toten Augen an. Kyon überlegte einen Moment und stellte sich dann höflich vor.
Wenn man in Kisadmur jemanden besuchte, war es nicht nötig, dass dieser sich ebenfalls vorstellte. Amyithas Darin verzichtete also auf Höflichkeitsfloskeln und fragte direkt, um was es ginge. Kyon beschrieb sein Anliegen, wie es vorher seine Mitstreiter getan hatten, und der Schmied lehnte bestimmt ab.
Kyon musterte den alten Mann. Jetzt kam ihm die Weigerung, ihm zu helfen, noch kleinlicher vor als vorher. Der Schmied schien ihm nicht einmal zu zürnen. Warum also konnte der Bastard nicht einfach das elende Stück Metall flicken und fertig? Er überlegte, was er noch sagen könnte und brachte vor, dass ihm wohl bewusst sei, dass der Schmied durch die Handlungen seines Vaters Schaden genommen hätte und dass er, Kyon, als Sohn dieses Mannes sich im Namen seines Hauses entschuldige. Der Schmied nahm die Entschuldigung an und erklärte, dass er dennoch nichts für Kyon tun könne.
Das war dann genug. Kyon ging.
Ein Tag war vergangen. Tal, Kyon und Ughtred saßen an dem runden Tisch im Soiree-Salon des Hauses und wie damals, als ihre Reise begann, lag ein Artefakt in der Mitte der alten Holzplatte. Beim letzten Mal glomm hier der Datenkristall des verstorbenen Lonkaiyth dan Y`shandragor, diesmal waren es die Bruchstücke eines uralten Zahnrades. Ughtred schielte zu Tal hinüber, aber die Hexe starrte auf das Artefakt, als wäre es eine Schlange, kurz vor dem Biss. Vielleicht würde sie es aber auch Kraft ihrer Gedanken reparieren können. Wer konnte schon sagen, zu was die Silberwölfin fähig waren?
Doch natürlich geschah nichts dergleichen.
Ughtred holte Luft und wollte einen erneuten Versuch starten, Kyon dazu zu bewegen, endlich weiter in den Schmied zu dringen. Der Plan des Barden, nach Oriad zu reisen, war absurd. Er hatte überschlagen, dass es mehrere Jahreszeiten dauern würde, genügend Ressourcen zu erwirtschaften, um die Reise zu finanzieren. Über die Gefahren und die Dauer einer solchen Maßnahme jedoch konnte er nicht einmal mutmaßen. Hinzu kam, dass er nicht die geringste Notwendigkeit dazu sah. Er war sich sicher, dass es möglich war, den Schmied zu überreden. Natürlich würde es ihm nicht persönlich gelingen. Aber Kyon hatte alle Mittel dazu in der Hand. Leider war der Narr zu stur, um auf einen dummen kleinen Nygh zu hören.
Trotzdem, musste etwas passieren, also sagte er: »Herr Kyon, könnten wir denn nicht …«
Doch in diesem Moment öffnete sich die Tür, welche auf die Hauptkellertreppe führte und der Raum wurde von Dunkelheit geflutet. Der Effekt sah aus, als krieche eine schwarze Masse in das Zimmer und deckte jeden Gegenstand und jede Person langsam zu. Das Licht erlosch und was blieb waren Schatten und Umrisse in Grau in Grau.
Alle Personen im Raum konnten gut genug im Dunkeln sehen und sie waren alle drei an Situationen wie diese gewohnt, also wandten sie sich der Tür zu und blickten der Herkunft der Finsternis entgegen, wo sich gerade eine kleine Gestalt manifestierte.
Gebeugt durch ein schweres Gewicht in seinen Händen, trat Splinternackt, das einstige Faktotum des Herrn Lonkaiyth in den Salon. Das gerade einmal siebzig Zentimeter große Maskenmännlein trug einen groben, ausgefransten Hausmantel aus dunkelgrauem Stoff. Seine Hände waren mit fleckigen Bandagen umhüllt. Doch noch auffälliger als dieses Auftreten der Eltkreatur war die seltsame Maske die sie trug. Es handelte sich um ein unförmiges Ding mit drei kreisrunden Öffnungen, welche mit trübem Glas gefüllt waren. Am unteren Ende der Maske hing eine Art Trichter, der nach einer Seite abstand. Das Ding gab regelmäßige, keuchende und rasselnde Laute von sich. Ughtred kannte Atemschutzmasken aus den Minen seiner Heimat, doch er verstand nicht, warum das Wesen hier im Haus eine trug. Außerdem machten ihn die drei asymmetrischen Augen nervös. Er hatte von diesen Wesen gehört. Angeblich wurden sie von den Silberwölfen als Leibdiener erschaffen, doch dieses Exemplar war einst der Diener von Kyons Vater und er konnte nicht zuordnen, wie es nun zum Sohn seines einstigen Herrn stand.
Verstohlen wanderte seine Hand zum Griff seiner Axt, die neben ihm an den Tisch gelehnt stand.
Splinternackt trat schwer atmend näher. Er trug einen ganz offensichtlich schweren Gegenstand aus schwarz lackiertem Metall vor sich her. Das Ding war größer als der Kopf eines Midyar und mehr oder weniger kastenförmig. Auf einer Seite war es abgeflacht und wies Tasten mit smavarischen Symbolen darauf auf. Es mussten wenigstens einhundert oder mehr dieser winzigen Dinger sein, aber das war kein Wunder, denn die smavarische Scherbenschrift setzte sich schließlich aus über einhundertundacht Buchstaben zusammen.
Über den Tasten befanden sich eine Öffnung und mehrere dünne Metallhebel. Der Zweck des Dings war Ughtred unbekannt. Er konnte es einfach nicht zuordnen. Doch als er Kyon ansah, konnte er sehen, dass dieser durchaus wusste, um was es sich dabei handelte.
Das Eltwesen kam zum Tisch und die Finsternis ließ nach. Es war, als ob es den Zauber nicht länger aufrechterhalten konnte. Dann hob es das Metallding mit aller Kraft auf die Höhe der Tischkante und schob es schwerfällig über das Holz.
Schnell griff Splinternackt in seinen Umhang und beförderte einen matt glänzenden Kristall hervor. Er legte ihn neben das Tastending und verneigte sich vor den Herrschaften. Dann wandte er sich ab und schlurfte zu der Kellertür zurück.
Fast eine Minute herrschte absolute Ruhe im Salon. Ughtred überlegt, ob er seinen Satz von vorhin beenden sollte, aber dann kam ihm Kyon zuvor. Der Barde rieb sich wie sonst Ughtred über die Stirn, hob den Kristall auf und sagte: »Das ist die Schreibmaschine meines Vaters. Eine alte Unterwald aus einer Manufaktur in Angaworth. Er hat mich früher darauf herumtippen lassen.«
Langsam legte er den Kristall in die Öffnung und ein seichtes Glimmen breitete sich in dem grauen Glas aus. Er schob einen der Hebel zur Seite und der Kristall rutschte etwas nach oben und leuchtete stärker. Dann schlug der Barde auf eine der Tasten und ein hauchdünner Arm schnellte aus der Maschine nach oben, berührte den Kristall, hinterließ ein Leuchten und verschwand wieder im Gehäuse. Kyons Finger donnerten mit einer seltsamen Wut auf weitere der Tasten und mit jedem Anschlag hämmerten die dünnen Ärmchen auf den Kristall ein und hinterließen winzige Wölkchen aus glimmenden Nadelspitzen.
Tal stand auf und stellte sich hinter Kyon. Sie war fasziniert von dem Gerät. Sie kannte Schreibmaschinen, hatte aber noch nie eine gesehen. Meist wurden Kristalle besprochen oder gar bedacht. Nichtneurologische Eingabemethoden waren eher verpönt, da sie alles andere als fälschungssicher waren. Man konnte ja schreiben was man wollte und am Ende eine Unterschrift darunter setzen. Im Falle gesprochener oder gedachter Einträge war dies nicht möglich.
Sie laß was Kyon tippte:
Geehrter Myrlan Amyithas Darin
Ich, Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor, Herr des Hauses Y`shandragor, erlaube mir, im Namen meiner mitunterzeichnenden Mutter Ayn Nyni`scie dan Y`shandragor, euch diesen Brief zu schreiben.
In Gedenken eures Standes und eurer unvergleichbaren Fähigkeiten und allem voran eurer einstigen Freundschaft zu meiner Mutter, sehe ich einen baldigen Besuch eurerseits in meinem Hause als unerlässlich. Die bevorstehende Soiree ist für morgen Abend angedacht. Eure Anwesenheit ist obligatorisch und eine Absage unvorstellbar.
Ich blicke diesem Treffen mit großer Freude entgegen und verbleibe großmütig trotz meines Titels als euer Freund.
Gezeichnet
K`KdY`s & N`sdY`s
Am frühen Nachmittag, Tag, Datum
Shishney, Kisadmur
Sie nickte. Das Schreiben war förmlich und standesgemäß. Jetzt musste nur noch Nynis Unterschrift gefälscht werden, aber dies traute sie sich zu. Sie schob Kyon mit ihrem Hintern von seinem Stuhl und setzte sich. Mit den Löschtasten übertippte sie die Unterschrift der Ayn und tippte sie dann in ihrem eigenen Anschlag neu. Tatsächlich sahen die Glyphen im Kristall danach anders aus und hatten eine feminine Note. Blieb zu hoffen, dass Meister Amyithas sich nach all der Zeit nicht so genau an die Handschrift seiner alten Liebe erinnerte, aber einen Versuch war es allemal wert.
Sie sah Kyon an und sagte: »Warum nicht gleich so?«
»Kam mir sinnlos vor. Er wird ohnehin ablehnen. Und dann? Soll ich ihn zu einem Duell fordern?«
Tal lächelte säuerlich und erwiderte: »Fickt euch oh Sliyn.«
Dann schob sie mit einem der Hebel den Kristall aus der Maschine und hob ihn Ughtred hin.
»Hier oh Bote der Ayn von Yˋshandragor, eile und überbringe dem Meisterschmied diese dringende Depeche!«
Der Nygh rollte mit den Augen, verzog das Gesicht und nahm den Kristall entgegen. Dann hob er seine Axt vom Boden auf und griff nach seiner Jacke.
Amyithas Darin überflog das Schreiben auf dem trüben Kristall und schüttelte den Kopf. Ughtred stand vor ihm und wartete geduldig die Antwort des Mannes ab. Eine ganze Weile herrschte Stille. Dann endlich holte Amyithas Luft und sagte leise: »Morgen Abend bin ich verhindert und bekomme Besuch.«
Ughtred sah ihn an, als hätte er sich gerade vor seinen Augen in einen Eulenmann verwandelt. Er rieb sich die Stirn und sagte so gelassen wie möglich: »Aber Herr Schmied, das scheint mir eine schlechte Antwort. Wie könnt ihr gleichzeitig unpässlich sein und Besuch bekommen?«
Der Alte überlegte einen Moment und sagte dann: »Ja, ja, dann eben nur unpässlich. Ich schreibe es ihm.«
»Gebt ihr ein anderes Datum an, Herr Schmied?«, wollte Ughtred wissen.
»Äh, ja, ich weiß nicht, vielleicht in ein paar Tagen, vielleicht.«
Er nahm den Kristall zwischen den Zeigefinger und den sehr spitzen Daumen seiner künstlichen Hand und Ughtred wunderte sich, wie leicht ihm dieses Kunststück gelang. Schließlich war der Kristall glatt und die Finger liefen konisch zu und hatten wahrscheinlich kein Gefühl.
Mit zusammengekniffenen Augen starrte Amyithas in das rauchige Chaos des Datenträgers und konzentrierte sich. Ughtred, der zwar wusste, dass man Kristalle kraft der Gedanken beschreiben konnte, war dennoch fasziniert. Er war kein Wissenswahrer und hatte keine Vorstellung davon, wie diese Kristalle letzten Endes funktionierten.
Die Antwort musste kurz gewesen sein, denn der Schmied reichte ihm nach wenigen Augenblicken die Depeche zurück und sagte: »So Lakai, nun bring das deinem Herrn zurück.«
Ughtred rieb sich die Stirn und schluckte seinen Ärger hinunter. Doch dann sagte er: »Der Herr Sliyn ist nicht mein Herr und ich bin nicht sein Diener; so wenig wie der eure, Meisterschmied.«
»Du solltest wohl wissen, Nygh, dass die Tiba Fe uns Smavari gehört, so wie jede Welt im Reiche MirthasˋEysmi. Alle Völker unterliegen der Gnade des Goldes. Jedes Wesen dient der Glorie meiner Spezies!«
Ughtred sagte: »Ich gehe nun besser, da unsere Meinungsverschiedenheit sonst unfreundliche Ausmaßen annehmen könnte.« Und ehe der Andere noch etwas hinzufügen konnte, hatte der Nygh die Schmiede auch schon verlassen.
Draußen wartete der Gehilfe. Er hatte zweifelsfrei an der Tür gelauscht und machte ein verkniffenes Gesicht. Ughtred überlegte, ob der Quink jetzt unter seinen Aussagen leiden musste, aber dann wischte er den Gedanken beiseite. War nicht jeder seines Glückes Schmied? Die Quink ließen sich alles gefallen. Sollten sie für sich selbst einstehen.
Er lief zum Hause seiner Herren, damit diese nicht zu lange warten mussten und ärgerte sich über sich und die ganze Welt.
»Unpässlich, wie lächerlich«, schnaubte Kyon, aber Tal beruhigte ihn sofort, indem sie sagte: »Das ist doch nur Zierde, Herr Sliyn. Er will ein wenig gebeten werden, das ist alles.«
»Ist er ein Weib?«
»Ein Weib tritt euch gleich, der Herr.«
Kyon sah sie an und betrachtete dann den Kristall, der zwischen ihnen auf dem Tisch lag.
Ughtred sagte: »Hat er denn angemerkt, dass er um einen neuen Termin bittet? Er sagte so etwas.«
»Gut, gut, dann in drei Nächten.« Kyon hob den Kristall auf und legte ihn wie beim ersten Mal in die Schreibmaschine aber Tal sagte: »Nein, lasst mich, ich will es probieren.«
Sie tippte den Text und lächelte dabei wie ein kleines Mädchen. Dann entnahm sie den Edelstein der Fassung und hielt ihn dem Nygh hin. Sie wollte etwas sagen, aber der kleine Mann winkte ab und ging.
Als der Schmied den Kristall erneut las, kniff er sich mit den biologischen Fingern in die Nasenwurzel. Dann wollte er wissen: »Wer kommt denn noch?«
Ughtred überlegte. Einen Moment dachte er, der Schmied wolle möglichst viel Besuch bei dem Treffen, um in der Menge unterzugehen oder um gesehen zu werden. Er verstand die Silberwölfe nicht und hatte Schwierigkeiten, ihre Eigenheiten betreffend Entscheidungen zu treffen. Aber dann sagte er wahrheitsgemäß: »Ich denke, die Einladung betrifft nur einen ganz kleinen Kreis. Euch und die Mitglieder des Hauses Yˋshandragor. Sonst sollte niemand eingeladen sein.«
Der Alte blickte auf ihn herab. Er schien zu überlegen und nickte dann müde. Wie beim ersten Mal hob er den Edelstein zwischen seine Finger und konzentrierte sich.
»Er kommt«, sagte Ughtred mit einer gewissen Begeisterung in der Stimme. Er war so froh, dass die Unternehmung wieder in Fahrt zu kommen schien. Zwar hatte er die müßigen Tage genutzt, im Innenhof des Hauses eine kleine Werkstatt für sich einzurichten, aber er hatte dennoch genug von Shishney und seinen Bewohnern. Jetzt wo er in seiner eigenen Unterkunft wirkten und schlafen konnte, ging es ihm besser, aber es musste etwas passieren. Er hatte Sehnsucht nach seinen eigenen Leuten.
Kürzlich war er mit Kyon in einem dieser Lebehäuser gewesen, und eine der Damen hatte ihm ihre wirklich beachtliche Oberweite ins Gesicht gedrückt. Er hatte höflich abgelehnt und Kyon hatte ihn gefragt warum. Daraufhin erläuterte Ughtred dem Barden, dass er sich nur für Frauen seines Volkes erwärmen könne. Kyon hatte ihn kurzerhand als Rassisten bezeichnet.
War es das? Er hatte Heimweh, nicht mehr und nicht weniger.
Kyon starrte zur Decke hinauf. Ein Netz von dunklen Fäden zog sich quer über die schmutzig graue Fläche. Ihm war, als betrachte er, das von kranken Adern durchzogene Fleisch eines Untoten. Angewidert wandte er sich dem Fenster zu. Was würde der Krüppel von ihm denken? Er würde in jedem Fall erkennen, wie es um das Haus Yˋshandragor stand. Er musste unbedingt etwas unternehmen. Vielleicht sollte er dem alten Stinkstiefel einfach einen Explosionspfeil in eins seiner Augen schießen. Doch stattdessen streckte er sich, köpfte seinen neuen Hausmantel zu und ging stolz erhobenen Hauptes die Treppe zum Vestibül hinunter.
Tal und Ughtred warteten schon gespannt auf ihn. Gemeinsam gingen sie in die große Halle. Tal hatte Odugme aufgetragen, die zerbrechliche Ayn Nyni`scie dan Y`shandragor hierher zu tragen. Nun saß sie am Tischende, denn sie war die älteste Herrin des Hauses und so war es Brauch in Kisadmur. Kyon würde links neben ihr sitzen.
Schließlich war es soweit. Der alte Hausmeister Flark öffnete die doppelte Eingangstür, von der ein Flügel arg genug in den Angeln quietschte, und kündigte den Meisterschmied Amyithas Darin an.
Dieser trug einen fadenscheinigen Mantel, lederne Rüstungsteile, die einst sicher Gold gefärbt waren und hohe, beschlagene Beinlinge. Tal konnte sich durchaus vorstellen, dass der Mann früher recht schneidig daher gekommen war. Leider trübte nun seine kränkliche Haut und das fettige, strähnige Haar dieses Bild.
Kyon hieß den Gast förmlich willkommen und wies ihm einen Platz in einigem Abstand von seiner Mutter auf der rechten Tischseite an. Die Stimmung war angespannt. Anfangs sagte niemand etwas. Die Quink trugen das Essen auf. Es gab Echsenschwänze in heller Soße, ein derzeit günstiges Gericht und später Schlangenzünglein in Aspik geeist.
Die Unterhaltung verlief wie erwartet schleppend und als Kyon die wechselhafte Wetterlage vorbrachte, himmelte Tal genervt. Schließlich sagte die Hexe leise zu Kyon: »Denke, es ist an der Zeit, dass die alten Bekannten sich ein wenig in Ruhe austauschen herr Sliyn.«
Sie zwinkerte Kyon zu und deutete mit dem Kinn nach oben. Kyon zuckte mit den Schultern und erklärte, er müsse sich nun dringenden Geschäften zuwenden, aber die Herrin des Hauses würde für die weitere Versorgung des Gastes zur Verfügung stehen.
Ughtred nickte nur und erhob sich als erster. Dann verließen die Drei das große kühle Speisezimmer und überließen den Schmied und die Trauernde ihrem Schicksal. Beim Hinausgehen wanderten Kyons Blicke noch einmal über die Adern an der Decke. Er konnte kaum noch davon lassen. Was kümmerte ihn da der Krüppel und seine Mutter?
Sie hockten am runden Tisch und starrten Löcher in die Holzplatte. Die Stille im Raum war nervtötend. Normalerweise war Kyon nicht der Mann für stundenlanges Schweigen und Tal hielt es nur selten länger als wenige Minuten aus, ohne etwas zu sagen, und Ughtred befürchtete schon, die beiden wären schon wieder in ihre Visionen abgeglitten. Doch plötzlich sah Tal auf.
»Ich will wissen, was da unten vor sich geht! Wenn wir doch nur eine Sonde hätten, oder einen Scout oder so etwas.«
Kyon und Ughtred sahen sie an. Wer konnte seinen Körper verlassen und ungesehen weite Entfernungen zurücklegen?
Sie legte den Kopf schief und machte eine Lopenschnute. Dann lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück, konzentrierte sich und verließ ihren Körper.
Amyithas hatte sich neben Nyni`scie gesetzt. Gerade flüsterte er ihr etwas zu und schließlich legte er seine goldene Hand auf die Tischplatte vor ihr. Eine Ewigkeit schien zu vergehen. Doch dann, hob mit einem Mal auch Nyni die Hand und legte ihre schmalen Finger auf das glimmende Gold des alten Freundes.
Tal spürte, wie ihr die Tränen kamen und sie fragte sich, wie sich ihr arkaner Zustand auf ihr physisches Selbst auswirkte. Sie hielt noch eine ganze Weile inne, doch dann fühlte sie sich unwohl in ihrer Rolle als Beobachterin und schließlich kehrte sie mit einem warmen Gefühl in ihrem Herzen in die Realität zurück. Als sie erwachte, fühlten sich ihre Wangen und ihr Ausschnitt feucht an. Die beiden Männer sahen sie besorgt an.
»Es ist nichts. Sie sind nur soooooo süß«, sagte sie mit einem glücklichen Lächeln.
Kyon verabschiedete den Schmied und gab vor, seine Mutter brauche Ruhe. Amyithas nickte ergeben und dankbar und als Kyon erklärte, dass man ein solches Treffen unbedingt wiederholen müsse, war er Feuer und Flamme. Fragte vorsichtig, ob man auch fürderhin auf weitere Gäste verzichten könne und Kyon nickte höflich. Als der Schmied ging, schien er um Millennien verjüngt zu sein.
Einige Tage später brachte der Schmied Ughtreds Axt. Ein Quink meldete ihn nur dem Nygh, weil er dies auch so wollte und als Ughtred zur Außentür kam, hatte der Alte eine schwere Tasche über der Schulter hängen. Er holte die Axt hervor und reichte sie seinem Kunden.
Der kleine Mann besah sich seine Waffe und staunte nicht schlecht. Das Metall sah nun etwas gelblicher aus, aber es war nicht zu erkennen, wie der Schmied die Legierung in die ursprüngliche Schneide eingebracht hatte. Er konnte sie ja kaum eingeschmolzen und genau gleich nachgeschmiedet haben. Oder doch?
Die auffälligste Neuerung war jedoch der Huhnsei große, unheimlich gelblich glimmende Stein, den Amyithas in den Schneidenkopf eingelassen hatte. Er glomm energetisch und Ughtred wollte gar nicht so genau wissen, welchem Zweck er diente. Als er die Schärfe der Klinge prüfte schnitt er sich. Der Schmied lachte und deutete auf seine goldene Prothese. Ughtred hatte noch nie zuvor eine derart scharfe Klinge in Händen gehalten. Axtklingen waren meist eher stumpfer Natur, weil sie dazu neigten, viel Kraft zu übertragen und eher spalteten als schnitten. Dies wiederum führte dazu, dass sie schnell ausbrachen, wenn man sie in einem sehr scharfen Winkel anschliff. Doch dieses Meisterwerk, machte auf den Nygh den Eindruck, als wäre es absolut unzerbrechlich. Er holte aus und schlug damit auf einen Feuerscheit, der hier, im unordentlichen Vorhof, auf dem Boden lag. Die Klinge drang durch das trockene Holz, als wäre es aus Butter. Ungläubig prüfte Ughtred die Klinge und tatsächlich hatte sie auch nicht den geringsten Schaden genommen.
Er sah den Schmied anerkennend an und bedankte sich, doch dieser war noch nicht fertig. Er drückte dem Nygh den Sack in die Hand und sagte: »Dies ist noch ein kleines Gastgeschenk, für die freundliche Soiree die Tage.«
Ehe der Nygh etwas sagen konnte, hatte Amyithas sich abgewandt und ging in seinem seltsam ungleichmäßigen Gang in Richtung Quinkstadt davon.
Ughtred sah in den Beutel. Es waren vier Gegenstände des smavarischen Alltags. Zwei davon erkannte er als Feuerzeuge, eins war eine Kiste, die er nicht zuordnen konnte und das letzte schien ein Apparat zu sein. Es hatte zwei stumpfe abstehende Kristalle und eine Art Drehregler. Er hob die Schultern und brachte die Geschenke dann ins Haus.
Da er niemanden vorfand – die Hexe schien zu schlafen und Kyon war in der Stadt unterwegs – besah er sich das Gerät mit den Kristallen etwas näher. Er kannte sich mit Lesekristallen aus und spürte sofort die neuronale Verbindung, die er mit dem Ding eingehen konnte. Kurzerhand versuchte er es.
»Narun Darn«, sagte eine unfreundliche Stimme in seinem Kopf. Er erkannte, dass es drei Neuronalschnittstellen gab, die er willentlich anfahren konnte.
»Hallo? Wer ist da?«, dachte er versuchsweise, doch wer sich auch immer auf der anderen Seite befand, wiederholte nur die ersten beiden Worte und trennte dann die Verbindung.
Die zweite Schnittstelle antwortete auf Smavarisch und Ughtred verstand einen Frauennamen. Die Frau fragte, ob es um eine Bestellung ginge und ob er einen Neuronalcode habe. Man fände diesen in der Geistesübertragung. Er verneinte und die Frau fragte, wohin die Phanibestellung gehen sollte. Jemand lieferte Phani aus.
Ughtred schwirrte der Kopf und die Frau sagte, sie wolle den Fall nun eskalieren und schließlich meldete sich ein Mann an ihrer Stelle in Ughtreds Kopf an. Auch er fragte nach einem Code und erklärte, er habe bei einer Zeitverschiebung von fast acht Jahren nicht ewig Zeit für eine Anfrage.
Ughtred trennte die Verbindung und schüttelte den Kopf. Die Smavari waren verrückt, alle!
Später saßen sie wie üblich in der Küche und Ughtred zeigte den beiden anderen die Geschenke des Schmiedes.
»Das ist Deckenfarbe«, sagte Kyon zufrieden und hatte ganz offensichtlich keinerlei Probleme damit, sie anzunehmen. Tal, die schaukelnd auf einem der Küchenstühle hockte, griff nach der Kiste und sagte: »Eine Tiefenraumkiste. Da passt mehr rein, als man von außen erkennen kann. Guck!« Sie öffnete das schwarze Ding und steckte ihren Arm hinein. Dieser verschwand mit einem leisen, magentafarbenen Zischeln bis zum Ellbogen.
»Hi hi hi«, kicherte sie, »Das kitzelt.«
Sie stellte die Kiste neben sich auf den Stuhl und machte damit klar, dass sie nun ihr gehörte.
Es war Kyon anzusehen, dass er einen Moment überlegte, gegen dieses Vorgehen zu protestieren, aber dann ließ er es. Sie hatte ihm geschworen, ihn nicht zu vergiften, dies schloss ihn nicht, bis ans Ende seiner Tage zu nerven, keineswegs ein.
Ughtred sagte: »Das da scheint eine Art Apparat zu sein, mit dem man mit entfernten Personen kommunizieren kann!«
»Es ist Deckenfarbe«, sagte Kyon und besah sich nun erstmals die Decke der Küche, was sich als Fehler herausstellte.
Ughtred gab auf.
»Wir sperren ihn in den Keller und vergessen ihn dort«, sagte Kyon und die Rede war natürlich von Alag Dar`Ytavoulth, dem Kerkermeister von Shishney. Die Sache mit dem Schmied würde aller Wahrscheinlichkeit nach nun ja ein wenig Zeit in Anspruch nehmen, da hatte man sich gefragt, wie man diese sinnvoll nutzen solle. Seltsamer Weiße fand sogar der ansonsten eher pazifistische Ughtred die Idee, den Blödmann aus dem Kerker zu bestrafen, mehr oder weniger verständlich. Der Kerl war höchstwahrscheinlich schuld am Tod von Northrian. Wer hätte es Kyon, als dessen Geliebten und Tal, seiner Schwester, übel nehmen können, sich an dem Kerl zu rächen? Als die beiden jedoch angefangen hatten über Konzepte wie Tötung, Folter und Vertuschung zu diskutieren, hatte er abgeschaltet.
Tal überlegte. Sie spielte mit ihren deutlich länger gewordenen Haaren. Warum hatte sie sich nicht früher darauf konzentriert, sie wachsen zu lassen?
»Wir gehen rein wie beim ersten Mal«, sagte Kyon düster und nickte ihr zu. Da auch der Nygh nichts sagte, fühlte er sich bestätigt. Mittlerweile gab er recht viel auf die Meinung des kleinen Mannes, aber dies würde er natürlich niemals zugeben.
Sie verzog das Gesicht zu einer hässlichen Todesgrimasse. Er musste ja nicht in die stinkende Haut seines toten Bruders schlüpfen. Aber natürlich hatte er recht. Es war der beste Weg. Niemand würde damit rechnen.
Tal sagte: »Und was genau machen wir jetzt, wenn wir ihn haben?«
Kyon sagte verdrossen: »An die Wand ketten. Nygh, mach Ösen an die Kellerwand und besorge Ketten!«
Ughtred hob die Augenbrauen und rollte dann mit den Augen. Er sagte nichts, rührte sich aber auch nicht.
Mit spitzer Schnute sagte Tal: »Können wir ihn einmauern? Ich habe mal eine Geschichte über einen Mann gelesen, der sein Weib einmauerte. Man konnte noch viele Millennien später ihre Schreie hören. Klingt doch schick oder?«
»Und wenn er uns so verreckt?«, warf Kyon ein.
Die Hexe zählte laut die Mittelchen auf, mit denen man künstlich das Leben verlängern konnte. Seltsam, in ihren Schulstunden, war ihr dies nie so einfach von den Lippen gegangen. Es war halt doch etwas ganz anderes, wenn man Wissen in der Praxis anwandte.
Plötzlich fiel ihr Blick auf Ughtreds Axt, die wie so oft an dessen Stuhl gelehnt auf dem Küchenboden stand. Sie stierte das Ding an und strich dann mit der Hand über den Stein in ihrem Kriegshandschuh, den sie wirklich nur selten abnahm.
»Ist das …« Sie machte eine Pause und schluckte. »Ist das ein Shimwas in der Axt und wenn ja, wo kommt er her bei allen Nugai?«
Ughtred sah nun auch auf die Axt neben sich und nickte.
»Kann sein. Der Schmied hat mir die Axt verbessert. War wirklich günstig.«
Kyon legte den Kopf schief. Bei allen Nugai, genau. Der Schmied hatte sich nicht lumpen lassen. Verdammt nochmal, dass wäre wirklich Farbe für das ganze Haus gewesen.
Die Hexe stand auf und ging neben Ughtred in die Knie. Der Nygh empfand ihre Nähe plötzlich noch unangenehmer als sonst schon. Er konnte in ihren Ausschnitt blicken und sie wusste das.
»Wir legen ihn um und packen ihn genau da rein!«, sagte sie grimmig.
Ughtred ließ die Schultern sinken.
»Naaaaaa«, sagte er gedehnt. »Dann habe ich ihn auf dem Hals und ich denke, dass kann man kaum wollen.«
Die Hexe strich ihm über den Kopf und schnurrte: »Das wird super! Er ist dann in eurer Hand und ihr werdet durch seine Kräfte gestärkt.«
»Nein danke«, versetzte der Nygh entschlossen, nahm seine Waffe auf und machte sich daran, das Haus zu verlassen. Waren die Silberwölfe denn ganz und gar verrückt? Welche Frage eigentlich. Natürlich waren sie es. Er floh.
Tal sah Ughtred hinterher und fragte dann Kyon: »Was hat er denn?«
Der Barde stand auf und schlenderte durch den Raum und sie tat es ihm gleich. Gemeinsam gingen sie in den ersten Stock und dort in Kyons Zimmer.
Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile, während Tal sich auf Kyons Bett räkelte. Die Sache mit dem Shimwas hatte alles geändert. Für sie stand fest, dass der irre Kerkermeister genau diesen Weg gehen würde. Sein Ziel war der Shimwas und dort würde er ihnen bis zum Ende aller Tage Dienen.
»Lust auf ein bisschen Sex?«, fragte Tal und befreite ihre schon beträchtlich angeschwollenen Brüste aus ihrem Kleid. Er wandte sich ihr zu und nickte. »Klar.«
Am nächsten Morgen in der Frühe kniete Kyon neben seiner Mutter und stierte durch das Fenster auf den Regen in Shishneys Gasse. Er fragte sich, ob das mit dem Regen auch funktionieren würde, wenn er es brauchte. Konnte er Regen erzeugen, indem er durch das Fenster seiner Mutter blickte? Konnte sein.
Ohne Vorwarnung sagte Nyni: »Warum tut ihr euch das an, mein Sohn?«
Kyon erschrak derart, dass er sich an seiner eigenen Spucke verschluckte und einen Moment brauchte, um zu antworten.
»Was meint ihr, meine Liebe, die Unternehmung?«
Sie nickte und sagte leise: »Ja.«
»Es war Vaters Unternehmung.«
»Er wurde von einem Drachen gefressen und das Untier hat ihm die Seele und den Geist genommen und quält nun ihn und mich all die Jahreszeiten, bis zu unser aller Ende.«
Kyon horchte auf.
»Er quält euch?«, fragte er vorsichtig.
Sie nickte und war wach. »Ja, der Luge lässt mich an der Qual meines Gatten teilhaben und es zerreißt mir das Herz und die Seele. Tagein und Tagaus höre ich seine Schreie und spüre seinen Schmerz.«
Darum war sie in die Zwischenwelt abgetaucht. Kyon nahm ihre kalte Hand und berührte sie mit seinen Lippen.
»Und ihr? Könnt ihr nicht aus eurer Trance auftauchen und euch aus diesem Joch befreien?«
Und mit einem Mal versank Nyni wieder genau dort, an diesem Ort ohne Freude, ohne Licht und ohne Interessen. Ihre Augen vernebelten sich und erst in diesem Moment bemerkte Kyon, dass es draußen aufgehört hatte zu regnen und dass nun erneut die ersten Tropfen fielen.
Tränen rannen ihm über die Wangen. Drachen waren kein Spaß!
Etwas später, man hatte extra den Mittag abgewartet, weil zu dieser Zeit ja die meisten Smavari schliefen, hockten die drei wie gewohnt am runden Tisch und berieten sich erneut. Sie hatten ausbaldowert, dass Tal in ihrer astralen Form den Kerker erkunden sollte. Nur so war es möglich, einen halbwegs vernünftigen Plan auf die Beine zu stellen.
Jetzt konzentrierte sie sich und versuchte, ihren Leib zu verlassen, aber es fiel ihr schwer. Sie hatte ihre Kräfte zum Teil verbraucht, als sie die Ayn und ihren Galan beobachtet hatte, und es dauerte oft viele Tage, bis sie wieder in der Lage war, aus der Realität zu schlüpfen.
Kyon sagte: »Was ist mit dem Ring?«
»Ach ja, der Ring! Er ist aufgeladen und bereit. Ich spüre sein Wüten und ich denke, er hat tatsächlich die Macht, die man ihm nachsagt. Sie Einäugige Hexe muss lustig gewesen sein.«
Kyon ließ die Schultern hängen. Er bereute ein wenig, den Ring ins Spiel gebracht zu haben.
»Ihr wisst schon, dass man den Ring den Zeithammer und nicht die Zeitpinzette nennt, ja?« Er betonte die Silbe Hammer besonders vordringlich.
»Was soll schon passieren?« Sie lächelte breit und schon kramte sie in ihrer Tasche nach dem Ring. Als sie ihn gefunden hatte, hielt sie ihn vor Kyons Nase und machte ein zischendes Geräusch. »Der Zeiiiithammeeeeeeeer«, machte sie ihn nach.
Er erschrak und wedelte ärgerlich mit der Hand, um sie zu verscheuchen, aber sie lachte nur und steckte sich den Ring ohne weitere Warnung an den Zeigefinger. Kyon und Ughtred zogen unmittelbar die Köpfe ein und erwarteten den Untergang der Welt. Und der ließ nicht lange auf sich warten …
Kyon sah noch, wie sich Tals Augen zu einem irren Schielen zusammen drehten und ein hässlicher Blutfaden aus ihrem linken Nasenloch troff, doch dann veränderte sich auch seine Wahrnehmung der Realität, denn der Zeithammer hatte seine Arbeit aufgenommen. Er zerrte am Rahmen des Multiversums und veränderte den Ablauf von allem. Er beobachtete sich dabei, wie er, der Zeit rückwärts folgend, neben einer seltsam anmutenden Frau durch eine urbane Landschaft trottete und nach seinem Fahrzeug Ausschau hielt. Dann öffnete er eine Tür und betrat einen Raum, dem er für sein eigenes Dasein eine fundamentale Rolle zumaß, ihn aber auf einer anderen Ebene seines Daseins als unreal betrachtete. Hinzu kam, dass er Tals und Ughtreds multiversale Verdrehungen so wahrnahm, als wäre er sie, und offenbar ging es ihnen ebenso, denn sie schienen sich in ihm zu treffen und alles zu wissen, was er wusste. Er versuchte zu schreien, aber diese Option schien ihm verwehrt zu sein, denn egal in welcher Dimension er den Mund auftat, nie hatte er die Macht, sein dortiges Selbst weiter zu manipulieren. Er krümmte sich zusammen und wurde zum Opfer der Erkenntnis seiner allumfassenden Unwichtigkeit.
Dann rammte der Zeithammer einige der Realitäten in eine fassbare Form. Tal – und damit er – sah sich selbst als anderes Wesen, dass in vielen Millennien ganz andere Abenteuer erleben würde. Dann wurde aus ihr wieder er, aber in einem anderen Körper und wiederum zu einer anderen Zeit. Er befand sich in einer Art Sternenbarke und betrachtete eine Sonne durch ein gewaltiges Dach aus Glas. Vor ihm stand ein pulsierendes Ei, von dem er wusste, dass es lange nach seinem, Kyons Tod, von außerordentlicher Wichtigkeit für die Zeitlinien sein würde.
Wieder versuchte er zu schreien, denn der Wahnsinn der Vermischung zwängte sich in seinen Schädel und rüttelte an seiner Existenz. Der Zeithammer, seine Macht, die Wahrheit ohne die Grenzen der Zeit zu gewähren, machte alles Sein auf dieser Seite der Realität schlicht und ergreifend zu einem irrealen Spiel.
Da kam er zu sich und fand sich an dem Tag in der Küche vor, an dem er mit Ughtred in das Haus Lysai gehen wollte. Wie viele Tage waren vergangen? War er mit dem Nygh dort gewesen? Hatte die Helferin dem kleinen Mann ihre Titten ins Gesicht gedrückt.
Er sah Ughtred an und fragte ihn, aber der Nygh schien ebenso verwirrt zu sein wie er selbst. Tal schüttelte sich und erbat sich mit einem Wedeln ihrer Hand etwas Ruhezeit aus. Sie musste ebenfalls zu sich kommen. Der Ring hatte zwar ihren Geist nicht beugen können – und oh ja, er hatte es versucht – aber die Auswirkungen seines Eingriffs in die Realität, hatten sie, genau wie Kyon und Ughtred voll getroffen.
»Geht es euch gut?«, fragte er so ruhig wie möglich und wischte ihr mit dem Daumen den Blutfaden von der Nase.
Sie nickte und machte noch einmal ein Zeichen, man möge ihr einfach einen Moment lassen.
Kyon ging zum Fenster und sah hinaus. Er hätte sich nicht gewundert, wenn sich Shishney von Grund auf verändert hätte, doch seine Nachbarschaft schien noch genau dieselbe zu sein. Er versuchte zu erfassen, welcher Tag war, doch damit hatte er schon unter normalen Umständen seine Probleme und damit ließ er es dabei. Er überlegte, ob es möglich war, mit dem Ring die Zukunft vorher zu sehen oder sie gar zu verändern? Waren die Auswirkungen statisch genug, um sie sinnvoll zu nutzen?
Ruppig rief er nach der Dienerschaft und fragte, ob er im Lysai gewesen sei. Flark sah ihn missmutig an und zuckte mit den Schultern. Es war Sklaven nicht gestattet die Machenschaften ihrer Herren zu erfassen und er wollte keine Prügel beziehen.
Kyon war versucht, den Alten aus dem Zimmer zu treten, mäßigte sich jedoch. Es gab einfach Dinge, über die durfte man nicht zu sehr nachdenken.
»Und, hat es wenigstens etwas gebracht?«, fragte er an die Hexe gewandt.
Tal schloss die Augen und er dachte zuerst, dies sei eine Reaktion ihrer Genervtheit, aber als sie ihn wieder ansah, nickte sie nur. Ihre Kräfte waren zurück, der Zeithammer hatte gewirkt – und wie!
Tal glitt ohne Mühe aus ihrem Körper und steuerte den Norden der Stadt an. Es bereitete ihr keinerlei Probleme die Zitadelle zu finden und durch die Kanalisation den Kerkertrakt. Sie hätte auch einfach seitlich durch die Wände gleiten können, aber sie wollte versuchen eine ungefähre Vorstellung des Weges zu bekommen, den sie später in Norths Körper zurücklegen musste. Astral konnte sie noch besser Sehen als real und so blieb ihr hier unten im Dunkeln nichts verborgen. Wie erwartet gab es kaum Wachen, aber dafür brauchte sie eine ganze Weile den Kerkermeister ausfindig zu machen. Der Idiot hatte sich tatsächlich in einer Zeller eingesperrt und lag seitlich auf einer Pritsche. Er schien zu schlafen. Gut! Sie merkte sich die Zelle und beendete die Astralwanderung. Binnen einer Sekunde schlug sie die Augen auf und sah Kyon und Ughtred, die sie gebannt anstarrten in die Augen.
»Und dann packen wir ihn auf einen Schlitten oder so etwas und schleifen ihn hierher ins Haus.« Tal hatte sich in Rage geredet und war voller Tatendrang. Die Vorstellung, endlich Northrians Tod rächen zu können, und dann auch noch mittels einem Shimwas, erregte sie.
Kyon nickte. Er war einverstanden mit allem, was die Hexe vorhatte, denn er wusste, was sie auch immer tun würde, es hätte die schlimmsten Auswirkungen auf den verhassten Kerkermeister.
Ughtred war nicht mehr so glücklich mit der ganzen Situation, aber was sollte er machen? Mitgefangen, mitgehangen, lautete die Devise. Außerdem stimmte es ja ganz offensichtlich. Alag Dar`Ytavoulth hatte zum Tod von Tals Bruder beigetragen und dafür sollte man ihn durchaus zur Rechenschaft ziehen.
Dennoch, in der Kultur der Nyghs, gab es keine Morde oder die damit hier zusammenhängenden Strafen. Die Vorstellung einer Todesstrafe war Ughtred zuwider. Sein Volk setzte auf Konzepte wie Resozialisation und Vergebung.
Er fragte sich, ob er durch sein Zusammensein mit den Silberwölfen verrohte. Die Vorstellung dieser Wesen, was Werte betraf, hätte zu denen seines Volkes nicht unterschiedlicher sein können. Für einen Silberwolf waren Dinge wie Gesundheit, Familie oder auch nur Schmerzfreiheit eher nebensächlich. Sie suchten in allem nur Zerstreuung. Nichts schien mehr an ihnen zu nagen als die Langeweile. Warum nur, hatten ihre Erschaffer sie unsterblich gemacht? Sie konnten einfach nicht mit der ihnen zur verfügung gestellten Zeit umgehen. Es gab sehr alte Silberwölfe, denn sie starben ja von natur aus nicht. Aber dennoch gab es offenbar keinen Silberwolf aus der Zeit ihrer Entstehung. Daran waren sicher nicht in erster Linie natürliche Gefahren schuld. Sie wollten einfach nicht ewig leben. Wie Kyons Mutter, verloren sie früher oder später aus welchen Gründen auch immer das Interesse am Dasein und gaben es auf. Dann zogen sie sich in sich zurück oder verließen gar freiwillig ihre Körper. Ughtred hatte noch nie von einem Nygh gehört, der Selbstmord begangen hätte. Verzweiflung und Leid wurden von der Familie oder der Gemeinde aufgefangen. Langeweile kannten die Nyghs kaum. Sie arbeiteten für ihren Unterhalt, schufen Kunst oder erfreuten sich an der Ruhe an einem klaren Bergsee.
Tal konnte kaum etwas erkennen. Sie blinzelte und versuchte, Norths Augen besser unter Kontrolle zu bekommen, aber die Ergebnisse waren dürftig. Mit einem Gefühl der Reue erkannte sie, dass es sinnvoll gewesen wäre, den toten Körper mehr zu warten. Jetzt, da sie nach längerer Zeit wieder einmal in ihm steckte, erkannte sie den Verfall, aber sie bemerkte auch, wie sie gegen dieses Ziehen der Zeit ankämpfen konnte. Ihre astrale Kraft stärkte den Untoten. Als sie vorhin aus dem Sarg gestiegen war – in dem im Übrigen jetzt ihr Körper lag – hatte sie sich kaum bewegen können. Die Sehnen waren steif gewesen und der ganze Bewegungsapparat hatte geknackt und geknirscht. Doch nach einiger Zeit der Konzentration, hatte sich dies bald gebessert. Leider tat sie sich mit den Augen deutlich schwerer. Wahrscheinlich lag es daran, dass ihre eigenen Augen ebenfalls nicht die besten waren und sie sehnte sich nach der Brille, die sie seit einiger Zeit trug und an deren Unterstützung sie sich rasch gewöhnt hatte.
Langsam schlurfte sie durch den finsteren Gang des Kerkers. Wie damals, als sie den kleinen Mann befreit hatte, war sie in den Abfluss der Anlage gestiegen und hatte langsam das Säurebad durchquert. Und auch dieses Mal hatten sie die untoten Wächtertiere dieses Zugangs in Ruhe gelassen. Untote schienen sich nie gegenseitig anzugreifen. Warum eigentlich? Die Lebenden taten es doch ständig, warum sollte dies im Tode anders sein. Sie fragte sich, ob der Tod einfach friedlicher war und fand den Gedanken tröstlich.
Plötzlich drang ein Geräusch durch die verfaulten Gehörgänge des toten Leibes. Es war eine Art Patschen und es schien von hinter ihr zu kommen. Sie drehte sich um und versuchte etwas zu erkennen, aber Norths Augen übermittelten ihr nur graue Flächen. Oder doch, war da nicht eine Bewegung?
Direkt vor ihr stand ein Quink mit einer Hellebarde. Seine Augen waren winzige Lichtpunkte im Grau in Grau.
»Was macht ihr hier?«, hörte sie den Wächter vorsichtig fragen.
Sie versuchte den Kopf zu schütteln, da ihr die Ansprache in doppelter Hinsicht grotesk erschien. Man stelle sich vor, ein Quink fragt einen verwesten Smavarileib im Kerker der Zitadelle, was er hier tat. Lustig, was musste der kleine Kerl denken?
»Wääärshvindeeeeee …«, hörte sie North stöhnen und erinnerte sich, dass es noch schwerer war, ihn zum Sprechen zu bringen, als durch ihn zu sehen.
Der Quink machte trotzdem einen Schritt zurück und duckte sich. Er schien sich unsicher, wie er mit der Situation umgehen sollte und Tal konnte ihn gut verstehen. Zum Glück wurden hier unten keine Maskenmännlein eingesetzt. Ein solches hätte sie nicht so einfach handhaben können wie den Quink. Wenn er nicht spurte, würde sie ihn überwältigen und töten.
»Haaauuuu aaaabhhhh …«, versuchte sie es noch einmal und freute sich über die erstaunliche Klarheit ihrer Aussprache. Sie hatte verstanden, was sie gesagt hatte.
Der Quink auch. Er machte eine unterwürfige Verneigung und zog sich dann zurück. Der Gang war gerade und Tal vermutete, dass er in einiger Entfernung weiter hinter ihr her schnüffeln würde, aber solange er nicht Alarm schlug, war ihr das egal. Er hatte keinerlei handhabe gegen sie. Quink durften ihre Meister nicht angreifen oder auch nur gegen sie agieren. Zumindest bei gut erzogenen Quink, wurde diese Prämisse auch stets eingehalten und innerhalb der Zitadelle würde es ja hoffentlich nur gut erzogene Sklaven geben. Wenn er Alarm schlug, würde sie längst weg sein, bis sich smavarische Wächter bequemten hier herunterzusteigen.
Sie suchte nach der Zelle, die sie im Astralraum gesehen hatte, aber das war bedeutend schwerer als gedacht. Selbst mit ihren eigenen Augen, wäre es ihr schwer gefallen, denn hier unten sah alles irgendwie gleich aus. Im Astralraum hatte sie zum Teil durch die Wände gesehen. Personen wurden stark kontrastiert dargestellt. Sie konnte ihre Seelen als leuchtende weiße Balken wahrnehmen. Jetzt war alles ein Matsch aus Braun und Grau.
Sie schlurfte den Gang entlang und musste ein hohles Stöhnen unterdrücken. Warum stöhnten Untote nur immer? Sie hatte ja keine Schmerzen. Vielleicht waren sie genervt? Sie fühlte sich auch genervt. Was soll`s, dachte sie, und gab ein leises untotes Stöhnen von sich. Und als ob die Aspekte des Kar sie erhört hätten, erkannte sie in der nächsten Zelle den schlafenden Kerkermeister.
Sie drückte Norths Gesicht gegen die Gitterstäbe und versuchte etwas zu erkennen. Da war ein Ring unter dem Arm des dürren Kerls. Das war sicher der Schlüsselring. Sie langte durch die Gitterstäbe, aber die Pritsche war mehr als zwei Schritte von ihr entfernt und allein der Versuch stellte sich als utopisch heraus. Verdammte Lopenscheiße, dachte sie und hörte die leisen gestöhnten Flüche aus Norths Kehle aufsteigen.
»Veehhhrdaaam…eeeee Oooooooeeeensheeeeeeiiiiiiiisseeee …«
Sie hielt sich, bzw. Northrian die Hand vor den Mund, aber es war zu spät. Alag regte sich in der Zelle und drehte sein Gesicht nach oben.
»Was zum …«, grunzte er und richtete sich zu einer sitzenden Position auf.
»Wer?«, sagte er und kam zur Gittertür.
Tal zögerte nicht. Sie griff zwischen den Gittern hindurch, fasste nach den fettigen Haaren des Kerkermeisters und zog sein Gesicht mit aller Kraft gegen die Stangen. Der Einschlag kam so unerwartet und erfolgte ohne ernstliche Gegenwehr, dass seine Wange brach und ein Knochen in sein linkes Auge rutschte. Er wurde sofort schlaff, aber Tal hielt ihn fest und fingerte nach den Schlüsseln. Es dauerte eine quälende Ewigkeit, bis sie es schaffte, den verdammten richtigen Schlüssel zu finden und noch einmal so lange, ihn zu drehen. Sie schalt sich erneut und ermahnte sich, Norths Körper zu trainieren. Doch dann hatte sie es endlich geschafft und griff nach dem leblosen Alag, um ihn sich über die Schultern zu hieven. Leider, leider, bewegten sich kleine Gestalten auf dem Gang und versperrten ihr den Rückweg in Richtung der kleinen Außenpforte, die sie damals für Kyon und Ughtred geöffnet hatte. Sie musste die Treppe hinauf und riskieren, durch den Haupteingang der Zitadelle zu gehen.
Kyon schlenderte auf das riesige Portal der Zitadelle zu. Das Wetter hatte sich ein wenig gebessert und die beiden Sonnen drängten durch die stählerne Wolkendecke. Wie erwartet, befanden sich nur Quink und keine Smavari auf dem Platz. Er sah sich um, betrachtete die geschlossenen Läden der smavarischen Behausungen und lugte dann unauffällig zu Ughtred hinüber, der in einiger Entfernung auf dem Sarg hockte und an seiner Pfeife sog. Er war nicht unbedingt unauffällig, aber das Sitzen auf einem Sarg war ja nicht verboten.
Ab und an blieb ein Kind bei ihm stehen, oder ein Erwachsener stellte eine neugierige Frage, aber alles in allem war dies eher eine gute Ablenkung, als ein Problem. Allerdings wäre es in einem solchen Moment natürlich ungünstig, wenn North, beziehungsweise Tal aus der stinkenden Kanalisation auftauchte und den Kerkermeister dabei hätte. Andererseits hatte es Kyon ohnehin im Blut, dass es nicht so einfach sein würde, die Zitadelle durch die untere Ausfalltür zu verlassen. Und genau da kam er ins Spiel. Wie vor Kurzem wollte er in die Zitadelle gehen und dort abwarten.
Sollte es Probleme geben, würde er versuchen, diese mit seinem smavarischen Charme zu lösen. Er hatte schließlich nichts zu fürchten und keiner der Wächter würde sich wagen, irgendetwas gegen ihn zu unternehmen.
Die Erleichterung, aus dem Sonnenlicht der Turmstadt ins Innere der Zitadelle zu treten, war wie immer immens. Er hatte die Wüste überlebt und wahrscheinlich mehr Sonnenlicht absorbiert als jeder andere Smavari, den er kannte, aber das machte ihn natürlich nicht immun gegen die Wirkung der Strahlen. Er rieb sich die prickelnde Haut und war froh, als die Schatten begannen, ihre heilende Wirkung zu zeigen.
Links von ihm befand sich der eher unauffällige Abgang in den Kerker. In der Nähe dieses Bereiches gab es eine Art Informationsstelle, die ständig mit einem oder mehreren Droiden besetzt war. Vor ihm kam gerade die mittlere der Aufzugsplattformen herunter und eine Gruppe von acht Quink wartete mit Wahren, die es in eins der Stockwerke zu transportieren galt. Zwei Midyar standen bei den Quink, schienen sich aber nur mäßig für die Sklaven.
Kyon schlenderte auf die rechte Seite der riesigen Halle. Hier befand sich eine Sitzgruppe aus gegossenem Holz, die zu Stoßzeiten smavarischen Besuchern als Ruhestätte diente. Natürlich war um diese Tageszeit hier niemand. Die Quink würden sich nicht wagen, sich hier niederzulassen. Wenn überhaupt, setzten sie sich auf die von ihnen transportierten Kisten oder den kühlen Boden aus Perlmutt.
Er setzte sich auf eine geschwungene Liege, die der Form einer südländischen Baumfrucht nachempfunden war, und sah an den endlosen Aufzugstrossen in den Turmschacht hinauf. Wie lange konnte es dauern, bis der Leichnam seine Arbeit erfüllt hatte? Die Droiden standen reglos da und wirkten eher wie Statuen als wie denkende Apparaturen. Ab und an bewegte einer von ihnen einen Arm und drehte leicht den Kopf und Kyon kam es so vor, als täten sie dies nur, um sicher zu stellen, nicht für defekt gehalten und entsorgt zu werden.
Was hätte er jetzt für einen heißen Faltersud gegeben? Er fragte sich, ob es weiter oben, nahe der Festung, einen entsprechenden Service gab. Hier unten brauchte er auf nichts zu hoffen. Er hatte schon mit eigenen Augen gesehen, dass hochrangige Besucher des Fürstenpaares hier unten campieren mussten, weil sie zu früh in Shishney angekommen waren. In diesem Falle, mussten sie sich selbst mit entsprechenden Annehmlichkeiten versorgen. Von oben war nichts gekommen. Die Turmstadt bot alles, was das Herz begehrte, aber unter Gastfreundschaft verstand Kyon etwas anderes.
Gerade überlegte er, diesen Gedanken in einem Lied festzuhalten, als auf der anderen Seite der Halle die Kerkertür aufging und eine große Gestalt mit einem Kapuzenmantel und einem schweren Bündel über einer Schulter in Sicht kam. Er lachte tonlos auf und machte sich auf den Weg. Unglaublich, die Hexe. Sie hatte es offenbar wirklich geschafft, und dies, ohne einen Alarm auszulösen.
Der Weg durch die Halle war weit und bis er selbst die Mitte erreicht hatte, war North nicht mehr weit entfernt. Der Tote bewegte sich schleppend langsam, und Kyon konnte erkennen, dass dies nicht an seiner Last, sondern weitgehend an seinem schlechten Zustand lag.
Gerade wandte sich einer der Droiden zu North um und setzte sich in Bewegung, aber Kyon war schon nahe genug und sagte: »Hier gibt es nichts zu sehen!«
Der künstliche Mann wandte ihm den Kopf zu und fragte nach seinem Namen, aber Kyon schüttelte den Kopf und sagte nur: »Mach deine Arbeit Droide!«
»Bitte nennt mir euren Namen, damit ich ein Protokoll erstellen kann.«
»Steck dir dein Protokoll in deinen öligen Arsch und verschwinde, sonst hagelt es Brandpfeile!«
Der Droide blieb stehen, folgte aber North und Kyon mit seinen Sensoren. Es war ihm anzusehen, dass er ein Problem mit seinen Direktiven und Kyons direktem Befehl hatte. Das eine schien gegen das andere zu wirken, aber einem unmittelbaren Befehl eines Smavari musste er offensichtlich Folge leisten.
Kyon war zweifelsohne aufgezeichnet worden. Erst jetzt, im Sonnenlicht, schob er seine Kapuze wieder über sein Haar. North hatte es besser gemacht. Sein Gesicht war die ganze Zeit verborgen gewesen. Andererseits, was sollte sein? Sie wussten sicher nicht, wer er war, denn wäre es anders gewesen, hätte der Droide gar nicht erst nach seinem Namen gefragt. Guten Mutes ging er dem Untoten hinterher, auf dessen Rücken der Kerkermeister baumelte.
Ughtred stand sofort auf, als die beiden aus der Zitadelle kamen. Er verscheuchte zwei Quinkkinder und öffnete den Sarg. Dann hob er Tals schlaffen Leib heraus und legte sie ins feuchte Gras zu seinen Füßen. Kyon stand zuerst nur da, aber als sich seine und Ughtreds Blicke trafen rollte er mit den Augen und half North den Entführten ebenfalls abzulassen. Dann sah er zu, wie der Untote in den Sarg stieg, sich niederlegte und Ughtred den Deckel anbrachte.
»Odugme?«, fragte Kyon und der Nygh deutete mit dem Daumen auf das nahegelegene Ufer des kleinen Sees neben dem Kerkerausgang.
Kyon rief nach dem Phani und dieser kam sofort angelaufen. Im selben Moment öffnete Tal ihre Augen und sog Luft in ihre Lungen. Kyon sah sich um. Da waren nur die beiden Kinder. Er berührte mit einer Hand einen Pfeil in seinem Köcher und machte dann ohne Bogen eine schießende Bewegung in ihre Richtung. Sie rannten davon.
Ughtred legte das Bündel mit dem Entführten auf den Schlitten, den sie für diesen Zweck mitgebracht hatten, und nickte Odugme zu. Dieser nahm die Ketten des Sarges auf und zog ihn, wie so oft schon, hinter sich her. Der Nygh nahm sich des Schlittens an und Tal half ihm. Von Kyon war diese Art der Hilfe natürlich nicht zu erwarten. Er ging hinter seinem Tross her und bildete die Nachhut. Da die Kinder noch immer in der Nähe waren, schoss er noch zwei imaginäre Pfeile auf sie ab und beide fielen imaginär tot zu Boden.
»So, und was nun?«, fragte Ughtred und war sich nicht sicher, die Antwort hören zu wollen.
»Zuerst schaffen wir ihn in den Keller und ketten ihn an die Wand. Nygh, schaffe Ketten herbei und sorge dafür, dass wir den Kerkermeister einkerkern können«, sagte Kyon in bestimmendem Tonfall und verpasste dem Besinnungslosen einen kleinen Tritt.
Tal besah sich den Zustand des Mannes und schüttelte den Kopf.
»Wir müssen seine Wunde behandeln oder ihn in Stase versetzen. Er könnte kollabieren.«
Kyon überlegte eine Sekunde und antwortete: »Stase hat noch selten geschadet.«
Tal holte ein Fläschchen hervor und gab einen Tropfen der unheilvoll aussehenden Flüssigkeit auf die aufgeplatzte Lippe des Verletzten und alle drei sahen gebannt zu, wie sich diese langsam dunkel färbten. Dann verebbte das Zittern des Mannes. Sein Brustkorb wurde ruhig und seine Haut nahm eine wächserne Oberfläche an. Sechzig Stunden Stase waren eingeleitet worden.
Plötzlich sagte Tal: »Ughtred, was ist das eigentlich für ein Stein in eurer Axt?« Sie fühlte in das Gewebe der Anderwelt und drang in den gelben Kristall. »Shimwas«, flüsterte sie.
Kyon hob die Schultern. »Zeig her!«
Ughtred machte ein genervtes Gesicht, hob die Axt vom Tisch auf, wo er sie abgelegt hatte, um die Hände frei zu haben, und reichte sie dem Silberwolf. Dieser wog sie in der Hand und nickte bevor er sagte; »Ganz klar, wir legen ihn um und packen den schmierigen Rest seines Innern in den Shimwas in der Axt.«
»Das machen wir ganz sicher nicht!«, sagte der Nygh bestimmt. »Wer braucht schon den vergammelten Geist eines Silberwolfes in seiner Waffe? Das ist mit Sicherheit alles andere als gut und extrem gefährlich.« Er rieb sich nervös mit der flachen Hand über das Zeichen in seiner Stirn.
Tal trat dasselbe bei ihrem Kriegshandschuh, in dem sich immerhin ihr Bruder befand.
Ughtred sah sie an und ehe Kyon etwas sagen konnte sagte er: »Nein danke!«
»Es ist nicht Gefährliche. Wer in einem Shimwas weilt, hat keine Macht und keine Interessen«, gab die Hexe zu bedenken, aber Ughtred hatte die Nase voll.
Sollten sie zusehen, wie sie mit ihrem Gefangenen klarkommen. Er musste aus diesem Geisterhaus raus. Er brauchte frische Luft.
Ohne ein weiteres Wort nahm der Nygh seine Axt und ging.
»Vergiss die Ketten nicht«, rief im Kyon hinterher und lachte dabei.
Ughtred wankte müde durch die Gassen der für ihn immer noch fremden Stadt. Es war noch früh am Tag, aber er fühlte sich unendlich müde. Die beiden Verrückten schafften ihn. Er versuchte, sich auf seine Vorhaben zu konzentrieren. Ja, er würde sich um Ketten für den Kerkermeister kümmern, aber dies war tatsächlich nicht der Grund, warum er so schnell auf Kyon eingegangen war. Er hatte in den letzten Tagen immer wieder an seiner kleinen Werkstatt gearbeitet und nun war er endlich in der Lage, dort etwas Produktives zu vollbringen. Er wollte Schlösser bauen. Korezuul hatte ein uralte Tradition in Sachen Schmiedekunst und so hatte er ein handtellergroßes Vorhängeschloss entworfen und einen Prototyp gebaut.
Die Straßen füllten sich gerade, denn die beiden Sonnen waren auf dem Weg sich schlafen zu legen und in Shishney bedeutete dies, die abendlichen Aktivitäten konnten beginnen. Verschlafen und blinzelnd traten Silberwölfe aus ihren Häusern und machten sich auf den Weg. Ughtred wollte gar nicht wissen, was sie vorhatten. Seiner Erfahrung nach konnte es bestenfalls etwas unmoralisches, in schlimmen Fällen jedoch etwas mörderisches sein.
Je mehr der schlanken Elt die Gassen bevölkerten, desto unwohler fühlte sich der Nygh. So beeilte er sich, den Platz vor der Wacht zu erreichen und nach Nordwesten in Richtung Quinkstadt abzubiegen. Die Quink verstand er in vielem auch nicht, aber sie waren ihm dennoch deutlich näher als die Herren Shishneys.
Auf dem Pilzmarkt angekommen – er hatte gelernt, immer hier nach Dingen zu fragen, die er suchte – ließ er sich zu einem Lageristen führen. Diesem zeigte er sein Vorhängeschloss. Der ältere Mann begutachtete die Arbeit und fragte nach ihrer Herkunft. Ughtred beteuerte, das Schloss selbst gebaut zu haben. Woher er käme? Aus Korezuul.
Der Quink sah ihn ungläubig an und verzog das Gesicht, als er sagte: »Unmöglich. Niemand reist nach Korezuul.«
Ughtred sagte einfach nur: »Doch, ich. Ich bin ein Nygh aus Korezuul.«
»Dann seid ihr mittels eines Vortex hierher gekommen«, wusste der Lagermeister, aber Ughtred fehlte die Kraft, sich weiter mit diesen Dingen auseinanderzusetzen. Er fragte, ob Interesse an seiner Arbeit bestehe und der Quink sah sich das Schloss genauer an.
»Eine schöne Arbeit. Schlicht, stabil und handwerklich profund. Stammt sicher aus Moraid. Ein moraidisches Piratenschloss.«
Ughtred rieb sich die Stirn und sagte: »Ich sage dir, ich habe es gemacht. Hier.«
»Aber das ist doch ganz und gar uninteressant. Will keiner haben. Es kommt aus Moraid und so bieten wir es an. Ich nehme alle die du mir liefern kannst.«
Ughtred überlegte noch einen Moment, beließ es dann aber dabei. Egal, baute er eben moraidische Piratenschlösser. Erst ein Dieb, nun ein Fälscher, das passte ja wunderbar zusammen.
Er handelte Halbzeuge und andere Dinge aus, die er für die Werkstatt brauchte und hatte das Gefühl, ordentlich entlohnt zu werden. Zum Abschied streckte er dem Mann seine Hand zur Besiegelung des Geschäfts hin, aber der Quink kannte diese Geste nicht.
Der Nygh wollte gerade gehen, da fiel ihm doch noch etwas ein. Er fragte ohne große Hoffnung: »Sagt, kennt ihr einen Silberwolf, der sich mit der Zauberei und solchen Künsten auskennt?«
»In der ersten Straße der Oberstadt, wenn ihr hier vom Markt aus durch das Tor hinüber geht, hat der Elementarist Akanios ven Tashliakoko sein Refugium. Die Silberwölfe nennen diese Dinge ja nicht Zauberei oder Magie. Für sie sind es feinstoffliche Vorgänge des täglichen Lebens.«
»Mag sein. Danke für die Auskunft«, sagte Uchtred und machte sich auf den Weg. Die Devise lautete Zweitmeinung.
Wieder in der Oberstadt angekommen fragte er einen Arbeiter auf der Straße nach Meister Akanios und dieser zeigte ihm, wo er dessen Haus finden könne und erklärte, dass man den Elementaristen bloß nicht Meister nennen sollte, denn dies erinnere ihn nur daran, dass er diesen Titel nicht trug.
Ughtred zuckte mit den Schultern und ging in die angegebene Richtung.
Das Haus war grotesk, wie so vieles in der Welt der Silberwölfe. Links und rechts davon erhoben sich trutzige Mauern von feudalen Anwesen und schienen sich im Laufe der Zeit ausgedehnt zu haben, denn das Haus des Elementaristen maß nur noch zwei oder drei Schritte. Die Tür war so schmal, dass sogar Ughtred sich hindurchzwängen müsste. Das ganze Gebäude sah eingeklemmt und unglücklich zusammengedrückt aus. Er schüttelte den Kopf und klopfte an die unglaublich schmale Tür.
Ein schmaler Spalt in der Höhe von Ughtreds Knien öffnete sich und ein winziges, grünlich glimmendes Männlein lugte heraus.
»Ja?«, machte es und verzog sein Gesicht zu einer Fratze des Hasses.
»Ich würde gerne mit M…, äh nein, ja, mit Herrn Akanios sprechen.«
Das Männlein grinste boshaft und sagte: »Ich melde dich an.«
Damit schob es den Spalt wieder zu und war verschwunden. Ughtred blickte in den Himmel und zählte die Wolken. Dann begann er auf und ab zu gehen. Nach einer Weile setzte er sich auf den Bordstein gegenüber und stopfte sich eine Pfeife. Seine Geduld reichte für fast eine ganze Stunde, und gerade, als er erneut klopfen wollte, ertönte eine Stimme hinter ihm.
»Darf ich fragen, auf was ihr hier auf meinem Gehsteig wartet?«
Die Stimme klang jung und weiblich und gehörte zweifellos einer Silberwölfin. Als Ughtred aufstand und sich umdrehte, weiteten sich seine Augen vor Staunen. Genau der schmalen Tür des Elementaristen gegenüber gab es eine weitere, ebenso schmale Tür. Auch hier schien das Haus von anderen Anwesen eingezwängt worden zu sein. Warum war ihm das nicht eben schon aufgefallen? Er rieb sich die Stirn und besah sich die Bewohnerin des Hauses, die in der Dunkelheit stand und herausblickte.
»Ich bin Ughtred aus Dranought. Das liegt in Korezuul«, stammelte er ein wenig unbeholfen, aber die Kindfrau nickte nur freundlich und winkte ihn durch die Tür. Das Innere des Hauses war tatsächlich so schmal wie erwartet. Der Eingangsbereich hatte eine Breite von weniger als zwei Schritt und war darüber hinaus mit zwei schmalen Tischen und einem Schränkchen verbaut. Ughtred hatte trotz seiner Größe Probleme, der Gastgeberin zu folgen.
Sie führte ihn in ein Zimmer, welches nur unwesentlich breiter als der Flur war und eine Fülle von Möbeln aufwies, die es ganz und gar unübersichtlich machte. Tische, Stühle, Schränke und Regale schienen sich zum Teil bis an die hohe Decke aufzutürmen und nahmen ihm die Luft zum Atmen. Hinzu kam die seltsame Perspektive des Mobiliars. Alles war seltsam schmal und dafür recht hoch. Es gab Tische, die nicht breiter als Ughtreds Hand waren und auch die Stühle schienen gerade einmal zum Anlehnen zu reichen; für ein bequemes Sitzen waren ihre Sitzflächen einfach viel zu klein.
»Ich bin Nuorny Silyvee yr Northra«, sagte die winzige Silberwölfin, und ehe ihr Gast etwas erwidern konnte fügte sie hinzu: »Wie mein Nachbar gegenüber, widme ich mich der Alchemie und den okkulten Künsten. Wenn ihr zu ihm wolltet, seid ihr bei mir an der richtigen Adresse gelandet.«
Ughtred wunderte sich über das Ihr. Welche Silberwölfin hatte ihn je beim ersten Treffen so angesprochen? Er überlegte. War sie am Ende gar keine Kisadmurin? Aber nein, sie war genau so eine Silberwölfin wie Tal, sie war einfach nur kleiner. Jünger schien sie nicht zu sein, denn ihr Blick hatte etwas mehr als Erwachsenes.
Schnell nickte er und sagte: »Tatsächlich brauche ich eine Expertise in diesen Dingen.«
Er erzählte ihr von seiner Axt, beschrieb die Sache mit dem Shimwas und fragte schließlich, wie sie es sähe, den Geist eines Silberwolfes in einem Ding zu bannen und seine Kräfte darauf wirken zu lassen.
Seltsamerweise wollte die Alchemistin nichts über den Ursprung des Geistes im besagten Shimwas wissen. Sie überlegte einen Moment, nahm ein Glas von einem der Tische in die Hand und sagte dann mit einem rätselhaften Lächeln auf den Lippen: »Es gibt tausende und abertausende von Gegenständen, die mit einem Shimwas belegt wurden. Ich für meinen Teil, habe tatsächlich noch nie gehört, dass sich solch ein Artefakt negativ auf seinen Besitzer ausgewirkt hätte.« Sie machte eine Pause und fügte dann mit einem kleinen Lachen hinzu: »Das ist ja gerade das lustige bei einem Shimwas. Im Gegensatz zu anderen Geistspreichern, lässt er der in ihm gefangenen Entität keinerlei Handlungsspielraum. Geist und Seele erfahren eine Trennung und können so nicht mehr eigenständig interagieren. Es ist wie eine Stase. Manche Okkultisten behaupten, Wesen in einem Shimwas würden träumen, andere sagen, sie schliefen raumlos und ohne Empfinden und wieder andere vertreten die Meinung, sie gingen ganz darin auf und nichts von ihnen bliebe übrig. Auf jeden Fall, habe ich noch nie von einer Entität gehört, die aus einem Shimwas entkommen wäre. Einmal Shimwas, immer Shimwas, wie der Okkultist sagt.«
Sie lachte erneut, stellte ihr Glas ab und beugte sich näher zu Ughtred hin, um seine Stirn genauer zu begutachten. Sie murmelte etwas und wollte schon die Hand ausstrecken, um den Nygh zu berühren, aber dann entschied sie sich anders und sagte: »So, war es das oder kann ich euch noch anderweitig behilflich sein?«
Ughtred blinzelte und legte den Kopf schief. Er konnte die Silberwölfe einfach nicht einschätzen. War da etwas Anzügliches im Blick der Kindfrau?
»Was schulde ich euch?«, stotterte er und rieb sich die Stirn.
»Ich habe euch einen Gefallen getan, ihr werdet mir einen tun. So ist das in okkulten Kreisen.«
Okkulte Kreise, dachte Ughtred. Er war hierher gekommen, um sich beruhigen zu lassen, aber jedes Mal, wenn er versuchte, die Welt der Silberwölfe zu begreifen und sich mehr in sie zu integrieren, hatte er das Gefühl, sich mehr und mehr in ihr zu verheddern. Er war wie eine Fliege am Rande eines gewaltigen Spinnennetzes. Früher oder später würde er ganz eingesponnen sein und dann würden sie kommen und ihn aussaugen.
»Gut«, sagte er tonlos und wandte sich der schmalen Tür zu. Er wollte nicht unhöflich sein, wusste aber auch nicht, was er sonst noch hätte sagen sollen. Doch die Alchemistin kam ihm zuvor und drückte sich an ihm vorbei, um ihn herauszulassen. Er bedankte sich höflich und betrat die Straße. Als er sich noch einmal umwandte, war die Tür hinter ihm schon wieder geschlossen und er musste sich darauf konzentrieren, das schmale Haus überhaupt zu erkennen. Wie machten sie das nur?
»Das wird ihn sehr verärgern, wenn wir es machen, ohne ihn noch einmal zu fragen«, sagte Tal zu Kyon und hob dabei ihre schmalen Schultern.
Der Barde schüttelte den Kopf und drehte die Axt in seiner Hand. Der Shimwas leuchtete gelb, als wisse er, dass von ihm gesprochen wurde. Kyon hatte die Axt aus Ughtreds Verschlag geholt, als der Nygh sein Anwesen verlassen hatte.
Jetzt stand er vor Tal, die am Küchentisch hockte und trotz der Gegenargumente der Hexe wussten beide, dass die Entscheidung längst getroffen war.
Kyon legte die Axt auf den Tisch und sagte verdrossen, aber ohne es ernst zu meinen: »Dann eben nicht, lassen wir den Scheißkerl einfach wieder frei.«
Tal strich mit einem Finger über die scharfe Klinge der Waffe und schüttelte den Kopf.
»Sicher nicht. Machen wir`s einfach.«
Sie stand auf und rückte ihren Lendenschurz zurecht. Kyon hob die Axt auf und wandte sich der Eingangshalle zu, wo sich die beiden Kellertreppen befanden.
Gemeinsam schritten sie hinunter und keiner von ihnen verschwendete auch nur noch einen einzigen Gedanken an die Moral ihres Vorhabens. Ihre Herzen waren kalt. Sie waren Smavari.
Im Keller beugte sich Tal über den Kerkermeister. Alag stand immer noch unter dem Einfluss ihrer Stasetropfen und seine Lippen hatten sich tief schwarz gefärbt. Kyon machte sich daran, den Mann auszuziehen und Tal entledigte sich ihrer eigenen Kleidung. Sie wollte sich nicht mit dem Blut des Monsters besudeln und viele Rituale der Doppelmondhexen sahen Nacktheit vor.
Als sie sich bückte, um ihre winzige Doppelklinge aus einer Tasche an ihrem Gürtel zu befreien, begann sie ein leises Lied zu summen, dass ihre Mutter ihr und Northrian vor hunderten von Jahreszeiten vorgesungen hatte. Sie streckte sich, strich sich mit einer der Spitzen der Ritualklingen über die Brüste und den Bauch und begann leise Flüche zu murmeln. Der Vorgang, einen übergehenden Geist in einen Shimwas zu bannen, war nicht schwer. Jede Hexe konnte es. Wahrscheinlich hätte sie es binnen weniger Minuten auch Kyon beibringen können, aber natürlich wahrten die Hexen ihre Geheimnisse.
Dann blickte sie in der Dunkelheit des Kellers den still am Boden liegenden Kerkermeister an und fand es irgendwie schade, dass der Mörder ihres Bruders sich in Stase befand und ihre Klinge nicht spüren würde. Doch dann machte sie eine schnelle Handbewegung und schnitt Alag die faltige Kehle durch. Es ging so schnell, dass Kyon es gar nicht richtig mitbekommen hatte und sie war sich selbst nicht sicher, ob sie es wirklich getan hatte. Doch dann bildeten sich zwei breite Rinnsale dunklen Blutes und liefen links und rechts der Wunde zum Kellerboden hinab. Die mittels Stase ohnehin extrem verlangsamte Atmung erlag sofort und keine Sekunde später griff Tal in das feinstoffliche Gewebe, fand die neuronalen Kontakte des Shimwas und betätigte ihn. Sofort entstand ein Sog in der Zwischenwelt und als sich der Geist des Sterbenden aus dessen Hülle löste, wurde er ohne Gnade in den Shimwas gezogen.
Noch ein letztes Mal rührte sich der Kerkermeister trotz Stase, dann verschied er und überließ seinen Geist und seine Seele den Mächten des smavarischen Artefaktes. Kyon griff nach der Axt und bekam einen elektrischen Schlag. Er zuckte heftig zusammen und ließ die Waffe wieder zu Boden gleiten.
Die nackte Hexe lächelte und sagte liebevoll: »Das ist der Shimwas. Er braucht einen Moment, bis er die Energien korrekt gebündelt hat. Dann ist es nur noch ein leichtes Kribbeln und mit der Zeit bemerkt man es überhaupt nicht mehr.«
Der Barde nickte und berührte den Griff der Axt erneut. Als er diesmal keinen Schlag bekam, hob er sie auf und wog sie in der Hand.
»Kann noch nichts spüren, ihr habt wohl recht«, stellte er fest.
Tal stand auf und rieb sich das Blut vom Handgelenk. Dann streckte sie den Rücken durch und brachte ihre, wenn auch derzeit kleinen, aber dennoch weit nach oben stehenden Brüste zur Geltung.
»Ich bin müde«, schnurrte sie und ließ dabei ihre Nackenwirbel knacken.
Kyon wandte sich ihr zu und fragte: »Tatsächlich?«
»Kommt drauf an.«
Später am Abend, Tal und Kyon waren gerade verschlafen und zerzaust aus dem oberen Stockwerk des Hauses herunter gekommen und Ughtred hatte in der Küche frischen Tee aufgesetzt, setzten sie sich alle drei an den länglichen Küchentisch und warteten, bis die Quink ihnen ein Abendessen servierten. Der Nygh wollte wie immer helfen, aber Kyon hielt ihn zurück und sagte: »Die waren teuer. Sollen was für ihren Unterhalt tun.«
Dennoch ließ es sich Ughtred nicht nehmen, dem alten Hausmeister die schwere Suppenschüssel abzunehmen, als dieser sich keuchend dem Tisch näherte.
Er stellte das Behältnis in die Mitte des Tisches und sagte: »Ich muss mich bei euch bedanken.«
Tal und Kyon sahen ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Belustigung an.
»Na ja, die Sache mit dem Geisterdings in meiner Axt. Ich habe darüber nachgedacht und denke, dass es wahrscheinlich doch nicht schaden kann. Es ist also eher freundlich von euch, mich mit einer derart mächtigen Sache zu beschenken.«
Kyon lächelte böse und stand auf, um zu der Anrichte zu gehen. Dort hatte er die besagte Axt abgelegt. Jetzt nahm er sie auf und brachte sie zum Tisch.
Ughtred sah ihn an und hob die Augenbrauen.
»Ist erledigt«, sagte der Silberwolf und zeigte seine Zähne.
Ughtred ließ die Schultern sinken. »Echt jetzt?«, sagte er verdrossen.
Tal nickte und fragte in den Raum: »Und, ist schon was zu spüren?«
Kyon sah sie an und sagte triumphierend: »Habt ihr vorhin nicht schon genug gespürt Hexe?«
Tal streckte ihm die Zunge heraus und zeigte ihm den Mittelfinger ihrer linken Hand, eine Geste, die unter den Smavari als anrüchig genug empfunden wurde.
Ughtred berührte vorsichtig den Griff der Axt und sagte: ›Ist er da jetzt drinnen? Also ist er tot und da drin?«
Kyons Antwort kam prompt und ungerührt: »Sie hat ihn tranchiert wie eine Säbelgans und ausbluten lassen. Denke schon, dass er hinüber ist.«
Tal fügte hinzu: »Guckt nicht so betroffen. Er war in Stase und hat leider nicht einmal etwas davon mitbekommen. Wir können nur hoffen, die Okkultisten irren sich alle und er leidet in dem Shimwas.«
Kyons und Tals Blicke trafen sich und es war ihnen beiden anzusehen, dass sie an North dachten. Sofort bereute Tal ihre Worte und wandte sich dem Fenster zu, als sie sagte: »Zumindest werden Teile seiner Kräfte auf die Waffe übergehen. Kann sein, dass der Stein noch eine Weile braucht, um sich ganz und gar aufzuladen, aber ihr solltet jetzt schon eine Wirkung verspüren.«
Ughtred hob seine Waffe an und verspürte tatsächlich ein seltsames Kribbeln in der Handwurzel. Er griff fester zu und ließ die Kraft der Anderwelt auf sich wirken. Tatsächlich, da war ein Ziehen und Wirken in seinem Arm, welches sich Stück für Stück auf seinen ganzen Körper ausbreitete.
Kyon nickte und sagte: »Jetzt ist der blöde Wichser wenigstens mal wirklich für etwas gut.«
Der Nygh schüttelte den Kopf, zuckte mit den Achseln und sagte dann: »Also noch einmal. Ich bedanke mich für eure Umsicht, Frau Hexe, Herr Barde.« Und mit diesen Worten nahm er sich einen Kanten Brot, klemmte die Axt unter seinen Arm und verließ die Küche.
»Seltsamer Kauz«, murmelte Kyon und steckte dabei Tal ein Stück des hellen Quinkbrotes in den Mund. »Ich werde die Stumpen niemals verstehen.«
Tal kaute und sagte mit vollem Mund: »Vom Vögeln versteht ihr etwas. Vielleicht liegt es daran. Sicher habt ihr euer Gehirn weich gevögelt und seid darum so begriffsstutzig.«
Kyon verzog das Gesicht zu einer Grimasse und nahm einen großen Schluck der Suppe. »Zu viel Salz«, sagte er und spuckte den Rest auf den Fußboden. »Ich sollte Flark auspeitschen lassen, aber der Krüppel-Quink wird es kaum bewerkstelligt bekommen, und man kann wohl kaum von mir verlangen, dass ich es selbst erledige.«
Kopfschüttelnd sagte Tal: »Da war überhaupt kein Salz an der Suppe.«
»Aber es steht welches in der Nähe im Regal.«
»Oh ja, dafür sollte man die Quink tatsächlich alle auspeitschen, Herr Barde.«
»Ich peitsche gleich euch aus, Frau Hexe.«
»Oh jaaaaaaa.«
Sie hatte Mühe, sich zu orientieren. In den Wäldern waren ihre Sinne scharf und alles stellte sich klar und deutlich dar. Hier, an diesem Ort der eintausend Wohnhöhlen, hatte sie Probleme, zu erkennen, wo ein Revier endete und das nächste begann.
Langsam glitt sie durch die Gassen. Sie schwebte über Bächen aus Urin und Kot und hatte Mühe, die eindringlichen Gerüche zu sortieren. Überall um sie herum regierte die Niedertracht. Sie hasste ihre alte Tante. Noch schlimmer als Mutter Gier, war die Niedertracht von den schlechtesten Gerüchen aus den tiefsten Höllen der Anderwelt erfüllt. Kaum ein anderer Dämon war in seiner Art grausamer und gnadenloser als sie.
Gerade kam sie an einer Wohnhöhle vorüber, in der ein Mann einem Kind die Haut vom Rücken schälte. Sie knurrte leise und ihre eigene Gier begann sich zu regen. Dort schlug ein anderer Mann mit einer Rute auf eine Anzahl kleinerer Wesen ein und lachte, als das erste Blut zu fließen begann. Noch eine Höhle weiter aß eine Frau etwas, dass einmal gedacht, geliebt und gesprochen hatte. Sie selbst legte wenig Wert auf das Sprechen, aber sie liebte das Leben.
Sie hätte sich beinahe für den Mann mit der Rute entschieden, da bemerkten ihre scharfen Sinne etwas weiter entfernt eine ganz andere Qualität der Niedertracht. Da waren zwei, die gaben sich unterwürfig und zeigten sich ihrem Umfeld leidend, doch insgeheim, war es ihre Art, andere zu quälen. Sie taten es ohne Grund. Sie waren rein. Sicher, hatte man sie zu dem gemacht, was sie heute waren, doch sie hatten sich nicht dagegen gewehrt. Ihre Geister waren wach und ohne Gnade die unumwundenen Anhänger von Tante Niedertracht.
Sie knurrte amüsiert und hob vom Boden ab. Langsam schwebte sie an einer der Hauswände entlang und näherte sich den Dachgiebeln. Dann glitt sie mit den Krallen über den Ton der Ziegel kratzend über das Dach. Auf der anderen Seite machte sie einen Hüpfer auf eine hohe Mauer und von dort glitt sie wie eine dornige, grüne Flüssigkeit in den Hof hinab.
Die beiden Niederträchtigen hörten sie nicht kommen, aber sie erwachten aus ihren Alpträumen, als sie begann, ihr Fleisch zu fressen. Sie biss dem Männlichen mit einem Happs ein Bein ab und schnappte dann nach dem Brustkorb des Weiblichen. Dabei erfasste sie eine schlaffe Brust und riss sie in der Bewegung ab. Gurgelnde Schreie mischten sich mit ihrem eigenen Wüten und der Mann versuchte gar, mit einem Messer nach ihr zu stechen. Sie verbrannte ihm kurzerhand das Gesicht, aber nicht zu viel, gerade genug, dass seine Augen kochten und er noch schreien konnte. Doch dann geriet sie in Raserei und schnappte wie die Bestie die sie nun einmal war einmal hierhin und einmal dorthin und Finger, Hände, Arme und schließlich sogar ein Kopf, flogen lustig durch die Luft und platschten, der Schwerkraft der Tiba Fe gehorchend auf den blutigen Boden.
Als es vorüber war streckte sie sich und gab ein wohliges Schnurren von sich. Sie spie noch einmal grünes Feuer in den Nachthimmel hinauf, aber im selben Moment musste sie würgen und kotzte einen Arm aus ihrem Inneren hervor. Sie krümmte sich, denn an dem Arm hing eine Schulter und an dieser wiederum ein ganzer Mann und man kann sich sicher vorstellen, wie unangenehm es ist, sein muss, einen ganzen Mann aus sich heraus zu würgen!
Als Kyon schwer atmend die Augen öffnete, wunderte er sich als Erstes über den unglaublichen Gestank um sich herum. Er würgte, konnte aber nicht verhindern, dass ihm mit Galle vermengte Suppe aus den Mundwinkeln quoll.
Was war das nun wieder für eine Teufelei? Aber er wusste genau, was hier vorgefallen war. Er konnte sich wie immer an nichts erinnern und er traute weder der Hexe, noch dem Stumpen aus Korezuul, aber in dieser Sache gab es wohl längst keine Zweifel mehr. Er war ein Lykanthrop.
Irgendwo seitlich von ihm waren Stimmen zu hören. Wo war er nur? Mit verklebten Augen versuchte er seine Umgebung zu verstehen. Da war ein schwerer, aber niedriger Tisch. Eine Art Küche, oder ein Arbeitszimmer wie bei einem Lederarbeiter. Quink, dachte er. Es roch nach Scheiße und Blut. Verdammt sei mein Karma, was habe ich nur getan, um derart genervt zu werden? Er dachte an den toten Kerkermeister in seinem eigenen Keller. Das konnte es ja wohl kaum sein, oder? Oder Herr oder Frau Karma? Das hier wegen einem scheiß Monsterkerkermeister?!
Vorsichtig stand er auf und glitschte in etwas Nassem aus. Es war eine abgetrennte Hand, die in Blut und Kot unter ihm gelegen hatte. Er schüttelte das Ding von sich weg und versuchte mehr zu erkennen. Zwei, es waren wenigstens zwei tote Quink. Eine ältere Frau, deren Brustkorb weggerissen war und ein Mann, dem der Kopf fehlte. Wo war der Kopf?
Er schüttelte den eigenen Kopf. Irgendwo über ihm erschollen Stimmen. Links in seinem Blickfeld war plötzlich ein Flackern zu erkennen. Da war ein Fenster. Er musste hier raus.
Dann stellte er fest, dass er nackt war. Na das hatte noch gefehlt. Er war nackt und über und über mit Blut besudelt. Er wischte einen abgetrennten Finger aus seinen langen Haaren und wäre beinahe erneut in den Gedärmen der Toten ausgeglitten.
Rutschend und stolpernd suchte er nach einer Treppe und fand einen Aufstieg und eine Tür. Raus oder tiefer rein? Er überlegte, wo die Tür hinführen würde. Wenn er hier im Anwesen – wessen Haus es auch immer sein mochte – in den Hof hinauf ginge, würde man ihn zweifellos stellen. Viele Häuser, wie auch das seine, hatten Verbindungstunnel zu anderen Anwesen. Er ging zur Tür und hatte Glück. Sie ließ sich widerstandslos öffnen und offenbarte ihm einen zweiten, noch dunkleren Kellerraum und eine weitere Tür an dessen Ende. Schnell schlüpfte er in die dunkle Kälte und schloss die Tür hinter sich. Er zitterte und ging sehr vorsichtig, da er Bedenken hatte, in einen Nagel oder etwas Schlimmeres zu treten. Nach dem Raum gab es noch einen Keller und dahinter einen sehr langen Gang, der ihn wie erhofft unter den Straßen Shishneys zu einem anderen Anwesen führte. Er versuchte zu erkennen, wessen Haus er hier von unten betrat, aber Keller sahen für ihn alle gleich aus. Als er das Ende des Fluchttunnels erreichte, hatte er erneut Glück, denn auch die hiesige Tür war unverschlossen. Schnell machte er sich eine geistige Notiz, seine eigenen Kellertüren aufschließen zu lassen, falls einer seiner Nachbarn einmal in einer ähnlichen Situation sein sollte. Er hatte sein Karma ja offenbar schon genug belastet und musste unbedingt für ein wenig Ausgleich sorgen.
Vom Keller des zweiten Hauses betrat er einen Innenhof. Den hier ruhende Midyar bemerkte er leider zu spät. Er wollte gerade das Tor zur Straße öffnen, da hörte er hinter sich ein Brummen. Gleichzeitig erscholl einige Straßen weiter lautes Geschrei und das Getrappel vieler Füße. Mistgabeln und Fackeln – sie suchten nach der Bestie. Sie waren aufgebracht.
Er musste an die Räuber von Diry denken. Was hatte sie so weit gebracht, sich endgültig gegen ihre Herren zu wenden und sogar zu den Waffen zu greifen?
Kyon wandte sich dem Reptilkrieger zu und machte eine beschwichtigende Handbewegung. Der Midyar stand auf, ließ aber seine zackige Keule am Boden liegen. Er nahm auch keine bedrohliche Haltung ein und Kyon war trotz der prekären Situation fasziniert, dass ein derart grobes Wesen offenbar doch in der Lage war, seine Gefühle zum Besten zu geben. Er musste unbedingt ein Lied über die Schuppenköpfe schreiben. Titel wie ›Stachelherzen‹ und ›Gefühlvolle Wilde‹ gingen ihm durch den Kopf.
»Es ist alles gut, mein Großer«, sagte er in der Dunkelheit des Hofes, in der er nur die bernsteinfarbenen Augen des Midyar erkennen konnte.
Das Wesen hob nun doch die Keule vom Boden auf und Kyon schwante, dass eventuell nicht alles gut sein könnte. Ohne ein weiteres Wort schob er den schweren Verschlussbalken zur Seite und ließ ihn donnernd auf den Steinboden fallen.
Seine Flucht brachte ihn vom westlichen Teil der Turmstadt durch die Übergangswege zur Oberstadt. Er hörte zwar immer wieder die Rufe des Mobs, begegnete aber niemandem, der ihn aufzuhalten versuchte. Die Smavari mieden offenbar die Straßen in dieser Nacht. Sie hatten ein Gespür, wie weit sie gehen konnten. Diese Nacht war eine Blutnacht und diese feierte man besser hinter verschlossenen Toren. Selbst die Wachten schienen kein Interesse an der Sache zu haben, aber Kyon war dies ganz recht so. Er hatte kein Interesse daran, erklären zu müssen, warum er splitterfasernackt und mit dem Kot und Blut von Quink besudelt durch die Straßen Shishneys wanderte.
Außer Atem erreichte er schließlich sein Haus. In der Küche brannte Licht, aber auch hier hatte er kein Interesse an einem Gespräch. Also schlüpfte er in den Hof, schlich an Ughtreds neuer Schmiede vorbei und öffnete die Außenluke zum Keller. In der Waschküche säuberte er sich und als er das Gefühl hatte, halbwegs rein zu sein, fing er genervt von vorn an. Erst als er sicher war, nicht mehr nach den Toten zu riechen, warf er sich ein Hemd über, das hier klamm auf einer Leine hing.
Er wollte schon nach oben gehen, aber dann verharrte er in der kalten Luft des Kellers. Langsam wandte er sich einer der Türen zu. Er öffnete sie, lauschte einen Moment und ging in den nächsten Raum. Von hier aus nahm er eine schmale Treppe und kam schließlich in einen der beiden Hauptkeller. Auf dem Boden lag der Tote. Die Stase schien noch zu wirken, denn seine Haut war immer noch wächsern und seine Lippen schwarz. Oder waren dies einfach nur die natürlichen Merkmale des Todes?
Kyon bückte sich, nahm Alags Füße und begann den Leichnam hinter sich her zu ziehen. Von hier aus war es recht weit, aber er musste diese Situation hinter sich bringen. Die Treppen in die Tiefe zur Schmiede hinunter waren am schwierigsten, aber obwohl der Kerkermeister dutzende Male schwer mit dem Kopf auf die Stufen schlug beschwerte er sich nicht.
Kyon löste die Ketten und gab den Code in das Sicherheitsschloss der Tresortür der Schmiede ein. Als er die Tür langsam auf zog, blieb im Inneren alles still. Ohne weiteres Zögern schob er den Toten hinein und machte sich daran, die Tür sorgfältig zu verschließen. Sollte der grimme Zangenbrand mit Alags Leib tun, was Maskenmännlein eben mit Toten machten. Ihm war es egal. Er lebte.
»Nicht die Scherbe«, rief sein Vater und versuchte seiner Frau den geliebten Gegenstand zu entringen. Sie keifte und fauchte wie eine Giebelkatze.
»Was denkt ihr euch überhaupt? Bin ich eine Quink, dass ich in diesem Loch leben muss? Wir haben gerade nicht genug Ressourcen, um uns über Wasser zu halten. Wann haben wir die letzte Soiree ausgerichtet?«
Kyons Darm entleerte sich und er gluckste fröhlich, als sich um ihn herum ein stinkender See auszubreiten begann. Mit seinen Patschehändchen den braunen Brei verteilend versuchte er auf sich aufmerksam zu machen, aber Mutter und Vater waren zu sehr mit diesem Ding beschäftigt. Blödes Ding.
Sie hatte es gepackt, doch er ließ es nicht los. Hin und her tanzten sie durch den Raum und versuchten dabei, den Nachbarn ihre Standpunkte klarzumachen. Die Alte Quink, eine der letzten Sklavinnen, die dem Haus geblieben waren, kam herbeigeschlurft und begann den Boden und dann Kyons Hintern zu säubern.
»Es ist von weltbewegender Wichtigkeit, Weib!«, rief Lonkaiyth.
»Prunk ist von weltbewegender Wichtigkeit!«, konterte seine Frau. Sie zerrte an dem Ding und schubste den Gatten dabei quer durch den Raum, sodass dieser durch die Scheiße seines Sohnes schlitterte und ausglitt. Als Kyon den riesigen Schatten von seines Vaters Hintern auf sich zukommen sah …
… schreckte er aus dem Schlaf. Er schüttelte sich und versuchte in der Realität anzukommen. Was war das für ein Ding gewesen? Welche Rolle spielte es? Er hatte selten Kindheitsträume, daher musste es eine Rolle spielen. Wollten seine Träume und Visionen ihm etwas bestimmtes sagen und er verstand es nur nicht? Was bei allen Nugai hatte der Mann in dem fahrenden Haus von ihm gewollt? ›Nie wieder Prag‹, oder ›niemals Prag‹, hatte er gesagt.
Müde und von all diesen Dingen überanstrengt, richtete er sich im Bett auf und schob Tals Beinen von sich herunter. Sie hatte aus ihrem Leib einen Knoten gebildet, der sein rechtes Bein zu einem Teil von ihr gemacht zu haben schien.
Er grunzte und schob sie vom Bett. Danach stand er auf und konzentrierte sich auf sein Gemächt. Er hatte es ordentlich wachsen lassen, aber jetzt nervte es ihn und er musste dringend pinkeln. Also stellte er sich in eine Zimmerecke und zielte in die hier stehende Blumenvase. Zuerst prallte alles an den vor langer Zeit getrockneten Blumen ab, aber als er sie mit seinem Strahl vernichtet hatte, landete der Rest in der Vase. Er war ein Drache, der mit seinem Odem Vernichtung über die Welt brachte.
Was war das für ein Ding? ging es ihm wieder durch den Kopf. Mutter würde es wissen. Sie hasste es, wenn er stank, vor allem wenn er nach Weibern stank, also musste er sich waschen. Immer musste alles so kompliziert sein. Er hatte einmal gehört, dass seine smavarischen Vorfahren so lange Zungen gehabt hatten, dass sie sich ganz und gar damit reinigen konnten. Degenerierte alles mit zunehmender Realität?
»Was war das für ein Ding, um das ihr euch mit Vater gestritten habt?«
Seine Mutter kämmte sich die Haare mit einem feinen silbernen Kamm. Ein dünnes Holzplättchen trennten ihre Finger von dem unguten Metall, aber er wunderte sich trotzdem, warum sie keinen Kamm aus Bernstein oder Holz verwendete. Sie hatte einmal gesagt, die Macht des Silber würde ihr Haar beleben. Er wusste, wie belebend Silberpfeile auf smavarische Haut wirkten und zog Holzkämme vor.
»Wir haben uns um alles gestritten, mein Sohn. So ist das in der Ehe«, sagte sie seltsam klar und beschäftigte sich weiter mit dem Teufelskamm.
»Ich meine die Scherbe, so ein gelbliches Ding. Es sah aus, als sei es aus Glas, aber dann auch wieder nicht, denn es schien hart wie Metall zu sein.«
Da hob sie den Kopf und blickte an ihm vorbei, zu ihrem großen Ehebett hinüber. Einen Augenblick dachte er, sie wäre wieder in ihrer Traumwelt versunken, doch als sein Blick dem ihren folgte, sah er das Holzbrett über dem Kopfteil des Bettes. An dem Brett gab es zwei kurze Arme. Das Holz war alt und ausgeblichen und nur da, wo die beiden Ärmchen hervor standen, gab es eine dunkle, gebogene Stelle. Da musste es gehangen haben.
Er stand auf, kroch über das Bett und berührte das Holz als er flüsterte: »Und was war es?«
»Ressourcen, mein Sohn.«
Er wandte sich zu ihr um.
»Und wo ist es jetzt?«
»Er hat es mit sich genommen und es war nicht bei den Sachen, die sie mir von ihm zurückgegeben haben.«
»Verdammt«, flüsterte Kyon, ging zu seiner Mutter zurück und küsste sie auf die glatte Stirn.
Er musterte ihr Gesicht. Es hatte sich verändert. Sie wirkte etwas jünger.
»Wir müssen die Sache endlich vorantreiben«, schimpfte Tal und stopfte sich ein Stück des grünlichen Teebrotes in den Mund. »Dss kon nmuglech ss waida gehn«, sagte sie mit vollem Mund und spuckte Krümelchen über den Tisch.
Ughtred starrte in seinen Krug und schnippte einen Brotkrumen von seiner Hand.
Kyon sagte: »Der Schmied wird`s schon machen.«
Tal würgte den Brei in ihrem Mund herunter und keifte: »Er soll es schneller machen! Geht zu ihm und macht Druck!«
»Der Nygh solls machen. Ughtred, geh zum Schmied und mache Druck.«
Der Angesprochene nahm einen Schluck aus seinem Humpen und strich sich mit der anderen Hand über die Stirn. Es nervte ihn natürlich, wenn sie ihn wie einen Boten behandelten, aber die Hexe hatte natürlich recht. Niemand konnte sagen, wie lange der Schmied brauchen würde dieses elende Zahnrad zu reparieren und er wollte nach Hause. Kein Zahnrad, kein Korezuul. Also stand er auf und ließ die Schultern knacken. Als er bedrohlich seine Axt anhob, die sofort noch bedrohlicher zu vibrieren begann, verstummten die beiden anderen, ließen die Ohren hängen und sahen ihn mit großen Augen an, als hätte ein Erwachsener Kinder bei einer Untat ertappt, die er ihnen schon hundert Mal verboten hatte.
Ughtred verzog sein Gesicht und sagte: »Buyrns«, das Wort für Kinder in seiner eigenen Sprache.
Als er über die Brücke nach Quinkstadt ging, hockten da wie immer Frauen und Männer und angelten. Er grüßte höflich, erhielt aber nur mäßige Reaktionen. Am Ende der Brücke krümmte sich ein Quink zusammen und Ughtred dachte schon, dem Mann ginge es schlecht, doch als er ihn ansprach, ob er Hilfe benötige, erkannte der Nygh, dass er den Mann nur dabei störte seine Notdurft zu verrichten.
»Klappt noch«, sagte der Quink und hob eine Hand, als wolle er sagen: »Guck, sogar mit nur einer Hand.«
Ughtred ging schnell vorüber. In Dranought schiss verdammt noch eins keiner auf die Straßen. Es gab nicht einmal Bettpfannen. Wozu auch? Jedes Haus hatte einen Abtritt. Er schüttelte den Kopf und ging weiter.
Der ölige Ruß verpestete die Luft um die Schmiede. Myrlan Amyithas Darin stand gebeugt über der Esse und zog gerade ein langes Werkstück aus der Drachenglut. Dann schlug er mit einer Eisenkugel auf das glühende Metall. Sein goldener Arm schien der perfekte Ersatz für einen Schmiedehammer zu sein. Funken flogen und der alte Silberwolf schob die Arbeit zurück in die Glut.
Sein Geselle, der neben ihm stand und einen überdimensionierten Blasebalg bediente wischte sich den Schweiß aus dem rußgeschwärzten Gesicht. Drei Schlagphasen später machte der Schmied ein Zeichen und ließ die Eisenkugel sinken. Er brauchte eine Pause. Ohne den Nygh zu beachten schlurfte er in den überdachten Teil der Schmiede.
Seklaid sah den Besucher an und wartete was dieser zu sagen hatte.
»Zahnrad?«, schnaufte der Nygh und ließ die Schultern hängen.
Der Quink deutete auf die Esse, in der das Metall wieder eine rote Farbe angenommen hatte. »Das ist ein Auftrag der Scherbenesser«, sagte Seklaid. »Dauert sicher noch bis zum Ende der Jahreszeit oder sogar noch bis weit in den Sommer hinein. Aber dann kommt gleich als nächstes euer Zahnrad. Das dauert ja nur vier, fünf Tage.«
Ughtred starrte den Mann an und musste an sich halten, nicht dieselben Manieren zu verfallen, die hier in Shishney üblich waren.
»Kann er es nicht vorziehen?«
»Die Chentai sind schwierige Klienten.« Er sprach dieses Wort aus, als wäre es eine Schlange, die ihm in die Zunge gebissen hatte. Dann betätigte er einen Hebel an der Esse und Funken stöbern auf, als er verschwörerisch hinzufügte: »Aber natürlich könnte man das etwas machen. Für nur eine Ressource kann sich das Blatt wenden.«
Ughtred sah den Quink an. Bot er ihm gerade an, das Werkstück zu sabotieren?
»Und die Scherbenesser?«, fragte er mit schief gelegtem Kopf. »Wird dein Meister nichts merken?«
»Ich bin Seklaid der dritte und weiß, wie gefährlich die Silberwölfe sind, aber der Alte hat im Augenblick ohnehin nur noch Augen für die Mutter deines Meisters. Ach entschuldige, er ist ja nicht dein Meister.« Er lachte als er sagte: »Lass das einfach meine Sorge sein.«
Unmutig kramte Ughtred eine Ressource hervor und legte sie auf den steinernen Rand der Esse. Dann wandte er sich ab und ging wortlos. Er war ganz und gar in die Machenschaften dieses Landes eingegangen. Diebstahl, Korruption, Mord … was kommt als nächstes?
In der Küche roch es nach gekochtem Blut und Schokolade. Überall standen Töpfe und Pfannen herum und es herrschte ein heilloses Durcheinander. Unter der Anrichte rumpelte es und Gläser klirrten, als sie über den Steinboden kullerten.
Plötzlich pfiff ein Topf und Tal stieß sich, als sie sich aufrichtete.
»Au«, fluchte sie und rieb sich den Schädel. Sie nahm den Topf vom Feuer und goss ein wenig der brodelnden Flüssigkeit in eine flache Holzschale. Das Zeug stank wie die falsche Seite eines Zackenhorns und kühlte schnell ab. Sie stocherte mit einer ihrer Haarnadeln darin herum und hob dann den Deckel eines weiteren Topfes hoch.
»Was wird das, endlich ein Gift, dass auch bei Nyghs wirkt?«, fragte Kyon, der die Küche betreten hatte.
»Haltet das Mal«, sagte die Hexe und drückte ihm die Kasserolle, in die sie gerade einige Löffel Marmelade gegeben hatte, in die Hände.
Er steckte einen Finger in die Marmelade und leckte ihn dann genüsslich ab.
Tal rührte das sinkende Zeug mit ihrer Haarnadeln um und gab dabei den Inhalt des anderen Topfes hinzu. Dann sagte sie beschäftigt: »Ich mache Pralinen; genauer gesagt Blutpralinen.«
Kyon verzog das Gesicht. Es war also soweit. Sie hatte endgültig den Verstand verloren und würde sich in Kürze in eine blutdürstige Fledermaus verwandeln. Er hatte ja Erfahrung mit den Bluttrinkerinnen seiner Art. Warum passierte dies eigentlich immer nur Frauen? Gab es überhaupt männliche Vampire?
Er gab ihr den Topf zurück und sah zu, wie sie zuerst das Schokozeug in kleine Förmchen verteilte und dann die Marmelade dazu gab. Als letztes goss sie eine Glasur aus einer Blumenvase darüber. Das Ganze sah äußerst ungleichmäßig aus und die meisten der Förmchen waren übergelaufen.
»Schon fertig«, sang die Hexe und strich Kyon mit spitzem Finger einen Schokoladenrest auf die Nasenspitze. Sie lachte und leckte ihm dann schnell über die Nase.
Beinahe wäre er nach hinten gestolpert. Als wäre sie tatsächlich eine wirre Fledermaus, wedelte er sie mit den Händen von sich und fragte genervt: »Was soll denn das jetzt? In Shishney gibt es schönere und ganz sicher besser schmeckende Pralinen als das Zeug, dass ihr da zusammengerührt habt.«
Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen und ihre Ohren legten sich gefährlich nach hinten. Dann explodierte sie.
»Was das soll? Ich handle. Ganz einfach. Das soll das. Ich habe mir überlegt, was euer Vater im Tagebuch meinte, als er von einem Gastgeschenk für diese Spinnenmutter schrieb. Sie ist eine Bluttrinkerin und sie ist eine Frau und darum wird sie ganz sicher Blut und Pralinen mögen. Also habe ich Blutpralinen gemacht. Aus meinem Blut und mir meinen Händen. Was bei allen Nugai habt ihr gemacht? Wenn ihr glaubt, ihr könnt die Schwarze Perle durch das Vögeln von immer mehr und neuen Sexualpartnern erringen, täuscht ihr euch. Das wird nicht klappen. Das Tagebuch ist der Weg. Und es wäre an der Zeit endlich Mal wieder zu handeln.«
Die letzten Worte schrie sie so laut, dass ihr Speichel durch die Luft spritzte und in Kyons Gesicht landete.
Der alte Flark klopfte an das Arbeitszimmer des früheren Herrn des Hauses. Er hatte ihn nie kennengelernt. Er war noch gar nicht geboren gewesen, als dieser sich von einem Drachen fressen ließ. Er diente der Ayn und als sich schließlich ihre Sinne verdunkelten, ihrem Welpen. Die Ayn war eine strenge Frau, aber sie hielt sich an die Sitten und konnte mit Ressourcen umgehen. Dieser hier hingegen, ließ das Haus seit langer Zeit verkommen. Er kratzte sich mit einem Fingerdorn an der Schläfe und klopfte mit dem anderen an die Tür.
»Wer?«, klang es dumpf aus dem Arbeitszimmer.
Flark nannte seinen Namen und trat ein. Er berichtete von dem Besucher, der unten in der Halle auf den Herrn des Hauses wartete. Es sei der Meisterschmied und seine Belange wären dringlich genug.«
Kyon zog sich etwas über und schob den alten Quink zur Seite.
Zuerst wollte er nach unten gehen, doch dann dachte er daran, der verrückten Hexe begegnen zu können und überlegte es sich anders. Kurzerhand schickte er den Diener nach unten. Er würde den Gast hier im Arbeitszimmer empfangen. Er war ein Sliyn, der Schmied nicht. Sollte der alte zu ihm herauf steigen.
Kurz darauf klopfte Flark und kündigte Myrlan Amyithas Darin an. Der Schmied trat ein, verbeugte sich militärisch knapp und kam zur Sache.
»Allem voran möchte ich mich für eure Gastfreundschaft bedanken.« Bei diesen Worten schob er ein Säckchen mit Ressourcen über den Tisch.
Kyon nickte und bedankte sich ebenfalls.
Dann fuhr der Schmied fort: »Es geht um die Ayn. Eure Mutter.«
Wer sonst? Dachte Kyon und machte mir der Linken eine drehende Handbewegung, die Amyithas zum Fortfahren bewegen sollte.
»Es ist ihres Zustandes wegen«, begann der alte und erklärte umständlich, dass er nach neuesten medizinischen Erkenntnissen ein Neuronalkorsett geschaffen hätte, weiches seiner Meinung nach, die körperliche Schwäche der Dame des Hauses – er nannte ihren Namen nicht – überwinden könnte.
Kyon hörte sich das in Ruhe an und zuckte dann mit den Schultern.
»Zur Anprobe und eventuellen Übergabe müsste die Ayn leider nach Quinkstadt gebracht werden. Eine neuronale Verunreinigung auf dem Weg von dort hierher wäre zu riskant. Angebracht besteht natürlich keine Gefahr mehr.«
Kyon verstand kein Wort, aber was spielte das für eine Rolle? Er hatte nicht vor sich gehen den Willen dieses Mannes und schon gar nicht gehen seine Ressourcen zu stellen. Seiner Mutter würde es zweifellos gut tun, das Haus zu verlassen, selbst wenn die Reise nur nach Quinkstadt ginge. Dementsprechend hörte er überhaupt nicht weiter zu und erklärte dem Alten, er könne schon am morgigen Nachmittag, wenn der Tiefstand der Tagesgestirne es zuließe, mit einem Besuch des Hauses Yˋshandragor bei seiner Schmiede rechnen. Amyithas beteuerte seine Freude, erhob sich und ging.
Tal erwachte von einem brennenden Schmerz an ihrem Oberschenkel. Sie wühlte die Decken zur Seite und betrachtete im Halbdunkel des Zimmers die Stelle. Was bei den Nugai war das? Vorsichtig befühlte sie ein etwa daumengroßes, schwarzes Konstrukt auf ihrer Haut. Zuerst erkannte sie es nicht, aber dann verstand sie, dass es sich um das Zeichen der Zahl Vier in der Scherbenschrift handelte. Die Haut brannte, weil das Zeichen frisch tätowiert war. Eine Vier oder das Zeichen für Vura, was Fäuste bedeutete. Aber einzelne Zeichen stellten in den meisten Fällen Zahlen dar.
Sie berührte ihre Zunge mit einem Finger und dann mit diesem, von Spucke benetzt, das Tattoo. Sie rubbelte darauf herum, um es wegzuwischen. Ihre Haut färbte sich rötlich und brannte immer mehr. Aber die Glyphe ging nicht weg. Sie war nicht einfach aufgemalt. Sie war in ihrer Haut! Jemand hatte sie im Schlaf tätowiert.
Tal atmete tief ein. Das hatte nicht Kyon gemacht, da war sie sich sicher. Wer im Haus würde so etwas tun? Sie war fassungslos. Erneut begutachtete sie ihren Schenkel und tupfte mehr Spucke auf das Schwarz. Diesmal tat sie es nicht in der Hoffnung, die Glyphe entfernen zu können, sondern um die Schmerzen zu lindern. Dann öffnete sie eine ihrer Taschen, die unordentlich auf dem Boden verstreut lagen und beförderte eine Creme zutage. Sie fluchte leise und dann überlegte sie, warum ausgerechnet die Vier. Diese Zahl stand für die Ordnung und die Achsen der Realität. Realität und Ordnung, wie passend, war sie doch die ordentlichste Smavari, die sie kannte.
Erzürnt schüttelte sie ihr mittlerweile einigermaßen langes Haar und sprang aus dem Bett. Wer hatte das getan? Sie überlegte, kratzte die wunde Stelle und wurde immer wütender. Sie musste an die verrückte Ayn von Baiyl denken, aber selbst Yrdelaiy war nicht zur Ferntätowierung in der Lage. Konnte man mittels Anker aus der Ferne Zeichen in der Haut anderer hinterlassen? Sie schüttelte den Kopf und setzte sich neben das Bett um zu pinkeln.
Dann stand sie auf, wischte sich mit dem Bettzeug trocken und schnappte sich ihren Lendenschurz und eins der neuen Kleider, die sie von Kyons Ressourcen ertauscht hatte. Gift und Galle, dachte sie, kann doch alles nicht sein.
Die Ayn zog es vor, mit einer Kutsche nach Quinkstadt zu fahren, anstelle von einem Phani getragen zu werden; viel zu dekadent, so ein großer schwarzer Mann, der eine Dame auf den Armen trug. So bestellte Kyon einen zweirädrigen Wagen aus schwarzem Porzellan mit einem Droidenantrieb. Der Droide sah aus wie eine dreibeinige Lope ohne Kopf. Sein Körper bestand ebenfalls aus Porzellan und Metall. Die Fahrt ging langsam voran, denn Kyon hatte darum gebeten, allen Schlaglöchern auszuweichen. Er hatte Angst um die fragile Gesundheit seiner Mutter. Doch trotz der langsamen Fahrweise des künstlichen Tieres kamen sie kurze Zeit später in Quinkstadt an und hielten vor der Schmiede. Die Luft roch nach verbrannter Pestgalle und Kyon hoffte inständig, das dieser Ausflug nicht umsonst war. Drückend lagen die Ausdünstungen der Schmiede über dem ganzen Gebiet. Der Schmied selbst und sein Gehilfe standen auf dem Gehweg, der sich rund um das Gebäude zog, und erwarteten die hohen Gäste. Kyon stieg ab und hob seine Mutter aus dem Wagen. Sie trug ein altes schwarzes Spitzenkleid, dessen Ausschnitt eigentlich bis zu ihrem Nabel ging, nun aber mit einem Tuch abgedeckt worden war. Ihr faltiges, von Gram zerrüttetes Gesicht war von einem Schleier bedeckt.
Der Schmied hatte sich ebenfalls in Schale geworfen. Er trug eine grüne Jägerkluft, vielleicht ein Überbleibsel seiner militärischen Ausrüstung, und hohe schwarze Stiefel. Sein Haar glänzte zwar wie immer ungewaschen und fettig, aber er hatte es zu einem straffen Zopf nach hinten gebunden, was ihm immerhin einen verwegenen Auftritt bescherte.
»Willkommen in meinem bescheidenen Haus. Tretet doch bitte ein«, sagte er hohl und öffnete die Tür, indem er den Quink neben sich zur Seite stieß.
Kyon tat wie gebeten und wollte seine Mutter in die Schmiede tragen, aber Nyni`scie wollte auf ihren eigenen Beinen gehen.
Im Haus herrschte zwar immer noch heilloses Durcheinander, aber es war deutlich zu erkennen, dass man zumindest im Eingangsbereich mehrere Tische zur Seite geschoben und andere Dinge übereinander gestapelt hatte, um Platz für die Gäste zu schaffen.
Kyon fühlte sich unwohl. Er hatte nicht verstanden, was diese Vorstellung hier bringen sollte. Dennoch machte er gute Miene zum bösen Spiel und wartete, bis der Alte sich in der Mitte des engen Raumes aufgebaut hatte. Es war dem Mann anzusehen, dass er Lampenfieber hatte. Er schwitzte und zappelte wie ein Welpe, aber schließlich riss er sich zusammen und begann mit seinem Vortrag. Er sprach von Neuronen, neurologischen Erkenntnissen und einem Durchbruch in der medizinischen Altersversorgung. Er beteuerte, genau zu wissen, wie sein Arm funktioniere und sich genauestens in die Prothesenwissenschaften eingelesen zu haben. Dann ließ er einen Kristall ein Schaubild in die Luft werfen, dass niemand verstand.
Kyon nickte die ganze Zeit und wartete mürrisch ab, bis der Alte Luft holte und sagte dann: »Also gut, kommen wir zur Sache!«
Amyithas nickte und sagte: Also gut, hier ist es.«
Der Quink hob eine Art Korsett aus Gold und weißem Alabaster aus einer seltsamen blauen Truhe, die ebenfalls wie Armeebedarf wirkte.
Gold und weiß, nicht gerade sehr sexy, dachte Kyon und zuckte mit den Schultern.
Der Schmied, der seinen Blick gesehen hatte, erklärte, es handle sich um ein medizinisches Hilfsmittel, nicht um ein Kleidungsstück. Es müsse nun angepasst werden, und zu diesem Zwecke müsse er den Raum verlassen.
Kyon verzog das Gesicht und fragte platt: »Warum?«
»Unziemlich, wenn ich dabei wäre und meine Gefühle mich erzittern ließen.«
»Erzittern?« Kyon grinste verschlagen.
Der Schnitt machte eine Bewegung mit seiner gesunden Hand und deutete auf eine Tür, die sich prompt öffnete. Kyon hätte schwören können, dass die Tür eben nicht da gewesen war. Nun trat eine junge und wirklich schöne Smavari in den Raum. Sie trug ein einfaches, hellgraues Kleid, dessen Material so durchsichtig war, dass man die dunklen Vorhöfe ihrer großen Brustwarzen erkennen konnte.
Der Schmied erklärte, sie sei eine Helferin eines der Häuser der Oberstadt und verzichte auf die Nennung ihres Namens. Sie sei bezahlt, bei der Anprobe behilflich zu sein.
Kyon nickte dem Mädchen zu und wartete ab, was als nächstes geschah. Amyithas drückte sich an seinen Besuchern vorbei und es war ihm anzusehen, dass er es vermied, die Ayn anzusehen. Seinem Gehilfen ein Zeichen gebend, verließ er den Raum und der Quink überreichte das Korsett der jungen Silberwölfin und ging ebenfalls hinaus.
Sie Helferin betrachtete das Neurokleidungsstück interessiert und sagte freundlich: »Dann helfen wird der Dame sich zu entkleiden. Ich denke es wird genügen ihr Kleid abzustreifen und ihr eigenes Korsett zu lösen.«
Kyon hatte seine Mutter so oft nackt gesehen, dass ihm nichts an dieser Sache hier seltsam oder gar leiblich vorkam.
»Dann wollen wir mal«, sagte er mit einem Lächeln.
Würdevoll erwiderte Nyni: »Aber achtet darauf, mir nicht die Frisur zu verderben.«
Gemeinsam zogen sie die Ayn aus und legten ihr das goldene Korsett an den Rücken. Zwei spinnenartige Beine schoben sich oben heraus, legten sich auf die knochigen Schultern und kamen am oberen Brustansatz zur Ruhe. Die Helferin begann das Korsett zu schnüren, was ihr einigermaßen schwer von der Hand ging, denn die Ösen befanden sich auf der Vorderseite, was ihr ungewohnt erschien. Kaum schloss sich das Korsett, ging ein Zittern durch Nyni und ihre Haltung veränderte sich. Binnen weniger Sekunden strafften sich ihre Schultern, sie richtete sich auf und nahm eine durchaus gerade und stolze Haltung ein. Ihre Augen leuchteten als sie laut sagte: »Was starrt ihr mich an, wo bin ich hier und wer ist dieses bezaubernde junge Ding?«
Kyon war erstaunt. Er hatte nie mit einer derart schnellen Veränderung des Zustandes seiner Mutter gerechnet. Er stammelte: »Quinkstadt, Schmiede, ihr wisst schon, Meister Amyithas.«
Doch ehe Nyni reagieren konnte, fing sich Kyon und erläuterte er seiner Mutter, wo sie war und warum sie sich hier befand.
Sie hörte genau zu und erklärte sich mit der Gesamtsituation zufrieden, allerdings gedenke sie, keine Sekunde länger in Quinkstadt zu verweilen, da die Luft hier unerträglich sei.
Dies wiederum brachte Kyon zum Lachen. Er stimmte zu und wartete, bis die namenlose Helferin der Ayn in ihr Kleid geholfen hatte. Dann öffnete er die Tür und ließ die beiden Frauen zur sinkenden Essen hinaus.
»Die nette junge Dame hat ihr Quartier in der Oberstadt. Ist das nicht ein netter Zufall?«, flötete die erstaunlich muntere Ayn und fügte schnell hinzu: »Natürlich werde ich sie mitnehmen. Unzumutbar für sie diesen stinkenden Ort zu Fuß zu durchqueren.«
Kyon nickte ergeben und hob seine Mutter in den Wagen. Dann setzte sich die Helferin neben die Dame. Als Letztes versuchte sich Kyon auf die Sitzbank zu zwängen, aber seine Mutter machte sich absichtlich breit und sagte: »Dieser Wagen ist ein Zweisitzer. Seid galant und lasst den Damen den Vortritt. Ihr strolcht doch ohnehin ständig in diesen zwielichtigen Gegenden umher.«
»Der Platz wird schon genügen«, sagte Kyon genervt, aber seine Mutter hob den Zeigefinger und deutete damit auf ihn, eine Geste, die sie seit langer Zeit nicht mehr angewandt hatte. Sie bedeutete, dass ihre Ansicht anerkannt werden musste und zwar ohne Widerworte.
Kyon ließ die Schultern sinken und gab dem Droiden Anweisung zur Oberstadt und dort zum Haus Yˋshandragor zurückzukehren und die Damen dort abzusetzen.
So stand er im Schmutz vor der Schmiede und blickte der Kutsche hinterher. Als er sich umwandte, sah der Schmied seltsam zufrieden aus und der Quink grinste hämisch. Kyon nickte den beiden zu und machte sich auf den Heimweg.
»So, jetzt trinken wir Mal gemeinsam einen Becher Gerstensaft, Herr Odugme«, sagte Ughtred zu dem schwarzen Riesen, der auf einem grotesk winzigen Schemel neben der neuen Werkstatt des Nyghs hockte.
Der Angesprochene schob die von Ughtred modifizierte Maske in der dafür vorgesehenen Schiene nach oben, wo sie an einem Pivotpunkt einrastete. Dann nahm er dem kleinen Mann den dargereichten Becher aus der Hand und nippte vorsichtig. Nur ein Wenig der goldbraunen Flüssigkeit rann an dem Versatzstück in seinem Kinn entlang und benetzte seine breite, glatte Brust. Ughtred nickte freundlich, prostete dem Phani zu und nahm selbst einen tiefen Schluck. Dann versuchte sich der Nygh mit einer Unterhaltung mit dem Freund. Denn genau dies war Odugme für ihn. Sie waren gemeinsam durch die Hölle gegangen und auch wenn die verrückten Silberwölfe den Phani als Sklaven oder gar Gegenstand betrachteten, für ihn war er ein Mann, ein fühlendes Wesen, dass treu an seiner Seite gekämpft und gelitten hatte.
»Gibt es etwas, was du dir wünschst?«, fragte er vorsichtig, denn er wollte den Phani nicht verletzen. Er konnte die Gefühlslage des Mannes nur schwer einschätzen.
Odugme nahm einen vorsichtigen Schluck und sah dann zu Ughtred hinunter. In seinen Augen gab es eine klare Diskrepanz zwischen den Worten Du und Wünschst. Er war ein Sklave, geschaffen den Silberwölfen zu dienen, Wünsche, waren innerhalb dieses Daseins nicht inbegriffen. Beinahe hätte er den Kopf geschüttelt, aber Ughtred schien zu ahnen, was in ihm vor sich ging und der Nygh nickte einfach nur. Dann sagte Ughtred etwas Belangloses über das Wetter und den derzeitigen Frieden, um die Stimmung nicht abfallen zu lassen.
Doch plötzlich hob Odugme ein Stöckchen auf und begann etwas zwischen den Sandalen des Nyghs in den gestampften Boden des Innenhofes zu ritzen. Er begann mit zwei nebeneinander stehenden Kreisen, doch schnell folgten Striche und Punkte und schon war ein Strichmännchen, besser gesagt ein Strichfräulein mit beachtlicher Oberweite, entstanden.
Ughtred sah den großen Mann an und legte den Kopf schief. Immerhin hatte man dem Phani, wie allen Männern seiner Art, bei der Geburt das Geschlecht genommen. Sehnte er sich dennoch nach den Zuwendungen einer Frau? Der Nygh trank sich Mut an und fragte: »Du willst eine Frau?«
Odugme schüttelte nun bestimmt den Kopf, deutete dann zuerst auf seine Zeichnung, und dann auf sich. Als nächstes legte er den Zeige- und Mittelfinger seiner linken Hand nebeneinander und schob beides vor sein Herz.
Ughtred verstand. »Es gibt eine bestimmte Frau! Verdammte Scheiße. Und wo? Daheim?«
Der Riese schüttelte den Kopf. Dann zeichnete er ein Haus neben die Frau und deutete auf die Stadt hinaus.
»Du hast sie auf der Schiffsreise oder sogar schon davor kennengelernt und jetzt lebt sie hier in der Stadt der Silberwölfe? Weißt du wo?«
Odugme nickte. Er zeichnete den Herrn Kyon mit einer Laute und weitere Frauen und ein Hausdach darüber. Dann deutete er in eine bestimmte Richtung die Straße hinunter.
»Ein Haus, in dem der Barde verkehrt. Hier in der Nähe?«
Ein Nicken.
»Das Haus Lysai?« Ughtred schüttelte den Kopf bei diesen Worten, wusste aber im selben Moment, dass er richtig lag. Schon nickte der Phani und machte ein kehliges Geräusch, welches wahrscheinlich ja bedeuten sollte.
»Wie ist ihr Name?« Ughtred vergaß immer wieder, dass Odugme nicht sprechen konnte, aber der Riese öffnete den Mund und sagte etwas, das wie ›Wadaa‹ klang.
»Scheiße nochmal«, sagte Ughtred und trank den Rest seines Gerstensaftes mit einem Schluck. Dann stand er auf und gab vor, nun keine Zeit mehr zu haben. Er müsse Besorgungen machen und seine nächsten Schmiedearbeiten vorbereiten. Der Phani nahm ebenfalls seinen letzten Schluck und schob seine Maske herunter.
Ughtred ging kurzerhand in seinen Verschlag, nahm einen Umhängebeutel mit einigen Ressourcen auf und zog eine Jacke über. Dann ging er in den Hof zurück und verabschiedete sich von dem Freund. Sein Weg stand fest. Das Haus Lysai war sein heutiges Ziel.
Natürlich hatte er wenig Hoffnung, etwas für Odugme tun zu können. Ein Phani galt als Statussymbol und war sicher weit mehr Ressourcen wert, als er in mehreren Jahreszeiten ansparen könnte. Aber sein Vater hatte ihn nicht zu einem Pessimisten erzogen, also hatte er beschlossen, zumindest zu fragen. Das Haus Lysai lag ja nur wenige Minuten vom Hause Yˋshandragor entfernt in einer Seitenstraße.
Es war früher Nachmittag und Ughtred genoss das Licht der Tagesschwestern. Die Zeitgewohnheiten der Silberwölfe waren für ihn oft schwer zu ertragen. Er mochte den Tag, sie die Dämmerung. Hier, in Shishney, gingen sie jedoch häufig getrennte Wege. Dieser Umstand hatte dazu geführt, dass er begann, sich wieder an seinen eigenen Biorhythmus zu gewöhnen. Er wusste zwar, dass er dies noch bereuen würde, aber er hatte auch keine Lust, sich zu etwas zu zwingen, wenn es aktuell nichts brachte.
Vor dem Haus Lysai stand ein Quink und ein Midyar. Die beiden sahen ihm entgegen und der Quink fragte ihn, in wessen Auftrag er hier sei. Ughtred verneinte und erklärte, er sei in eigener Sache hier und wünsche den Herrn des Hauses zu sprechen. Der Quink versuchte ihn abzuwimmeln, aber der Nygh blieb hartnäckig und sprach von anstehenden Geschäften mit dem Herrn des Hauses. Also klopfte der Wächter an.
Die Tür öffnete sich und ein weiterer Quink fragte, in wessen Namen Ughtred spräche und wieder erklärte der Nygh, dass er in eigener Sache hier wäre. Dann wurde er zu einem jungen Silberwolf in einem durchsichtigen Gewand vorgelassen und bekam zum dritten Male die gleiche Frage gestellt.
Leicht verärgert bestand er darauf, den Hausbesitzer zu sprechen und kein weiteres Mal aufgehalten und befragt zu werden.
Der Helfer nickte. Offenbar hatte er die Axt des Nyghs bemerkt und da er sich nicht mit dem Status dieser Ethnie auskannte, wollte er kein Risiko eingehen, in Stücke gehackt zu werden. Also beschloss er den Herrn des Lysai um Rat zu fragen und verschwand gerade noch früh genug.
Ughtred ging auf und ab. Er hasste diese Art der Unterwürfigkeiten, der seltsamen Etikette und vor allem dieses von oben herab, wenn es um verschiedene Spezies ging. Er selbst machte keinen Unterschied zwischen sich und den Silberwölfen und auch die Quink waren für ihn gleichrangig. Dann kamen ihm die Hobgoblins in den Sinn und er wischte diesen Gedanken ärgerlich aus seinem Gehirn.
Der Helfer erschien und lächelte wie ausgewechselt. »Herr Pegual Athmortis erwartet euch. Ich habe euren Namen nicht verstanden?!«
Ughtred nannte seinen Namen und überlegte einen Moment. Pegual, genau. Er erinnerte sich an den Mann. Groß, extrem helles Haar und seltsam leere Augen. Er hatte einmal gehört jetzige Besitzer des Lysai wäre einst ein Scherbenesser gewesen und hätte die Gilde zu Gunsten einer Frau verlassen. Der Wahrheitsgehalt dieses Gerüchts jedoch war schwer auszuloten, zumal die Scherbenesser keinen Spaß verstanden, wenn einer der Ihren abtrünnig wurde. Wie auch immer, Pegual war wenigstens ein Name, den Ughtred sich merken und den er halbwegs korrekt aussprechen konnte.
Das Arbeitszimmer des Silberwolfes war geschmackvoll eingerichtet. Die Wände waren roh belassen aber zum Teil mit dicken Quinkstoffvorhängen verdeckt und die Möbel bestanden aus Holz und warmen Stoffbezügen. Ughtred hasste nichts mehr als Möbel, welche mit Quinkhaut bezogen waren. Diese Sitte der Silberwölfe stieß ihn mit Abstand am meisten ab.
Pegual lag mehr als er saß auf einem niedrigen Sofa und richtete sich auf, als der Helfer den Nygh in das Zimmer schob und seinen Namen nannte. Der weißhaarige Silberwolf deutete auf eine Kissenstatt vor ihm, wo auf einem sehr niedrigen Beistelltisch frische augapfelgroße Kapern und zwei Schalen mit Gelbwein standen.
»Ihr seid der Nygh«, stellte Pegual fest und nahm sich eine der Kapern.
Ughtred hob die Schultern und wollte gerade Peguals Aussage bestätigen, als dieser feststellte: »Ihr schuldet mir einen Phani!«
Ughtred hätte sich beinahe an seiner eigenen Spucke verschluckt. Verdammt, das konnte ja heiter werden. Und warum spricht mich der Kerl mit ihr und euch an? fragte er sich und überlegte, was er antworten sollte.
»Sorgt euch nicht, junger Freund, in der Stadt mögt ihr ein gesuchter Verbrecher sein, aber ich bin sicher, selbst der wahrscheinlich höchste Richter Shishney, der euch verurteilt hat, würde euch nicht erkennen. Solche Dinge sind nicht die Stärke von uns Smavari. Und ich für meinen Teil bin nicht nachtragend.«
»Dann würdet ihr mir vielleicht eine weitere Phani überlassen?«, platzte es aus Ughtred heraus.
Pegual sah ihn einen Moment an, weil er dachte, der Nygh hätte einen Scherz gemacht und er verstehe nur den Humor der Korezuulen nicht, aber Ughtreds Blick blieb fest und jetzt, wo er sein Anliegen vorgebracht hatte, war ihm auch tatsächlich wohler.
»Eine Phani, eine bestimmte?«, fragte der Weißhaarige und steckte sich eine weitere Kaper in den Mund. Er hatte seine Fassung wiedererlangt und schien die Unterhaltung nun noch mehr als zuvor zu genießen.
»Tatsächlich eine bestimmte. Ihr Name ist Wada, Oda oder Uda.«
»Oada«, sagte Pegual. »Eine Schönheit. Sie war in der selben Lieferung, die Ihr zusammen mit dem Schurken Chanrir bor Borygis sabotiert habt.
Ughtred zuckte mit den Schultern. Dann fragte er: »Wo ist denn der Schurke Chanrir bor Borygis?«
Pegual lachte und sagte: »Chanrir lebt irgendwo in einem Unterschlupf in den Sümpfen. Er ist ein Räuber und Verbrecher und er kommt mit seiner Band nur dann nach Shishney, wenn er denkt, einen guten Plan ausgeheckt zu haben. Der Letzte war ja offensichtlich nicht so perfekt.«
Endlich griff auch Ughtred nach einer der Kapern. Er schüttelte den Kopf und wischte damit die Sache mit dem Frachtschiff beiseite.
»Wieviel wird wohl so eine Phani wert sein Herr Pegual?«, fragte er stattdessen und der angesprochene konterte höflich: »Nun, so etwa 350 Ressourcen und mit dem anderen Phani, den ihr mir schuldet wären das glatt 700.«
Der Nygh schluckte die Kaper und ließ die Schultern sinken.
Pegual fragte: »Was wollt ihr denn mit Oada? Ist sie nicht ein wenig …« Er machte eine Pause, überlegte und sagte dann doch: »Ist sie nicht sehr groß für euch Herr Nygh?«
»Ich will sie nicht für mich. Sie gehört zu Odugme. Das ist der andere Phani den ich euch schulde. Sie gehören irgendwie zusammen.«
»Wie rührend. Ein Phanipärchen, hat man so etwas schon gehört?«, sagte Pegual und lachte dabei.
Aber dann hob er schnell beschwichtigend die Hand und sagte: »Ihr sollte sie haben!«
Ughtred sah verwirrt auf. Er kannte die Silberwölfe als verrückt, aber sie neigten wirklich nicht dazu, etwas zu verschenken. In dieser Hinsicht waren sie hart und zäh.
Er wollte etwas sagen, aber Pegual kam ihm zuvor: »Ich will eine Beteiligung! Vollumfänglich!«
Der Nygh hob die Augenbrauen und es war ihm anzusehen, dass er nichts verstand.
»Diese Sache mit eurer Unternehmung«, setzte Pegual nach. »Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor sprach schon mehrfach von seiner Queste, der Suche nach der Schwarzen Perle von Granband. Ich gebe euch die Phani und erlasse euch eure Schuld, was einer Generalamnestie gleichkommt und alles, was ich will, ist eine Beteiligung an der Unternehmung. Allumfänglich.« Er betonte das Wort Allumfänglich zum zweiten Mal und nickte dabei.
Ughtred wurde immer unwohler zumute. Was hatte er da nun wieder angerichtet? Er richtete sich auf den Kissen auf und sagte: »Verzeiht mein Herr, aber diese Entscheidung kann ich natürlich nicht treffen. Da müsste ich schon den Herr Sliyn und die Doppelmondhexe fragen.«
»Na dann los. Die Phani läuft uns sicher nicht weg«, lachte der Besitzer des Hauses Lysai und machte dabei eine lässige Handbewegung, die seinen Gast entließ.
Ihr Oberschenkel juckte und davon wachte sie auf. Es dauerte einen Moment, bis sie ihre Glieder entwirrt hatte und sie nach dem Grund ihres Unbehagens suchen konnte. Es war die Innenseite ihres linken Oberschenkels. Oder war es doch der Rechte? Links, ganz eindeutig! Vorsichtig duckte sie sich unter ihre Decke und untersuchte die Stelle. Da war etwas, eine Spinne oder etwas noch Schlimmeres. Sie sprang vom Bett, verhedderte sich dabei in der Decke und polterte auf den Boden ihres Zimmers. Der nun folgende Kampf war absurd. Sie konnte nicht gewinnen. Mehrfach biss sie in die Decke hinein, riss an ihr und erwischte schließlich ihre Wade mit ihren eigenen Fangzähnen. Der Schmerz ihres Bisses rief sie jedoch aus ihrer Panik und so schaffte sie es endlich, sich von der elenden Decke zu befreien.
Tief durchatmend und so ruhig wie möglich schlich sie sich an ihren Schenkel heran. Ganz vorsichtig berührte sie ihre weiße Haut, schob ihre Fingerspitzen Zentimeter für Zentimeter näher an die Stelle heran und wagte sich kaum hinzusehen. Hier war es. Allen Mut zusammennehmend öffnete sie die Augen und sah sich an, was da auf ihrer Haut hockte. Es war die Vier.
Nach Luft schnappend richtete sie sich auf, zog sich am Bettrahmen hoch und langte nach dem Griff des Fensters. Als frische Luft in das muffige Zimmer flutete, wurde sie klarer. Sie stellte sich hin und besah das Zeichen missmutig. Wenn sie stand, war die Glyphe aus der Scherbenschrift ja für sie richtig herum zu lesen. Andere hingegen, die sie zu sehen bekämen – und sie hoffte, dass andere sie sähen – würden sie als auf dem Kopf stehend empfinden.
Sie nahm ihren Lendenschurz von der Bettlehne und zog ihn an. Über einem Stuhl hing eins von Kyons Hemden. Sie packte es und zog es über die Schultern und verließ das Zimmer. Sie musste nicht weit gehen, denn ihr Ziel lag auf demselben Stockwerk und nur einige Türen weiter. Es war das Zimmer der Ayn des Hauses.
Nyni`scie dan Y`shandragor hatte sich in den letzten Tagen sehr verändert. Tal hatte sich die Geschichte von dem Neuronalkorsett erzählen lassen und es sich angesehen. Seit Nyni es trug, war sie wacher und konnte sich recht gut konzentrieren. Vor allem war sie auch in der Lage sich mehr oder weniger allein durch das Haus zu bewegen.
Als Tal an die Zimmertür klopfte, bat die Ayn sie höflich herein. Sie öffnete die Tür und betrat den kleinen, nach abgestandenem Atem riechenden Raum. Außer der Ayn war noch die alte, kränkliche Quink anwesend. Die Vettel kämmte der Dame des Hauses die Haare und versuchte dabei, so unauffällig wie möglich zu sein.
Nyni saß entspannt auf ihrem Schaukelstuhl, der allerdings vom Fenster weggezogen worden war. Anstelle Regen in die Straßen zu starren, hatte sie einen Stickrahmen auf dem Schoß und ließ die Nadel durch das Leinen wandern.
Tal erblasste. Sie konnte es einfach nicht fassen. Die Ayn stickte eine Vier und zwar aus ihrer Sicht, auf dem Kopf stehend.
»Warum stickt ihr das, Frau Nyni`scie?«
Die Ayn blickte auf und sagte: »Weil sticken mir Freude bereitet meine Liebe.«
»Ich meine nicht das Sticken, ich meine die blöde Vier«, spuckte Tal und fuchtelte der Ayn mit dem Finger vor der Nase herum.
»Mäßigt euch, mein Kind. Es ist mir einfach so in den Sinn gekommen. Oder nein, ein Reh hat es mir eingegeben. Es war ein Reh. Ich kann eure Manieren nicht billigen. Hinzu kommt euer schlechter Einfluss auf meinen Sohn Katha`Kyon. Ich verbiete jeglichen weiteren Umgang mit ihm!«
Tal starrte die Frau an. Diese hatte nicht ein einziges Mal von ihrer Arbeit aufgesehen. Was dachte sich die Alte nur? Einen Moment wollte Tal weiter nachhaken, aber dann schüttelte sie mit dem Kopf. Das Tattoo war nicht von der Ayn. Da war sie sich jetzt sicher.
Sie verabschiedete sich ohne weitere Diskussion von Nyni und suchte nach Kyon. Das Gesinde schickte sie in sein Arbeitszimmer und dort fand sie ihn auf dem Stuhl seines Vaters sitzend vor.
»Hier seht!« Sie stellte ihren Fuß in seinen Schritt und schob ihren langen Lendenschurz zur Seite.
Kyon sah auf und ließ dann seinen Blick an ihrem Knie vorbei an der Innenseite ihres weißen Schenkels entlang wandern. In ihrem Schritt verharrte er und legte den Kopf schief.
»Nein, nicht das. Da, am Schenkel. Da ist eine Tätowierung«, keifte sie und zerrte an ihrer eigenen Haut, um dem Dummbatz die Richtige Stelle darzubieten.
»Ja und? Schön. Sieht nett aus. Warum eine Vier?«
Tal rollte mit den Augen wie ein tollwütiger Arwolf. »Ich hab das nicht machen lassen. Es war einfach so da«, sagte sie so ruhig wie möglich, aber Kyon war sicher, die Wächter der Silberwacht konnten sie problemlos verstehen.
»Eine Vision. Es ist eine Vision«, sagte Tal weiße und schob ihre Hand beiseite, um wieder besser ihr Geschlecht sehen zu können.
Genervt zog sie das Hemd aus und ließ ihre Brüste anschwellen. Dann kniff sie die Lippen zusammen. Wutentbrannt gingen ihr die Worte der Ayn durch den Kopf. Kein Umgang mehr mit ihrem Sohn, das ich nicht lache, dachte sie und sagte ein wenig von sich selbst überrascht: »Wollt ihr eigentlich nicht heiraten, Herr Sliyn?«
Kyon hatte sich gerade nach vorn gebeugt und öffnete seine Hose, doch jetzt hielt er inne und fragte: »Was?«
»Na Heiraten, ein Paar werden, wollt ihr?«
Kyon schob sie ein Stück von sich weg, bis sie auf seinen Knien zu sitzen kam. Er musterte zuerst ihre Oberweite, schaffte es dann aber doch darüber hinaus zu wandern und traf schließlich ihre Augen. Einen Moment wartete er ein Zeichen von Humor in ihren Augen zu erblicken, aber da war kein Schalk zu sehen. Er kniff die Augen zusammen und versuchte zu deuten, was genau er sah. Es war eher Ärger, wenn nicht gar Hass. Aber diese Gefühle schienen keineswegs ihm zu gelten. Es war etwas Allumfängliches, das etwas mit ihr zu tun hatte, etwas, dem er nicht folgen konnte.
»Wie meint ihr das?«, fragte er lahm und sie antwortete jetzt mit einem erstaunlich fröhlichen Lächeln: »Ich habe euch gerade einen Antrag gemacht.«
Kyon schüttelte den Kopf und sagte: »Das meint ihr nicht im Ernst.«
»Doch, schon.«
»Ähm, ja, also nein meine ich, nein, nicht nein, sondern einfach, so etwas kann man nicht übers Knie brechen. Ich brauche Bedenkzeit.«
Sie ließ ihre Brüste noch ein klein wenig mehr anschwellen und drückte ihm eine ihrer Nippel ins Gesicht.
Ughtred kam die Straße zurück gelaufen und betrachtete seine derzeitige Wahlheimat. Das Haus Y`shandragor war nicht gerade eine Schönheit. Seine vordere Fassade krönte ein spitzer Giebel mit einem dreieckigen Fenster in der Mitte. Die Mauern hatten im Laufe der Zeit die Farbe abgestorbenen Mooses angenommen. Hinter dem Haupthaus und dem winzigen Innenhof lagen schmale Wirtschaftsgebäude, die vor langer Zeit von Quink bewohnt wurden, heute jedoch leer standen und ein kleiner, von Mauern eingerahmter Garten. Hier wuchsen eine Hand voll winziger, dürrer Tannen, viele Ginsterbüsche und Spinnenfledermäuse von beachtlicher Größe. Die Fenster auf der Vorderseite des Hauses boten einen tristen Ausblick auf die enge Gassen der Stadt und nur vom obersten Stockwerk aus konnte man über die Stadtmauer im Süden auf die Ebene vor Shishney blicken.
Er schob den nie gesperrten Silberriegel der hohen Tür auf und trat in den Hof. Odugme hockte immer noch auf dem Schemel, gerade so, wie er ihn verlassen hatte. Ughtred fragte sich, wie der Riese das machte, denn ihm wurde schon nach kurzer Zeit der Hintern Schmerzen.
Er hob die Hand zum Gruß und Odugme machte die Bewegung nach, aber Ughtred wusste nicht, ob der Riese die Geste überhaupt zuordnen konnte oder einfach nur ihre Spiegelung als auszuführenden Befehl verstand. Der Nygh zuckte mit den Schultern und ging die schiefen Steinstufen zum Eingang des Herrenhauses hinauf. Er musste diese Sache zu einem guten Ende bringen, das war er dem Phani schuldig. Wenn er damals nicht den blöden Haken des Krans geöffnet hätte, wären Oada und Odugme vielleicht nie getrennt worden.
Er steuerte die Küche an, denn er hörte lautes Gezeter aus der Richtung und wenn Tal zeterte, war Kyon meist nicht weit. Tief durchatmend öffnete er die schief in den Angeln hängende Tür und trat ein.
»Es ist beleidigend, wie sie mich behandelt. Hätten wir doch nur nie den blöden Schmied auf den Plan gerufen«, hörte er gerade die Hexe sagen. Kyon zuckte mit den Schultern und schlurfte heißen Faltersud. »Zahnrad«, gab er lakonisch zu bedenken.
Ughtred sagte: »Ich brauche eure Hilfe.«
Die beiden Silberwölfe, denen ihr Streit ohnehin gerade langweilig geworden war, sahen ihn an. Mit einem schmutzigen Lächeln sagte der Barde: »Warum nicht?«
Ughtred wischte die blöde Antwort mit einer harschen Handbewegung aus dem Raum und setzte sich auf einen der Stühle. Dann erzählte er die Geschichte um Oada und den Herrn des Hauses Lysai. Es dauerte eine Weile, bis er alles richtig zusammen bekommen hatte, denn er tat sich nach wie vor schwer, manche Begriffe im Smavarischen korrekt zuzuordnen.
Plötzlich stellte sich Tal neben ihn, hob ihren Rock hoch und deutete auf die Innenseite ihres Schenkels. »Sagt euch das was?«
Er starrte auf ihre Haut und versuchte zu erkennen, was er sah, aber da das Zeichen auf dem Kopf stand, verstand er seine Bedeutung nicht. Hinzu kam, dass die Aktion der Hexe nichts mit seinem Anliegen zu tun hatte und er jedes Mal aus dem Konzept gerissen wurde, wenn sie ihm, aus welchen Gründen auch immer, ihr Geschlecht präsentierte.
»Äh, nein«, machte er und sah hilfesuchend zu Kyon hinüber. Dieser hatte sich zurückgelehnt und nahm einen großen Schluck aus seiner Tasse. Er blickte zur Decke empor und Ughtred wusste genau, dass seine Gedanken bei den Spinnweben und Adern im Putz des Raumes verweilten.
»Bei den Titten der Großen Mutter, könntet ihr beiden nicht einmal bei der Sache bleiben?«, donnerte er und knallte seine Axt auf den Tisch. »Odugme braucht unsere Hilfe. Er hat den scheiß Sarg durch die Wüste von Draiyn Andiled geschleppt, er hat eine Million Mal euer Zelt aufgebaut und die Lopen versorgt, er macht alles was ihr verlangt und jetzt braucht er einmal euch. Ist mir egal was ihr euch aufs Bein zeichnen lasst und die blöde Decke des Hauses ist mir noch viel egaler.«
Tal und Kyon sahen ihn mit großen Augen an. Ihre Blicke klebten an ihm und ihre Augen waren geweitet. Sie waren Giebelkatzen im Angesicht einer großen Giftschlange.
»Gut, gut«, versuchte Kyon den Nygh zu beschwichtigen. »Pegual will also eine Beteiligung. Allumfänglich.«
Ughtred hatte das Gefühl gleich wahnsinnig werden zu müssen. »Was zur Anderwelt bedeutet dieses Allumfänglich?«
»Er will halt genannt werden. Wenn wir die Perle finden, will er an unserem Ruhm teilhaben, ganz so, als wäre er dabei gewesen«, sagte Kyon nun wieder einigermaßen gelangweilt.
Tal untersuchte noch das Tattoo, sagte aber: »Dann soll er sich aber auch wirklich beteiligen. Geht hin und sagt ihm, er soll sich beteiligen.«
»Macht er das nicht schon, wenn er uns Oada überlässt?«, fragte Ughtred mit kleinlauter Stimme.
»Quatsch«, sagte die Hexe und sah ihn mit stählernen Augen an. Die Phani werden wir kaum mit uns auf die Reise nehmen. Sie ist bestenfalls eine Entschädigung hier im Anwesen des Sliyn. Was wir brauchen, sind Ressourcen, die wir mit uns nehmen können. Oder denkt ihr das Weib passt in eine eurer Reisetaschen?«
Der Nygh verzog das Gesicht und wollte etwas sagen, aber Kyon machte eine herrische Handbewegung und brachte ihn zum Verstummen. Dann sagte der Barde: »Es ist beschlossen. Wir akzeptieren Pegual als Sponsor, aber eine Phani allein reicht nicht aus, weil sie nicht in eine von den Reisetaschen des Nyghs passt. Er soll weitere Ressourcen zahlen. Geh hin und sag ihm das.«
Ughtred rieb sich über die Stirn und musste den Impuls niederkämpfen, die beiden in kleine Stücke zu hacken. Andererseits hatte er ja sein Ziel erreicht. Er verstand zwar nicht so ganz den Gegenwert, den der Herr Pegual erlangen würde, aber was scherte es ihn? Am Ende würde Odugme mit Oada vereint sein und sie hätten Ressourcen für die nächste Reise. Da konnte er auch noch einmal zum Haus Lysai gehen.
So verzichtete er auf ein Gemetzel in der Küche und stand auf. Wenn es sein musste, und er es machen musste und überhaupt alles musste, konnte es auch jetzt sofort müssen. Er begann in smavarischen Bahnen zu denken und befürchtete, allein die Sprache der Silberwölfe würde ihn früher oder Später zu einem Halbwesen der Anderwelt machen.
Schnell lief er aus dem Haus und als er in der Gasse angekommen war, rannte er sogar. Er wollte den Handel so schnell wie möglich besiegeln, ehe er überhaupt nicht mehr verstand, was er tat. Diese Angst, ständig vom Einen ins Andere zu geraten, verfolgte ihn wie ein untoter Silberwolf aus den Schatten der Ruinen von Draiyn Andiled.
Beim Lysai angekommen musste er nicht klopfen und auch keine Erklärungen abgeben. Die Belegschaft war offensichtlich angewiesen worden, ihn auf dem kurzen Dienstweg einzulassen. So kam es, dass er keine Stunde nach dem ersten Gespräch mit Pegual Athmortis erneut vor diesem saß und eine Verhandlung führte, von der er so gut wie nichts verstand.
»Der Herr Yˋshandragor …«
»Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor«, berichtigte ihn Pegual.
Ughtred begann von neuem: »Sliyn Katha`Kyon dan Y`shandragor entbietet euch seinen Gruß und ist einverstanden, euch an unserer Unternehmung teilnehmen zu lassen. Allumfänglich!« Das letzte Wort stieß er aus wie eine zuschnappende Schlange.
Pegual flüsterte: »Allumfänglich.«
»Ja, aber natürlich erwartet er eine Zuwendung über die Phani hinaus.«
»Eine Zuwendung über die Phani hinaus«, wiederholte der Silberwolf die Worte.
»Macht ein Angebot, Herr Pegual.«
»Fünfzig scheint mir angeraten genug, angesichts der Tatsache, dass ihr mir einen Phani schuldet und ich diese Schuld verdopple.«
Ughtred nickte ohne zu zögern.
Pegual klatschte in die Hände und eine Tür öffnete sich. Ughtred erschrak wie immer, wenn irgendwo im Zimmer Türen entstanden, die er vorher nicht wahrgenommen hatte.
Eine große und üppige Frau bückte sich unter dem Türrahmen hindurch. Sie war groß und schlank und ihre Haut war schwärzer als der dunkelste Obsidian. Wie Odugme trug sie eine Maske aus purem Gold, die jedoch ihr ebenmäßiges Kinn frei ließ und ihre schönen Augen eher betonte als sie zu verdecken. Im Gegensatz zu Odugme trug sie kein künstliches Geschlecht. Ughtred wusste von den Silberwölfen, dass man den weiblichen Phani ihr Geschlecht ließ. Allerdings hatte man auch ihr zweifelsfrei die Zunge genommen. Oada war ein Abbild der Großen Mutter in schwarz. Einzig das Fehlen jeglichen Haarwuchses zeugte, neben ihrer Hautfarbe, vom Unterschied der Göttin. Selbst ihre Nacktheit hatte etwas göttliches und Ughtred hatte Schwierigkeiten sie ungehemmt anzusehen.
Der Silberwolf machte eine Handbewegung zu der riesigen Frau hin und sagte: »Oada, wie gewünscht. Hinzu kommen fünfzig.«
Ughtred nickte nur.
»Dann ist es eine Sache«, sagte Pegual. »Geht hinaus und lasst euch auszahlen und nehmt die Phani mit euch. Ich erwarte Bericht.« Pegual lächelte freundlich und gab Oada ein Zeichen, dem Nygh zu folgen. Er musste ihr nicht erklären, was sich zugetragen hatte. Sie hatte ganz offensichtlich einen weit regeren Verstand als Odugme und begriff sofort, was sich zugetragen hatte.
Der Weg zum Haus war diesmal seltsam leicht für Ughtred. Es hatte wieder einmal begonnen zu nieseln, aber er genoss die letzten Strahlen der müden Tagesschwesterrn, die sich durch das Grau der Wolken kämpften. Es war wärmer geworden und der fortschreitende Frühling gab ihm die Hoffnung auf einen angenehmen Sommer. Oadas nackte Haut glänzte feucht, doch auch ihr schien dies nichts auszumachen. Sie trug die Kiste mit den Ressourcen auf dem Kopf und ging so gerade und stolz, wie Ughtred es selten zuvor bei einem Lebewesen gesehen hatte.
Beim Haus angekommen, öffnete er erneut die Tür und führte die große Frau zu Odugme, der aufblickte, sich aber weder Überraschung, noch Freude anmerken ließ.
Ughtred sah die beiden an. Einen Moment hatte er Angst einen Fehler gemacht zu haben. Was, wenn Oada den Mann überhaupt nicht mochte und lieber im Lysai geblieben wäre?
Er überlegte zu fragen, schüttelte dann aber den Kopf und holte stattdessen einen weiteren Schemel aus seinem Verschlag. Die Phani legte die Kiste ab und setzte sich neben Odugme. Im selben Moment kam Tal aus dem Haus. Sie hüpfte die Treppe herunter und kam zu Ughtred und dem Phaniärchen. »Das ist sie wohl«, sagte sie, als hätte sie ein großes Geheimnis aufgedeckt.
Ughtred rieb sich über die Stirn, denn er war immer noch in Sorge. Er stellte Oada vor und erklärte dieser, um wen es sich bei der Hexe handelte. Die Phani nickte unterwürfig.
Tal besah sich die glatte Fülle der riesigen Frau und nickte anerkennend. Dann sagte sie unverblümt: »Du gehörst jetzt wohl dem Hause Yˋshandragor. Odugme gehört mir. Ihr werdet zumindest in nächster Zeit eng beieinander leben. Gefällt dir das?«
Phani waren nicht dazu gemacht, dass ihnen etwas gefällt oder nicht. Soviel zumindest hatte Tal zwischenzeitlich begriffen. Also wiederholte sie strang: »Magst du Odugme und gefällt es dir, bei ihm zu sein?«
Oada nickte höflich und legte ihre Hand auf die des Riesen.
Tal spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen zu füllen drohten und wandte sich ab. Sie ging ins Haus zurück, um mit Kyon zu reden.
Dieser erwartete sie schon. Es war ihm anzusehen, dass er, wie jedes Mal, wenn sich eine Änderung anbahnte, mit Problemen rechnete.
»Die beiden Phani bekommen ein Zimmer neben einem meiner Zimmer!«, befahl die Hexe.
»Sicher nicht«, sagte der Barde.
»Aber ich befehle es!«
Kyon blickte zu Boden und rieb sich die Nasenwurzel. »Wenn ich einem Phanipaar eigene Zimmer gäbe, würde ich mein Haus beschämen. Wegen mir können sie in einem Zimmer neben dem euren auf eure Befehle warten, aber ein eigenes Zimmer bekommen sie natürlich nicht.«
Dies leuchtete Tal ein. Natürlich konnten Statussymbole keine Statussymbole erhalten. Sie tat sich manchmal schwer mit dem Reichtum. Einen Augenblick dachte sie an ihre Eltern, die sich aus dieser verdrehten Welt zurückgezogen hatten, aber dann erhob ihrer Großmutter die Stimme und ließ Tal erwachen.
»Ja, gut«, sagte sie. »Sie werden in einem Zimmer neben den meinen auf meine Befehle harren!«
Kyon hielt die Hand seiner Mutter und sah ihr beim Sticken zu. Sie plapperte die ganze Zeit von alten Tagen und Soirees und Kyon war sich unsicher, ob er ihre offensichtlich vergangene Stille heute nicht vorgezogen hätte.
»Und dieser Gnom, er hat einen viel zu großen Einfluss auf die Tagesgeschäfte des Hauses. Ich habe die Bücher jetzt erstmals in diesem Millennium zur Gänze geprüft und mehrere große Diskrepanzen entdecken müssen. Allein die reinen Ressourcen sind unstimmig. Ich habe schon mit Splinternackt und Flark darüber gesprochen, aber es ist wie es ist: es fehlen welche.«
Kyon schnaufte und dachte an die Küchendecke.
»… Wer kann schon sagen, was sie im Schilde führt?«, hörte er die Ayn weiter plappern. »Sie verzaubert euch, wo ihr geht und steht, und wenn ich auch nicht glaube, dass sie für die Sache mit den Ressourcen verantwortlich ist, denke ich nach wie vor, dass sie einen schlechten Einfluss auf euch hat. Ihr solltet sie des Hauses verweisen. Im Übrigen habe ich begonnen, ausstehende Zahlungen zu verwalten. Da ist ein Lagerquink, der dem Haus noch mindestens acht Ressourcen schuldete und bei der Wache waren es fast ebenso viele. Eine entsprechende Forderung wurde verfasst und ausgehändigt. Die Antworten waren positiv.«
Er streichelte ihre Hand und nickte ergeben.
»… Und eine erneute Soiree. Intim, mein gesundheitlicher Zustand erlaubt noch keine großen Smavarimengen. Ich denke an den Meisterschmied, dem ich dieses wunderbare Korsett zu verdanken habe.«
»Sehr wohl, Ayn, ich werde es veranlassen«, flüsterte er und legte seinen Kopf auf ihre Knie.
»Es hat wirklich aufgehört, mein Sohn. Die Schreie, sie scheinen verstummt zu sein. Der Drache hat mich entlassen.«
Kyon flüsterte mit Tränen in den Augen: »Das ist gut zu hören.«
Einige Tage später betrat der Schmied erneut das Haus Yˋshandragor. Er brachte wieder Ressourcen als Gastgeschenk und wusste zu berichten, dass ein tragischer Unfall in seinen Arbeitsabläufen die Reparatur des Zahnrades in greifbare Nähe gerückt habe. Er konnte sich nicht erklären, was zu diesem Missgeschick geführt hatte, aber er würde nun vor dem Wiedereinstieg in besagte Arbeit das Zahnrad in Angriff nehmen. Eine Fertigstellung desselben sei in weniger als acht Tagen zu erwarten.
Kyon nickte und versuchte gar nicht erst zu verstehen, was vorgefallen war. Stattdessen entließ er Amyithas zu seiner Mutter und begab sich selbst zu Tal und Ughtred, die beide begierig darauf warteten, wie es um ihre Unternehmung stand. Als Kyon die Worte des Schmiedes wiedergab, sahen sich die anderen beiden mit verschwörerischen Blicken an.
Er schüttelte den Kopf und beließ es dabei.
Die Tage vergingen schleppender nachdem der Schmied die baldige Lieferung des Zahnrades versprochen hatte. Es war gerade so, wie in den Geschichten der alten Tage, in denen es den Aspekten des Kar möglich gewesen war, Raum, Zeit und Dimension frei nach ihrem Willen zu gestalten. Hatte der große gO, der Weltenerschaffer, die Sonnen der Tiba Fe verlangsamt? Kyon verbrachte die Zeit wie immer mit Müßiggang, aber Ughtred hatte schwierigkeiten sich angemessen abzulenken. Natürlich arbeitete er an und in seiner kleinen Werkstatt und natürlich ging er auch nach wie vor seinem Training nach, welches auch Odugme miteinbezog. Trotzdem verspürte er eine kribbelnde Rastlosigkeit in seinen Gliedern. Wenn er Morgens allein in der Küche saß und aus dem Fenster blickte, überkam ihn das Heimweh nach Korezuul. Er sah die hellgrünen Auen und die gewaltigen Laubbäume, die er hier so schmerzlich vermisste. Kisadmur am Berge, ein düsteres Land, dachte er dann jedes Mal und träumte sich nach Hause.
Tal träumte von der Vier auf ihrem Schenkel. Zuerst zumindest war es nur eine Vier. Doch bald wurde draus mehr und mehr. Sie hatte Probleme damit, den Traum zu deuten, aber je mehr Zahlen sie erkannte, um so klarer wurde das Gesamtbild. Es war eine Art Formel, aber natürlich verstand sie nicht was sich ihr hier offenbarte. Sie konzentrierte sich auf den Traum und suchte nach Kyon, aber er war nicht hier. Es war ein Solotraum und so musste sie ihn auch alleine verstehen. Sie ärgerte sich. Immer wenn es um etwas Schwieriges ging, ließ er sie damit allein. Hatte er denn kein Ehrgefühl? Sie mussten jetzt zusammenhalten, denn wie sollte sonst ihre Ehe funktionieren?
Als keine neuen Zahlen oder Zeichen hinzu kamen, entschied sie sich dafür aufzuwachen. Sofort nahm sie einen ihrer Hexenkristalle heraus und übertrug das Geträumte über eine Neuroverbindung auf den Speicher. Sie prüfte das Ergebnis und war damit zufrieden. Innerhalb der Formel stand die Vier ganz rechts und wie auf ihrem Bein, auf dem Kopf. Die restlichen Zahlen waren deutlich kleiner und mit seltsamen, wahrscheinlich mathematischen Zeichen untereinander verbunden. Die Formel hatte eine linke und eine rechte Seite, soviel begriff sie schon einmal. Alle kleinen Zahlen und Zeichen standen auf der einen Seite und die umgedrehte Vier auf der anderen. Also musste alles was links stand das selbe bedeuten wie eine Vier. Oder zumindest eine umgedrehte Vier. Sie überlegte noch einmal, ob sie etwas im Zirkel über solche Formeln gelernt hatte, konte sich aber nicht einmal an eine entsprechende Erwähnung erinnern.
Was hatte das nur zu bedeuten? Ihre Neugierde zerriss sie beinahe. Warum träumte sie von diesen Zahlen und woher kam die Vier auf ihrem Schenkel? Sie rieb über die immer noch gereizte Stelle und überlegte. Wer kannte sich hier in Shishney mit Zahlen aus? Zahlen sind die Sache der Zahlmeister oder? Zahlmeister kannte sie vor allem im Silberhafen. Da gab es einen Droiden, der ausschließlich in Zahlen dachte. Genau den würde sie fragen.
Gesagt, getan, tog sie sich an und wollte schon unbewaffnet aufbrechen, entschied sich aber dagegen. Eine unbewaffnete Hexe war eine gefährdete Hexe und auf Gefahren hatte sie keine Lust. Also schnappte sie sich den Speer.
Es war noch dunkel als sie das Haus verließ. Sie schlich an Ughtreds Bretterchaos vorbei, öffnete das Tor und trat auf die Straße hinaus. Der Weg zum Silberhafen war nicht weit und sie genoss die frische Nachtluft. Inständig hoffte sie, dass der rühling so bliebe und ihre kommende Reise nicht mit Stürmen und Gewittern verderben würde.
Der Hafen lag in morgendlicher Schwärze. Überall erwachten gerade die Arbeiter, Schiffe wurden losgebunden und erhoben sich langsam in die Luft. Sie fragte einen Quink wo sie den Zahlmeister finden könne und dieser deutete auf die Zahlmeisterei, aber Tal blieb stehen und fragte, ob er den Droiden meine. Nein, er meine natürlich den Zahlmeister. Wo der Droide sei? In einem Lager. Sie überlegte, ob sie den frechen Kerl bestrafen sollte, es war ja schließlich seine Schuld, wenn er sie falsch verstand und ihr dann auch noch eine fehlerhafte Information gab. Aber sie war eine großzügige Hexe und beließ es bei einer Verwarnung.
Das Lager befand sich unterhalb der Landeplattformen und Tal musst noch einmal nach dem Weg fragen. Als sie aber endlich besagte Lagerhalle betrat, sah sie den Droiden schon an einem Gestell stehen und offenbar Kisten zählen. Die hohe wand des endlos langen Raumes war von Schienen und beweglichen Regalen bedeckt, welche unzählige Frachtkisten trugen. Alle hatten verschmierte Aufdrucke in roter Farbe. Sie hatte einmal gehört, Quink hätten Probleme mit kühlen Farbtönen, weswegen man Anweisungen für sie am besten in Rot oder in Schwarz anbrachte.
»Du bist der Droide«, stellte Tal fest, als sie sich neben dem künstlichen Mann aufbaute. Er sah zumindest aus wie ein Mann. Er hatte einen metallisch wirkenden Körper und sein Kopf wirkte ein wenig wie ein smavarischer Totenschädel. Geschmackvoll, dachte die Hexe und wartete auf Antwort.
Der Droide wandte sich ihr zu und sah sie an. Seine Augen waren glimmende Sensoren in der Dunkelheit der Halle, denn weder er, noch die Hexe brauchte zusätzliches Licht, um etwas zu erkennen.
»Das scheint mir eine korrekte Feststellung zu sein.«
»Ich habe eine Formel. Also in meinem Traum. Es ist eine Vier, die auf dem Kopf steht und dann wirre Zahlen und Zeichen und beides scheint Vier zu bedeuten, soviel weiß ich schonmal. Sagt euch das was?«
Der Droide hob in einer sehr smavarischen Geste einen seiner spitzen Spinnenfinger an sein Kinn und schien nachzudenken, aber Tal wusste, dass er dies nur tat, um sie zu beeindrucken. Sie wollte schon etwas abfälliges sagen, aber er kam ihr zuvor: »Ich habe versucht aus eurer Beschreibung etwas zusammenzustelen, doch die reine Datenmasse ist zu gering. Leider kann ich auf dieser Ebene nichts für euch tun Herrin. Ich wünsche noch einen angenehmen Morgen.«
Tal verzog das Gesicht zu einer grimmigen Schnute und deutete mit dem Finger auf den Droiden.
»Du wirst mir jetzt helfen, diese blöde Formel zu entschlüsseln!«
Dann fiel ihr ein, dass sie die Formel ja aufgezeichnet hatte und beförderte ihren Kristall aus ihrer Tasche hervor. Sie hielt ihn in die Luft und sofort erschien der gewünschte Inhalt.
»Ihr wollt also sagen, dass ihr damit nichts anfangen könnt?«, blaffte sie gereizt und stemmte eine Faust in die Hüfte.
Der Droide hob einen Finger, sah aber in den Augen der Smavari, dass es nun besser war, nichts zu Kluges zu sagen. Stattdessen betrachtete er die Zahlenkolonne und die verkehrten Vier. Etwas an seinem Hinterkopf ratterte leise und dann sagte er: »Diese Formel ist nicht smavarischen Ursprungs. Unsere Mathematik richtet sich in drei Dimensionen aus, die Formel jedoch nur in zwei. Sie ist bei Weitem älter und muss somit den Alten zugeordnet werden.«
»Die Alten?«
»Es ist mir verboten, über diese Dinge zu sprechen.«
»Du meinst die Aspekte des Kar.«
Da der Droide nichts sagte, nickte die Hexe und sagte: »Also stammt sie von einem der Aspekte. Von welchem?«
In einer sehr lebendigen Geste schüttelte der künstliche Mann den Kopf. Er legte einen Finger an die Stirn, als müsse er nachdenken, dann klackt es erneut in seinem Schädel und er sagt: »Dies ist schwer zu sagen. Hinzu kommt, dass es mir verboten ist Begrifflichkeiten aus diesem Bereich zu gebrauchen.«
»Der erste Aspekt ist allwissen, aber nicht mehr da. Welche der Aspekte sind mathematisch begabt?«
»Meine Befehle verbieten es mir …«
»Ja, ja, du darfst nicht darüber sprechen. Ich werde an anderer Stelle mehr erfahren. Sag mir lieber, was die Formel an sich bedeutet.«
»Vier.«
»Auf beiden Seiten steht die Vier. Warum steht die rechte auf dem Kopf?«
»Die Formel ist nicht eindeutig. Seht das negative ›Y‹? Es kann innerhalb dieser Formel zwei Bedeutungen haben, was das ganze Konstrukt auf eine Ebene der Philosophie hebt. Darauf deutet auch das auf dem Kopf stehende Ergebnis hin.«
Tals Stirn zog sich in Falten. »Zwei Bedeutungen? Was jetzt?«
»Es ist leider möglich, diesen Teil der Formel als zwei verschiedene Zahlen zu deuten. Somit kann die Formel links einmal Vier, auf einer anderen Gedankenebene aber auch Fünf gedeutet werden.«
Tal überlegte einen Moment. Die Fünf ist die Zahl des Chaos. Chaos und Ordnung, Ordnung und Chaos, aber warum? Wer auch immer diese Formel, beziehungsweise die Vier in sie gegeben hatte, musste einen Fehler gemacht haben. Was an ihr bitte sollte chaotisch sein?
Tage vergingen. Niemand kümmerte sich um die zukünftige Reise. Selbst Ughtred tat sich schwer mit der Vorstellung endlich wieder aufzubrechen. Dies war keineswegs der Faulheit oder dem Willen in Shishney zu bleiben geschuldet. Es lag vielmehr daran, dass er Schwierigkeiten damit hatte, sich vorzustellen, dass es tatsächlich bald weitergehen könnte. Es war eine Frage der Hoffnung, nicht des Willens.
Als er einmal über die unteren Plattformen der Silberwacht schlenderte, erblickte er weit über sich die schlanke Silhouette der Gefährlichen, des eigentümlichen Schiffes der Droidin Rotgold. Er schirmte seine Augen gegen das Licht der Argol Fe und Hiyweens ab und versuchte zu erkennen, ob jemand an Bord war, aber was spielte es für eine Rolle? Natürlich würde er es bevorzugen mit diesem Schiff zu fliegen, aber es war ja nicht absehbar, wann das verdammte Zahnrad endlich fertig würde und ohne dieses Wissen konnte man kaum einen Packt mit der Kapitöse aushandeln. Missmutig schlenderte er zum Haus zurück, aber er behielt sein Wissen um die Gefährliche im Hinterkopf. Vielleicht würde ja doch etwas aus dieser Fahrt werden. Er schickte einen stummen wunsch an die Große Mutter und ging seinen Arbeiten nach.
Tatsächlich schien diese ihn zu erhören, denn schon zwei Tage später, klopfte Seklaid III, der Schmiedegehilfe an das Tor des Hauses und als Ughtred ihm öffnete holte der Quink mit gekräuselter Oberlippe das Zahnrad hervor. Er lachte und erklärte, nach einer kurzen Unterhaltung mit dem Nygh, er müsse sofort nach Quinkstadt zurück. Das Zahnrad sei in einem perfekten Zustand und würde zweifelsfrei seine ihm zugedachte Funktion erfüllen.
Ughtred verabschiedete sich von seinem Besucher und wog das Schwere Zahnrad in beiden Händen. Dort, wo ein Stück ausgebrochen war, befand sich nun ein schwarzer Ersatz. Seklaid hatte erklärt, das Elamit würde sich mit der Zeit heller färben, aber das Zahnrad sei sehr alt und darum würde man wohl immer einen Unterschied erkennen können. Er hatte es auf einen Stein gelegt und einen seiner Fingerdorne als Achse benutzt. Mit der Anderen hand am Rad, hatte er das Artefakt gedreht und dann einen Finger an die rotierenden Zähne gehalten. Die Toleranz war mit bloßem Auge nicht zu erkennen gewesen, aber was bedeutete das schon?
Der Nygh zuckte mit den Schultern und holte eine Ledertasche aus seinem Verschlag. Dann packte er das Zahnrad ein und ging damit ins Haus. In der Küche angekommen blickte er sich um, fand aber außer dem einbeinigen Koch, er konnte sich einfach den Namen des Mannes nicht merken, niemanden vor. Ein wenig genervt ging er die Treppe hinauf und klopfte an Tals Tür. Er wusste nicht warum er sie ausgewählt hatte, aber es dauerte nicht lange, da öffnete sich die Tür. Sie war natürlich nackt.
Wie immer ein wenig verlegen blickte er an ihr vorbei und sagte mit mürrischer Stimme: »Das Zahnrad.«
Die Hexe ging vor ihm in die Hocke, damit sie sich mit ihm auf Augenhöhe befand.
»Das Zahnrad … was?«
»Na es ist fertig. Der Geselle hat es gebracht.«
»Welcher Geselle?«
»Der vom Schmied.«
Tal verzog des Gesicht und stand auf. »Ist der Sliyn wach?«
»Kaum«, kam die knappe Antwort des Nyghs.
»Ich mache das!«
Sie krabbelte über ihr Bett, beförderte einen winzigen Lendenschurz zu tage und ein viel zu weites Hemd, welches Ughtred auch schon an Kyon gesehen hatte. Waren die beiden ein Paar? Also so richtig? Was bedeutete eigendlich ›so richtig‹ bei den Silberwölfen? Die Korezuulen kannten die Ehe, allerdings war dieses Konzept nicht auf zwei Partner beschränkt. Bei den Silberwölfen schien es ähnlich zu sein, aber er war noch keinem Paar von ihnen begegnet, dass wirklich zusammen zu gehören schien. Sie sprachen von Partnerschaft, verhöhnten sich aber ständig gegenseitig und schienen auch offensiv und wo es nur ging gegeneinander zu arbeiten.
Er versuchte nicht zuzusehen, wie Tal den kaum vorhandenen Lendenschurz umgürtete und wartete, bis das nächste innerfamiliäre Fiasko seinen Lauf nahm. Dieses Haus war verflucht, soviel war sicher, aber was sollte man auch von einem Anwesen erwarten, dessen Hausherr von einem Drachen gefressen wurde und der einen Sohn zurückließ, der sich mit einer verrückten Doppelmondhexe herumschlagen musste? Hinzu kam die Ayn. Ughtred hatte beobachtet, wie die Frau sich binnen weniger Tage einer unglaublichen Veränderung unterzogen hatte. Seit sie das seltsame Korsett des Schmiedes trug, war sie nicht nur agiler geworden. Die Haut ihres Gesichtes schien sich Stunde um Stunde zu verjüngen und ihr vor kurzer Zeit noch trocken brüchiges und moosgraues Haar hatte einen glänzenden Silberton angenommen. Außerdem hatte sie begonnen die Geschäfte des Hauses zu übernehmen und dazu schien auch zu gehören, über Tal und ihn selbst herzuziehen. Sie hatte ihn Gnom (was auch immer dies sein sollte) und Dieb genannt und ihm ins gesicht gesagt, dass sie solchen wie ihm wohl kaum ihr Vertrauen entgegen bringen könne. Er wischte diese Gedanken beiseite, sah noch wie Tal ihren Hintern an ihm vorbei auf den Flur schlängelte und blickte ihr hinterher. Doch plötzlich blieb sie stehen. Als hätte sie eine böse Vorahnung blickte sie auf den geschlossenen fensterladen des Flures und kam geduckt zu Ughtred zurück.
»Ist noch sehr früh gell?‹, sagte sie mit spitzen Lippen.
Er zuckte mit den Schultern.
»Macht ihrˋs«, sagte sie und schob ihn an sich vorbei auf die der Tür des Schlafzimmers zugewandten Seite.
Ughtred ließ genervt die Schultern sinken und tat ergeben, worum man ihn gebeten hatte. Was spiele es schon für eine Rolle? So würde es wenigstens schnell gehen. Er klopfte harsch gegen das alte Holz und kaum eine Sekunde später hörte er innen ein vertrautes Klacken und dann bohrte sich vor seinen Augen ein Jagdpfeil durch die Tür und blieb darin stecken. Der Nygh machte einen Schritt zurück und sah zu Tal hinüber. Diese hob nur entschuldigend die Arme und machte dann eine wedelnde Handbewegung, die ihn zum Fortfahren aufmuntern sollte.
Er verzichtete auf ein weiteres Anklopfen und rief stattdessen: »Das Zahnrad.«
Tal verzog das Gesicht und zischte: »Könnt ihr nicht einmal einen Satz bilden?«
»Das Zahnrad ist fertig.«
Tal schüttelte den Kopf und sagte leise: »Wow!«
Von drinnen war Kyons Stimme zu hören: »Ich komme runter. Verschwindet jetzt alle beide, bevor ich einen panzerbrechenden Pfeil auflege!«
Spinnen sind Freunde
Zu dritt um den runden Tisch sitzend betrachteten sie die Zeichnungen und Texte des Tagebuches. Lonkaiyth hatte das Zahnrad im Zusammenhang mit einem Ort namens Raugnith erwähnt. Kyon erzählte von alten Schlachten zwischen den sogenannten Pferdemännern, den Gorden und den Bewohnern Kisadmurs. Raugnith war eine alte Festungsanlage im äußersten Nordosten des Landes. Sie lag in der Ebene zwischen den Ardeyrt und dem Tiradnischen Rücken, einem der größten Gebirgszüge der Tiba Fe. Heute lebten dort nur noch eigenbrötlerische Eremiten, vielleicht die tatsächlichen Nachfahren des einstigen Herrschers. Wie auch immer, unter der besagten Festung sollte es laut Tagebuch, eine Vortexschleuder geben und um diese zu erreichen, war wohl das Zahnrad nötig. Der Barde überlegte laut, wie man sich dies vorzustellen hatte und als Ughtred über die eventuellen Richtungen der Schleuder spekulierte, sagte Kyon, dass hier wohl eine Art Werkzeug vonnöten sein würde. Sein Vater sprach von einer Art Zange, die sich im Gebirge, einem der voreingestellten Ziele befinden solle.
Sie rätselten noch eine ganze Weile, aber es würde ihnen nichts übrig bleiben, als nach Raugnith zu reisen. Da erzählte der Nygh von der Gefährlichen, die er einige Tage zuvor über dem Silberhafen gesehen hatte. Tals Augen begannen zu glänzen. Sie mochte die Droidenkapitöse Rotgold. Außedem war die Gefährliche ein wirklich schnelles Flugschiff. Sofort erklärte sie sich bereit, zum Hafen zu gehen.
Kyon sagte: »Wir müssen nach Nordwesten. Der Weg wird uns über Uraiyd nach Elaiyney und von da nach GoradˋSin führen. Wir werden kaum ein Schiff finden, dass direkt zwischen den Gebirgen hindurch nach Ongaiyd geht. Spätestens in GoradˋSin müssen wir ein anderes Schiff nehmen.«
Tal erwiederte: »Wir wollen doch sowieso zuerst zum Naivt der Spinnenfrau. Um eine Passage nach Raugnith kümmern wir uns, wenn wir nicht gefressen wurden.«
Ughtred verzog das Gesicht. Er wollte gar nicht gefressen werden und dies war ihm anzusehen. Einen Augenblick sahen ihn die beiden Silberwölfe an, aber da er dann doch nichts zu sagen hatte sagte Kyon: »Na gut, lassen wir uns von den Spinnen fressen und fliegen dann zur ältesten Festung der Tiba Fe, um uns von dort mittels Vortex in die Unendlichkeit schleudern zu lassen. Ich fange schon einmal an ein episches Lied über uns zu schreiben.«
Die Hexe lachte und streckte ihm die Zunge heraus und er machte ein abfälliges Zeichen mit seiner Hand.
Etwas später ging Tal die Treppen zum Silberhafen hinauf. Sie freute sich, denn die Gefährliche lag immer noch über Shishney vertäut. Behend hüpfte sie über einen Anker und schlenderte mit hüftschwung auf eine der Zugangsplattformen zu. Da es keine Planke zur Gefährlichen hinauf gab rief sie: »Heyo? Ist da oben jemand?«
Ein Quinkkopf erschien am Rand der Schiffswand und blickte herunter. Sie erklärte ihr Anliegen und wartete, bis der lange Treppenbalken zu ihr heruntergelassen wurde.
Der Droidin war nicht anzusehen, ob sie sich freute Tal wiederzusehen. Ihre nur wenig bewegliche Miene hatte etwas unendlich Gleichmütiges und wahrscheinlich, war es genau dass, was Tal so an der Frau gefiel. Für sie war sie eine Frau. Es spielte keine Rolle, ob ihr Leib aus Fleisch und Blut oder aus Metall und Keramik bestand. Im Inneren war sie eine Frau.
Sie beschrieb ihr Anliegen und Rotgold sagte, dass die Gefährliche in zwei Tagen nach Elaiyney auslaufen würde. Von dort aus, müsse man eine andere Passage finden. Und wie bei ihrer ersten gemeinsamen Reise, wollte die Droidin für die Passage keine Ressourcen. Tal war hoch erfreut, auch wenn ihr lieber gewesen wäre, noch am selben Tag abzulegen.
Sie verabschiedete sich und schlenderte aufgeregt zu den anderen zurück. Es war endlich so weit. Ja, es würde noch zwei Tage dauern, aber es war so weit. Das Abenteuer würde seinen Lauf nehmen. Hätte sie gewusst, was als nächstes geschehen würde, wäre ihre Freude in nacktes Grauen umgeschlagen.
Man beriet sich, schmiedete Pläne für die Reise nach Elaiyney und Ughtred versuchte auf die Schnelle Reiseproviant zu organisieren. Natürlich war dies nun innerhalb der Gesellschaft der Silberwölfe eine sehr kurzfristige Angelegenheit und tatsächlich gelang es ihm nur für wenige Tage haltbare Nahrung zu besorgen. Doch man würde ja an mehreren Orten Halt machen und dort könnte man sicher die Wegzehrung aufstocken. Alle überlegten genau was sie mitnehmen sollten. Man wollte sich einschränken, denn die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass überschüssiges Gewicht bremste, aber dann durfte auch wieder nichts fehlen. Jeder brauchte ein Feuerzeug, Tals jetzt langes Haar konnte unmöglich ohne Lockenstab gebändigt werden, Kyon sortierte seine Pfeile, doch konnte man zu viele Pfeile haben? Am schwersten fiel Tal die Sache mit dem schrecklichen Chaosschild. Das Ding wog nach wie vor eine Tonne, und sie hatte allein schon Mühe, es aus dem Keller die Treppen empor zu schleppen. Mit der schweren Bleidecke, die ihn abschirmte, konnte sie ihn kaum noch heben. Sie fragte sich, wie sie nur lernen sollte mit dem Ding zu kämpfen. Speer und Schild, Schild und Speer, aber sie war nicht stark genug für das Zeug. Sie musste an ihrer Stärke arbeiten. Schnell machte sie zwei Liegestütze und fühlte sich schon besser. Sie würde das schaffen. Sie war eine Doppelmondhexe!
Alles in allem verliefen die letzten Vorbereitungen recht chaotisch und die beiden Tage vergingen sprichwörtlich wie im Fluge. Am Tag der Abreise endlich geriet das ganze Haus erneut in helle Aufregung. Alle waren spät dran und mussten sich sputen, denn Kapitöse Rotgold hatte Tal mitgeteilt, die Gefährliche würde sehr früh aufbrechen. So ranten sie hin und her, bissen von einem Brot ab, verbrannten sich an einem viel zu heißen Becher Faltersud und warfen alles durcheinander.
Doch dann war es endlich so weit. Sie standen an der Rehling und blickten auf das noch dunkle Shishney hinunter. Bald würden die Quink erwachen und die Smavari sich zur Ruhe begeben. Bald würden die Tageschwestern über das Gebirge gekrochen kommen und alles mit ihren gleißenden Strahlen überziehen. Die Gefährliche stieg auf und machte eine Drehung. Schließlich waren die Motoren zu hören und eine starke Vibration ging durch den Leib des Schiffes. Die Kapitöse stand auf dem Oberdeck mit dem Außensteuer und deutete in eine Richtung und ihr Mat brüllte Befehle. In einem Weiten Bogen glitt das Flugschiff über die Stadt hinweg, hielt sich nahe der Odoreys und nahm dabei stetig Fahrt in Richtung Nordwest auf.
Es vergingen mehrere Stunden und Tal hatte sich mit Kyon unter Deck zurückgezogen. Da sie sich ohnehin wenig aus Luftreisen zu machen schienen, wollten sie sich lieber ausruhen. Odugme hatten sie dazu angehalten sich ebenfalls noch ein paar Stunden hinzulegen, denn er sollte möglichst frisch sein, wenn es zum Umladen der Ausrüstung käme.
Ughtred indess, stand an Deck und genoss die Morgenprieße. Er hielt sein Gesicht in den Fahrtwind und ließ zu, dass die Elemente ihm die Sorgen aus dem Geist wuschen. So vergingen stunden und irgendwann erkannte der Nygh Uraiyd in der Ferne. Er winkte zum Spaß und sah zu, wie das Flugschiff über die Ansiedlung hinwegstrich. Er schlenderte von einer Seite des Decks zur anderen und blickte nach hinten, um Uraiyd so lange wie möglich betrachten zu können. Dann kehrte er an seinen ursprünglichen Standort zurück und hielt sich an der Vertäung der Rehling fest, als das Schiff in ein Luftloch geriet und einen Hüpfer machte.
»Jetzt müssten wir uns bald über Diry befinden«, murmelte er zu sich selbst und versuchte etwas unter sich zu erkennen, doch die kisadmurischen Wälder waren düster und ganz und gar Blickdicht. Er sehnte sich nach den lichtumfluteten Auen seiner Heimat. Dann zog eine Bewegung auf der anderen Seite des Schiffes seine Aufmerksamkeit auf sich. Im Osten war eine Art Schneiße in den Odoreys zu erkennen, aber es war schwer zu bestimmen, um was es sich hier handelte, denn das Gebirge lag nebelverhangen als undeutliche graue Masse neben der Flugroute der Gefährlichen. Der Nygh kniff die Augen zusammen, als sich das Schiff auf die gleiche Höhe des Gebirgseinschnittes bewegte und dann ging alles rasend schnell. Instinktiv griff er nach einem der Taue und sah mit Entsetzen in den Augen, wie sich etwas Gewaltiges aus dem Gebirge, direkt in die Flugbahn des Schiffes wälzte. Einen Augenblick dachte Ughtred, es sei eine Lawine, aber als der Nebel aufgewühlt wurde, war das Schwirren von gewaltigen Flügeln zu erkennen. Größer als die Gefährliche, schob sich der Amytor in die Flugbahn des Schiffes und rammte sie, wahrscheinlich ohne sie wahrzunehmen. Die Luft um Ughtred wurde binnen eines Herzschlages zu einem Chaos aus Holzsplittern, Tannennadeln und Angstschreien. Ein Matrose wurde vor seinen Augen von Deck geschleudert und dann riss es auch ihn von den Beinen. Das Seil hatte sich aus seiner Verankerung gelöst und er flog wie eins der Schnurspielzeuge, die er für die Quinkkinder Shishneys angefertigt hatte, um den Rumpf des Schiffes. Mit eisernem Griff hielt er sich an dem Tau fest und spürte den furchtbaren Ruck in seiner Schulter, als die Gefährliche Mittschiffs entzwei brach. Das gigantische Ungetüm, rauschte indessen durch die Luft und seine im Vergleich zu seiner Körpermasse irrwitzig kleinen Flügel wirbelten Bäume auf und versorgten das Chaos immer weiter mit Tannennadeln.
Dann konnte Ughtred sich nicht länger halten. Das Tau hatte den endgültigen Winkel erreicht, doch der Schwung war unaufhaltsam und als es vom Rumpf des Schiffes gestoppt wurde, rutschte es schmerzhaft durch seine Hand und verbrannte ihm die Haut. Er stürzte dem Waldboden entgegen und sah sein Leben an sich vorüberziehen. Mutter, oh Große Mutter, nimm mich auf.
Der erste Einschlag war der schlimmste. Er hörte über sich eine Explosion, wahrscheinlich einer der Motoren des sterbenden Schiffes, dann brach etwas unter ihm, sein Bein. Er überschlug sich, denn er war auf dem nach Westen abfallenden Hand des Gebirgswaldes aufgekommen. Um ihn herum schwirrten Holzsplitter, bohrten sich in sein Fleisch und verhinderten, dass er etwas sehen konnte, doch sein Sturz machte es ihm ohnehin unmöglich sich zu koordinieren. Immer wieder prallte er an Baumstämme, rollte weiter, überschlug sich erneut und fiel immer tiefer und tiefer, in den Kessel der großen Muttergöttin.
Tal und Kyon erlebten den Untergang der Gefährlichen auf eine ganz andere Weiße. Sie schliefen. Als der Amytor das Flugschiff rammte, wurden sie wie Spielbälle in der ihnen zugewiesenen Kabine hin und her geschleudert. Ausrüstungsgegenstände flogen durch die Luft, eine von Tals Haarnadeln bohrte sich in Kyons Oberschenkel und die Hexe blieb mit einem Fuß an einem Bettpfosten hängen und brach sich einen Zeh. Immer wieder drehte sich die Kabine und machte jeglichen Halt unmöglich. Als das Schiff schließlich den Waldboden berührte, verhinderten unbekannte kosmische Kräfte, dass es sich weiter überschlug. Stattdessen bohrte es sich, für die gewaltigen kinetischen Kräfte erstaunlich sanft, in die Erde, verfehlte wie durch ein Wunder die stärkeren Bäume und walzte die dünnen beiseite. Schließlich drang der Rumpf ins Erdreich und kam mit einem furchtbaren Ruck zum Stehen.
Kyon hatte es vorgezogen im letzten Moment die Besinnung zu verlieren, aber Tal entknotete ihre Glieder und zog sich über den nun, in einem unnatürlich schrägen Winkel unter ihr liegenden Kabinenboden. Sie untersuchte Kyon oberflächlich und nickte, als dieser sich regte und zu sich kam.
»Was?«, fragte er, als sei alles Übel der Welt ihre Schuld.
Sie zog ihm dafür mit spitzen Fingern die Haarnadel aus dem Bein und er schrie laut auf.
Der Raum war auf einer Seite mit Erde, Schmutz und Trümmerteilen gefüllt. Die Türöffnung, der Raum lag schräg und der Boden war kaum noch zu erklimmen, befand sich unterhalb der Trümmerschicht. Wie lange würde es dauern, bis sie keine Luft mehr hatten? Tal krabbelte auf allen Vieren zu der Stelle, wo sie am ehesten die Tür vermutete und begann zu graben. Wie ein Wolf vor einem Kaninchenbau schaufelte sie Dreck und Erde durch die Luft und zischte schließlich Kyon an, damit er ihr half. Es dauerte einen Moment, bis dieser den Schmerz seiner Verletzungen überwinden konnte, aber dann sagte Tal: »Verdammt nochmal, wir müssen Ughtred und Odugme finden!«
Kyon konzentrierte sich und rief die psionischen Wölfe aus seinem Geist. Er wusste nicht, ob sie helfen konnten, aber er musste es versuchen und wusste, dass allein ihre Anwesenheit ihn stärken würde. Doch kaum war der riesige Rüde erschienen, stürzte er sich auf das Erdreich und begann zu graben, dass der Dreck nur so durch die Luft spritzte. Die Wölfin brauchte etwas länger, um zu erscheinen, doch auch sie grub.
Kyon kam zu Tal und begann nun ebenfalls zu graben, aber die Hexe lehnte sich an die Wand und sagte: »Ich suche sie. Das geht schnell. Dann wissen wir wenigstens wie es ihnen geht. Wehe ihr macht irgend etwas mit mir wenn ich draußen bin.« Und ehe Kyon etwas erwidern konnte entwand sich ihr Geist und ihre Seele aus der Realität ihres Körpers und glitt in die Anderwelt hinüber. Sofort nahm sie Fahrt aus und versuchte zuerst das Heck des Schiffes zu finden. Als sie sich umblickte, nahm sie den Geist der Wölfin neben sich war. Sie hatte keine Ahnung, ob Kyon das Geistwesen an ihrer Seite hielt, aber es wirkte eher, als hätte es selbst diese Entscheidung getroffen. Es lief ihr schwebend voraus und half ihr die Richtung zu finden, in die sie wollte.
Tal hatte keine Ahnung, was geschehen war und im grauen Äther war schwer zu erkennen, wieso die Gefährliche sich in diesem Zustand befand. Sie war mittschiffs zerborsten. Etwas unglaublich riesiges musste sie gerammt haben. Bei diesen Gedanken nahm Tal wie immer die gewaltigen Schemen auf der anderen Seite der Membran war. Die Grauen Wächter hatten sie noch nicht entdeckt, aber sie musste sich beeilen, denn wenn diese Dinger hier waren, würden sie früher oder später auch ihre Tentakel nach ihr ausstrecken.
Ihr geographisches Grundverständnis und der Richtungssinn der Wölfin halfen ihr, das Heck der Gefährlichen zu entdecken. Es war nach Süden abgedriftet, lag aber immer noch ungefähr auf einer Linie mit der ursprünglichen Reiseroute. Tal schwirrte zuerst am Steuer vorbei und musste mit Schrecken erkennen, dass Rotgold, sich immer noch mit einer Hand an dem Steuerrad haltend, in der Mitte durchgerissen war. Sie bewegte sich träge und schien trotz des schweren Schadens noch bei Bewusstsein zu sein.
Irgendwo in der Dunkelheit weckte ein Pochen Ughtred aus einer leichten Besinnungslosigkeit. Er versuchte sich zu orientieren und fand sich am Fuße eines Baumriesen wieder. Er wusste, was er sehen würde, wenn er an seinem linken Bein hinunterblickte und erschrak dennoch. Sein Fuß stand in einem unschönen Winkel nach Innen. Er hatte Schmerzen, fühlte sich aber auch taub. Er dankte im Stillen der Großen Mutter, noch am Leben zu sein und griff nach dem erstbesten Stock am Boden, um ihn von der Rinde zu befreien. Dann nahm er ihn in den Mund und begann sein Bein zu versorgen. Er hatte sofort begriffen, dass er es strecken musste, um den Knochen auch nur halbwegs in die richtige Position zu bringen. Mit schnellen Handgriffen befreite er weitere Äste von der Rinde, kürzte sie zurecht und machte sich ein Werkzeug zum Strecken des Beines. Als er so weit war, riss er Stoffstreifen aus seinem Hemd und nahm den ersten Stock zwischen die Zähne.
Wird weh tun, dachte er und streckte sein Bein. Zitternd und stöhnend versuchte er die Schienen anzubringen, aber ihm fehlte die Kraft sie wirklich fest zu bekommen. Dann ließ er sich erschöpft und zitternd auf den Waldboden zurückfallen.
Als er diesmal aufsah, traf ihn ein heller Tropfen, der an einer Art Faden auf ihn heruntergefallen war. Er rieb sich das Zeug von der Backe und es klebte an seiner Hand. Als er aufblickte sah er noch mehr Fäden in der Baumkrone und etwas Großes, dass gerade im Begriff war zum Nachbarbaum hinüber zu gleiten. Sofort griff er nach seinem Messer und versuchte mit dem Rücken den Baumstamm zu erreichen. Er schaffte es gerade so, sich aufzurichten, da krabbelte ein hundsgroßes Ding mit Spinnenbeinen und schwarzen Fledermausflügeln auf ihn zu. Alles ging furchtbar schnell und das Monster hatte schon seine Zähne in seinen Arm gegraben, bevor er reagieren konnte. Es machte einen Satz von ihm weg und lauerte. Da musste er trotz der schrecklichen Situation lachen.
»Du blödes Vieh, dein Gift wird dir bei mir nichts helfen, komm nur noch einmal her, dann bringe ich dir einen neuen Trick bei!«, brüllte er heißer.
Die Spinnenfledermaus, denn als solche hatte er das Wesen erkannt, tat wie ihr geheißen und griff an und wie versprochen rammte Ughtred ihr sein Messer in den Kopf. Das Tier zappelte und ehe es reagieren konnte, stach Ughtred wieder und wieder zu, biss es kraftlos zu Boden sank. Es schlug noch mit den Flügeln, doch dann lag es still und Ughtred griff danach. Er wusste nicht, wann er etwas anderes zu Essen bekäme und wie getestet, machte ihm das Gift des Dings ja nichts aus.
Tal wusste, dass Odugme in einer der Ladekabinen unter diesem Bereich untergebracht worden war und glitt auf der Suche nach ihm durch die Decks. Sie spürte das Ziehen des nahen Chaoschildes und schließlich entdeckte sie den Phani. Er hockte mit dem Rücken an einer der Wände und hatte das Bewusstsein verloren. Eine Platzwunde an der Stirn blutete heftig, aber er würde es überleben. Hinzu kam ein langer Riss oder Schnitt an einem seiner muskulösen Oberarme, aber Tal entschied, dass er auch damit durchkommen würde.
Schon glitt sie erneut durch die Trümmer und suchte nach Ughtred. Er war nicht da. Plötzlich hob die Wölfin den durchscheinenden Kopf und schnupperte in die astrale Welt hinaus. Dann schnappte sie in die Luft und rannte los. Tal streckte ihre Hand aus und wurde von ihr mitgezogen. In windeseile rasten sie durch den kisadmurischen Wald und Tal hatte schwierigkeiten irgendetwas in ihrer Umgebung zu erkennen. Alles war karge Bäume, spitze Äste, aus dem moosigen Boden hervorstehende Gesteinsbrocken aus der Luft zu Boden rieselnde Nadeln. Der Zusammenstoß mit was auch immer, hatte sich eindeutig auf ide ganze Umgebung ausgewirkt. Überall lagen Trümmer von Bäumen am Boden und es war klar zu erkennen, dass viele der Bäume hier erst nach dem Unfall entwurzelt worden waren.
Dann machte die Wölfin einen Bogen und hielt auf einen riesigen, sehr energetisch wirkenden Baum im Grau der Zwischenwelt zu. Etwas hell leuchtendes lag am Stamm dieses Baumes, und Tal war glücklich, als sie Ughtreds geschundenen Körper entdeckte.
Kurz umgarnte ihr Geist den Nygh und sie überlegte, was sie für ihn tun konnte, aber dann wandte sie sich von ihm ab. Sie musste zurück zu Kyon, denn nur in der realen Ebene würde sie etwas für ihre Freunde tun können. Sie konzentrierte sich auf die Gravitation der Zwischenwelt und schwirrte davon. Doch dann blickte sie zurück. Die Geisterwölfin sah ihr mit leeren Augen nach. Ihr durchscheinender Leib indess, hatte sich neben Ughtred niedergelassen. Mit aufgerichteten Ohren hielt sie Wache, breit, den Verletzten gegen alle Angriffe aus der Dunkelheit zwischen den Nadelbäumen mit Zähnen und Klauen zu verteidigen.
Tal nickte ihr zu und ließ sich in die Richtung fallen, in der sie den Bug des Schiffes vermutete. Eine Sekunde später drang sie durch das Metall und kam bei ihrem Körper an. Sie wollte tief einatmen, aber die Luft in der Kabine war fast verbraucht. Sie hustete und versuchte den schalen Geschmack in ihrem Mund zu ignorieren, musste aber würgen. Neben ihr gruben Tal und der Wolf im Dreck. Sie richtete sich auf, ordnete ihre Glieder und half so gut es ging. Sie hatten nicht mehr viel Zeit. Bald würden sie ersticken und der Wolf würde bis zum Ende aller Tage ihr stumme Totenwächter sein.
So gruben sie wortlos, um möglichst wenig Atemluft zu vergeuden, und schließlich kratzte Kyon mit den Fingernägeln über eine Metallkante. Er ließ sich zur Seite fallen und machte Tal platz und sie grub an dieser Stelle weiter. Es war die Schwelle der Luke.
»Heda, ist da jemand?« Die sonore Stimme eines Quink drang aus der Welt der frischen Luft zu Kyon herunter. Er hatte Tal geholfen die Luke aufzuschieben und nun versuchten sie gemeinsam in das Zwischendeck zu gelangen.
»Hier unten, wir sind hier«, rief er hinauf. »Wir brauchen ein Seil, das Deck liegt zu schräg.«
Eine Weile geschah nichts, doch dann war das Poltern eines schweren Seiles auf dem Metall des Decks zu hören. Kyon versuchte etwas zu erkennen, doch dann entschied er sich dafür Tal zu helfen aus der Kabine zu kommen. Er verschränkte die Finger seiner Hände ineinander und hob sie hoch. Die Ausdauer des Wolfes gab ihm die Kraft dazu, aber seine Beine zitterten und er stand kurz vor dem Zusammenbruch.
Mit Tränen in den Augen sah er, wie Tal nach etwas griff und dann ihre Hand darum schlang. Doch dann kam eine Gestalt das Seil herunter. Es war ein Matrose. Er hatte den Unfall überlebt und schien unverletzt.
Er drückte sich an den beiden Silberwölfen vorbei und half Kyon, der ihn des Geisterwolfes wegen beruhigte. Gemeinsam entschieden sie, nun, da genug Sauerstoff zur Verfügung stand, nach Tals und Kyons Ausrüstung zu graben. Sie brauchten das medizinische Material aus der Silberwacht von Shishney. Sie waren alle verletzt und vor allem Ughtred musste versorgt werden. So grub der Quink mit dem Wolf und schließlich fanden sie alles, was sie brauchten.
Der Weg durch den feuchten Wald war hart für Kyon. Er hatte mehrere durchaus schwere Verletzungen davongetragen, aber Tal hatte ihn so gut es ging stabilisiert und behandelt. Eine Goldschiene stützte seinen ledierten Brustkorb und mehrere Verbände ließen sie wie eine Mumie aussehen. Aber er beklagte sich nicht. Es war keine Zeit sich zu beklagen. Der Nygh konnte jeder Zeit sterben und er brauchte seinen Nygh.
Sie brauchten fast die ganze restliche Nacht um Ughtred zu finden. Als die Geisterwölfe sich sahen, liefen sie aufeinander zu und wedelten mit den Schwänzen. Dann entglitten sie der Realität und kehrten in die Anderwelt zurück. Tal stürzte zu Ughtred und begann mit ihrer Arbeit. Sie gab zwei automatische Schienen in die Wunde an Ughtreds Bein und wartete einen Moment, bis die darin enthaltenen Stoffe ausgehärtet waren. Dann verabreichte sie Schmerz- und Heilmittel und nähte schließlich das Bein. Ughtred stöhnte entkräftet und schloss die Augen. Er sagte nichts, aber es war ihm anzusehen, dass er froh war, die Silberwölfe um sich zu haben. Später, als sie sich auf den Weg gemacht hatte, erzählte er, was er gesehen hatte. Er beschrieb den gigantischen Amytoren und von der Chancenlosigkeit der Gefährlichen. Doch die Große Mutter hatte ihn gerettet und offenbar hatte sie auch die Silberwölfe nicht im Stich gelassen. Tal und Kyon schwiegen. Es waren ihre Vorfahren, die überhaupt erst Amytoren geschaffen hatten. Schwer zu sagen, ob besagte Muttergöttin sich um ihrer beider Leben gekümmert hatte, oder ob es nicht viel mehr ihr eigenes Karma war, welches sie hatte überleben lassen.
Auf dem Weg zum Heck kamen sie durch ein gebiet, in dem eindeutig ein Hobgoblinstamm lebte. Die Rotaugen hatten Fallen ausgehoben und Tal wäre beinahe in eine hineingefallen, wenn Kyon sie nicht zurückgehalten hätte. Der Matrose, der Gefährlichen hatte weniger Glück. Er machte den Fehler ein ganzes Stück abseits zu gehen und übersah die tödliche Gefahr. Als die anderen das Krachen der Fallenabdeckung hörten, war es zu spät. Der Mann stürzte in die Dunkelheit und wurde unten von langen, spitz zugeschnitteten Pfählen empfangen. Als Tal den Rand er Falle erreichte, war er schon tot. Diese Wälder waren gefährlich. Amytoren waren Naturgewalten, doch Hobgoblins, Arwölfe, Schlangen und andere unliebsame Begegnungen waren nicht minder gefährlich. Ughtred fluchte, doch sie mussten diese Gegend verlassen. Er dachte an die Spinnenfledermaus und rieb sich dabei über die Stirn. »Der arme Mann«, murmelte er, doch Tal und Kyon waren schon weiter gegangen.
Längst waren die Tagesschwestern erwacht, als sie über sich lichter und lautes Rufen vernahmen. Die Sonnenstrahlen erreichten zum Glück für Tal und Kyon nur selten den Boden des schwarzen Waldes, doch Ughtred verdammte diese Tatsache. Er sehnte sich nach der Wärme der Tagesgestirne.
Die Lichter über ihnen gehörten offensichtlich zu Rettungsschiffen. Tatsächlich lagen zwei Flugschiffe über dem Hex vor Anker. Unten hatte man begonnen ein Lager zu errichten. Quink und Midyar durchstreiften den Wald und suchten nach Überlebenden. Als sie die drei Abenteurer entdeckten, führten sie sie zu einem großen Zelt, gaben ihnen Wasser und Decken und berichteten von dem Hilferuf seitens der Droidenkapitöse und dem schnellen Aufbruch der beiden Schiffe von Elaiyney aus. Die Weiterreise nach GoradˋˋSin erlebten die drei Abenteurer wie in Trance. Sie begaben sich unter Deck und versuchten nicht mehr an das Chaos dieser Reise zu denken. Ja, man sprach von diesen Dingen, von Amytoren und Drachen und Weltenzusammenstößen, aber so etwas passierte anderen, nicht einem selbst. Ughtred, der den Amytor als einziger der drei mit eigenen Augen gesehen hatte schwieg, aber einige der überlebenden Quink müssen ebenfalls Zeugen des Unglücks gewesen sein und versuchten sich durch den regen Austausch ihrer Erlebnisse zu trösten. So erhielten Tal und Kyon ebenfalls einen, wenn auch durch die unterschiedliche Wahrnehmung der Matrosen, so dennoch recht klaren Eindruck von der Urgewalt, die der Gefährlichen widerfahren war. Kyon überlegte, wie er dieses Erlebnis in ein Lied fassen konnte, aber dann wieder beobachtete er sich selbst dabei, wie wie sich seine Einstellung zu Schiffsreisen verändert hatte und ließ es lieber. Er wollte vergessen und Tal schien es nicht anders zu ergehen.
In GoradˋSin gingen sie von Bord, suchten sich eine Kaschemme und genossen die Sicherheit der Ansiedlung. Allen dreien war anzusehen, dass sie der Weiterreise nach Ongaiyd mehr oder weniger lustlos entgegenblickten. Ihr nächstes Flugschiff würde tiefer fliegen, denn die Route verlief zwischen den Odoreys und dem Ardeyrt. Da Amytoren sich am liebsten in den Höhenlagen von Gebirgen aufhielten – wer sagte das eigentlich? Draiyn Andiled war flach wie ein Quinkpfannkuchen und dort wimmelte es von den Dingern – hatte man die Hoffnung unbehelligt zwischen den Gebirgen hindurchfliegen zu können. Dennoch dauerte es einige Zeit, bis Kyon am hiesigen Hafen eine Weiterfahrt nach Nordosten aushandelte, widerwillig Ressourcen übergab und die anderen informierte, dass es weitergehen konnte.
Mutlos und mit hängenden Ohren betraten die beiden Smavari das nächste Schiff und nur Ughtred schien seine gute Laune wiedergefunden zu haben. Auch ihm war anzumerken, dass er Flugschifffahrten von nun an aus anderen Augen sehen würde, aber sein Herz war voller Zuversicht und dies galt für alle Lebenslagen. Er sah es aus einem mathematischerem Blickwinkel als die Silberwölfe: Wer einmal einen solchen Zusammenstoß erlebte, wird kaum durch puren Zufall ein zweites Mal betroffen sein. So viele Riesenamytoren gab es nun auch wieder nicht. Beim nächsten Mal würde es vielleicht ein Drache sein, aber den Amytor hatte er nun hinter sich.
Ongaiyd war ein winziges, verschlafenes Nest mit einer kreuzförmigen Hauptstraße die sich im Osten noch einmal gabelte. Auffälligerweiße gab es tatsächlich keine einzige Straße, die aus dem Ort in die Wildnis hinaus führte.
Es ergab sich, dass man im Bodenlosen Loch, einer Kaschemme unterhalb der Holzhafen genannten Landplattformen unterkam. Trotz der etwas gedrückten Laune, handelte Kyon mit dem Wirt die Unterkunft gegen sein Spiel aus und beobachtete dabei, wie die Hexe den Chaosschild über die Holzdielen zerrte und schließlich unter ihr Bett schob. Das passte ja. Hätte es einen angebrachteren Platz für das Ding geben können als unter dem Hintern der Doppelmondhexe?
Ughtred setzte sich und fühlte sich beobachtet. Eine der Silberwölfinnen an einem Nachbartisch schien ihn zu fixieren. Er wollte schon etwas sagen, aber dann kam Tal ihm zuvor. Sie fragte die Frau, ob sie wisse, wie man von Ongaiyd nach Raugnith gelangen könne. Sie sagte, es gingen nur selten Schiffe in diese Richtung. Dann unterhielten sich die beiden Frauen eine Weile über ihre jeweiligen Berufungen. Es stellte sich nämlich heraus, dass Vaadris Borthulk, so der Name von Tals Gesprächspartnerin, eine Zauberin war. Zauberinnen unterschieden sich von Hexen in ihrer ganzen Einstellung zum Multiversum. Während Letztere alles Sein von einem okkulten Blickwinkel sahen, betrachteten sie alles aus nüchternen Augen. Die Wissenschaft war ihr Weg. Tal hatte im Grund nichts dagegen, aber ohne die konzeptionelle Unwissenheit des Okkulten, hätte sie ihr Dasein wahrscheinlich nicht ertragen können. Wissenschaften waren alles andere als verkehrt, aber alles zu wissen, nichts zu fühlen oder zu glauben, dass missfiel ihr sehr. Dennoch war das Gespräch durchaus angenehm, denn es lenke Tal von Kyon ab, der schon wieder mit den Gästen der Kaschemme zu flirten begann und sicher gleich zu spielen anfangen würde. Sie aber war genervt. Sie wollte weder mit ihm tanzen noch ihn bei sich haben. Im Augenblick wollte sie überhaupt nichts mehr.
Plötzlich krachte und rumpelte es über der Kaschemme und einige der Gäste standen auf und gingen zur Treppe, um sich anzusehen was passiert war. Doch andere blieben auch sitzen und bewegten sich nicht. Es schien als wüssten sie genau, was da oben los war.
Kyon fragte den Wirt und dieser berichtete, dass der einzige hier ansässige Kapitän probleme mit der Navigation hätte und ab und an sein Schiff den Holzhafen streife.
Der Barde konnte es nicht glauben und drängte sich an den anderen Gästen vorbei. Er ging die kurze Treppe hinauf und spähte über den Platz zu der Hafenplattform empor und tatsächlich, da oben lagen überall Holzsplitter herum und etwas weiter rechts, fast außerhalb seines Blickfeldes wippte der Rumpf eines Flugschiffes. Es hatte einen der Flaggenmasten abgeknickt und war dann in eine der Palisaden abgerutscht.
»Das ist die Jagende«, sagte einer der Männer vor Kyon. »Der Kapitän ist ein wenig wirr im Kopf, aber besser als gar keiner oder?«
Kyon sah den Mann an und nickte, ohne es so zu meinen. Er dachte an die verunglückte Gefährliche und zuckte dann mit den Schultern. Vor seinem inneren Auge sah er sich dieses Schiff besteigen. Es war ganz klar. Er würde früher mit diesem Schiff nach Raugnith fliegen. Das Schlimme daren, er hatte keine Vision oder so etwas. Er wusste es einfach. Niedergeschlagen ging er zurück in die Kaschemme.
Später spielte Kyon wie verabredet tatsächlich auf und es dauerte nicht lange, da füllte sich die Kaschemme. Immer mehr und mehr Smavari drängten sich in den veräucherten Raum und schließlich wurde aus dem Spiel eine ausgewachsene Orgie. Ughtred floh früh in seine Kammer und auch Tal zog sich zurück. Kyon indess blühte auf. Als das Bodenlose Loch seinen Boden doch noch fand und sich die Feierlichkeit, die er ausgelöst hatte auf den Platz und schließlich bis zum Holzhafen hinauf ausweitete wurde er immer ungestümer, lauter und hemmungsloser. Im Verlaufe dieser Nacht machte er viele Bekanntschaften, an deren Namen er sich jedoch am nächsten Morgen nicht mehr erinnern konnte. Er sang, als ginge es um sein Leben und ebenso verfuhr er mit der körperlichen Liebe. Männer und Frauen drängten sich an ihn, luden ihn auf und entleerten ihn, bis auch er nahezu leblos zu Boden ging.
Wie gewohnt war es noch dunkel, als Tal erwachte. Sie blickte sich um und fand Kyon mit dem Hintern auf ihrem Bett und mit dem Oberkörper am Boden liegend vor. Er war nackt und sein Körper wies die Spuren der nächtlichen Schlacht auf. Kopfschütteln öffnete sie ihre Medizientasche und trug Salbe auf die am stärksten betroffenen Stellen auf. Sie redete auf ihn ein und schimpfte ein wenig, aber wenn er wirklich zu sich gekommen war, ließ er sich nichts anmerken.
Dann verließ Tal ihre Kammer. Das Bodenlose Loch glich einem Schlachtfeld. Auf einem der Tische lagen ein Mann und eine Frau in nackter Umarmung. Ihre Haare waren miteinander verknotet und jemand hatte ihre Genitalien mit blauer Farbe bemalt. Auch auf dem Boden lagen Gäste und Tal entdeckte Vaadris in einer der Nischen am Boden liegen. Immerhin waren bei ihr nur die kleinen straffen Brüste entblößt.
Sie ging zu der derangierten Zauberin und schnippte ihr mit dem Zeigefinger gegen die kleine Nase. Kopfschütteln und blinzelnd erwachte die junge Frau und begann zu lallen, doch Tal stopfte ihr eine Pastille in den Mund und zwang sie zu schlucken. »Das sollte euch ernüchtern«, sagte sie ohne Mitleid.
Sie richtete sich auf und betrachtete die Unordnung. Es stank nach Erbrochenem und billigem Gelbwein und auch Rum schien geflossen zu sein. Das Bodenlose Loch hatte, wie viele kisadmurischen Kaschemmen keine Fenster und lag zum Teil unter der Erde, also ging Tal zu den Treppen der Eingangstür und öffnete Letztere. Am oberen Absatz der Treppe lagen zwei Männer in eindeutiger Pose und Tal verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Was hatte der Herr Sliyn hier nur veranstaltet?
Sie ging zu der Zauberin zurück. Diese war zwischenzeitlich ein wenig zu sich gekommen und rieb sich den Hinterkopf. »Wie schlömm isses?«, fragte sie mit belegter Stimme.
»Was wisst ihr über das Naivt?«, fragte Tal gerade heraus.
»Hä?«
»Das Naivt, Nest, Heim von Frau Spinne.«
Vaadris rieb sich das Gesicht und sagte: »Ich habe von diesem Ort gehört, aber natürlich war ich nie da. Er liegt irgendwo im Gebirge.«
»Wie finden wir ein Schiff dorthin?«, versuchte Tal es noch einmal ohne allzu große Hoffnung.
»Kein Schiff fliegt ins Gebirge. Ihr habtˋs doch selbst erlebt. D-aber da ist eine Taverne. Keine Kaschemme, den Unterschied kennt ihr doch oder?«, lallte die immer noch angeschlagene Zauberin.
Tal schüttelte genervt den Kopf und sagte so ruhig wie möglich: »Ja, den Unterschied kenne ich. Was ist mit der Taverne?«
»Im Wald iss sie. Das iss. Im Wald hinter dem Pallisonzenzaun, wo der … das Schlugschiff drangerummst ist, da ist ein altes Tor. Sˋgibt ja keine Straßen. Also keine draußen, nur drinnen. D-aber Wildpfade gibtˋs schon. Der im Norden führt zu der Taverne und da wohnen Waldläufer und die kennen Frau Spinne und den Weg auch.«
»Waldläufer im Norden?«
Vaadris nickte eifrig und deutete sinnlos in eine Himmelsrichtung, die Tal definitiv als nicht nördlich erkannte. Aber sie nickte trotzdem und beließ es dabei. Vielleicht stimmte es ja, was die junge Frau erzählte und es war gut einen Ansatz zu haben. Wenn es einen Pfad dort hinaus gab, würden sie ihn finden und wenn es da draußen Waldläufer gab die den Weg kannten, würden sie auch diese Finden.
Am Abend saßen Tal und Ughtred an einem Tisch im Bodenlosen Loch.
»Wo ist er?«, fragte Tal und meinte Kyon.
»In seiner Kammer. Ich habe den sie von außen abgeschlossen. War gar nicht so einfach bei den Schlössern hier.«
Tal nickte und nahm einen Schluck Faltersud. Sie hatten beschlossen den Feierlichkeiten ein Ende zu bereiten. Genug war genug. Nachdem Tal dem Nygh von ihrer Erkenntnis seitens der Zauberin erzählt hatte, waren sie überein gekommen, das Kyon keinen weiteren Abend aufspielen würde.
Schon jetzt hatten sich viele Besucher im Bodenlosen Loch eingefunden. Sie befragten den Wirt nach dem Barden aus Shishney und ab und zu kam einer zu ihnen an den Tisch und wollte wissen, wann der Sänger bereit für die zweite Runde wäre. Ughtred musste wirklich an sich halten aber erstaunlicher Weiße blieb Tal ruhig. Sie erklärte, dass es keine weitere Soiree geben würde, da der Barde krank geworden sei. Daraufhin zogen sich viele der Besucher eiligst zurück. Sie hatten unter Umständen sehr engen Kontakt mit Kyon gepflegt und überdachten nun, ob dies so klug gewesen war. Krankheiten waren übertragbar und manche von ihnen konnten als überaus unschön bezeichnet werden.
Ughtred sagte finster: »Wir können den Schild nicht mitnehmen. Auf Lopen ist es einfach viel zu anstrengend.«
Tal nickte. »Ich habe gestern bei der Party eine der Stadtwächterinnen gesehen. Ich werde sie fragen, ob er den Schild für uns aufbewahrt.«
»Und Lopen?«
»Auch darum kümmere ich mich. Ich gehe nachher zur hiesigen Leihe. Das wird schon. Passt ihr auf unseren Star auf.«
Tatsächlich hatten die beiden Glück, denn sie waren noch dabei sich zu unterhalten, als bei einem erneuten Schwung von Besuchern auch besagte Stadtwächterin die Kaschemme betrat.
Tal hatte sie gestern mit Kyon gesehen. Es war eine dralle, junge Kriegerin und Kyon – wer hätte es gedacht? – hatte ihr den Hof gemacht. Tal rieb sich, in einer Geste, die sie selbst an Ughtred erinnerte – über die Stirn und sagte: »Also los. Gehen wirs an.«
Die Stadtwächterin stellte sich als Ayn heraus, aber sie machte eigentlich einen freundlichen und keineswegs überheblichen Eindruck. Ihr Name war Ayn Ubarith Nodhsly und Tal erinnerte sich, dass sie sich gestern schon vorgestellt hatte.
Die beiden Frauen unterhielten sich nur kurz, denn die Ayn hatte von Kyon von dem Unterfangen um die Perle erfahren und war bereit, für einen Mikroanteil, den Schild im tiefsten Keller unter dem hiesigen Herrenhaus zu verstecken. Das würde für sie kein Problem darstellen. Tal war froh, zumindest dieses Problem schnell in den Griff bekommen zu haben und sagte zu. Ohne weiteres Zögern holten sie den Schild aus Tals Zimmer.
Dann nannte Ubarith der Hexe noch den Namen einer der beiden Lopenleihen von Ongaiyd und zog dann, etwas traurig, wegen der offenbaren Tatsache, dass es keine zweite Festlichkeit geben würde, ab.
»Lopenleihe der Udaiy«, wiederholte Tal den Namen, den die Stadtwächterin genannt hatte gegenüber Ughtred. Es war dem Nygh anzusehen, dass er lieber mit ihr gegangen wäre, aber andererseits war er nicht bereit, zu riskieren, dass der Barde ausbrach und das ganze Städtchen erneut in Aufruhr versetzte.
Tal gab ihm recht und sate: »Ich gehe kurz hoch und sehe nach dem Sliyn und dann sorge ich für Lopen. Das wird schon.«
Kyon erwachte und wünschte sich, ein Wesen ohne Kopf und ohne Hintern zu sein. Er fand sich in einer Position vor, die ihm zwar nicht fremd, aber alles andere als angenehm war. Er lag mit dem Hintern auf dem Bett und sein Oberkörper ruhte in einer durchgebogenen Position am Zimmerboden. Hatte die irre Hexe ihn nicht irgendwann mit Salbe verarztet? Warum bei den Alten hatte sie ihn dann nicht wenigstens auf das Bett zurück gezogen? Doch dann erkannte er die schreckliche Wahrheit: Für ihre Gummiknochen war seine jetzige Position wahrscheinlich normal und angenehm und damit dachte sie zwangsweise, auch er zöge es vor, so zu schlafen. Er hasste die Welt.
Als er versuchte sich aufzurichten, begann besagte Welt sich immer schneller zu drehen und als er endlich den Kopf oberhalb des Bettes hatte, überkamen ihn Tiba Fes Meere. Er richtete sich auf, hörte sein Rückgrat knacken und öffnete den Mund zu einem weiten O. Dann spie er, wie er noch nie zuvor in seinem Leben gespien hatte. Er merkte nicht, wie sich die Tür öffnete und Tal an seine Seite sprang, merkte nicht, wie immer mehr aus ihm heraus schoss – seine Welt war Meerwasser und Chaos.
In einem unmöglichen Schwall schoss das salzige Nass und alles andere, was er in sich hatte in das Zimmer. Er konnte den Mund nicht schließen, denn der Druck war viel zu groß für seinen Wolfskiefer. Bald drohte er zu ersticken und er hörte Tal neben sich fluchen und spürte dann ihre Krallen in seinen Haaren. Kurz bevor er die Besinnung verlieren und gnädig ersticken konnte, hörte die Welt auf sich durch ihn zu ergießen. Er kippte zur Seite, landete auf dem nassen Bett und krümmte sich zusammen. Salzwasser war sehr schädlich für Smavari, auch wenn es aus ihnen heraus schoss.
Tal versuchte ihm etwas einzuflößen, aber es ging nicht. Er hustete und versuchte am Leben zu bleiben.
Plötzlich krabbelte vor seinen Augen etwas Lebendiges aus dem Erbrochenen. Es war nicht groß, etwa wie ein Huhnsei, aber es war eindeutig zu groß, um es angenehm erbrechen zu können und es war lebendig. Er kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen was es war. Ganz sicher waren es die Amytoren. Er war nun ebenfalls schwanger von ihnen, wie der arme Mann in der Taverne damals, vor der Wüste. Er würde aufplatzen und sterben und sein Geist würde unendliche Zeiten in diesem nach brackigem Meerwasser stinkenden Loch umherirren.
Neben ihm bückte sich Tal und betrachtete das krabbelnde Ding auf dem Bettrand. »Winkerkrabbe«, murmelte sie. »Sicher kein Amytor.«
Hatte er laut gesprochen oder nur gedacht? Oder schlimmer noch, konnte sie jetzt jeden seiner Gedanken lesen? Er versuchte etwas zu sagen, brachte aber nur »was?«, heraus,
»Es ist eine Krabbe. Ich habe keine ahnung wo sie herkommt, aber es ist eine einfache Krabbe. Kein Amytor oder so etwas.«
»Ausgekotzt?!«
Sie nickte. »Offenbar eine sehr reale Vision. Nur warum?«
»Weiß nicht.«
Sie half ihm sich so gut es ging zu reinigen und öffnete ein Fenster. Hier, im oberen Stockwerk der Kaschemme, war dies den Nugai sei dank, immerhin möglich. Dann fing sie die kleine Krabbe und ging in die Küche hinunter, wo sie das zappelnde Tier in ein Glas packte und mit etwas Pergament und einem Gummiring verschloss. Dem Wirt trug sie auf, das Zimmer des Sliyn reinigen zu lassen und Ughtred sagte sie, dass er gut aufpassen solle; obwohl sie im Moment nicht an Kyons Feierlaune glaubte.
Ughtred schüttelte genervt den Kopf. Jedes Mal wenn er Kyon darauf ansprach, wann es weiter gehen könne, bekam er generell das Wort ›Morgen‹ zu hören. Immer Morgen, nie jetzt. Er hatte keinerlei Lust sich mit dem Barden auseinander zu setzen.
Tal suchte in der Kaschemme nach Vaadris Borthulk und hatte Glück. Sie war noch da. Kurzerhand sprach sie die Zauberin an und erzählte ihr, was vorgefallen war.
»Eine Vision, eindeutig und so wie es aussieht ja eine aus der Zukunft. So etwas ist ja nicht unbedingt selten. Ich habe alle drei, vier Nächste eine«, sagte Vaadris mit immer noch schwerer Zunge.
»Ihr kotzt Krabben und Meerwasser?«
»Nein, aber einmal habe ich tatsächlich eine dreibeinige Spinne hervorgewürgt.«
»Einer Sage nach, schlucken wir ständig Spinnen im Schlaf. Was sagt euch, dass es sich da um eine Vision wie die des Sliyn gehandelt haben soll?«
»Na ja, das Tier war nicht von der Tiba Fe.«
Tal nickte. Das leuchtete ein. Vaadris schien etwas von diesen Dingen zu verstehen. Sie unterhielten sich über die Sache mit der Vier und der Ordnung und dem Chaos und schließlich schlug die Zauberin vor, zu ihr nach Hause zu gehen, um ein Experiment mit der Krabbe durchzuführen. Tal willigte ein und sie verließen das Bodenlose Loch.
Gemeinsam schlenderten sie die Straße entlang in der Vaadris ihr kleines Haus hatte. Es befand sich in der Mitte einer Kreuzung und stand auf einem etwa drei Meter hohen Sockel, war sehr klein und konnte maximal einen Raum beherbergen. Die junge Frau ging eine gewundene Trepper voran und öffnete die schmale Eingangstür. Der Innenraum war geschmackvoll eingerichtet und hatte vier Türen. Tal nickte. Hinter den Türen mussten sich Unräume befinden, denn von außen waren hier keine Wohnstrukturen zu sehen gewesen.
Vaadris bat ihren Gast sich in einen Quinkledersessel zu setzen und mit ihr einen Faltersud zu trinken. Sie unterhielten sich noch eine Weile und irgendwann kam die Zauberin erneut auf die Vier und die Formel. Sie mutmaßte, dass diese alte Art der Mathematik, auf die Herrin der Zahlen hinweisen könnte. Dabei ging es um eine Sagengestalt der Nugai. Die Herrin der Zahlen war eben die Nugai, die den Smavari vor der Sprache schon das Rechnen und damit die Logik beibrachte. Sie war sozusagen die Mutter aller Logik für die Smavari. Tal hatte noch nie von dieser Figur aus der smavarischen Entstehungsgeschichte gehört, aber das hatte nichts zu bedeuten. Es gab unzählige Individuen der Aspekte des Kar, die sich auf die Entwicklung der Smavari ausgewirkt hatten und die Doppelmondhexen konzentrierten sich eher auf die aktuelle Umsetzung von okkulten Kräften und nicht um alte Götterfiguren. Ihre Hexenmutter Akkatha konnte angeblich mit Asen und Nugai kommunizieren, oder sie sogar beschwören, aber es gab niemanden, der einen solchen Vorgang bezeugen konnte.
Nachdem sie ausgetrunken hatten, stand Vaadris auf und deutete auf eine der Türen. »Kommt, ich will etwas probieren!«
Tal stand auf und sah zu, wie sich die Tür öffnete und vor ihren Augen tatsächlich ein Unraum entstand. Sie wollte Vaadris fragen, wie sie zu so etwas gekommen war, konnte aber ihr eigenes Staunen nicht überwinden. Die Öffnung führte nämlich in eine Art längliches Laboratorium, dass bei Weitem größer war, als die Wohnküche der Zauberin.
In der Mitte standen drei Tische mit Versuchsanordnungen. Die Wände waren mit Regalen mit Kolben und Kisten und Werkzeugen vollgestellt. Auf einem der Tische lag eine Leiche, wahrscheinlich ein Quink, die erstaunlicher Weiße nicht stank. Der Brustkorb stand weit offen, aber es gab weder Gerüche, noch Fliegen.
Als die Zauberin Tals Erstaunen bemerkte, sagte sie, nicht ohne Stolz in der Stimme: »Ein eigens von mir erfundener Duftstoff. Er verhindert die negativen Eigenschaften der Fäulnis.«
»Fäulnis hat gute Eigenschaften?«, fragte Tal mit interessiertem Blick, aber Vaadris hatte schon angefangen ihren Versuch aufzubauen. Sie stellte lange Kolben auf den Mittleren Tisch, befestigte Drähte aus einem der Schränke und öffnete eine Art Wandschrank, in der große Kupferspulen standen. Dann streckte sie die Hand nach Tal aus und sagte: »Krabbe!«
Tal kramte das Gals mit dem Krabbeltier hervor und gab es der Zauberin. Diese setzte eine Brille auf und sah Tal an, die selbst eine trug. Dann zuckte sie mit den Schultern und sagte: »Wollen mal sehen, was du für einer bist mein kleiner Freund.«
Damit legte sie einen Hebel um und begann eine Kurbel an einer der Spulen zu drehen. Energieblitze liefen an den Kupferleitungen entlang und zischten über die frei durch den Raum führenden Kabel, um in dem Gals zu verglühen. Die Krabbe zischte und dampfte, Beinchen zogen sich zusammen und schließlich stieg dicker, öliger Qualm vom Tisch auf.
»Merkt ihr das? Kein Geruch. Gut was?«
Tal beugte sich über das Glas. Es war nur noch ein Rest Wasser darin. Sie wedelte ungeduldig mit der Hand den Qualm beiseite und erschrak, als sie sah, was von dem tier übrig geblieben war.
»Was bei den Nugai ist denn das jetzt?«
Sich langsam hin und her windend lag an der Oberfläche des bisschen Wassers in dem Glas eine Art Larve mit Fischschwanz. Das Wesen war nur noch halb so groß wie die ursprüngliche Krabbe und machte den Eindruck, als würde es nicht mehr lange durchhalten.
»Ist das etwa eine Larve?«, fragte Tal verwirrt.
»Allerdings. Das ist der empirische Beweis für meine Theorie. Ich habe das Kontinuum für die Grabbe für einen kurzen Moment relativiert. Als nächstes würde sie zum Ei werden; aber ich glaube so lange macht sie es nicht mehr.«
»Ihr meint, weil sie aus der Zukunft stammt und ihr die Zeitlinie relativiert habt, wurde sie verjüngt?«
»Das generelle Kontinuum, nicht nur die Zeit, aber ja, sie wurde verjüngt; was nur möglich war, weil sie halt noch gar nicht existieren dürfte. Also aus unserer Sicht. Aus der Sicht anderer Zeitdimensionen sieht das ganz anders aus.«
»Fuck!«
Später versuchte Tal dem immer noch lädierten Kyon die Sache mit der Krabbe zu erklären, aber er wollte es gar nicht so genau wissen. Sie stritten sich ein wenig, hatten schlechten Sex und gingen ihrer Wege. An diesem Tag würde es auf jeden Fall noch nicht weiter gehen. Ughtred hatte die Kaschemme nicht verlassen, und war auch nicht dazu bereit, außer es würde endlich weiter gehen. Er nörgelte und Tal erklärte sich bereit, nach einem kleinen Nickerchen, die Lopenleihe aufzusuchen.
Ayn Udaiy Virith yr Sheamiths Leihe war ein schöner, flacher Bau mit mehreren Stallungen und einem großen Grundstück darum herum. Tal war zuerst ein wenig beunruhigt, weil die Hüterin der Tiere eine Ayn war, aber als Lady Udaiy aus dem Haus kam, war sie seltsam schnell von der sher jung wirkenden Frau eingenommen. Sie war schmutzig, wahrscheinlich von handwerklicher Arbeit, hatte ein hübsches Gesicht und unglaublich grell scheinende grüne Augen. Sie stellte sich für eine Ayn recht herzlich vor und hieß die Doppelmondhexe willkommen. Verhandlungen zum Thema Lopen gab es praktisch überhaupt nicht. Udaiy überließ es allein den Alphas zu entscheiden, welche Aufträge sie annahmen und welche nicht. Also begleitete sie die Hexe zu einer der beiden derzeit hier ruhenden Herden.
Der Anführer war eine tief schwarze Orey`Orevi namens Teerfell, und neben ihm stand Jagdschatten, sein Sohn. Tal griff in die Zwischenwelt und wob schnell die feinstofflichen Formen, die es ihr erlaubten, die Sprache der Lopen zu verstehen und zu sprechen und stellte sich vor. Sie beschrieb ihr Anliegen und sah in den Augen des älteren Zackenhorns, dass es nur zu froh war, zu einem Abenteuer eingeladen zu werden. Sie unterhielten sich nur kurz, denn Teerfell war nicht unbedingt ein Zackenhorn der vielen Worte. Etwas anders sah es mit seinem Sohn aus. Er hatte ganz eindeutig einen Narren an der Silberwölfin gefressen und bestand drauf sie nach den Verhandlungen mit seinem Vater noch zu begleiten. Er schlug vor sie zu begatten und ihr viele kleine Zackenhörner in den Bauch zu pflanzen. Tal lehnte freundlich ab und erklärte, dass sie nun zu ihrem eigenen Alpha zurück müssen. Sie verabschiedeten sich mit dem alten Schwur: »Leben für Leben!«
Fast auf die Stunde genau einen Tag später stand Kyon vor Teerfell und dessen Herde und wiederholte die Worte des Bundes. Das große Zackenhorn verbeugte sich und schnaubte zustimmend. Dann begannen Ughtred und Odugme die Packsättel aufzulegen und die Ausrüstung zu verstauen. Es war ein trüber Spätfrühlingstag und es nieselte, wie so oft in den kisadmurischen Niederungen. Alle hatten ihre Mäntel mit Kapuzen übergestreift und warteten nun auf den Aufbruch. Als der Barde sich auf den Rücken des großen Zackenhorns zog richtete er sich auf und wollte schon die Hand für ein Zeichen heben, aber in diesem Moment schob sich die Hexe auf ihrem eigenen Tier an ihm vorbei und deutete mit ihrem Speer auf einen bewaldeten Hang, der zwei oder drei Kilometer entfernt lag. Dann beschrieb der Speer einen Bogen, denn zwischen ihnen und besagter Landschaft lag die, durch den Schiffsunfall verursachte, defekte Palisade. Der Speer beschrieb einen Halbkreis und deutete schließlich auf die Straße nach Westen. Obwohl es außerhalb des ortes keine Straßen gab, befand sich hier eine Art Stadttor. Sie bedeutete ihrer Lope mit den Versen, dass sie bereit war und das Zackenhorn ging in die angezeigte Richtung. Teerfell schnaubte ein wenig entrüstet und wollte die weibliche Lope überholen aber Kyon sagte: »Daran gewöhnt man sich nie oder? Aber es bringt nichts. Lassen wir sie im Glauben das Sagen zu haben und genießen die hierdurch entstehende Leichtigkeit des Seins.«
Er wusste nicht, ob das Tier seine Worte verstanden hatte, aber es verzichtete tatsächlich auf ein Gerangel um die Anführerschaft, schnaubte den kalten Nachtatem aus und blieb hinter seiner Alphakuh.
Das Tor war – wer hätte es gedacht? – verschlossen und mit schweren Riegeln belegt. Es dauerte eine ganze Weile es zu öffnen, aber da sie niemand daran zu hindern versuchte und die drei Quinkwächter nur tröge dabei standen, kamen sie gut voran. Die Auflage das Tor selbst zu öffnen, quittierten die Quink mit der Aussage, dass die Ayn es verboten hätte. Egal, dachte Kyon und war froh, als die kleinen Idioten das Tor hinter ihnen schlossen, als die letzte Lope im Wald verschwunden war.
Unterdessen führte Tal die Herde um Ongaiyd herum, bis sie wieder an der Stelle waren, an der das Flugschiff die Holzmauer gestreift hatte. Wie die Zauberen Vaadris gesagt hatte, ging von hier ein alter Wildpfad von der Ansiedlung nach Norden ab. Sie hob in Kyons Art die Hand und ballte sie zur Faust. Ughtred lachte und rieb sich über die Stirn, aber Kyon schien die Neckerei überhaupt nicht zu bemerken. Dann ging es nach Norden weiter.
Der Weg war schmal und steinig und das Wetter derart trüb, dass es schwierig war, etwas im dunkeln zu erkennen. Als die Tagesschwestern sich ankündigten wurde der Nebel immer dichter und machte das Vorankommen schwerer. Immer wieder strauchelte eine der großen Dromirthare. Mehr als einmal wäre Odugme beinahe von seiner riesigen Lope gerutscht und nur die Erfahrung hielt ihn im Sattel. Die etwas leichteren Zackenhörner hatten weniger Probleme mit dem Weg. Zum Glück ging es schnurgerade nach Nordwesten und keine Abzweigung machte den Eindruck richtiger als der Hauptweg zu sein. Zweimal fanden sie smavarische Jagdpfeile in den Bäumen stecken und über eine Stunde von Ongaiyd entfernt lag der von Pilzen überwucherte Kadaver eines Hobgoblins auf einem kleinen Hügel nahe des Weges. Ughtred befürchtete, nicht genügend Proviant dabei zu haben und wäre am liebsten abgestiegen um die Pilze einzusammeln. Doch er verzichtete darauf. Selbst ein Hobgoblin hatte die Totenruhe verdient. Stattdessen sammelte er Pilze bei ihrer ersten Rast. Es stellte sich heraus, dass der Weg zu eng war, um das Zelt vernünftig aufbauen zu können und Tal und Kyon mussten sich unter der flatternden Fahne ausruhen, die Ughtred ihnen behelfsmäßig an den Bäumen befestigt hatte. Doch dafür reichten die für die Silberwölfe so unangenehmen Sonnenstrahlen ohnehin nur selten bis zum feuchten Boden der kisadmurischen Wälder.
Zwei Nächte und Tage folgten sie dem Pfad durch den schwarzen Wald. Nichts störte sie in der Monotonie ihres Vorankommens und nichts erfreute sie dabei. Nur ab und an, wenn sie sich ausruhten, sammelte Ughtred Pilze und frühe Beeren und genoss die Wildnis. Wie immer fehlte ihm sein Korezuul, doch er hatte gelernt, dass auch Kisadmur seine schönen Seiten hatte. Es war am frühen Abend des zweiten Reisetages, als Tal, Kyon imitierend, den Arm hob und der Tross zum Stehen kam. Vor ihnen stiegt das Land ein wenig an und die Bäume wurden dichter. Dickes Nadelgehölz mit abgebrochenen, kantigen Ästen versperrte ihnen den Weg. Der Wildpfad endete hier. Sie stiegen ab und gingen ein Stück zu Fuß den Hügel hinauf und kämpften sich durchs Unterholz. Oben angekommen standen sie an einem Bruch und blickten über die Wipfel, der tiefer gelegenen Bäume.
Mitten im Wald war eine große Lichtung zu sehen, in der ein riesiges Haus lag. Es gab keinen richtigen weg dort hinunter, aber die Lopen würden sicher keine Schwierigkeiten mit dem Abhang haben. Zu Fuß konnten auch die Zweibeiner hinunter gelangen und so machten sie sich auf den Weg. Kyon rutsche mehrfach aus, doch dann straffte sich sein Körper. Mit purer Willenskraft überwand er die Fährnisse der Wildnis. Er hasste es, immer wie ein Anker auf die anderen zu wirken. Er hasste die Wildnis. Aber dann wieder, in manchen Momenten, wenn er mit der Pfeife in der Hand auf einem Stein saß und über die dunklen Wälder blickte, schien er seinen Vater zu verstehen.
Für das Haus konnte es keine andere Beschreibung als gigantisch geben. Sie standen vor der groben Konstruktion aus unbehandelten Baumstämmen und wunderten sich über die Maße. Es hatte eine Länge von weit mehr als zwanzig Schritte und eine Breite von wenigstens zehn. Das Dach ruhte auf den Stämmen in über fünf Metern Höhe und der Giebel war sicher noch einmal zwei Meter höher. Türen und Fenster waren ebenfalls gewaltig in ihren Ausmaßen und gerade die vermeintliche Haupttür maß zwei- auf drei-meter-fünfzig. Sie blickten sich fragend an. Kyon machte ein Zeichen, dass die Lopen zum Verstummen brachte und schlich sich zu besagtem Tor. Er lauschte einen Moment, aber da bellte schon wieder eins der aufgeregten Zackenhörner, also klopfte er einfach an.
Im Inneren war ein lautes Stampfen zu hören und schließlich wurde ein winziger riegel zur Seite geschoben. Als sich die Riesentür öffnete, erschien das zottelige Haupt eines riesigen Trolls. Wie hätte es anders sein können?
Kyon stolperte zurück und Tal griff nach dem Speer, der vor ihr im Waldboden steckte, aber der Troll sagte langsam und mit gedehnter, tiefer Stimme: »Aaaaaaah, Gäste. Silberwölfe, Lopen und ein Eichhörnchen. Koooomt hereiiiin, kommt kommt.«
Sie sahen sich an und Ughtred fragte: »Eichhörnchen?«
Tal kicherte. Sie stand hinter dem Nygh und nur Kyon konnte siehen, wie sie ihm mit den Händen Eichhörnchenohren machte. Kyon schüttelte genervt den Kopf und machte ein Zeichen zur Hütte hin. Durch ihre Ausmaße stellte sich nicht die Frage, was aus den Lopen würden. Bei der Größe der Tür konnte man sie einfach mit hinein nehmen.
Das Erste, was auffiel, wenn man die Taverne betrat, war der angenehme Geruch nach Kräutern und frischen Wildblumen, die büschelweiße getrocknet an der Decke hingen. Der Innenraum war, wie zu erwarten, für normale Wesen gewaltig. Es gab eine Hauptkammer mit einem riesigen Kamin und einer Schlafstätte, die leicht zwei Trollen Platz geboten hätte. Um diese Kammer herum schlossen sich kleinere Zimmer an, deren Türen dem Troll auch Schwierigkeiten machen würden. Im hinteren Gebäudeteil schloss sich ein großer Raum an, auf dessen Boden frisches Heu und zwei sehr alte Zackenhörner lagen. Die Tiere beschnüffelten die Neuankömmlinge, waren aber viel zu alte für einen Revierkampf.
Kaum waren alle in dem Haus untergekommen, entzündete der Riesenhafte Gastgeber Kraft seiner Stimme zuerst das Kaminfeuer und dann an Balken aufgehängte Deckenlichter. Er tat dies nicht etwa mit hilfe psionischer Disziplinen. Es geschah vielmehr durch die Zauberkraft technischer Hilfsmittel. Später klärte er auf, dass er die Autofeuer und Lichtgeber aus seiner Zeit beim smavarischen Militär hatte und stolz darauf wahr, unter den Silberwölfen gedient zu haben. Sein Name war Mardor und er war auch nicht einfach ein Troll. Sein Volk nanne man Burvirole, eine von den Silberwölfen eigenst für ihre Kriegszüge erschaffene Kriegerspezies. Tal fragte ihn, ob er das Naivt kenne und er kannte es. Darüber hinaus erklärte er sich sofort bereit die Silberwölfe zumindest dorthin zu geleiten. Der Weg sei nicht ungefährlich und er wäre ein starker Krieger.
Dann erzählte er seine Geschichte: »Mardor sieht brennenden Sternenstaub, Sonnen, Planeten – Seite an Seite mit gold geflügelten Silberwölfen. Gleißend helle Sternenbarken ziehen an Heliumfeuer vorbei. Welt der Pferdemänner. Riesige Pyramiden und Stätten aus Stein von Göttern gemacht. Mardor springt in den Kampf, zerreißend, zerquetschend, zermalmend, zertretend – epische Schlacht. Pferdemänner kämpfen voll Grimm mit Schwert und Axt, Feuersalven und zischendes Eis. Episch.« Nach einem großen Schluck Faltersud aus einem Becher, in dem ein Nygh baden könnte, murmelt er weiter: »Dann trifft Fuß von Eisenwyrm Mardors Schulter und aus ist der Kampf. Pferdemänner bringen in Tiefe und er arbeitet. Viele Zeiten mit anderen Gefangenen. Dort Mugina. Mugina gut. Gemeinsam fliehen mit Hilfe von Muginas Horn. Wieder lange Reise, doch jetzt durch Grau in Grau – die Welt der Wächter. Hier leben, vorbei der Kampf, genesen, alt werden. Mugina verloren. Horn verloren. Taverne Muginas Horn.«
Als er endet glänzen seine tief im Schädel verborgenen Augen voller Tatemdrang. Doch dann werden sie trüb und er berichtet von seinem Weib. Ihr Name war Mugina und einst erlangten sie gemeinsam die Freiheit. Sie flüchteten hierher, zur Tiba Fe und in den schwarzen Wald. Doch hier ging sie ihm verloren und nun war er untröstlich. Er war immer noch ein Krieger, aber sein Herz war alt und krank.
Tal mochte Mardor. Sie erkannte sofort, dass er Kriegsverletzungen davongetragen hatte und bot sich an, diese zu behandeln. Zutraulich entblöste der große Mann mit dem struppigen Haar seine Jacke und Tal erschauderte. Aus seiner Brust ragte ein Stück Eisen und das Fleisch um das Schrapnell war krustig aufgeworfen und seit langer Zeit entzündet. Jedes andere Wesen wäre sicher an dieser Verletzung zu Grunde gegangen, doch nicht der Troll. Seine natürlichen Heilungskräfte regenerierten ihn schneller, als die Wunde ihn töten konnte. Die Hexe untersuchte das Ding in Mardor und kam zu dem Schluss, dass es wenigstens in seine Lunge hinunter ragte, doch es saß so fest, dass sie es nicht mit den ihr hier im Wald zur Verfügung stehenden Mitteln erausschneiden konnte, ohne ihn zu töten.
Der große Mann tat ihr leid, und sie versorgte die Wundränder so gut es ging und benutzte all ihre Heilmittel, die ihr passend erschienen. Dieses Wesen war extra für sie erschaffen worden und beschwerte sich nicht einmal über seinen Zustand, der zweifelsfrei nur eingetreten war, weil er sich einem, für ihn ganz sicher unwichtigen Kriegszug angeschlossen hatte. Wahrscheinlich hatte man ihn nicht einmal gefragt. Man hatte ihn so gemacht, dass er ohne zu zögern für die Smavari in den Tod gegangen wäre.
Den restlichen Abend und den kommenden Mittag verbrachten sie in Muginas Horn. Mardor bewirtete sie an einem von ihm geschnitzten Tisch und ebenfalls selbstgemachten Stühlen mit erstaunlich wohlschmeckenden Speisen. Ab und an versuchte er Ughtred Nüsse zuzuschieben und nannte ihn Eichhörnchen. Es ging ihm einfach nicht in den gewaltigen Schädel, dass es Wesen geben konnte die so groß wie Hobgoblins waren, aber keine grüne Haut hattem.
Die Übernachtung in Mardors Haus kam den Abenteurern wie ein Urlaub vor. Als Kyon sich in eins der Zimmer zurückzog, schlüpfte Tal hinter ihm durch die Tür und machte es sich in seinem Bett gemütlich. Die Atmosphäre hier im Wald war einfach zum Ankuscheln.
Für Mardor war es ganz normal, dass die Gäste am nächsten Morgen ausschliefen und erst spät zum Frühstück erschienen. Nur das Eichhörnchen leistete ihm gesellschaft und half dann das Frühstück für die Silberwölfe zu richten. Nach dem Essen, machten sich alle zum Aufbruch bereit. Odugme sattelte die Lopen und befestigte den Sarg auf einer von ihnen. Ughtred, der dies beobachtete tippte Tal an den Oberschenkel und fragte in möglichst freundlichem Ton: »Denkt ihr das wird wieder?« Er deutete dabei mit dem Kinn auf den Sarg und rieb sich dann verlegen über das Hexenzeichen auf seiner Stirn. Er dachte schon die junge Frau verärgert zu haben, doch sie sah einen Moment zu dem Phani und den Lopen hinüber und wandte sich dann ihm zu. Nach einem weiteren Moment des Schweigens sagte sie lakonisch: »Ehrlich gesagt zweifle ich. Ich werd mich mit dem Loslassen befassen müssen.« Sie machte eine Pause und sah in Ughtreds Seegrüne Augen. Dann stahl sich ein trauriges Lächeln auf ihr schönes Gesicht und sie sagte: »Aber noch nicht heute. Nicht heute.«
Ughtred hatte eine Außentür in seiner Kammer und öffnete sie, um das Wetter zu prüfen. Das Wetter jedoch bescherte ihm einen Pfeil, der knapp neben seinem Kopf im Holz des Türrahmens einschlug. Sofort schlug der Nygh Alarm und schloß die Ausfalltür.
»Ich dachte du lebst hier, warum greifen die dich an?«, rief er Mardor zu, als er die Küche erreicht hatte.
Alle sahen ihn erstaunt an. Dann sagte Marnor dumpf: »Böse Rotaugen.«
»Dann kämpfen wir«, rief Tal grimmig und packte Raguels Speer. »Los Krieger, Zerfetzen und Zerreißen!.«
Mardor nahm seine riesige Axt von den Haken und wandt sich der Tür zu, aber Tal war ihm schon voraus und stürzte sich wütend in den Wald. Odugme zog sein Schwert und Tal schüttelte den Kopf, aber der Phani schnaubte. Er würde gehorswchen, aber es war ihm trotz seiner goldenen Maske anzusehen, dass er seiner Herrin in den Kampf folgen wollte. Die Hexe verzog das Gesicht zu einer Schnute und zuckte dann mit den Schultern. »Dann aber los«, knurrte sie wütend.
Ughtred hatte seine Position an der Tür wieder eingenommen und wartete, bis die Schützen von der Hexe und dem Burviol abgelenkt waren, und er den Ausbruch wagen konnte. Unterdessen postierte Kyon sich an der großen Tür auf der seite der Lopenunterkunft. Er öffnete sie, blickte hinaus und entdeckte in unmittelbarer Nähe zwischen den kantigen Stämmen der schwarzen Bäume Bewegung. Schnell zog er einen Nebelpfeil aus dem Köcher und schoss. Der Pfeil traf einen der Stämme und binnen weniger Sekunden breitete sich undurchdringbarer Nebel um die Angreifer aus. Sie husteten und dann flog auch schon der zweite Pfeil. Der Schrei des Terrorpfeils wurde zwar vom Nebel ein wenig gedämpft, genügte aber um die verwirrten Waldbewohner vollends ihre Lage überdenken zu lassen. Sie versuchten einen Weg aus dem Nebel zu finden und einer von ihnen erschien kurz am Ereignishorizont und erhielt als Belohnung einen ganz normalen Pfeil mitten in die Stirn. Es war ein Jukrey, der noch einige Schritte nach forn stolperte und dann zussammenbrach.
Unterdessen war Tal schon mitten um Wald. Der Speer war lang und unschierig in dieser Umgebung aber ihre kampferprobten Arme führten ihn meisterhaft zwischen den Stämmen der Bäume und wo sie diesen nicht auszuweichen vermochte, fällte sie die dünneren Bäume. Vor ihr befand sich ein Hobgoblin und einige Schritte weiter zwei Jukrey. Hinter sich hörte sie Mardor, aber sie wollte nicht warten. Wutentbrannt griff sie in die feinstoffliche Welt und wob eine Disziplien, die zuerst ihre eigenen Kräfte verstärkte und dann erschuf sie ein Gewebe der Snergie, die sie mit ihren Freunden und dem Burivol verband und das Beste aus jedem von ihnen herausholte.
Blitzschnell rammte sie dem Hobgoblin den Speer in den Bauch und schleuderte den Winzling in einem Bogen über sich hinweg. Sofort rannte sie zu den beiden stämmigen Jukrey und holte mit dem Speer aus. Hier standen die Bäume weit genug auseinander, dass sie den Speer mit seiner unterarmlangen Klinge in einem Bogen schwingen konnte. Einer der Gegner, er war mit einem alten smavarischen Kurzsäbel bewaffnet, versuchte seine Klinge hochzureißen, aber die Hexe ar einfach zu schnell. Der Speer traf ihn wie eine Schwertschneide am Bauch und durchtrennte die Gurte seiner Lederrüstung und seine Bauchdecke, nur um es beim zweiten gleich zu tun. Beide Rotaugen gingen schreiend und gurgelnd in die Knie und Tal rammte einem von ihnen den Speer in den offenen Mund. Sie schrie wild und ihre langen Haare knisterten vor psionischer Energie. Sie war eine Klingentänzerin, sie war Tal, North, Chentai, Scherbenesserin, der tanzende Tod!
Der ganze Kampf dauerte nur wenige Sekunden. Noch drei oder vier weitere Hobgoblins und Jukrey starben unter der Wut des Speeres, Kyons Pfeilen und Ughtreds Wurfäxten. Mardor, der einfach langsamer als die anderen war. Kam zu spät, bückte sich aber nach einem der Gefallen, hob ihn auf und riss ihm einen Fuß ab, um ihn an Ort und Stelle zu verspeisen.
Odugme indessen, kam ebenfalls zu spät. Die übrigen ANgreifer, es war unklar, wie viele es waren, flohen in die Dunkelheit des Waldes. Wieder einmal hatte sich gezeigt, wie sehr die Silberwölfe das Grauen und den Grimm in sich trugen und wie schwer es war, sich vor diesen Mächten zu verschließen. Odugme ließ das lange Chentauschwert sinken und sah seine Herrin an. Tal drehte sich zu ihm um und sagte: »Du gehorchst, aber beim nächsten Mal werde ich dich nicht übergehen.« Der große schwarze Mann nickte zufrieden.
»Morgen«, sagte Kyon und Ughtred rollte mit den Augen wie ein wütendes Zackenhorn. Er konnte dieses ›Morgen‹ nicht mehr hören. Aber Tal nickte. Sie sah ein, dass es besser war, den Rotaugen Zeit zu geben ihre Ängste wachsen zu lassen. Mardor hatte zwei von ihnen eingesammelt und war gerade dabei Suppe aus ihnen zu kochen. Sie zog die Stirn in Falten, als er ihr ein Stück Fleisch reichen wollte und kämpfte mit der Reaktion ihres Magens. Burviole waren eindeutig keine Kostverächter. Ein Wunder, dass sich der Stamm draußen überhaupt getraut hatte anzugreifen. Wahrscheinlich waren sie nach dem langen Winter hungrig und hatten es auf die Lopen abgesehen. Wie auch immer, Morgen erschien ihr gut.
Also verbrachten sie die restliche Nacht und den folgenden Mittag in Muginas Horn, auch wenn sie Mardors Küche diesmal ablehnten. Erst als die beiden Tagesschwestern den Zenit über Kisadmur überschritten hatten, öffnete Ughtred erneut die Tür seiner Kammer und lugte in die Schatten des Waldes hinaus. Er wartete einen Moment, aber die Luft blieb frei von Pfeilen. Es gab auch keinen Nebel und so war er sich sicher, die Taverne diesmal unbehelligt verlassen zu können. Er trat ins Freie und lauschte, aber auch jetzt gab es kein Schwirren von Pfeilen. Schließlich rief er zum Aufbruch und Kyon ließ Odugme das Außengatter der Lopenunterkunft öffnen. Die Tiere waren froh in die Wildnis entlassen zu werden. Sie rangelten untereinande rund jede von ihnen versuchte als erste hinaus zu kommen.
Mardor kam um das Haus herum und deutete auf einen Wildpfad, der zwischen den Tannen nach nördlicher Richtung führte. Die Wärme der Luft kündigte den kommenden Sommer an und überall schwirrten Insekten über den Bluten von Waldblumen. Es roch nach Sommerfrische und sich langsam erwärmendem Unterholz. So konnte es kaum verwundern, dass der ganze Zug gut gelant aufbrach und Muginas Horn hinter sich ließ. Hätten sie gewusst, dass der Weg sie durch eine wirklich üble Sumpflandschaft führen Würde, wären sie sicher anderer Stimmung gewesen.
Zwei Tage und Nächte war der Weg durch den Wald erträglich, doch dann wurde das Land immer feuchter und erinnerte an die Niederungen von Hyn. Gegen Morgen des dritten Tages gab es nur noch wenige Bäume und schließlich mussten die Reiter absteigen und die Lopen frei laufen lassen. Der Boden war nass, führte an Seen entlang und wies immer wieder Teerlöscher auf. Einmal stolperte Ughtred in eins dieser Löscher und konnte sich gerade so an den Hörnern der hinter ihm gehenden Lope festhalten. Doch auch das Tier rutsche in die schwarze Brühe und nur Odugme rettete die beiden davor unterzugehen. Er packte das Zackenhorn am Schwanz und hielt es fest, bis es aufhörte zu stampfen und Mardor helfen konnte es aus dem Dreck zu ziehen. Ughtred war über und über von Teer bedeckt und hatte seine liebe Mühe seinen Bart zu reinigen. Immer wieder strich er durch sein Gesichtshaar und machte einen mehr als betretenen EIndruck.
Eine weitere Gefahr stellten die Parasiten dieses Landstriches dar. Es gab neben den allgegenwärtigen Mückenschwärmen seltsame flache Wasserzecken, die sich an der Haut festsaugten und ihren Wirt vergifteten. Tal untersuchte Kyon und gab ihm ein selbstgemachtes Gegengift und hätte beinahe den Befall der Lopen übersehen. Doch Odugme untersuchte die Tiere und so verlor die Hexe ihre Antidote, rettete aber wahrscheinlich mehreren Zackenhörnern das Leben.
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Satzbauteile
Doch er oderauteile
- Doch er oder sie vorsichtig die Haustür geöffnet hatte, tauchte der Mann wieder auf, blieb oben auf der Freitreppe stehen und blickte bald in diese, bald in jene Richtung.
- den darunterliegenden Wald über, doch auf der anderen Seite lag ein weiterer kleiner Hügel und dahinter dichtes Unterholz. Diesen Weg wollten sie einschlagen, meine
- »Wenn es euch recht ist, hole ich es schnell, es liegt in meinem Zimmer.«
- Ich entbiete einen guten Abend.